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Freitag, 14. Juni 2013

Warum Männer gewalttätiger sind als Frauen

(aktualisiert am 28.04.2017)

Ich muss gleich zu Beginn den Titel korrigieren. Die Frage muss im Grunde lauten:

Warum sind Männer, die als Kind Gewalt-/Vernachlässigung- und Ohnmachtserfahrungen gemacht haben, gewalttätiger als Frauen, die als Kind Gewalt erfahren haben? 

Meine Grundthese ist bekanntlich, dass Menschen, die Gewalt (wobei ich hier mit „Gewalt“ immer einigermaßen erhebliche Formen sowohl psychischer als auch körperlicher Art und auch die nicht seltene Anwendung meine und Selbstverteidigung auf Grund einer persönlichen Notsituation natürlich auch ausschließe; vor allem zu Letzterer ist jeder Mensch grundsätzlich fähig, da wir von Natur aus das lebenswichtige Potential haben, auf direkte Angriffe mit Aggressionen zu reagieren.) anwenden,  in ihrer Kindheit irgendeine Form (oder auch mehrere) von Gewalt – meist durch Eltern und Elternfiguren – erlebt haben müssen bzw., dass wirklich geliebte Kinder emotional nicht dazu in der Lage sind, anderen Menschen gezielt Gewalt anzutun (außer im Fall der akuten Selbstverteidigung), einfach, weil sie im vollen Besitz ihrer Gefühle sind und ihr Mitgefühl nicht abspalten/ausschalten können.

Dies ist genau der Ansatz, der in den meisten feministischen Ansätzen oder auch allgemein in der Geschlechterforschung meist gar nicht mit einbezogen wird. Die Gewalt, die Männer in Kindheit und Jugend erlebt haben, wird stattdessen hinter Begriffen wie „Männliche Sozialisation“ versteckt, anstatt diese offen beim Namen zu nennen. Belastende Erfahrungen im Elternhaus werden dabei meist ausgeblendet oder hinter Sätzen versteckt wie z.B. „Jungen bekommen weniger Zuwendung, wenn sie Hilfe/Trost/Fürsorge brauchen bzw. danach verlangen, weil Jungen stark sein und ihre Probleme und Bedürfnisse selbst regeln sollen.“ Letzteres ist, um es beim Namen zu nennen, eine Form von Kindesvernachlässigung mit Tendenzen in Richtung psychische Gewalt, je nachdem wie auf Bedürfnisse von Jungen reagiert wird. Die Beispiele ließen sich fortführen.

Typische Themen der Geschlechterforschung sind Wettbewerb zwischen Jungen und Konkurrenzdenken, (mediale) Männlichkeitsbilder/Vorbilder, Peergroupsozialisation, militärische Sozialisation, öffentlicher männlich dominierter Raum, Abgrenzungsrituale vom „Weiblichen“, patriarchale Machtstrukturen, Dominanzkultur usw. usf. Wörter wie „sexueller Missbrauch“, „Kindesvernachlässigung“ und „Kindesmisshandlung“ findet mann dagegen seltener in entsprechenden Texten, die meist sozialwissenschaftlich orientiert sind.

Männer sind faktisch das gewalttätigere Geschlecht, das gilt mittlerweile als Allgemeinwissen. Zwei wesentliche Fakten werden allerdings  in der Geschlechterforschung und in der Öffentlichkeit oft übersehen: „Weniger bekannt hingegen ist, dass sich die mehrheitlich von Männern ausgeübte Gewalt auch überwiegend gegen Männer selbst richtet. Mit der Ausnahme von Sexualstraftaten sind Männer als Opfer bei allen Delikten in der Überzahl.  Bei Mord und Totschlag, Raub und insbesondere bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung überwiegen männliche Opfer." (Hans-Joachim Lenz, 17.12.2004,“Männer als Opfer von Gewalt“) Beispielsweise zeigte eine große Studie, dass im Jahr 2008, zwar über 85 % aller Morde durch Männer verübt wurden, aber auch weltweit 82 % aller Mordopfer männlich waren. (United Nations Office on Drugs and Crime (2011): 2011 - Global Study On Homicide. Vienna. S. 63)
Auch innerhalb von Dunkelfeld-Befragungen lassen sich diese Unterschiede feststellen. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) hat innerhalb einer repräsentativen Schülerbefragung (insgesamt 44.610 Befragte) festgehalten, dass innerhalb von 12 Monaten 20,2 % der Jungen Opfer von verschiedenen Gewaltdelikten wurden, dagegen wurden 13 % der Mädchen Opfer (inkl. sexueller Gewalt, dem einzigen Gewaltdelikt, wo Mädchen öfter als Jungen Opfer waren). (Baier, D., Pfeiffer, C., Simonson, J., & Rabold, S. (2009): Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt: Erster Forschungsbericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des KFN. KFN-Forschungsberichte No. 107. KFN, Hannover, S. 39) Auch beim Mobbing oder Gewalterleben durch SchülerInnen, wie auch Mobbing und Gewalt durch Lehrkräfte sind Jungen bei 9 von 10 abgefragten Items (nur beim Items "nicht beachtet werden" waren Mädchen häufiger Opfer) häufiger Opfer, als Mädchen. Im Text hießt es beispielhaft: "Das Risiko des mehrfachen Erlebens körperlicher Gewalt durch andere Schüler ist für Jungen deutlich höher: Hier übersteigt die Wahrscheinlichkeit der Jungen, mehrfach Opfer zu werden, die der Mädchen um den Faktor 4,8. Die Wahrscheinlichkeit, mehrmalig zu erleben, dass eigene Sachen zerstört werden, ist für Jungen 3,8-mal so hoch wie für Mädchen." (Ebd., S. 58)

Ähnliches gilt für den Bereich Gewalt gegen Kinder. Ich habe bisher noch keine Studie gefunden, die nachwies, dass Jungen deutlich weniger körperliche Gewalt in der Familie erleben, als Mädchen. Mit Ausnahme der sexuellen Gewalt überwiegen sogar bei vielen Studien männliche Opfer, mindestens aber erleben Jungen genauso viel Gewalt, wie Mädchen.  

Für eine große UNICEF Studie wurden beispielsweise Daten zum Gewalterleben (körperliche und psychische Gewalt) aus 33 Ländern (Osteuropa, Asien, Afrika, arabischer Raum und Südamerika) erhoben. In 16 Ländern erlebten Jungen signifikant mehr Gewalt als Mädchen (dem Diagramm folgend je nach Land ca. 4 -11 % mehr), in den anderen Ländern gab es keine signifikanten Unterschiede.  Schaut man sich allerdings die Daten für alle 33 Länder im Detail an, dann fällt auf, dass bei allen Gewaltarten (unterteilt in psychische Gewalt, körperliche Gewalt und nochmal extra erfasst schwere Formen von körperlicher Gewalt) Jungen fast durchweg einige Prozentpunkte mehr Gewalt erleben, als Mädchen. Bei der psychischen Gewalt erleben nur in 10 Ländern Jungen gleich viel oder 1-2 Prozentpunkte weniger Gewalt. Körperliche Gewalt wird nur in 2 Ländern (Sierra Leone und Togo) von beiden Geschlechtern gleich viel erlebt. In einem Land wird körperliche Gewalt einen  Prozentpunkt mehr von Jungen erlebt, als von Mädchen. Die weiteren Zahlenverhältnisse sehen wie folgt aus (Prozentangaben jeweils das Mehr an Gewalterleben bei Jungen): 5 Länder = 2 %; 3 Länder = 3 %; 4 Länder  = 4 %; 7 Länder = 5 %,3 Länder 6 %;  4 Länder = 7 %; 3 Länder = 9 %; 1 Land = 13 %. In nur 4 Ländern erleben Mädchen und Jungen jeweils gleich viel schwere Formen von körperlicher Gewalt. In 4 Ländern erleben Mädchen jeweils einen Prozentpunkt mehr schwere körperliche Gewalt, als Jungen. In 25 Ländern erleben Jungen mehr schwere körperliche Gewalt, als Mädchen. (UNICEF 2010, "Child Disciplinary Practices at Home", S. 36)

Für eine Studie (siehe ausführlich hier) in Ägypten wurden Mütter nach ihrem Gewaltverhalten gegen Kinder befragt. 85,4% der Jungen wurden gegenüber 71,9 % der Mädchen körperlich bestraft. In der Studie wurde auch festgestellt, dass Jungen nicht nur insgesamt sondern auch bzgl. der Häufigkeit des Gewalthandelns mehr von Gewalt betroffen sind, als Mädchen. 5,4 % der ägyptischen Jungen werden mehr als einmal pro Tag körperlich bestraft, dagegen 1,5 % der Mädchen; 4,6 % der Jungen werden einmal täglich geschlagen, dagegen 3 % der Mädchen;  55,4 % der Jungen werden ein oder zweimal die Woche geschlagen, dagegen 31,1 % der Mädchen.

Auf eine hier im Blog besprochene repräsentative Studie, die Gewalterfahrungen der Menschen in El Salvador und Guatemala erfasst hat, möchte ich ebenfalls noch hinweisen.
Keinerlei Art von elterlichen Bestrafungen in der Kindheit und Jugend erlebten in Guatemala: 20,7 % der befragten Frauen und 7 % der Männer; in El Salvador: 44,3 % der Frauen und 23,9 % der Männer. Misshandlungen/Schläge erlebten in Guatemala: 35,3 % der Frauen und 45,7 % der Männer. Schläge mit einem Gegenstand wie Gürtel, Stock oder Kabel erlebten in  El Salvador: 41,8 % der Frauen und 61,9 % der Männer.

Auch bzgl. Deutschland liegen aussagekräftige Studien vor. Erstere wurde Anfang der 50er Jahre durchgeführt. (Die Studie habe ich hier im Blog bereits ausführlich besprochen). Ergebnis: „Schwere körperliche Züchtigungen“ im Elternhaus erlebten Jungen deutlich mehr, nämlich ca. 85 % während Mädchen zu ca. 62 % betroffen waren. Bei der „leichten körperlichen Züchtigung“ waren Mädchen etwas mehr betroffen, als Jungen. Jungen erlebten demnach nicht nur insgesamt häufiger körperliche Gewalt, sondern auch schwerer Formen deutlich häufiger, als Mädchen.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine repräsentative Befragung aus den 90er Jahren. (vgl. Wetzels, P. 1997: Gewalterfahrungen in der Kindheit - Sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung und deren langfristige Konsequenzen. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, S. 147+148) 77,9 % der Männer erlebten körperliche Elterngewalt, Frauen dagegen mit 71,9 % signifikant weniger. Interessant ist dabei auch, wenn man sich die Frequenz der Gewalt anschaut. 35 % der Männer und 37,1 % der Frauen erlebten selten körperliche Züchtigungen. Mit 43 % ist bei den Männern die Rate der häufiger als selten körperlich gezüchtigten deutlich höher als bei den Frauen mit 34,8 %. Auch bei der schwersten Gewaltform – der Misshandlung – liegen die Männer mit 11,8 % etwas über den Frauen mit 9,9 %.
Für den ostdeutschen Raum wurden zwei repräsentative Jugendstudien verglichen ("Partner 3" mit "Partner 4"). Nach der Befragung im Jahr 1990 ("Partner 3") erlebten demnach 39 % der Mädchen körperliche Gewalt in der Familie, Jungen waren dagegen zu 56 % von Gewalt betroffen. Bei der Befragung 2013 ("Partner 4") ergaben sich folgende Zahlen: 20 % der Mädchen erlebten Gewalt und 25 % der Jungen.
(Weller, Konrad (Hrsg.) (2013). PARTNER 4. Sexualität & Partnerschaft ostdeutscher Jugendlicher im historischen Vergleich. Merseburg. Tabelle 2)

Für eine repräsentative Befragung wurden 2.524 Männer und Frauen in Deutschland befragt. Gefragt nach eigens erlebtem "Erziehungsverhalten" berichteten die Männer fast durchweg von mehr Gewalterfahrungen als Frauen. Z.B. hatten 22,4 % der Männer "schallende Ohrfeigen" erlebt, dagegen 16,7 % der Frauen. 7,4 % der Männer wurden mit Gegenständen geschlagen, dagegen 5,7 % der Frauen. 4,4 % der Männer erlebten eine Tracht Prügel mit Blutergüssen, dagegen 2,9 % der Frauen. Auch bei psychischen Strafen waren Männer stark betroffen. 13,4 % der Männer wurden niedergebrüllt, dagegen 12,5 % der Frauen. Taschengeldkürzungen erlebten 31,4 % der Männer, dagegen 22,3 % der Frauen. Nur bei dem Item "Nicht mehr mit ihnen reden" waren Frauen mit 18,6 % deutlich häufiger betroffen als die Männer mit 14,2 %.
(Plener, P. L.; Rodens, K. P.; Fegert, J. M. (2016). „Ein Klaps auf den  Hintern hat noch niemandem geschadet“: Einstellungen zu Körperstrafen und Erziehung in der deutschen Allgemeinbevölkerung.  Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V., vol. Themenheft, S. 20-25.)


Mir ist sehr wohl klar, dass Mädchen/Frauen, sofern man zusätzlich sexuelle Gewalterfahrungen und auch diverse Formen der geschlechtsspezifischen Unterdrückung, Unterwerfung und Diskriminierung mit einbezieht, enorm belastet sind. Mir geht es an dieser Stelle allerdings darum, festzuhalten, dass es männlichen Menschen nicht an Gewalterfahrungen – sowohl in Kindheit, Jugend als auch als Erwachsene – mangelt und dass sie in so manchen Bereichen sogar mehr von Gewalt betroffen sind, als Mädchen/Frauen. Dabei sind vor allem die kindlichen Gewalterfahrungen das Fundament für später eigenes Gewaltverhalten und auch sonstiges destruktive Agieren.

Nichts desto Trotz sind Männer das gewalttätiger Geschlecht, obwohl Frauen ebenfalls als Kind sehr häufig Gewalt erfahren und insofern „emotional bewaffnet“ sind. Hier liegt nun die Schnittstelle zu sozialwissenschaftlichen Thesen und Forschungen, deren Nutzen und Bedeutsamkeit ich gar nicht bestreiten möchte.

Männer haben historisch wie auch aktuell vor allem sehr viel mehr Machtmöglichkeiten, um Gewalt anzuwenden, als Frauen. Ohne Macht kann frau keine Gewalt anwenden. Und Männer wurden und werden zudem mit einem ganz anderen Rollenbild und mit männlichen Vorbildern konfrontiert. Für mich ergibt sich gedanklich vor allem ein Bild, das vieles deutlicher macht. Letztlich gleicht die Mannwerdung idealtypisch (und somit etwas vereinfacht dargestellt) und vor allem auch, je weiter man historisch zurückschaut, der militärischen Ausbildung: „Erst brechen wir Dich und hinterher bauen wir Dich wieder auf, hinterher bist Du potentiell ein Held der Nation, ein ganzer Kerl, hinterher bekommst du Macht und wir sind stolz auf Dich.“ (Und falls der Mann ganz unten steht und kaum Macht hat, unter ihm bleibt immer noch Frau und Kind gegenüber denen er sich mächtig fühlen darf.) Frauen werden dagegen als Mädchen gebrochen und die gesellschaftliche Botschaft, die dann an sie herangetragen wird, lautet (und die ebenfalls umso deutlich wird, je weiter man historisch zurückschaut): „Du bist nicht viel wert, an Haus, Küche, Mann und Kinder gebunden, der öffentliche und politische Raum ist nicht der Deine, Deine Rolle ist die, ohnmächtig zu sein und zu bleiben, Du brauchst keine Macht und selbst wenn Du sie wolltest, Du wirst keine Macht erhalten.“ Das sind zwei – wenn auch sehr vereinfacht dargestellt – komplett andere Welten und Rollenbilder, die sich hierzulande in den letzten Jahrzehnten natürlich auch immer mehr aufgelöst und starkt verwässert haben, trotzdem aber noch nachwirken.

Man könnte es auch in einer einfachen Formel aufschreiben: „Männliche Ohnmachtserfahrungen treffen auf eine männlich dominierte Gesellschaft und auf Machtmöglichkeiten / weibliche Ohnmachtserfahrungen treffen auf eine männliche dominierte Gesellschaft und auf sehr begrenzte oder auch gar keine Machtmöglichkeiten.“ Diese Formel macht meiner Auffassung nach weitgehend den Unterschied im Gewaltverhalten. Die Mutter von Rudolf Heß – Klara Heß - schrieb einst nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges: „Wäre ich ein Mann in der Blüte der Jahre, ich würde auch mit Begeisterung für mein Vaterland kämpfen. Ich will versuchen, wenn auch nicht als Soldat, so doch für das Wohl der Zurückgebliebenen meine Kraft mit zu verwenden.“ (Pätzold, Kurt und Weißbecker, Manfred (2007): Rudolf Heß. Der Mann an Hitlers Seite. Leibzig. Militzke Verlag, S.22) Sie brachte mit diesen Worten die Situation von Frauen auf den Punkt. Grundsätzlich war sie bereit zu töten, zu hassen und Krieg zu führen. Als Frau aber war ihr damals einfach der Weg in den Kampf versperrt.

Keine Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen, sondern echte Liebe und Geborgenheit im Elternhaus  machen es dagegen, so meine bereits erwähnte These, unmöglich, andere Menschen gezielt zu quälen, zu missbrauchen, zu vergewaltigen, zu ermorden, zu misshandeln usw. Dies gilt für beide Geschlechter. Ein als Kind geliebter Mann wird demnach trotz der Welt, der Machtstrukturen und der Männlichkeitsbilder auf die er trifft kein Gewalttäter werden.

Die o.g. Formel bedeutet weitergedacht und wie bereits angedeutet auch, dass Frauen, soweit sie Ohnmachts- und Gewalterfahrungen (vor allem als Kind) erlebt haben und später Macht erhalten, zu allen erdenklichen Formen von Gewalt und Grausamkeiten grundsätzlich fähig sind (wobei auch hier tendenziell wie bei den Männern gilt: Je grausamer die Taten, desto grausamer die entsprechenden Kindheiten). Dies zeigen einige Daten, die ich bereits kurz zusammengefasst habe. Vor allem gilt dies in Bezug zu Kindern, über die Frauen traditionell sehr viel Macht haben. Empirisch lässt sich nachweisen, dass Frauen als Mütter sogar häufiger Gewalt gegen ihre Kinder anwenden, als Väter.

Wir befinden uns nun hierzulande in einer Phase, in der Frauen immer mehr Macht und Machtpositionen einnehmen. Zudem verändern sich die Rollenbilder stetig. Wird es jetzt zu deutlich mehr Gewalt kommen, die durch Frauen ausgeübt wird? Nein, wird es nicht. Ein gesellschaftlicher Entwicklungsprozess, der Frauen immer mehr Freiheiten, Macht und Mitbestimmungen ermöglicht und sie immer mehr von der Rolle als Sündenböcke und Giftcontainer befreit, deutet bereits auf einen tiefen emotionalen Wandel und mehr emotionaler Reife hin, was seinen Ursprung wiederum nicht unwesentlich in der stetigen Befriedung der Kindheiten, der Abnahme von Gewalt gegen Kinder und der Zunahme an Kinderschutz und Liebe hat.  Daher wird Gewalt und auch sonstiges destruktives Agieren hierzulande zukünftig weiter abnehmen.

Auf einen wichtigen Punkt möchte ich abschließend noch hinweisen. Traditionelle Männlichkeitsvorstellungen erschweren es Männern routinemäßig, sich mit ihrem Opfersein auseinanderzusetzen. Schon für viele Frauen sind Opfererfahrungen (gerade in der Kindheit) etwas, das vergessen und verdrängt bleiben will, das oftmals todgeschwiegen wird. Für Männer wird es – so mein Eindruck - sogar noch schwerer, sich das eigene Opfersein einzugestehen, da dies mit Schwäche, Ohnmachtsgefühlen, Ängsten und Hilflosigkeit bzw. Hilfsbedürftigkeit (was als „unmännlich“ gilt) zusammenhängt. Insofern erleichtert der gesellschaftliche Wandel und der Wandel der Rollenbilder es Männern,  nach Hilfe zu suchen  (zum Beispiel in Therapie und Selbsthilfe) und sie erhalten eine Chance, sich emotional zu “entwaffnen“.

Der ideale Weg, um Männergewalt zu verhindern, ist als aller Erstes Kinderschutz und als Zweites gesellschaftliche Botschaften und Angebote, die Jungen und Männern aufzeigen, dass sie Gefühle haben und sie auch haben und zeigen dürfen. Ich denke, dass wir da in Deutschland schon auf einem guten Weg sind.

Gesamtfazit: Geschlechterforschung muss, wenn sie nach den Ursachen von Gewalt fragt, mehr als bisher nach der Ohnmacht fragen, als nach der Macht (der Männer).

Siehe unbedingt ergänzend Kapitel 3 "Why Males Are More Violent" des Online-Buches "The Origins of War in Child Abuse" von Lloyd deMause. 

Samstag, 9. Februar 2013

Kindheit von Rudolf Heß

Rudolf Heß in einem Brief an seine Eltern vom 24.04.1925, in dem er sich und seine starke Anbindung an Hitler erklärte. „(…) Ich habe mich ja seinerzeit so gefreut,  als nach dem November 23 (Anmerkung: Gemeint ist der 23.11.1923, als die NSDAP reichsweit verboten wurde), da fast alle wankten, Ihr unerschüttert zum Tribunen (Anmerkung: Gemeint ist Adolf Hitler) standet … Und lieber Gott, im Grunde seid Ihr ja eigentlich selbst daran schuld, dass ich so geworden bin und also so handeln muss …“    (Pätzold und Weißbecker, 2007: S. 444)




Die Kindheit von Rudolf Hess ergänzt das Bild, dass ich bisher über einzelne NS-Täter gezeichnet habe.  Dazu im Text unten mehr. Allerdings ergänzt auch die Arbeit der Historiker Manfred Weißbecker (Jahrgang 1935) und Kurt Pätzold (Jahrgang 1930) das Bild, das ich immer wieder bei meinen Recherchen über die Kindheit diverser Diktatoren und ähnlicher Akteure fand. Die destruktive Kindheit wird zwar von den Historikern wahrgenommen und erwähnt, aber erstens nicht weitgehend ausgeführt und zweitens dementsprechend so kommentiert, dass ihr kaum Bedeutung beigemessen wird. Zunächst beginnen die Autoren ihre Schilderungen über die Familienatmosphäre so: Die Kinder „wuchsen in wohlhabenden Verhältnissen und sorglos auf; später wird Heß einmal den Eltern danken: »Wir haben eine freudenreiche und glänzende Jugend gehabt, wie man sie sich schöner und abwechslungsreicher nicht vorstellen kann.«“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S. 15) Diese Beschreibung einer „sorglosen“ Kindheit mag stimmen, wenn es um die finanziellen Verhältnisse und den Status der Familie ging, denn diese waren dank lukrativer Geschäfte in Ägypten (wo die Familie die ersten Lebensjahre von Rudolf ihren Hauptwohnsitz hatte) sehr gut. Die emotionale Situation war allerdings alles andere als sorglos, was auch die beiden Autoren kurz beschreiben.“Das Geschäft diktiert den Ablauf der Tage und wohl auch den Umgangston im Hause. Äußerste Pünktlichkeit, penible Ordnung und uneingeschränkte Disziplin galten als höchste Werte des patriarchalisch herrschenden Vaters, eines typischen Angehörigen stramm national gesinnter Schichten des deutschen Bürgertums.“ (ebd.: S. 17)
Aber gleich danach merken Sie an: „In der historischen Literatur ist immer wieder auf die Strenge des Vaters verwiesen worden. Spätere Entwicklungen und Verhaltensweisen des »Führer-Stellvertreters» sollen damit verstehbar werden. Psychoanalytische Deutungen dieser Art treffen gewiss zu, sie reichen jedoch keineswegs aus, alle Ursachen und die wesentlichsten Rahmenbedingungen der Sozialisation von Rudolf Heß zu erhellen. Mitunter verdecken sie andere, wichtigere Umstände und Faktoren.“ (ebd.: S. 17) Dann kritisieren sie auch noch die Quellenlage. Vieles sei aus den Erinnerungen von Rudolf Heß selbst überliefert, als er bereits an der Spitze der NSDAP stand oder aus seiner Zeit im Gefängnis. (wo ich mich frage, warum denn diese Erinnerungen keine Gültigkeit haben sollten?). Zudem kritisieren sie „manches, was von Autor zu Autor übernommen worden ist (…)“ (ebd.: S. 17), ohne zu erwähnen, welche Autoren sie meinen und was „manches“ bedeutet. Zumindest haben auch Pätzold und Weißbecker die Strenge des Vaters wahrgenommen, in dem sie oben die Werte des „patriarchalisch herrschenden Vaters“ beschreiben und etwas weiter im Text - nebenbei -von dem  „oft als tyrannisch geschilderten Vater“ (ebd.: S. 21) berichten.  Diesen Widerwillen gegenüber Kindheitseinflüssen auf politisches Verhalten und deren entsprechend geringer Gewichtung habe ich derart oft in Büchern von Historikern wahrgenommen, dass dies fast schon eine gesonderte, systematische Analyse Wert wäre.

Deutlichere Worte fand allerdings der Historiker  Rainer F. Schmidt (Jahrgang 1955). „Alle Psychiater, die sich in späteren Jahren mit dem Charakter und der Persönlichkeitsstruktur von Rudolf Heß, mit seiner Fixierung auf Hitler und die Kommandowelt des Totalitären beschäftigen, stimmen darin überein, dass der Schlüssel für diese Disposition in der Phase der primären Sozialisation, in der Jugend mit einem strengen und übermächtigen Vater zu suchen ist.“ (Schmidt, 1997: S. 37) Schmidt berichtet über die Familie Heß: „Zum prägenden Faktor seiner frühen Jahre wurde eben jener strenge, polternde und keinen Widerspruch duldende Vater, der nach Rudolfs eigenen Worten »bleichen Schrecken bei seiner Brut« verbreitete.“ (ebd.: S. 38) Der ganze Tagesablauf der Familie war auf die Ansprüche des Vaters abgestimmt. „(…) von den vollzählig versammelten Familienmitgliedern erdreistete sich niemand, ein Wort zu sprechen, solange der Vater nicht geruhte, das Gespräch zu eröffnen. Er war es, der das Lachen der spielenden Kinder zum Verstummen brachte, wenn er das Haus betrat (…)“ (ebd.: S. 38,39) Der Vater zwang seinen Sohn auch - trotz anderer Befähigungen und Interessen- in den Kaufmannsberuf. Schmidt zitiert Heß wörtlich im Rückblick auf eine Szene: „Als eines Tages der liebe Vater feierlich die ernste Frage an mich stellte, was ich werden wollte – in dem Ton, bei  dem allein uns schon das Blut zu gerinnen drohte …, da kam es mir gar nicht in den Sinn, etwas anderes zu stottern als «Kaufmann».“ (ebd.: S. 39)

Schmidt ergänzt danach, dass immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass viele führende Nationalsozialsten aus strengen Elternhäusern stammten und Hitler wiederum von den „Erziehungsschäden einer Epoche profitierte, die ihre pädagogischen Leitbilder von den Kasernenhöfen holte und ihre Söhne in den Härtekategorien von Kadetten aufzog“ (ebd..: S. 39; hier zitiert er Joachim Fest). Eine erstaunliche (weil relativ seltene) Aussage, deren Wahrheitsgehalt ich mich anschließe, sie trifft aber nicht meine Wahrnehmung bzgl. der Geschichtswissenschaft, dies diese Zusammenhänge oft unter den Tisch kehrt. (Zudem ist das Wort „streng“ wohl etwas verharmlosend, wenn man um die Realität der Kindheit im Deutschen Reich um 1900 weiß.) Rudolf Heß, so Schmidt weiter, „der unsäglich unter der tyrannischen Natur seines Vaters (…) litt, die immer wieder seinen Willen brach und die Basis schuf für die Anfälligkeit gegenüber und die Suche nach einem «Ersatzvater», entsprach exakt diesem Typus.“ (ebd.: S. 39)

Es bleibt unserer Vorstellungskraft überlassen, was sich alles an Gewalt, Gewaltformen und Gewaltandrohung im Hause Heß abgespielt hat. Wenn schon der Tonfall des Vaters das Blut des Sohnes gerinnen ließ, wie dieser es bildlich ausdrückte und der Vater „blanken Schrecken“ bei den Kindern verbreitete, was geschah dann eigentlich, wenn der Vater offen Strafen ausführte oder sich Launen hingab? Die Historiker lassen diese Frage offen. Ich halte es nach den o.g. Schilderungen für sehr sehr wahrscheinlich, dass Rudolfs Vater auch direkt körperliche Gewalt anwandte, sein Charakter und die Sitte der Zeit legen dies sehr nahe.

Es ist bezeichnend, dass man über die Mütter solcher historischen Persönlichkeiten meist weitaus weniger erfährt, als über die Väter. Dabei sind es ja vor allem die Mütter, die historisch die wesentlichen Erziehungsaufgaben übernahmen. Man kann sich auf Grund von zwei Zeugnissen und etwas Vorstellungskraft ausmalen, dass Rudolfs Mutter keine besonders mitfühlende  Person/Mutter war. Von der Mutter erfuhr Rudolf während seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg direkten Zuspruch. Sie schrieb. „Wäre ich ein Mann in der Blüte der Jahre, ich würde auch mit Begeisterung für mein Vaterland kämpfen. Ich will versuchen, wenn auch nicht als Soldat, so doch für das Wohl der Zurückgebliebenen meine Kraft mit zu verwenden.“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S.22) Mit dieser Einstellung entsprach sie sicherlich den meisten Müttern der Zeit. Doch waren das herzliche, mitfühlende Mütter, die derart kriegsbegeistert waren? Noch deutlicher wird es an anderer Stelle. Bei beiden Heß Eltern kam Unmut auf, weil ihr Sohn im Ersten Weltkrieg anfänglich Reservist war und nicht sofort auf eines der umkämpften Schlachtfelder kam. „Klara Heß zeigte sich sechs Wochen nach Kriegsbeginn furchtbar enttäuscht, dass ihr Sohn immer noch «zurückgehalten» werde, seine «junge Kraft für die Freiheit des teuren Vaterlandes einzusetzen»“ (ebd.: S. 23) Und sie beteuerte: „Wir geben Dich dem Vaterland, kommst Du uns lebend zurück, so sehen wir dieses Glück als ein Geschenk Gottes an.“ (ebd.: S. 23) Was ist das für eine Mutter (und wie sah ihr Umgang früher ihren Kindern gegenüber aus), die derart bereitwillig ihren Sohn in den wahrscheinlichen Tod laufen lässt; die ihren Sohn geradezu zu opfern bereit ist?

Arno Gruen hat unter dem Zwischen-Titel „Der reduzierte Mensch“ (Gruen, 2002: S. 164) u.a. Rudolf Heß als Paradebeispiel für einen Menschen ausgewählt, der innerlich leer ist, „eines Ich ohne eigenes Selbst (…); eines Menschen, der keine eigene Identität entwickeln konnte und deshalb jemanden sucht, dem er sich bedingungslos unterwerfen kann. (…) Ein solcher Mensch ist völlig gefangen und völlig beherrscht von dem Diktat des Gehorsams, der ihm auferlegt wurde.“ (ebd.: S. 177,178) Diese innere „Fremdsein“ brachte Heß auch selbst deutlich zum Ausdruck. „Wenige Tage vor dem ersten Putsch der deutschen Faschisten bekante er, wie es um seine Gemütsverfassung stand. Er kenne sich nicht mehr aus in sich, so klagte er im Oktober 1923. Er meinte, sich als eine «eigentümliche Mischung» sehen zu müssen, woraus Spannungen entstünden, die ihm das Leben zeitweise so schwer machten. (…) «ich kenn` mich nicht aus mit mir. Sind`s moderne Kulturnerven in ihren Extremen, ist´s etwas Ungehobenes, das vorerst vergeblich nach einem Ausweg sucht, ich weiß es nicht»“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S.13,14)

Mir ist bzgl. Heß ergänzen aufgefallen, dass dieser grundsätzlich sehr selbstmordgefährdet war. Alleine schon sein begeisterter freiwilliger Kriegseintritt im Ersten Weltkrieg ist ein Zeichen dafür. Freudig zog er in die Todeszone, wie so viele Deutsche dieser Zeit. In einem Gedicht, in dem Heß seine Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg beschreibt, findet sich folgende erhellende und im Grunde alles sagende Stelle.
„(…) He, Franzmann, das ist böser Morgengruß!
Ihr dort müsst sterben, dass wir leben können,
wir selbst und unser ganzes armes Volk (…).“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S. 437)
Oder auch ein anderer Ausschnitt aus dieser Zeit: „Die Landschaft weiß von Schnee, Sternhimmel funkelt. … Brennende Ortschaften! Packend schön, Krieg!“ (Schmidt, 1997: S. 40)
Diese „Leben suchen“ im Tod (sowohl des Eigenen als auch des Anderen) ist etwas, das Arno Gruen in seinen Bücher oft beschrieben hat. Es ist die Suche des innerlich nicht Lebendigen, identitätslosen Menschen nach Leben und Fühlen, in einer pervertierten Form. Dies ist auch etwas, dass Mörder/Serienmörder beschrieben haben. (siehe hier und hier)
Nach dem Waffenstillstand und der Niederlage des Deutschen Reiches fühlte sich Heß im „schwersten Augenblicke“ seines Lebens. „An den Frieden darf man nicht denken.“ schrieb er nach Hause.„ (Schmidt, 1997: S. 42,43) Rachefantasien hielten ihn aufrecht, so scheint es. Denn zunächst dachte er nach dem Friedensschluss an Selbstmord. „Und das Leiden der Mehrheit der Guten der Heimat soll umsonst gewesen sein? … Nein, wär´s umsonst gewesen, bereute ich heute noch, dass ich am Tag, da die ungeheuerlichen Waffenstillstandsbedingungen und ihre Annahme bekannt wurden, ich mir nicht eine Kugel durchs Hirn jagte. Ich tat es damals nicht in der einzigen Hoffnung: Du kannst noch irgendwie dein Teilchen beitragen zur Wendung des Schicksals.“ (ebd.: S. 43)

Am 15. Oktober 1941 begeht Heß in britischer Haft einen Selbstmordversuch. Er leidet in der Folgezeit an Nervenkrankheiten. Am 17. August 1987 begeht Heß am Ende seiner Tage im Gefängnis in Spandau Selbstmord (Deutsches Historisches Museum, 2009) Auf Wikipedia sind weitere drei Selbstmordversuche beschrieben, die Quellen dafür kann ich allerdings hier nicht weiter nachverfolgen.
 Heß, der keine eigene Identität besaß und der in der Folge von (Selbst-)Hass  durchzogen war, suchte den Tod, den eigenen, wie auch den von Millionen anderer Menschen.

Zum Abschluss noch eine persönliche Anmerkung. Wenn ich mir Fotos von Heß anschaue, dann springt mich die „innere Leblosigkeit“ dieses Mannes geradezu an. Tief verborgene, schattige Augenpartie, ungemein gerade und nichts-sagende Gesichtszüge, ein flacher Mund, leere Augen und Kälte. Der Gefängnis-Psychiater James Gilligan hat die von ihm untersuchten Mörder als „Untote“ bezeichnet, innerlich tot, körperlich am Leben. Rudolf Heß passt genau in diese Kategorie Mensch.



Quellen:

Deutsches Historisches Museum (2009): Biographie: Rudolf Heß. 1894-1987.
.
Gruen, Arno (2002): Der Fremde in uns. München. Deutscher Taschenbuch Verlag.

Pätzold, Kurt und Weißbecker, Manfred (2007): Rudolf Heß. Der Mann an Hitlers Seite. Leibzig. Militzke Verlag.

Schmidt, Rainer F. (1997): Rudolf Heß. "Botengang eines Toren"?, Der Flug nach Großbritannien vom 10.  Mai 1941. Düsseldorf. ECON Verlag.

Donnerstag, 31. Januar 2013

Ägypten. Die Ursachen der gescheiterten Revolution liegen im Verborgenen






 (Bild: Graffiti in Ägypten. Präsident Mursi als Krake. Ein Anzeichen dafür, dass auch beim aktuellen Handeln der Opposition emotionale Prozesse im Hintergrund wirken. Mehr zu der Bedeutung derartiger Bilder siehe hier)


Am 01.02.2011 zitierte ich eine Studie aus dem Jahr 1998, die ergab, dass in Ägypten  26 % der Kinder auf Grund von Misshandlungen über Knochenbrüche, Bewusstlosigkeit oder eine bleibende Behinderung berichteten. Ich fragte, ob eine Nation, die zu einem erheblichen Anteil aus einst schwer misshandelten Kindern besteht, eine friedliche Revolution schaffen  und eine echte Demokratie aufbauen kann. Grundsätzlich ist vieles möglich. Aber: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Wege einer derart in der Tiefe traumatisierten Nation friedlich verlaufen, sind nicht wirklich hoch. Dies möchte ich jetzt weitgehender kommentieren. Aber vorher noch ein paar ergänzende Zahlen:

Laut UNICEF (2009 – „Progress for Children. A Report Card on Child Protection“) erlebten in Prozent der ägyptischen Kinder (2- bis 14-Jährige) psychische und/oder körperliche Gewalt (wobei die Mehrheit beides erlebte) 92 %. 68 % erlebten körperliche und psychische Gewalt, 22 % nur psychische Gewalt und 2 % nur körperliche Gewalt. (S. 8) 40 % der Kinder erlebten besondes schwere Formen der körperlichen Gewalt. Dazu zählten Schläge ins Gesicht, an den Kopf oder auf die Ohren, wiederholt oder besonders hart ausgeführt. (S. 29)

Weitaus mehr in die Tiefe ging die Studie „International Variations in Harsh Child Disciplin“, veröffentlicht 2010 in dem Journal Pediatrics. Diese zeigt, das Kinder in Ägypten häufig u.a.  besonders brutale/schwere Formen  körperliche Gewalt erleben, nämlich insgesamt 28 % (darunter fielen: Schütteln von Kindern unter 2 Jahren = 12 %, Verbrennungen zufügen = 2,2 %, zusammenschlagen/durchprügeln = 24 %, würgen = 0,8 %, Luft zum Atmen nehmen = 0,6 %, Tritte = 5,4 %) Werden Schläge mit einem Gegenstand mit eingerechnet (was – so die Forscher - auch als schwere Gewalt bezeichnet werden kann) dann erleben sogar insgesamt 46 % der Kinder schwere körperliche  Gewalt. Leichtere Formen von körperlicher Gewalt erleben 81 % der Kinder. Besonders schwere Formen von psychischer Gewalt erleben 64 % aller Kinder, leichtere Formen 77 %.
Schaut man gesondert auf die Datenauswertung bzgl. der verschiedenen Altersgruppen, ergibt sich zusätzlich ein ergänzend erschreckendes Bild. Die besonders sensible Gruppe der unter 2 Jahre alten Kinder erlebt bereits zu 14 % schwere Formen Körperlicher Gewalt (diese Zahl gilt sowohl ohne die Verwendung von Gegenständen laut o.g. Definition wie auch mit Gegenständen), also ca. jedes 7. Kind! Ebenfalls 14 % dieser Gruppe erlebt besonders schwere Formen psychischer Gewalt.

Die o.g. Zahl von 46 % (inkl. Körperstrafen mit einem Gegenstand) ist ein Durchschnittswert, der sich u.a. daraus ergibt, dass die unter 2 Jahre alten Kinder weniger schwere Formen erleben. Um so erschreckender ist es, dass zwei Altersgruppen deutlich über 46 % schwere körperliche Gewalt erleben; die 2-6 Jahre alten Kinder zu 50 % und die 7-11 Jährigen zu sogar 58 %. Die 12-17 Jährigen zu 45 %. Wenn man also die gesamte Lebensspanne der Kinder betrachtet, wird weit aus häufiger schwere Gewalt erlebt, als der Durchschnittswert von 46 % ausweist.

Für die Studie wurden Mütter zu dem Bestrafungsverhalten beider Elternteile innerhalb eines Jahres vor der Befragung befragt. D.h. das erstens evtl. manche Mütter das reale Ausmaß der Gewalt nicht genau angegeben haben und dass zweitens Gewalterfahrungen, die vor über einem Jahr stattgefunden haben (z.B. bei befragten Müttern, die ältere Kinder hatten, bei denen erfahrungsgemäß die Gewalt etwas abnimmt, da vor allem jüngere bis mittlere Kinder Gewalt erfahren), nicht erfasst wurden. Insofern ist davon auszugehen, das rückblickende Befragungen von Erwachsenen zu eigenen Opfererfahrungen sogar noch einmal höhere Raten ergeben würden, als die oben ermittelten.

Eine andere Studie (die ich hier ausführlich besprochen habe), hat auch die Häufigkeit des Gewalthandelns von Müttern abgefragt. Insgesamt werden dieser Studie folgend 76,3 % der ägyptischen Kinder durch Mütter körperlich bestraft. 2,8 % der Kinder werden mehr als einmal pro Tag körperlich bestraft, 3,5% einmal täglich und 39 % ein oder zweimal die Woche. Insgesamt werden also fast die Hälfte der Kinder (45,5 %) regelmäßig und oft geschlagen!

Eine große Studie (ausführlich hier von mir besprochen), die in Kairo und Alexandria durchgeführt wurde, ergab falgendes Bild:  Ca. 81 % der Kinder wurden zu Hause und 91 % in der Schule geschlagen. 27 % der Kinder, die arbeiten mussten, berichteten auch dort geschlagen worden zu sein. 90 % der Kinder erlebten emotionale Bestrafungen/Gewalt zu Hause und 70 % in der Schule, ebenso 50 % der arbeitenden Kinder an ihrem Arbeitsplatz. 40 % der Schulkinder zeigten Anzeichen für eine Entfremdung von ihren Familien.
51 % der Pflegepersonen (Haushaltsbefragung) berichteten, dass die Kinder in der Woche vor der Befragung geschlagen worden sind, 76 % berichteten von Schlägen innerhalb eines Monats vor der Befragung und 81 % von Schlägen innerhalb eines Jahres.
Schaut man gesondert auf die Altersstufe der 5-8Jährigen, dann werden ganze 94,7 % in irgendeiner Form körperlich bestraft/geschlagen (also deutlich mehr als der Durchschnittswert von 81 %).
51 % dieser Altersgruppe wird mit einem harten Gegenstand wie Gürtel oder Stock geschlagen. 46,5 % wird ins Gesicht geschlagen, 21,3 % werden niedergeschlagen. 7,2 % mit einem Messer verletzt, 5,9 % verbrannt u.a.

Außerdem sind Kinder auch in der Schule nicht sicher (was auch die vorgenannte Studie zeigte). In Ägypten werden 80 % der Jungen und 67 % der Mädchen in der Schule von Lehrern geschlagen. (Prohibiting all corporal punishment in schools: Global Report 2011, S. 7)

Für eine Studie zum Gewaltaufkommen gegen Frauen in Ägypten wurde vorhandene Literatur ausgewertet. Beispielsweise ergab eine Studie aus dem Jahr 1995, für die 6.566 Frauen befragt worden sind, dass 35 % körperliche Gewalt durch ihren Ehemann erlebt haben. Eine andere Studie aus dem Jahr 2005 (mit 5.613 Frauen) ergab, dass 36 % emotionale, körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch ihren Ehemann erlebt haben. 34 % berichten über körperliche und/oder sexuelle Gewalterfahrungen  (emotionale Gewalt weggelassen). (Somach, Susan D. & AbouZeid, Gihan (2009): EGYPT VIOLENCE AGAINST WOMEN STUDY. LITERATURE REVIEW OF VIOLENCE AGAINST WOMEN. S. 9+10) Sofern Kinder diese Gewalt miterleben, hat auch dies psychische Folgen für die Kinder.

Dies alles sind zudem wohlgemerkt relativ aktuelle Zahlen. Die älteren Generationen (die heute u.a. Machtpositionen in Ägypten inne halten) werden sehr wahrscheinlich sogar noch mehr Gewalt erfahren haben, als die Jüngere.

Dazu kommen erschütternde Daten über die Genitalienverstümmelung. 91 % der ägyptischen 15-49 jahre alten Frauen haben diese traumatische Prozedur als Kind erlitten. (UNICEF, Jan 2013)

Die Mehrheit der Ägypter ist - den genannten Zahlen folgend - als Kind im Elternhaus traumatisiert worden, eine enorm große Zahl auch besonders schwer.

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Leider bestätigen aktuelle Berichte, dass Ägypten heute sogar weit aus schlechter aufgestellt zu sein scheint, als vor der Revolution. Wenn die Entwicklungen so weiter gehen, besteht sogar die Gefahr eines Bürgerkrieges. Solche Entwicklungen sind vorhersehbar, wenn man sich mit den Kindheiten vor Ort befasst. Statt planlos den Sturz von Diktatoren zu stützen, wie der Westen dies tat, teils sogar militärisch wie in Libyen, muss man sich vorher die Frage stellen, ob die Bevölkerung vor Ort emotional überhaupt reif für echte demokratische Prozesse ist.
Schwer misshandelte Menschen klammern sich oftmals an äußere Strukturen, Rahmen und Rollenmodelle, die ihnen Sicherheit und Stabilität geben. Arno Gruen hat sehr viel dazu geschrieben (Stichwort „Nicht-Identität“). Er schrieb auch in seinem Buch „Verratene Liebe – Falsche Götter“ (2003):  „Solange der gesellschaftliche Rahmen hält – das heißt, solange man seine eigene Identität, seine Bedeutung, durch äußere Strukturen aufrechtzuerhalten in der Lage ist -, kann die innere Malaise des nicht-autonomen Selbst gezügelt werden. Da diese Menschen aber keine komplexe Sicht ihrer Lage ertragen, sind sie auch die ersten, die die Strukturen gefährden, wenn diese ins Wanken geraten, wenn zum Beispiel die Gesellschaft von Arbeitslosigkeit und dem Verfall ihrer Regeln bedroht ist. Solche Menschen haben nicht die inneren Kräfte, etwas Neues aufzubauen, weil ihnen ein empathischer Kern fehlt.“ (S. 57,58)

Bei Extremisten, so Gruen, dreht sich immer alles um Symbole der Identität wie Rasse, Nationalismus, Religion und Freiheit. „Nie geht es um die aktuelle Analyse der Bedrohung. Wenn der gesellschaftliche Rahmen zerbricht, bleiben Menschen, die für ihren Selbstwert und ihre Bedeutung davon abhängig sind, ohne Halt. Sie sind jetzt dem inneren Hass ausgeliefert. Dieser Hass richtet sich auf alles, was an die eigene verschmähte Lebendigkeit erinnert.“ (S. 59) Und ganz besonders wichtig und erhellend: „Das Bedürfnis nach Strukturen ist kennzeichnend für Menschen, die kein eigenes Selbst haben. Autoritäre Strukturen verleihen ihnen das Gefühl einer Identität, und daher gibt ihnen, solange die Autorität autoritär bleibt, solch ein Gefüge persönliche Bedeutung und Sicherheit. Es ist das Auseinanderbrechen dieser Strukturen, das die angestaute Wut zum Ausbruch bringt. Die Rebellion, die dadurch ausgelöst wird, hat nicht Freiheit zum Ziel, sondern sie will sich neuen Autoritäten/Strukturen ergeben. Diese erneute Unterwerfung, getrieben von der Angst vor Identitätsauflösung und innerem Hass, ist Erlösung. Die neue Unterwerfung ist eigentlich die alte Unterwerfung (…).  Die Ketten der früheren Anpassung an das Schlechte, das man für gut hielt, weil seine Autorität einem ein Sicherheitsgefühl gab, können gesprengt werden. Aber für den Erfolg jeder Revolution, Reform und Erneuerung muss die menschliche Abspaltung vom seelischen Inneren berücksichtigt werden.  “ (S. 65,66)

Diese Abspaltung erfolgt im Kern in der Kindheit, indem Eltern ihre Kinder angreifen, ihre Bedürfnisse nicht sehen und ihnen nicht ermöglichen, ein eigenes Selbst aufzubauen. In einer Atmosphäre der familiären Gewalt und Kälte bleibt Kindern nichts anderes übrig, als sich von sich selbst zu entfremden, als ihre Gefühle und ihre Lebendigkeit zu begraben, da es unerträglich wäre, der realen Situation offen und fühlend ins Auge zu schauen. Auch später ist die eigene Wahrnehmung oftmals getrübt, da die Eltern idealisiert bleiben. Helfen würde – bestenfalls in einem therapeutischen Prozess- eine Aufarbeitung des Erlebten, ein Trauern um das Verpasste, ein realer Blick des Erwachsenen auf das Kind, das er einst war und auf die Eltern, die ihm gegenüberstanden und natürlich ein Zurückerobern von Gefühlen. Doch gerade in der arabischen Welt gelten sehr strenge Familienregeln. Die Ehre der Eltern darf nicht angekratzt werden. Dies wird es den Menschen vor Ort doppelt erschweren, ihre Eltern anzuklagen bzw. sie zu kritisieren und sich der Realität der eigenen Kindheit zu stellen.

Wer die Entwicklungen in der arabischen Welt verfolgt, sollte sich aktuell auch noch einmal mit dem auseinandersetzen, was Lloyd deMause „Wachstumspanik“ nennt. (Ich habe das hier  – etwas weiter unten im Text – etwas ausgeführt)  Denn in der Tat hatten die diversen Revolutionen – so mein Eindruck aus den Berichten der Tagespresse – bisher nur negative Folgen für die Menschen und die sozialen und ökonomischen Entwicklungen bzw. für das Wachstum und den Fortschritt.

Um Ägypten (und auch anderen Ländern dieser Region) echte Freiheit zu ermöglichen, muss in dem Land ein gut durchdachtes Kinderschutzprogramm ins Leben gerufen werden, das die ganze Gesellschaft durchdringt. Da derzeit islamistische Kräfte die Wege zu dominieren scheinen, ist Ägypten wohl weiter davon entfernt, als vor der Revolution. Denn die Islamisten setzten i.d.R. auf alte Werte (die ihnen Sicherheit und Halt geben), was vor allem die Unterdrückung von Frauen (und somit den Müttern) und Kindern bedeutet.

Nachtrag: Im Kapitel „Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie“ des Buches „Deutschland misshandelt seine Kinder“  (2014 erschienen) beschreiben die beiden Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Guddat folgende Begebenheit:
"Am Institut für Rechtsmedizin der Charité werden häufig ägyptische Gastärzte geschult. Wenn sie unsere Vorträge über Kindesmisshandlung hören, zeigen sich viele von ihnen verwundert, dass Körperstrafen in Deutschland als Mittel der Kindererziehung verboten sind.  «Bei uns darf man seine Kinder ja auch nicht totschlagen», sagte einmal ein ägyptischer junger Arzt zu uns. «Aber wie erzieht ihr eure Kinder denn, wenn ihr sie nicht schlagt?» und ein Kollege von ihm fügt hinzu: «Das ist doch schließlich mein Kind, das ich schlage, nicht das Kind meines Nachbar.» "


Siehe ergänzend: "Das Fundament des Bürgerkrieges in Syrien"

Samstag, 3. März 2012

Kindheit von Jassir Arafat

Jassir Arafat wurde 1929 in eine Zeit und in eine Region geboren, die ihm die klaren Feindbilder quasi mit in die Wiege lag. Dass diese von Außen vorgegebenen Feindbilder bei ihm auch auf fruchtbaren Boden fielen, wird an Hand seiner Kindheit deutlich. (Wie schon oft erwähnt ist meine Grundthese, dass wirklich geliebte Kinder Freund-Feind-Schemata in ihrem späteren Leben entsprechend kritisch gegenüberstehen und insbesondere nicht mit gezielter mörderischer Gewalt gegen andere Menschen vorgehen können, so wie dies Arafat während seiner Zeit als Terrorist und Guerillakämpfer tat.)
1933 – Jassir ist zu dieser Zeit ca. vier Jahre alt – stirbt seine Mutter an einer Nierenerkrankung. (vgl. Sadek, 2006, S. 23) Sie hinterlässt drei Töchter und vier Söhne. Der Vater heiratet darauf ein zweites mal, aber die Ehe scheitert bereits nach einigen Monaten, wie Sadek berichtet. Eine andere Quelle (Rubin & Rubin, 2003, S. 13) belegt, dass diese zweite Frau die Kinder schlecht behandelte (was auch immer sich hinter diesem „schlecht“ verbergen mag.) Zu seiner Entlastung schickt der Vater seine beiden jüngsten Kinder (eines davon ist Jassir) nach Jerusalem in die Obhut eines Onkels, über dessen Erziehungsstil man in den verwendeten Quellen nichts erfährt. Er erlebt somit gleich zwei schwere Trennungen hintereinander, den Verlust der Mutter und die Trennung von seinen Geschwistern, seinem Vaters und der vertrauten Umgebung. Zwischen 1933 und 1937 verbringt Jassir seine Kindheit bei dieser Jerusalemer Familie.

Im April 1936 beginnt ein landesweiter palästinensischer Generalstreik und in der Folge auch ein bewaffneter Aufstand, der von den Briten brutal niedergeschlagen wird. Der junge Arafat erlebt diesen Aufstand aus nächster Nähe mit, bei dem auch sein Onkel verhaftet wird. 1937 kehren Jassir und sein jüngerer Bruder zurück zu ihrem Vater nach Kairo, der inzwischen ein drittes Mal geheiratet hat. Beide kommen in die Obhut ihrer zwölf Jahre älteren Schwester Inam. „Die neue Stiefmutter können die Kinder nicht ausstehen. Die dritte Ehe des Vaters erweist sich abermals als Fehlschlag, sie vertieft den Graben zwischen dem Vater und seinen Kindern. Abd al-Rauf bleibt ihnen als disziplinierender, autoritärer Vater in Erinnerung.“ (Sadek, 2006, S. 25) Was sich alles an Gewalt hinter den Worten „disziplinierend“ und „autoritär“ verbirgt, erfährt man vom Biographen leider nicht. Laut UNICEF erlebten – Grundlage sind Daten aus den Jahren 2005-2007 - in Prozent der Kinder (2-14 J.) psychische und/oder körperliche Gewalt (wobei die Mehrheit beides erlebte) in den besetzten palästinensischen Gebieten 95 % und in Ägypten 92 %. (vgl. UNICEF 2009, S. 8) Wenn schon heute noch fast alle Kinder in dieser Region Gewalt erfahren, dann wird auch der 1929 geborene Arafat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Gewalt erfahren haben, vermutlich auch noch in heftigerer Form, als die heutigen Kinder, da sich die Erziehungspraxis im historischen Rückblick stetig verschlechtert.
Arafat selbst erwähnte seinen Vater nie, mit dem er nachweisbar keine enge Beziehung hatte. Neben der autoritären Art wird auch die jahrelange Trennung vom Vater ihren Teil dazu beigetragen haben, dass Vater und Sohn sich nicht gerade nahe standen.
Arafats Schwester erinnerte sich, dass ihr Bruder bereits als Kind seine Spielkameraden in militärische Gruppen einteilte und ihnen befahl, die Straßen rauf und runter zu marschieren. Wenn ein Kind aus der Reihe tanzte, wurde es von Arafat mit einem Stock geschlagen. (vgl. Brexel, 2004, S. 13) Hier findet sich ein gewichtiges Indiz dafür, dass auch Arafat selbst mit einem Gegenstand geschlagen wurde und dies im „Spiel“ wiederaufführte. Alles in allen ergibt sich das Bild einer sehr traurigen Kindheit.



Quellen:

Brexel, B. 2004: Yasser Arafat. Rosen Publishing Group, New York.

Rubin, B & Rubin, J. C. 2003: Yasir Arafat: A Political Biography. Oxford University Press, New York.

Sadek, H. 2006: Arafat. Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen / München.

UNICEF 2009: Progress for Children. A Report Card on Child Protection; http://www.unicef.de/fileadmin/content_media/presse/PFC_2009/Progress_20for_20Children-No.8_20LoRes_EN_USLetter_08132009.pdf

Dienstag, 1. November 2011

Gewalt gegen Kinder in Afrika


Anmerkung: Dieser Beitrag ist leicht veraltet. In einem anderen Beitrag habe ich aktuellere Zahlen aus einer großen UNICEF-Studie besprochen, die zeigte, dass Afrika zusammen mit dem Nahen Osten  zu den gewaltvollsten Regionen auf der Welt für Kinder gehört.



In der Vergangenheit habe ich in Bezug auf Afrika oft von einer „black box“ was die Kindererziehungspraxis betrifft gesprochen. Mehr Licht ins Dunkle bringt der aktuelle UNICEF Report 2011 „Kinder vor Gewalt schützen“ (erschienen im Fischer Taschenbuch Verlag; siehe auch einige Datengrundlagen 2 Jahre vorher online "Progress for Children. A Report Card on Child Protection") bzgl. der Verbreitung von Gewalt und der Akzeptanz von häuslicher Gewalt (Nachtrag: Mittlerweile habe ich weitere wichtige Studien besprochen, die ich im Textverlauf unten extra verlinkt habe!).

Gewalt gegen Kinder in Prozent wurde wie folgt definiert. „Kinder (2-14. J.), die 2005-2008 psychisch oder physisch bestraft wurden“ (Auf Grund des o.g. Links zu den UNICEF Grundlagendaten 2009 kann ich noch ergänzen, dass die nachfolgenden Zahlen mehrheitlich angeben, dass die Kinder beides erleben, körperliche und psychische Gewalt)

Akzeptanz von häuslicher Gewalt 2002-2009 in % wurde wie folgt definiert: Anteil der Mädchen und Frauen (15-49 Jahre), die die Anwendung von Gewalt durch ihren Ehemann für gerechtfertigt ansehen. Als Gründe, die Gewalt rechtfertigen, wurden genannt: das anbrennen von Essen, Streit mit dem Partner, Verlassen des Hauses ohne sein Wissen, Vernachlässigung der Kinder oder Verweigerung von Sexualverkehr.

Hier die Ergebnisse bzgl. einiger afrikanischer Länder:

Ägypten: Gewalt gegen Kinder = 92 % / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 39 %

Äthiopien: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 81 %
(siehe unbedingt Extraseite (unabhängig vom o.g. UNICEF Report): "Gewalt gegen Kinder in Kenia, Uganda und Äthiopien")

Burkina Faso: Gewalt gegen Kinder = 83 % / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 71 %
 (siehe unbedingt Extraseite (unabhängig vom o.g. UNICEF Report): Gewalt gegen Kinder in Burkina Faso, Nigeria, Kamerun, Kongo und Senegal)

Elfenbeinküste: Gewalt gegen Kinder = 91 % / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 65 %

Gambia: Gewalt gegen Kinder = 87 % / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 74 %

Guinea-Bissau: Gewalt gegen Kinder = 82 % / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 52 %

Kamerun: Gewalt gegen Kinder = 93 % / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 56 %
(siehe unbedingt Extraseite (unabhängig vom o.g. UNICEF Report): Gewalt gegen Kinder in Burkina Faso, Nigeria, Kamerun, Kongo und Senegal)

Kenia: Extraseiten (unabhängig vom o.g. UNICEF Report) "Gewalt gegen Kinder in Kenia" und unbedingt wichtig:
"Gewalt gegen Kinder in Kenia, Uganda und Äthiopien")

Kongo, Dem. Rep.: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 76 %
(siehe unbedingt Extraseite (unabhängig vom o.g. UNICEF Report): Gewalt gegen Kinder in Burkina Faso, Nigeria, Kamerun, Kongo und Senegal)

Kongo, Dem. Volksrep.: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 76 %

Liberia: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 59 %

Mosambik: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 36 %

Namibia: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 35 %
(ergänzend: Kindererziehung in Namibia - Ein Erfahrungsbericht)

Niger: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 70 %

Nigeria: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 43 %
(siehe unbedingt Extraseite (unabhängig vom o.g. UNICEF Report): Gewalt gegen Kinder in Burkina Faso, Nigeria, Kamerun, Kongo und Senegal)

Ruanda: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 48 %
siehe ergänzend Extraseiten (unabhängig vom o.g. UNICEF Report): "Kindheit und Terror in Ruanda"

Sambia: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 62 %

Senegal: Keine UNICEF Angaben.
(siehe unbedingt Extraseite (unabhängig vom o.g. UNICEF Report): Gewalt gegen Kinder in Burkina Faso, Nigeria, Kamerun, Kongo und Senegal)

Sierra Leone: Gewalt gegen Kinder = 92 % / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 65 %

Simbabwe: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt 48 %

Somalia: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt 76 %

Tansania: Extraseite (unabhängig vom o.g. UNICEF Report) "Gewalt gegen Kinder in Tansania"

Togo: Gewalt gegen Kinder = 91 % / Akzeptanz von häuslicher Gewalt 53 %

Uganda: (siehe unbedingt Extraseite (unabhängig vom o.g. UNICEF Report): "Gewalt gegen Kinder in Kenia, Uganda und Äthiopien")

Zentralafrikanische Republik: Gewalt gegen Kinder = 89 % / Akzeptanz von häuslicher Gewalt keine Angaben (siehe auch "Ursachen der Gewalt in der Zentralafrikanischen Republik und wie man daran vorbeisehen kann")

Besprechung der Zahlen:

Leider ist die Definition von der Gewalt gegen Kinder auf Grund der Metaebene der Studie etwas schwammig. Trotzdem geben die Zahlen ein Bild über das sehr hohe Ausmaß der Gewalt, nicht jedoch über die Häufigkeit und Intensität. Wenn man einzelne schockierende Berichte aus dieser Region in der Tagespresse verfolgt und sich zusätzlich z.B. Studien wie nachfolgende anschaut, die mehr in die Tiefe gehen, dann gehe ich sehr stark davon aus, dass Gewalt gegen Kinder in dieser Region nicht nur in Form von seltenen Züchtigungen und gelegentlichen verbalen Demütigungen vorkommt, sondern Gewalt weit aus häufiger und intensiver ausgeübt wird:
In Ägypten sagten beispielsweise bei einer Umfrage 37 % der Kinder, dass sie von ihren Eltern geschlagen oder gefesselt würden. 26 % berichteten über Knochenbrüche, Bewusstlosigkeit oder eine bleibende Behinderung aufgrund der Misshandlungen. (vgl. Youssef, Attia & Kamel, 1998 zit. nach WHO, 2002, S. 62) In Äthiopien berichteten 21 % der befragten städtischen Schüler und 64 % der ländlichen Schüler von Blutergüsse oder Prellungen auf Grund körperlicher Bestrafungen durch ihre Eltern. (vgl. Ketsela & Kedebe, 1997 zit. nach WHO, 2002, S. 62); siehe ergänzend auch unbedingt "Gewalt gegen Kinder in Tansania", "Gewalt gegen Kinder in Kenia, Uganda und Äthiopien"und "Gewalt gegen Kinder in Burkina Faso, Nigeria, Kamerun, Kongo und Senegal".

Dazu kommt routinemäßige, institutionelle Gewalt an Schulen. 1998 wurde z.B. Gewalt an Schulen in Kamerun verboten. Doch zwei Jahre später zeigte eine Studie durch EMDIA, dass die Lehrkräfte weiterhin SchülerInnen körperlich bestraften. 97 % der befragten SchülerInnen berichteten, dass sie körperliche Gewalt durch Lehrkräfte erfahren hatten. (vgl. World Report on Violence against Children, 2006, S. 117)
Studien aus dem Jahr 2005 in Ägypten zeigten, dass 80 % der Schüler und 67 % der Schülerinnen Körperstrafen durch Lehrkräfte erlitten haben. (ebd., S. 118) Ähnliches zeigte eine große Studie in Südafrika. 12.793 SchülerInnen wurden befragt. 70,1 % der GrundschülerInnen und 47,5 % der SchülerInnen von weiterführenden Schulen wurden von Lehrkräfte geschlagen, obwohl dies gesetzlich verboten ist. Die Studie zeigte zudem, dass 47.3 % der befragten GrundschülerInnen und 20 % der SchülerInnen aus weiterführenden Schulen von ihren Eltern geschlagen werden, wenn sie etwas falsch gemacht haben. (vgl. Burton, P., 2008: Merchants, Skollies and Stones: Experiences of School Violence in South Africa, Cape Town: Centre for Justice and Crime Prevention) Auch in Kenia gibt es erschütternde Berichte über besonders schwere Gewalt gegen SchülerInnen - siehe hier.
Ich möchte an dieser Stelle auch hervorheben, dass die UNICEF-Zahlen sehr aktuelle Zahlen sind und die hier im Absatz genannten ebenfalls relativ aktuelle. Was die ältere Erwachsenengeneration alles an Gewalt und Gewaltintensität erfahren hat, wird erfahrungsgemäß noch schlimmer sein, als das, was wir heute sehen.

Auch in (West-)Europa finden wir eine hohe Gewaltbetroffenheit der Kinder von bis zu 2/3 könnte man jetzt kritisch in Anbetracht der UNICEF Zahlen sagen. Dabei überwiegen allerdings leichte körperliche, nicht häufige Züchtigungen. Ich denke, das macht u.a. den Unterschied. Eine aktuelle KFN Studie aus dem Jahr 2009 zeigte, dass 42,1 % der befragten Jugendlichen über keinerlei gewalttätige, körperliche Übergriffe seitens der Eltern berichteten. 42,7 % erlebten leichte körperliche Gewalt (eine runtergehauen, hart angepackt oder gestoßen und/oder mit einem Gegenstand geworfen). Insgesamt 15,3 % der Befragten geben an, vor ihrem zwölften Lebensjahr schwerer Gewalt (mit einem Gegenstand geschlagen, mit der Faust geschlagen/ getreten und/oder geprügelt, zusammengeschlagen) durch Elternteile ausgesetzt gewesen zu sein; von diesen können – laut Definition der Studie - 9 % als Opfer elterlicher Misshandlung in der Kindheit bezeichnet werden. Insgesamt sind also 57,9 % der Jugendlichen in Deutschland von körperlicher Gewalt durch Eltern betroffen, allerdings sind die schweren Formen von Gewalt erheblich niedriger. Je häufiger und je schwerer die Formen der Gewalt, desto schlimmer sind die Folgen für die Kinder und auch die später Erwachsenen. Bzgl. Afrika nehme ich wie gesagt an, dass schwerer Formen der Gewalt weitaus häufiger vorkommen als z.B. in Deutschland. Dazu kommen Bedrohungen durch Angstmachen vor Geistern, Hexen und Dämonen, wie oft bzgl. Afrika berichtet wird. (In dem genannten UNICEF Report wird z.B. auf Seite 111 berichtet, dass sich in der Stadt Mkaiki in der Zentralafrikanischen Republik zehn von zwölf Prozessen um Hexerei drehen. Die täglichen Anhörungen sind ein öffentliches Spektakel. Die Beschuldigungen sind haarsträuben – Menschen sollen sich in Tiere verwandelt haben, Stürme oder gestohlene Seelen. Der Bericht zeigt auf, dass auch Kinder willkürlich der Zauberei verdächtigt wurden und daraufhin körperliche Misshandlungen erfuhren. Ich finde zudem alleine das Aufwachsen unter solchen mystischen Angstszenarien bereits psychisch gewaltvoll und sehr belastend.) Systematisch traumatisch sind auch Initiationsrituale, sowohl für Jungen als auch für Mädchen. Das alles ist noch mal ein Thema für sich. Wir werden letztlich in vielen afrikanischen Regionen entsprechend dem stärkeren Gewaltverhalten gegen Kinder eine komplett andere Psychoklassen-Verteilung vorfinden, als im heutigen Europa. Der Kulturschock, der uns dort begegnet, ist eigentlich mehr ein "Psychoklassenschock".


Die Akzeptanz von häuslicher Gewalt ist im UNICEF Bericht schon genauer definiert und erschreckend hoch in den genannten Ländern. Die Akzeptanz ist mit 35 % am niedrigsten in Namibia und mit 81 % am höchsten in Äthiopien, die anderen Länder liegen dazwischen. Bei den Ländern, wo zugleich auch Zahlen bzgl. der Gewalt gegen Kinder vorliegen, zeigt sich durchgängig, dass die Gewaltraten im Vergleich zu den Raten bzgl. der Gewaltakzeptanz deutlich höher liegen. Insofern gehe ich davon aus, dass wir bei den Ländern, wo keine Zahlen zur Gewalt gegen Kinder aber Gewaltakzeptanzzahlen vorliegen, durch letztere Zahl auch Rückschlüsse zu ersterer ziehen können. Beispielsweise wird für Ruanda eine Akzeptanzrate bzgl. häuslicher Gewalt von 48 % berichtet, entsprechend würde ich schätzen, dass die Gewaltrate gegen Kinder dort zwischen 70 und 90 % liegen könnte.
Dieser Part des Berichtes ist zudem ganz besonders aufschlussreich, weil er letztlich etwas über das Phänomen „Identifikation mit dem Aggressor“ aussagt und sich auf Mädchen und Frauen bezieht, denjenigen also, die hauptsächlich für die Kindererziehung zuständig sind. Letztlich sagen die Prozentzahlen, dass ein Großteil der Mädchen/Frauen erlebte Gewalt für legitim halten. Gleichzeitig wird der Täter entlastet, da seine Tat ja durch das „unkorrekte“ Verhalten der Frauen ausgelöst wurde. Die Schuld für die Gewalt trägt demnach also die Frau selbst. Es ist nur logisch, dass eine solche Identifikation mit dem Täter bzw. eine Akzeptanz von Gewalt auch viel darüber aussagt, wie diese Frauen mit ihren eigenen Kindern umgehen, wenn diese sich einmal „unkorrekt“ verhalten. Frauen sind, was den Umgang mit Kindern angeht, alles andere als das friedlichere Geschlecht, was vielen Menschen gar nicht bewusst ist. Studien in westlichen Ländern zeigen, dass Frauen mindestens zur Hälfte an der Misshandlung von Kindern beteiligt sind. Sehr viel anders dürfte es auch nicht in Afrika aussehen. (das belegen übrigens auch die oben im Text extra verlinkten Studien)

Afrika ist der Kontinent, der einfach nicht zu Ruhe kommt, in dem Gewalt, Terror, Krieg und Elend oftmals Alltag ist. Die meisten Forschenden und Berichterstatter übersehen routinemäßig die sehr hohe Gewaltbetroffenheit von afrikanischen Kindern. Wenn auf die Gewaltbetroffenheit der Kinder (bezogen auf den sozialen Nahbereich) eingegangen wird, dann meist isoliert oder sie wird als Folge von Armut, Kriegen und Kolonialismus gedeutet. Dass eine gesellschaftlich gewaltvolle Gesamtlage und eine destruktive Struktur in der Tiefe durch die weit verbreitete Gewalt gegen Kinder entstehen kann (und die Gewalt gegen Kinder an sich wiederum aus eigenen Gewalterfahrungen heraus entsteht), wird selten gesehen oder besprochen.
Eine nachhaltige Entwicklungshilfe muss immer auch das vordergründige Ziel haben, Kinder vor (vor allem elterlicher) Gewalt zu schützen. Wer dies übersieht, wird langfristig kaum Erfolge vor Ort erzielen. Zudem sollten zukünftig die möglichen Unterschiede in der Kindererziehungspraxis von Land zu Land herausgearbeitet werden. Insofern ließen sich vielleicht auch einige Unterschiede in den Konfliktsituationen besser erklären. So weit ich weiß, ist die Republik Botsuana das einzige afrikanische Land, das seit 1945 keinen Krieg oder einen bewaffneten Konflikt erlebt hat. Insofern wäre es interessant, hier ggf. Unterschiede bzgl. des Umgangs mit Kindern herauszuarbeiten. Umgekehrt könnte man schauen, ob in den Ländern, die ganz besonders blutige Kriege erlebten - wie z.B. Ruanda, Kongo oder Sudan – ggf. eine weit verbreitete besondere Brutalität gegen Kinder nachweisbar ist.

Dienstag, 1. Februar 2011

Kindheit und Volksaufstand in Ägypten

Erst ein Volksaufstand in Tunesien jetzt auch in Ägypten. Es ist einiges los in Nordafrika, einer Region, die mir nicht wirklich bekannt ist und über die ich politisch wenig beitragen kann. Wir werden sehen, wie sich diese Länder weiter entwickeln.

Mir fällt aktuell allerdings eine Studie ein. In Ägypten sagten bei einer Umfrage 37 % der Kinder, dass sie von ihren Eltern misshandelt oder gefesselt würden. 26 % berichteten über Knochenbrüche, Bewusstlosigkeit oder eine bleibende Behinderung aufgrund der Misshandlungen. (vgl. WHO, 2002, S. 62) Diese Zahlen sind heftig und erschreckend, vor allem auch bzgl. der schwerwiegenden Folgen der Gewalt, die hier berichtet wurden. Die Original Studie heißt: Youssef RM, Attia MS, Kamel MI. 1998: Children experiencing violence: parental use of corporal punishment. Child Abuse & Neglect , 22:959–973. Sie ist also aus dem Jahr 1998. Über 13 Jahre sind seitdem vergangen und diejenigen, die damals Kind waren, sind heute junge Männer und Frauen und viele von ihnen werden heute auf den Straßen sein, ob nun als Demonstrant, Polizist oder Militär. Die ältere Generation, die zukünftig Machtpositionen einnehmen wird, wird vermutlich sogar noch mehr und noch härter von elterlicher Gewalt betroffen sein.

Vor diesem Hintergrund wird es vermutlich ein schwerer Weg für eine echte Demokratiebewegung werden. Heute haben die Ägypter ein gemeinsames Ziel und einen realen Feind: Das autoritäre Regime Mubarak. Doch was kommt danach? Kann eine Nation, die zu über einem Drittel als Kind schwer misshandelt wurde, eine friedliche Revolution schaffen und eine echte Demokratie aufbauen? Grundsätzlich will ich hier nicht Nein sagen. Alles ist möglich. Die dortigen Entwicklungen bleiben spannend und schon jetzt wird deutlich, dass der Sturz autoritärer Regime in islamischen Ländern auch von den Menschen selbst geschafft werden kann. Man braucht dazu keine US-Invasion…

Samstag, 6. November 2010

Kindheit in den USA

Was ist nur los mit dem Land USA? Seit Jahrzehnten stehen die USA für eine destruktive Außenpolitik, für Kriege oder indirekter Beteiligung an diesen. Von den 149 Staaten, die beispielsweise für das Jahr 2010 im "Global Peace Index" bzgl. ihrer "Friedfertigkeit" analysiert wurden, landeten die USA auf dem schlechten Platz 85. Seit Anfang 1981 sind mit Ronald Reagan, über Geoge Bush senior, Bill Clinton und dann George W. Bush Junior bis Anfang 2009 (also ca. 28 Jahre) nur als Kind von ihren Eltern misshandelte und traumatisierte Präsidenten an der Macht gewesen. (Die Präsidenten davor habe ich nicht untersucht, ebenso über Obama habe ich bisher nicht weiter etwas gelesen. Allerdings schreibt Lloyd deMause in einem Nebensatz, dass die Kindheit der meisten US-Präsidenten von Gewalt und Vernachlässigung geprägt war. vgl. deMause, 2005, S. 19). Im Sinne der psychohistorischen Theorie sind „die Führer“ im Grunde reine emotionale Stellvertreter der Bevölkerung, ihre persönliche Misshandlungsgeschichte steht also im Zusammenhang mit dem, was große Teile der Bevölkerung als Kind erlebt haben.

Schauen wir uns also einige Zahlen und Fakten an, die ich gefunden habe:

Ein Viertel aller Kinder in den USA lebt von staatlichen Essensmarken. (vgl. DER SPIEGEL, 30.10.2010, Nr. 44, „Good night, America“, S. 82)

Im Jahr 2008 berichtete der “child protective services” (CPS) in den USA von 3,3 Millionen gemeldeter Fälle von Kindern, die körperlichen, emotionalen oder sexuellen Missbrauch erlebt hatten oder vernachlässigt wurden. (vgl. CDS, 2010: Child Maltreatment. Facts at a Glance)

Die amerikanische Kaiser Permanente Krankenversicherung hat 1995 eine Studie (ACE-Studie) mit Daten von 17.421 Versicherten bzgl. dem Zusammenhang zwischen belastenden Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences, kurz ACEs) und dem Gesundheitszustand durchgeführt.  Ergebnisse bzgl. belastenden Kindheitserfahrungen (die wohl eher für die Mittelschicht und höhere Schichten gelten, die sich in den USA eine private Krankenversicherung leisten können.) :
11% erlebten emotionale Misshandlungen
28% erlebten körperliche Misshandlungen
21% erlebten sexuellen Missbrauch
15% erlebten emotionale Vernachlässigung
10% erlebten körperliche Vernachlässigung
13% wurden Zeugen, wie ihre Mutter Gewalt erlebte
27% wuchsen in Familien auf, in denen Alkhol und/oder Drogen konsumiert wurden
19% wuchsen in einer Familie mit einer psychisch kranken Person auf.
23 wuchsen in einer Familie auf, in der sie durch Trennung oder Scheidung von einem Elternteil getrennt waren
5 % wuchsen in Familien auf, wo sich ein Familienmitglied im Gefängnis befand
(Mehr als 20 % erlebten drei oder mehr der genannten belastende Kindheitserfahrungen!)

Eine Studie in den USA aus dem Jahr 2000 ergab, dass bei 94 Prozent der Kinder zwischen drei und vier Jahren Ohrfeigen oder Schläge zur Erziehung gehörten. (vgl. UNICEF 2003: Child Maltreatment Deaths in Rich Nations. Innocenti Report Card No.5. Innocenti Research Centre, Florence., S. 22) Ein Bericht aus dem Jahr 1995 der “American Gallup Organization” zeigte, dass 40 % der Dreizehnjährigen regelmäßig geschlagen wurden, selbst im Alter von fünfzehn Jahren wurden immer noch 25 % der Jugendlichen geschlagen. (vgl. ebd., S. 23)

Ein Forscherteam hat vier repräsentative US-Studien der Jahre 1975, 1985, 1995 und 2002 ausgewertet. Im Jahr 1975 wurden beispielsweise 82,2 % der 3- bis 5-Jährigen Kinder körperlich gezüchtigt, im Jahr 2002 waren es immer noch 78,8 %. Zudem erlebt immer noch fast jedes dritte Kind in den USA der Studie folgend in seiner Familie Körperstrafen mit einem Gegenstand; eine Zahl, die die AutorInnen der Studie als alarmierend bezeichnen.
(Zolotor, A.J., Theodore, A. D., Runyan D.K., Chang J. J. & Laskey, A. L. (2011).Corporal punishment and physical abuse.Population-basedtrends for three-to-11-year-old children in the United States. Child Abuse review, 20(1), S. 57–66.)

In einer repräsentativen Telefonumfrage aus dem Jahr 2000 wurden 2068 Eltern von Kindern im Alter zwischen 4 und 35 Monaten in den USA befragt. 26% berichtet, dass sie ihre Kinder verprügelt (englisch “spanking”) hätten. (vgl. Michael Regalado et al, 2004: Parents’ Discipline of Young Children: Results From the National Survey of Early Childhood Health. In: PEDIATRICS, Vol. 113, No. 6.)
Das ist eine sehr hohe Zahl, wenn man sich klar macht, dass hier die Eltern direkt am Telefon befragt wurden und natürlich nicht unbedingt wahrheitsgemäß antworten müssen. Zudem ist die Zahl auch erschreckend, da sie sich auf Säuglinge bis Kinder im Alter von nur ca. 3 Jahren bezieht. Darüberhinaus berichteten 67 % der Befragten, ihre Säuglinge/Kleinkinder angeschrien zu haben.

Im Jahr 2005 wurden in allen 50 US-Bundesstaaten jeweils 600 Erwachsene befragt (surveyusa, 24.08.2005, Disciplining a Child). Im Schnitt sagten 72 % aller Befragten, dass es in Ordnung sei, ein Kind zu schlagen (um es zu disziplinieren). (In Alabama gab es dabei die höchste Zustimmung mit 87 %, die niedrigste mit 55 % in Vermont)
31 % meinten, dass es in Ordnung sei, den Mund eines Kindes mit Seife "auszuwaschen". (Etwas, dass in den USA als Bestrafungsform für z.B. das Benutzen von Schimpfwörtern benutzt wrd. Auf Wikipedia gibt es sogar einen eigenen Artikel dazu.) Und 23 % meinten, dass es in Ordung für einen Lehrer sei, Schüler körperlich zu bestrafen. Schaut man sich die Ergebnisse für alle Bundesstaten einzelnd an, stellt man ein starkes Gefälle fest. Die Gewaltbereitschaft gegen Kinder ist offensichtlich am höchsten in den südlichen Staaten.

Für eine Studie (Desmond K. Runyan, Viswanathan Shankar, Fatma Hassan, Wanda M. Hunter, Dipty Jain, Cristiane S. Paula, Shrikant I. Bangdiwala, Laurie S. Ramiro, Sergio R. Muñoz, Beatriz Vizcarra and Isabel A. Bordin (2010): International Variations in Harsh Child Discipline. Pediatrics;126;e701 ) wurden 1435 Mütter zum Gewaltverhalten beider Elternteile  telefonisch befragt.
Ausgewählte Ergebnisse: 44 % versohlten den Hintern, 24 % schlugen mit einem Gegenstand auf die selbe Stelle, 3,6 % schlugen mit einem Gegenstand auf eine andere Körperstelle. Diese Gewalt wurde von den Forschern als mittelschwere Gewalt eingestuft. Der Mittelwert beträgt hier ingesamt 55 %. Besonders schwere Formen der körperlichen Gewalt wurden von den Müttern fast nicht angegeben. Beispielsweise gaben nur 0,3 % an, dass das Kind durchgeprügelt/zusammengeschlagen wurde. Allerdings: 2,6 % schüttelten Kinder unter 2 Jahren.
Da Misshandlungen in den USA gesetzlich verboten, „Züchtigungen“ (was der ersten Kategorie der mittelschweren Gewalt in etwa entspricht) aber erlaubt sind, ist zu vermuten, dass Opferbefragungen hier etwas andere Ergebnisse bringen würden als Täterbefragungen.  (Grundsätzlich zeigen die Daten dieser ländervergleichenden Studie allerdings auch, dass in anderen Ländern, z.B. Ägypten und Indien, schwerere Gewaltformen weiter verbreitet sind, als in den USA. )
Schaut man gesondert auf die verschiedenen Altersstufen der Kinder, ergibt sich nochmal ein anderes Bild, als das, was die o.g. Mittelwerte aufzeigen. Bereits ganze 31 % der Mütter gaben an, dass mittelschwere körperliche Gewalt gegen Kinder unter 2 Jahren in ihrer Familie angewendet wird. Dies ist eine enorm hohe Zahl, wenn man an die besonders empfindliche Psyche dieser Altersgruppe denkt.  7,7 % dieser Altersgruppe erlebt bereits schwere körperliche Gewalt, sofern Schläge mit Gegenständen dazugezählt werden. (ohne Gegenstände = 2,6 %)Ebenfalls erleben 36 % dieser Altersgruppe mittelschwere Formen psychischer Gewalt, 9 % schwere Formen.
Ganze 76 % der 2 bis 6 Jahre alten Kinder erlebt mittelschwere körperliche Gewalt und 74 % erleben mittelschwere psychische Gewalt. 27 % dieser Altersgruppe erlebt schwere körperliche Gewalt, sofern Schläge mit Gegenständen dazugezählt werden. (ohne Gegenstände = 0,6%)74 % erlebten mittelschwere Formen psychischer Gewalt, 19 % erleben schwere psychische Gewalt.
67 % der 7 bis 11 Jahre alten Kinder erlebt mittelschwere körperliche Gewalt. 84 % mittelschwere psychische Gewalt, 29 % schwere psychische Gewalt. 37 % dieser Altersgruppe erlebt schwere körperliche Gewalt, sofern Schläge mit Gegenständen dazugezählt werden. (ohne Gegenstände = 0,1%) Bei den 12 bis 17 Jahre alten Kindern nimmt dann vor allem die körperliche Gewalt stark ab.

Die obigen Daten stammen von relativ aktuellen Studien. Wie schon oft in diesem Blog erwähnt, sind ältere Bevölkerungsteile sehr wahrscheinlich in einem noch höheren Ausmaß Opfer von elterlicher Gewalt geworden, wie jüngere.

Der bereits oben erwähnte UNICEF Bericht aus dem Jahr 2003 beschreibt auf Seite 25 auch, dass bis zu diesem Berichtsjahr in den USA nur der Staat Minnesota Gesetze erlassen hat, die so ausgelegt werden könnten, dass Gewalt gegen Kinder in der Erziehung verboten ist. Aktuell habe ich bisher keine Daten im Internet gefunden, die aufzeigen, dass zwischenzeitlich noch weitere US-Staaten ähnliche Gesetze erlassen hätten. Zolotor et. al (2011) (siehe oben) bestätigen dies: Körperliche Züchtigungen im Elternhaus sind in den USA weiterhin legal, schreiben sie in ihrer Studie

Zum sexuellen Missbrauch möchte ich eine repräsentative Studie aus dem Jahr 1990 von Finkelhor erwähnen. 2626 Menschen wurden telefonisch befragt. 27 % der Frauen und 16 % der Männer gaben an, als Kind sexuell missbraucht (inkl. ohne Körperkontakt) worden zu sein. (vgl. Finkelhor, 1997, S. 74ff)

Laut einem UNICEF Bericht aus dem Jahr 2001 gibt es in den USA zwischen 100.000 und 300.000 minderjährige Prostituierte.

Dazu kommt legale Gewalt gegen Kinder und Jugendliche an Schulen durch LehrerInnen und verhältnismäßig hohe Zahlen von Kindestötungen. (siehe dazu Beitrag "gewaltvolle Kindheiten in den USA) Außerdem schneiden die USA im Vergleich mit anderen Industrienationen auch im allgemeinen Ranking zum Wohlergehen der Kinder besonders schlecht ab.

Die USA ist das einzige Mitglied der Vereinten Nationen, das die 1989 verabschiedete UN-Kinderrechtskonvention bisher nicht ratifiziert hat. (vgl. Status der „Convention on the Rights of the Child“) Ein Skandal!

Ich weiß nicht, wie ich diese Zahlen und Fakten noch weiter kommentieren soll? Wer diesen Blog schon kennt, weiß, was dieses hohe Ausmaß an Gewalt für politische Konsequenzen haben kann und auch hat. Dies gilt gerade auch, weil es sich hier um eine Weltmacht mit enormen militärischen Möglichkeiten handelt.


Wichtiger Nachtrag

Siehe ergänzend meinen Beitrag Politische Spaltung in den USA als Ausdruck von einer gespaltenen Kinderfürsorge? vom 16. Juni 2017. Die Kinderschutzorganisation „Save the Children“ hat erstmals eine Art Ranking über das Wohlergehen von Kindern in der Welt veröffentlicht. Die USA landete auf Platz 36 (einen Platz vor Russland und fünf Plätze vor China). 

Siehe unbedingt auch: Belastende Kindheitserfahrungen in den USA: Neue Daten vom 4. Juni 2020

Samstag, 10. Oktober 2009

Gewalt gegen Kinder in Entwicklungsländern

Der UNICEF Report 2009 enthüllt u.a. extrem hohe Raten von körperlicher und psychischer Gewalt gegen Kinder in Entwicklungsländern. Angeführt wird die Liste von Palästina, Vietnam, Yemen und Ägypten. (vgl. UNICEF, 2009, S. 8)

In Palästina erleben nur 5 % der Kinder keine Gewalt, 70 % erleben psychische und körperliche Gewalt, 23 % erleben nur psychische Gewalt und 2 % nur körperliche Gewalt.

Zahlen für Vietnam: 6 % keine Gewalt, 58 % psychische+körperliche, 32 % nur psychische, 4 % nur körperliche

Zahlen für Yemen: 7 % keine Gewalt, 81 % psychische+körperliche, 10 % nur psychische , 2 % nur körperliche

Zahlen für Ägypten: 8% keine Gewalt, 68 % psychische+körperliche , 22 % nur psychische, 2 % nur körperliche

Über 80 Prozent aller Kinder in einer Reihe von weiteren arabischen und westafrikanischen Ländern erleben Gewalt in der ein und/oder anderen Form. Unter 80 % fallen dann abnehmend bis zu ca. 50 % einige osteuropäische Staaten.

In den ausgewählten sechs lateinamerikanischen und karibischen Staaten erleben durchschnittlich 83 % aller Kinder mindestens eine Form von Gewalt. (ebd. S. 31)

UNICEF weist darauf hin, dass die Gewalt gegen Kinder meist von Menschen ausgeht, die die Kinder kennen: Eltern, Stiefeltern, Lehrer usw.

Quelle: UNICEF, September 2009: Progress for Children - A Report Card on Child Protection.

In dem Report werden die Formen der Gewalt nicht weiter ausdifferenziert (was auf Grund der vielen Daten verständlich ist). Zu vermuten wäre hier allerdings, dass z.B. hinter "körperlicher Gewalt" häufig körperliche Misshandlungen stehen und nicht hautsächlich Züchtigungen, sprich dass das Gewaltverhalten gegen Kinder insgesamt in Entwicklungsländern heftig (darauf weisen z.B. auch einzelne Infos hin, die ich hier zusammengestellt habe) und dadurch auch schädlicher und folgenreicher für die Kinder ist.

Im deutschen Vorwort zu dem Report heißt es ergänzend: Jedes dritte Mädchen in Entwicklungsländern wird als Kind verheiratet. In den Ländern Niger, Tschad und Mali liegt der Anteil der Kinderheiraten sogar bei über 70 Prozent, in Bangladesch, Guinea und der Zentralafrikanischen Republik sind es mehr als 60 Prozent.
Eine Gesellschaft kann sich nicht entwickeln, wenn ihre jüngsten Mitglieder in Kinderheiraten gezwungen, sexuell ausgebeutet und ihrer grundlegenden Rechte beraubt werden“, sagte UNICEF-Direktorin Ann Veneman. „Das Ausmaß der Kinderrechtsverletzungen zu erfassen ist ein erster Schritt, um eine Umgebung für Kinder zu schaffen, in der sie geschützt aufwachsen und sich entwickeln können.“

Dies ist eine Botschaft, die insbesondere auch von psychohistorischen ForscherInnen seit einigen Jahrzehnten verbreitet wird. Leider wird sie kaum gehört, so manches mal sogar belächelt und von der Sozial-/Politikwissenschaft i.d.R. erst gar nicht wahrgenommen. Dabei fehlt vor allem der Blick auf Zusammenhänge zwischen den kindlichen Gewalterfahrungen von breiten Bevölkerungsschichten, politischer Instabilität bis hin zu Krieg und letztlich einer fehlenden sozio-ökonomischen Entwicklung. Denn: Eine Gesellschaft kann sich nicht entwickeln, wenn die meisten ihrer Kinder missbraucht, misshandelt und vernachlässigt wurden und werden. Ihr fehlt zudem das Fundament für gewaltlose Konfliktaustragung und echte (auch emotionale) Demokratie.

Mein vorheriger Beitrag zu Lösungen für Afghanistan macht auf das ganze Dilemma aufmerksam. Der Westen versucht mit aller Gewalt einem nicht-entwickelten Land von oben Demokratie aufzudrücken. Gewaltmonopol, Wahlen, Verwaltung usw. sollen helfen, das Land zu stabilisieren.
In einem Land wie Afghanistan muss dagegen mit viel Einsatz und Empathie versucht werden, vor allem die Kindheit zu befrieden. Dies muss das oberste Ziel sein. Erst dann kann sich das Land wirklich auf den demokratischen Entwicklungsprozess begeben, den es ohne Zweifel nötig hat.

Sonntag, 8. Februar 2009

Knessetwahl in Israel als Kriegsgrund? Wohl kaum

Als „rationaler“ Grund für den israelischen Angriff auf Gaza wird u.a. die am 10. Februar 2009 anstehende Knessetwahl in Israel genannt. Mein erster Gedanke dazu ist: Selbst wenn dies ein wichtiger Hintergrund des Angriffes wäre und sich die Regierungsparteien dadurch einen höhern Wahlerfolg ausgerechnet hätte, wäre dieser Entscheidungsprozess ein kranker und nicht einer von psychisch gesunden Menschen. Denn dies würde bedeuten, dass das israelische Volk das Töten von ca. 1.400 Palästinensern mit ihrem Urnengang belohnen würde. Wenn dem dann am 10.02. so sein sollte, würden hier im israelischen Volk starke Bedürfnisse nach einer kollektiven Bestrafung ihres Nachbarn zu Tage treten (ein Zeichen für tiefere emotionale Gründe). Die Regierung wäre dann nur der ausführende Part dieser Bedürfnisse und würde dem Willen des Volkes entsprechen.

Dazu kommt: Unter dem Eindruck eines Krieges wählen die Menschen erfahrungsgemäß meist rechts (was sicherlich auch den PolitikerInnen bekannt sein dürfte). So wird derzeit auch in Israel ein Rechtsruck erwartet. Verlierer könnten hier entsprechend die Regierungsparteien sein. Insbesondere die Hardliner Benjamin Netanjahu (Likud Partei) und vielmehr noch Avigdor Lieberman (Partei Yisrael Beiteinu) könnten Stimmen dazu gewinnen. Wo ist hier also der rationale Grund für den Gaza-Krieg, wenn doch sogar ein Regierungsverlust zu erwarten war und ist?

Interessant finde ich an dieser Stelle eine gemeinsame israelisch-palästinensische Umfrage (durchgeführt vom 27. Mai bis zum 7. Juni 2008), veröffentlich von der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. am 12. Juni 2008.

U.a. wird als Ergebnis genannt:
50 % der Israelis lehnen einen Waffenstillstand mit der Hamas ab, welcher die Einstellung von gewalttätigen Aktivitäten und Kassam-Angriffen auf Israel durch die Hamas sowie militärische Operationen der Israelis im Gazastreifen und die Aufhebung. der Blockademaßnahmen beinhalten würde. 47 % befürworten solch eine Vereinbarung. Die Ablehnung steigt auf 68 %, sollte eine Vereinbarung mit der Hamas nicht die Freilassung von Gilad Svhalit (Anmerkung: vor zweieinhalb Jahren entführten israelischer Soldat) beinhalten.

Auf palästinensischer Seite sprechen sich 78 % für einen Waffenstillstand mit Israel aus. Diese Unterstützung fällt jedoch rapide ab auf 23 %, sollte ein Waffenstillstandsabkommen lediglich auf den Gazastreifen begrenzt bleiben und nicht die Westbank mit einbeziehen. Darüber hinaus fällt die Unterstützung weiter auf 20 % für den Fall, dass eine Vereinbarung nicht die unmittelbare Öffnung der Grenzen, insbesondere des Ra-fah-Grenzüberganges zwischen Gazastreifen und Ägypten, zur Folge haben sollte.

Wenn man es mal von der positiven Seite betrachtet, waren also grundsätzlich fast die Hälfte der Israelis bereit, einen Waffenstillstand mit der Hamas zu vereinbaren. Rein rational betrachtet ist dies ein ganz erheblicher Teil der Wählerschaft. Israel hätte also auch aus einem inneren Interesse heraus den ab dem 19.Juni verhandelten Stopp des Raketenbeschusses weiter ausdehnen und festigen können. Gleichzeitig zeigt sich an Hand der Umfrage, dass 78 % der Palästinenser unter o.g. Bedingungen für einen Waffenstillstand waren. Diese Mehrheit hätte man entsprechend ansprechen können, durch politische Entscheidungen, nicht durch militärische.

Ein politischer Weg, der Frieden schafft, ist nicht nur ein menschlicher, sondern immer auch ein rationaler Weg. Also Leute: Kommt mit nicht mit rationalen Gründen für einen Krieg!

Dieser Beitrag ergänzt folgende Beiträge zum Thema:

- Ergänzung des Beitrags "Nahostkonflik"
- Nahostkonflikt: Krieg in Gaza - eine Ursachensuche

Donnerstag, 5. Februar 2009

Ergänzung des Beitrags "Nahostkonflikt"

Auf der Homepage der AG Friedensforschung, Uni Kassel fand ich einen interessanten Text, auf den ich hier hinweisen möchte: Kollektive Bestrafung. Israels Verbrechen an der Zivilbevölkerung in Gaza (Von Rolf Verleger, u.a. Direktoriumsmitglied im Zentralrat der Juden und ehemaliger Vorsitzender der Jüdischen Gemeinschaft Schlewig-Holstein)
Dieser ergänzt meine Gedanken zum Nahostkonflikt sehr gut, wie ich finde.

"Premierminister Olmert, Armeeminister Barak und Außenministerin Livni behaupteten, daß der Raketenbeschuss israelischer Städte aus dem Gazastreifen unerträglich geworden und nicht anders zu stoppen sei als mit massivem israelischen Eingreifen. Die Unwahrheit dieser Behauptungen war ebenso offensichtlich wie bei den Lügen des George W. Bush. Wieder gibt es genügend Politiker und Journalisten, diesmal gerade und besonders in Deutschland, die diese Märchen gerne nachplappern.", schreibt Verleger. Der Autor führt seine Gedanken im Text dazu weiter aus. Auf eine Stelle möchte ich hier besonders hinweisen:

Die Zahl der Raketeneinschläge auf israelischem Boden war vom 19. Juni bis 31. Oktober 2008 auf fast null zurückgegangen! (ausführliche Statistik der Raketenangriffe hier) Rolf Verleger fragt: „Wenn es eine nicht-kriegerische Methode gab, diesen Raketenbeschuss für mehr als vier Monate zum Verschwinden zu bringen, warum ging dann diese Methode nicht mehr ab November?“ Der Autor verweist als Antwort auf diese Frage auf den Artikel „An Unnecessary War“ (Washington Post vom 08.01.2009) des ehemaligen US-Präsident Jimmy Carter. Dort erfährt man, dass es Verhandlungen zwischen Israel - über den Vermittler Ägypten - und der Hamas gab. Alle Raketenabschüsse der Hamas sollten am 19.Juni für einen Zeitraum von sechs Monaten aufhören, wenn humanitäre Lieferungen auf das normale Niveau gebracht würden, das vor Israels Rückzug 2005 bestand (etwa 700 Lastwagen pro Tag). Der folgende Zuwachs an Lieferungen von Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten und Treibstoff erfolgte im Durchschnitt nur in 20 Prozent des normalen Niveaus. Diese fragile Waffenruhe wurde zu einem Teil am 4. November gebrochen, als Israel einen Angriff nach Gaza startete, um einen Verteidigungstunnel zu zerstören. Weitere Konflikte und Unstimmigkeiten um die unzureichenden Warenlieferungen blieben ungelöst und die Feindseeligkeiten brachen erneut aus. „Kann man dies eine »einseitige Aufkündigung des Waffenstillstands durch die Hamas« nennen?“ fragt Verleger.
Allen Interessierten empfehle ich das Lesen des o.g. Textes. Für mich wird hier erneut klar, dass an einem wirklichen Frieden kein Interesse besteht, obwohl es ganz offensichtlich auch Mittel und Wege gab und gibt, die Gewalt auf ein Minimum zu reduzieren.

Allem Anschein nach bereitete die israelische Führung den Gaza-Krieg auch lange Zeit (wohl auch noch vor dem verhandelten Waffenstillstand) systematisch vor. Man wollte nicht die gleichen Fehler wie im Libanon-Krieg machen, in dem zu kurzfristig geplant und agiert worden war. Und man wollte diesen Krieg in Gaza um jeden Preis.

Wohin mit all dem Schmerz und dem Hass, wenn kein Feind mehr da ist, um diesen als "Giftcontainer" zu nutzen? (diese Frage gilt beiden Seiten, Isarael und der Hamas)