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Freitag, 14. Februar 2020

NS-Täter. Die Kindheit von Wilhelm Keitel

Wilhelm Keitel brachte es im NS-Staat bis zum Generalfeldmarschall und Chef des Oberkommandos der Wehrmacht. Als letzt genannter stand nur noch Adolf Hitler in der Befehlsstruktur der Wehrmacht über ihm. Er gehörte zu den in Nürnberg angeklagten  Hauptkriegsverbrechern und wurde zum Tode verurteilt.

Über seine Kindheit hat er sehr viel in einen Memoiren berichtet:
Keitel, W. (1998): Mein Leben. Pflichterfüllung bis zum Untergang. Edition q, Berlin

Keitel wurde im Jahr 1882 geboren. „Bereits im Sommer 1888 wurde mir, damals 6jährig, zum ersten Mal bewusst, dass mein `Mütterchen` krank war. Sie sang nicht mehr! Ich wurde auch viel von ihr fern gehalten – und war doch so an ihre Zärtlichkeiten gewöhnt und als einziges Kind auch verzogen, ungeachtet der `Strenge` des Vaters“ (S. 22). Wie diese „Strenge“ des Vaters genau aussah, wird nicht beschrieben. Man kann sich in etwa vorstellen, was sich um das Jahr 1885 herum alles an autoritärem Verhalten darunter verstand.

Seine Mutter war an Tuberkulose erkrankt und sie war schwanger. Am 25.12.1888 wurde ein Junge geboren. Keitel erinnert sich, wie er am 03.02.1889 an der Hand seines Vaters zum Totenbett seiner Mutter geführt wurde (S. 22). Wilhelm war beim Tod seiner Mutter 6 Jahre alt. Die folgenden drei Jahre danach beschreibt er überhaupt nicht in seinen Memoiren. Er erwähnt nur noch, dass sich sein Vater nach dem Tod der Mutter zu einem „einsamen Sonderling“ entwickelt hätte (S. 23). Erst viel später, als älterer Jugendlicher, habe er ein engeres Verhältnis zum Vater aufbauen können (S. 33f).

Im Alter von neun Jahren wurde Wilhelm nach Göttingen in eine Schülerpension geschickt, die von einer Lehrerwitwe geleitet wurde. Er habe dort vier Spielkameraden gefunden, „vier `Leidensgefährten`, die gleichfalls ihrem Elternhaus fern sein mussten“ (S. 24). Dass er Leid in dieser Zeit erlebte, wird durch den zitierten Satz deutlich. An anderer Stelle spricht er von „Einsamkeit“ und einer „meist gedrückten Stimmung“ in dieser Zeit in der Pension (S. 27). Kein Kind geht unbeschadet durch eine jahrelange Trennung von der Familie. Nur in manchen Schulferien konnte er etwas Zeit Zuhause verbringen und dabei auch seinen Bruder erleben.

Die „Hausmutter“ in der Pension nennt Keitel übrigens stets nur abschätzig „die Alte“ (S. 24). Ein Mädchen und ein Junge aus der Pension waren ein heimliches Liebespaar. Wilhelm half oft, diese Verbindung vor der Lehrerwitwe zu verbergen, aus Angst der Beiden "vor Dresche“ (S. 24). Offensichtlich gab es also auch Prügelstrafen oder entsprechende Drohungen in dieser Pension. Später, als Wilhelm fast 12 Jahre alt war, wechselte er zumindest die Pension und war anschließend zufriedener.

Aber auch in der Schule, die Wilhelm besuchte, wurde die Prügelstrafe angewendet: „Der Schulbesuch gefiel mir gar nicht. Der Elementarlehrer Neumann, mein Klassenlehrer, hatte mich (…) innerhalb kürzester Zeit auf die vorderste Bank gesetzt, unmittelbar neben seinen Sohn Georg (…) und abwechselnd bekamen wir `Maulschellen`, weil wir nichts konnten oder nicht wussten, wovon gerade die Rede war“ (S. 24f). Als ca. 17-Jähriger zog er dann  für eine übersichtliche Zeit zu seiner Großmutter, sein Vater hatte kurz vorher erneut geheiratet. Im Alter von fast 18 Jahren meldete er sich für eine Offizierslaufbahn an und wurde zum Soldaten und Offizier ausgebildet. Der Rest ist Geschichte. „Pflichterfüllung bis zum Untergang“ lautet der Untertitel seiner Memoiren…

Donnerstag, 6. Februar 2020

Zufälle, komplexe Welt und Trauma: Adolf Schicklgruber wäre nicht zu einem "Adolf Hitler" geworden.


Hitlers Vater, Alois Hitler, hatte ursprünglich einen anderen Nachnamen. Er hieß eigentlich Schicklgruber. Aus Überlegungen heraus und der Gelegenheit dafür (sein vermeintlicher Vater hieß wohl „Hüttler“) ließ sich Alois Schicklgruber einst in „Hitler“ umbenennen. Der Biograf John Toland kommentiert dies so: „Seine Entscheidung, den Namen Hitler anzunehmen, war von großer Tragweite; es ist nur schwer vorstellbar, dass 70 Millionen Deutsche in vollem Ernst `Heil Schicklgruber!` gerufen hätten“ (Toland, J. (1977): Adolf Hitler. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach. S. 22)

Diese historische Wendung, diese mehr oder weniger zufällige Namensänderung werde ich wohl für immer im Hinterkopf behalten! Es ist ja bekanntlich so, dass die Fokussierung auf Kindheitserfahrungen und entsprechende Verknüpfungen mit späterem Verhalten - erst recht, wenn dies Verhalten massenmörderisch war - oft belächelt oder kritisch gesehen wird. Denn, so wird gebetsmühlenartig argumentiert, "nicht alle einst misshandelten Kinder werden später zu einem Hitler“. Es ist doch so, dass ein Lebensweg immer durch unzählige Zufälle, Begegnungen, Ereignisse, Erlebnisse und spezifische Rahmenbedingungen geprägt wird, inkl. der eigenen, einzigartigen genetischen Aufstellung. Auch ist beispielsweise klar, dass, wäre Adolf Hitler ein Mädchen geworden, er bzw. sie – bei gleicher Erziehung und Misshandlungsgeschichte, sowie den gleichen tragischen Todesfällen (der jünger Bruder starb, Vater und Mutter verstarben früh, vor Adolfs Geburt hatte seine Mutter dazu noch 3 tote Kinder zu betrauern) in seiner Familie – niemals „die Führerin“ geworden wäre, weil damals Frauen solche Wege patriarchal-strukturell grundsätzlich verbaut waren. So ist das im Leben der Menschen.

Und ich muss Toland beipflichten: Ein „Führer“ wie Adolf Hitler wäre der Welt wohl erspart geblieben, wenn er „Adolf Schicklgruber“ geheißen hätte. Dieser winzige Zufall der Namensänderung hatte große Folgen.

All dies ändert nichts an der Tatsache, dass destruktive Kindheitserfahrungen immer Folgen haben, die sich um so deutlicher abzeichnen, je schwerer und je häufiger die Belastungen in der Kindheit waren und auch je mehr verschiedene traumatische Erfahrungen sich zu einem „Traumapaket“ kumulieren. Daraus folgt NICHT automatisch ein Weg zum Massenmörder oder Terroristen. Dazu braucht es etliche weitere Einflüsse und auch Zufälle.

Ein „Adolf Schicklgruber“ hätte wohl niemals einen NS-Staat begründet und wäre diesem vorgestanden. Etliche andere Menschen laufen (und liefen) in dieser Welt herum, die unfassbare Traumageschichten im Gepäck haben. Und niemals wird sich ein Historiker mit ihnen befassen, weil sie nicht auf die historische Bühne treten, aus welchen Bedingungen, Begrenzungen und Lebensverläufen auch immer, die es so viele gibt, wie es Menschen gibt.

Aber fest steht auch: Ein als Kind liebevoll, empathisch und gewaltfrei behandeltes Kind Adolf  Hitler wäre nicht zum Massenmörder geworden! Und deswegen ist die Analyse der Kindheit von solcher Art Tätern so ungemein wichtig und bedeutsam.

Freitag, 31. Januar 2020

Holocaust. "Wann sprechen wir endlich über die Täter?": Offener Brief an Filipp Piatov

Dieser Offene Brief bezieht sich auf den Kommentar von Filipp Piatov in BILD-Online vom 28.01.2020 ( "Wann sprechen wir endlich über die Täter?")

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Lieber Herr Piatov,

mit großem Interesse habe ich Ihren Artikel „Wann sprechen wir endlich über die Täter?“ gelesen.
In vielem sprechen Sie mir aus dem Herzen. Letztlich ist es aber auch so, dass sich Teile der Wissenschaft sehr wohl und ausführlich mit den NS-Tätern befassen und befassten. Nur im öffentlichen Raum und Bewusstsein kommt der Blick auf die Täter viel zu selten vor und darum ging es Ihnen wohl auch.
Nun kommt mein Anliegen bzw. meine Anregung an Sie: Ich teile wie gesagt in fett gedruckten Buchstaben Ihren Satz. „Wann sprechen wir endlich über die Täter?“. Ich persönlich bin darüber hinaus noch einen Schritt weiter. Meine Fragen lauten: „Wann sprechen wir endlich über die wesentlichen Gemeinsamkeiten der Täter? Wann sprechen wir endlich über die Kindheiten der Täter?

Und ja, dies ist ein Bereich, bei dem sich i.d.R. auch die Wissenschaft blind stellt, was erstaunt. Denn mittlerweile kann man viel zu den Kindheitshintergründen der NS-Täter finden.

Ich selbst habe 2019 ein Buch dazu veröffentlicht: „Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen“

Darin habe ich die Kindheiten von Adolf Hitler, Rudolf Heß, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Martin Bormann, Albert Speer, Julius Streicher, Karl Dönitz, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Rudolf Höß, Josef Mengele, Adolf Eichmann, Alfred Filbert, Amon Göth und Reinhard Heydrich analysiert. Die Kindheits-Erfahrungen dieser Akteure reichten von Misshandlungen über Demütigungen, autoritäre Erziehung, emotionaler Kälte, Vernachlässigung, Zwängen, Gehorsamsforderungen, Miterleben von Gewalt, Außenseiterstatus, Ehekrisen der Eltern, Suchtverhalten von Elternteilen, Nahtoderfahrungen bis zu Trennung von der Familie und/oder bis zum Tod von Geschwistern und Elternteilen. Dominierend in der Kindheit der NS-Täter war eine strenge und autoritäre Erziehung. Ich habe ergänzend bisher weitere Kindheiten analysiert, z.B. von Alfred Jodl und Robert Ley. Auch dort wurde ich fündig und fand deutliche Belastungen in der Kindheit. Derzeit arbeite ich weitere Biografien von NS-Tätern durch.

Ergänzend dazu habe ich in meinem Buch das Ausmaß von körperlicher Gewalt gegen Kinder und auch von so etwas wie „elterlicher Zuwendung“ in Deutschland erfasst. Je mehr wir uns den Geburtsjahrgängen um die ca. 1930 annähern, desto mehr Gewalt und desto weniger Zuwendung erlebten nachweisbar die Kinder. Der Psychohistoriker Lloyd deMause hat zwei eindrucksvolle Texte geschrieben, die ich Ihnen – neben meinem Buch – sehr empfehle: „The Childhood Origins of World War II and the Holocaust“ und The Childhood Origins of the Holocaust. Er macht klar, dass die Mehrheits-Kindheit im Deutschen Reich um 1900 ein reiner Alptraum war.

In meinem Buch schließe ich mich seinem Schluss an, dass diese alptraumhaften Kindheiten das Fundament für die NS-Zeit und auch den Holocaust bildeten. Umgekehrt ist es so, dass weit verbreitete alptraumhafte Kindheiten nicht zwangsläufig in einer Gesellschaft zu Auswüchsen führen, die wir ab 1933 sahen. Dazu ist die Welt zu komplex, dazu sind die Einflüsse und Rahmenbedingungen zu unterschiedlich, zu umfassend und auch zu verzahnt. Aber: Die destruktiven Kindheiten bildeten das Fundament! (Nebenbei bemerkt sehen wir dies auch heute noch in Ländern wie z.B. Syrien, Afghanistan, im Irak oder sogar auch in den USA, in diesen Ländern finden wir ein enorm hohes Ausmaß von Gewalt gegen Kinder und weiteren Belastungen von Kindern.)

In meinem Buch habe ich ein persönliches Nachwort geschrieben. Daraus möchte ich hier zitieren:

Mir selbst haben meine jahrelangen Recherchen und jetzt auch mein Text irgendwie Ruhe und auch Frieden gebracht. Mein Großvater väterlicherseits war ein überzeugter Nazi und bei der SS. Meine anderen Großeltern hielten einfach ihren Mund während der NS-Diktatur. Diese familiäre Geschichte und die NS-Zeit in meinem Heimatland an sich haben mich schon früh sehr aufgewühlt. Die Frage nach dem Warum tauchte auf, aber auch die Frage, ob so etwas hierzulande wieder passieren könnte. Ich selbst habe nach meinen Recherchen für mich Antworten gefunden. Ich kann heute aus meiner Sicht sagen, dass sich die NS-Zeit in dieser Form niemals hierzulande wiederholen könnte, egal wie die Rahmenbedingungen sich entwickeln. Mit der neueren Generation in Deutschland (die im Buch oben ausführlich beschrieben wurde), die weitgehend gewaltfrei, nicht-autoritär und umsorgt aufwachen durfte, wird es weder einen großen Krieg, noch einen Genozid geben. Dies wäre, davon bin ich überzeugt, unmöglich. Diese neue Generation wird ganz selbstverständlich auch später ihre eigenen Kinder ähnlich umsorgt und gewaltfrei erziehen und wahrscheinlich sogar noch weitere Verbesserungen erreichen.“

Steinmeier sagte wörtlich in seiner Rede in der Gedenkstätte Yad Vashem: „Weil ich dankbar bin für das Wunder der Versöhnung, stehe ich vor Ihnen und wünschte, sagen zu können: Unser Erinnern hat uns gegen das Böse immun gemacht. Ja, wir Deutsche erinnern uns. Aber manchmal scheint es mir, als verstünden wir die Vergangenheit besser als die Gegenwart. Die bösen Geister zeigen sich heute in neuem Gewand. Mehr noch: Sie präsentieren ihr antisemitisches, ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Antwort für die Zukunft, als neue Lösung für die Probleme unserer Zeit. Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt. Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten.“

Natürlich haben wir weiterhin Probleme (Rechtsextremismus, AfD, Antisemitismus usw.) in Teilen unserer Gesellschaft und die werden kurzfristig auch nicht verschwinden. Es war richtig, dass Steinmeier dies angesprochen hat. Was er übersehen und wohl auch gar nicht wirklich darüber nachgedacht hat ist, dass die emotionale Lage der heutigen Nation in Deutschland eine ganz andere ist. Viele Menschen in Deutschland sind heute nicht mehr derart „emotional bewaffnet“ wie Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Kindheiten wurden und werden immer friedlicher in unserem Land. Weitere traumatische Erfahrungen nahmen ergänzend gravierend ab (z.B. sterben Eltern und Geschwister nicht mehr so oft, wie dies um 1900 noch der Fall war; Gewalt durch Lehrer wurde verboten usw.). Und: Seit den 1980er Jahren wurde das psychotherapeutische Angebot in Deutschland stetig und massiv ausgeweitet. Wem es schlecht geht, wer Schlimmes erlebte, wer in Gefahr ist, sich selbst oder Anderen etwas anzutun, der kann auf Hilfen zurückgreifen.

All dies ist ein Modell auch für den Rest der Welt, für Frieden in der Welt. In Deutschland wird es nie wieder so etwas wie Ausschwitz geben, weil die Menschen emotional und psychisch viel weiterentwickelt sind. Und an dieser Entwicklung ist ganz wesentlich die stetige Verbesserung der Kindererziehungspraxis und Kinderfürsorge beteiligt. So etwas in Jerusalem auszusprechen, wäre ganz sicher zu viel gewesen. Es wäre auch einfach unpassend, ja sicher. Aber: Die Medien sollten dieses Thema aufgreifen und darüber debattieren. Darum schreibe ich Sie an. Mein Schreiben veröffentliche ich auch als „Offenen Brief“ in meinem Blog: www.kriegsursachen.blogspot.de.

Viele Grüße

Sven Fuchs

Mittwoch, 16. Oktober 2019

Kindheit von Robert Ley (u.a. Reichsorganisationsleiter der NSDAP)


Robert Ley war ein führender Nationalsozialist. Er gehörte zu den 24 im „Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher“ Angeklagten. Seiner Verurteilung entzog er sich durch Suizid.

In der Hierarchie der NS-Führungsriege rangierte er an fünfter Stelle (Wald 2004, Angabe des Verlags in der Inhaltsbeschreibung bzw. auf der Buchrückseite)

Wie war Robert Ley als Mensch, fragt sich der Biograf Ronald Smelser. Und er antwortet selbst: „Er war schroff und hart, hatte keinerlei Hemmungen, neigte zu Gefühlsausbrüchen, war korrupt und bestechlich, und es fehlte ihm in erstaunlichem Maß an Urteilsvermögen. Er war auch ein notorischer Schürzenjäger und ein starker Trinker. Gleichzeitig war er ein intelligenter Mensch, der echtes Organisationtalent besaß (…). Er war auch ein ungewöhnlich ehrgeiziger Mensch mit einem starken Geltungsbedürfnis. Vor allem war er Adolf Hitler, in dem er einen Gott-Menschen sah, sklavisch ergeben“ (Smelser 1989, S. 13). Im Privaten kam Leys Destruktivität überdeutlich zu Tage. So z.B. gegenüber seiner zweiten Ehefrau, die er wohl nicht nur einmal öffentlich demütigte. „Ein andermal enthüllte Ley anscheinend seine Gattin direkt, indem er versuchte, ihr die Kleider vom Leib zu reißen, damit die Gäste ihren herrlichen Körper bewundern könnten. `Er behandelt mich schamlos`, sagte sie. `Ich bin überzeugt, eines Tages bringt er mich noch um`“ (Smelser 1989, S. 116). Am 29.12.1942 erschoss sich Leys Frau Inge nach einem belanglosen Streit mit ihrem Mann. Smelser meint, dass Inge Ley vermutlich stark unter der Alkoholsucht ihres Mannes litt.

Robert war das siebte Kind seiner Eltern, die insgesamt elf Kinder bekamen. Von den 11 Kinder waren drei im Kleinkindalter oder bei der Geburt gestorben (Wald 2004, S. 15). Ob Robert den Tod dieser Geschwister miterlebte und wie sich diese Tragödie auf die Familie auswirkte, wird nicht beschrieben.
Robert Ley wurde in eine armen Region hineingeboren, seine Familie gehörte aber zu den Privilegierten und war wohl relativ reich. Sein Vater – Friedrich - konnte mit dem Reichtum allerdings nicht umgehen. Er ließ sich auf verlustbringende Geschäfte ein. „In seiner Verzweiflung zündete Friedrich offenbar den Hof an, um die Versicherungssumme zu kassieren. Die Sache wurde aufgedeckt; Friedrich Ley wurde verhaftet, vor Gericht gestellt und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Der junge Robert war damals sechseinhalb Jahre alt, und dieses Erlebnis zeichnete ihn für sein Leben. Mit einem Schlag stürzte die Familie in bittere Armut“ (Smelser 1989, S. 18). Die älteren Geschwister verließen daraufhin die Familie, um Arbeit zu finden. Die Familie brach offensichtlich auseinander. „Der älteste Sohn, der zur Zeit des Brandes 21 Jahre alt war, und der vierte zogen wie andere junge Männer ins Wupper-Tal und Niederbergische. Der zweite ging allein fort, Richtung Rhein. Der dritte arbeitete zunächst als Metzgergeselle im übernächsten Dorf und folgte dann dem ältesten Bruder. Sie versuchten, bei dem Geldverleiher die Schulden abzubauen, aber das gelang nicht“ (S. 16).
Die Familie kam nicht mehr von dem Geldleiher los: „Die beiden Töchter mussten zu ihm in den Dienst, zunächst die ältere, die 14 war, als der Hof abbrannte, dann auch die jüngere. Die zweite – zarte kleine, aber zähe und unerschrockene – habe schließlich aufbegehrt: `Nu is Schluss, wir versinken ja im Elend`“ (Wald 2004, S. 16). Ein wohlhabender Verwandter habe dann Geld vorgeschossen, so dass der Peiniger ausgezahlt werden konnte. „Dass Ley dies im Kindesalter erlebte, muss bei ihm ein Trauma hinterlassen haben; er blieb stets äußerst empfindlich in Bezug auf seine soziale Stellung und entwickelte ein heftiges Geltungsbedürfnis – wie es für eine ganze Reihe hoher NS-Führer typisch war“ (Smelser 1989, S. 19).

Die Mutter zog mit den beiden jüngsten Kindern – darunter auch Robert – in ein verfallenes Anwesen in der Nähe. „Für die Mutter, die vorher schon, so wie der Hof der Leys verschuldete, mehr und mehr zu leisten hatte, riss die Arbeit nicht ab. Das Leben mit den beiden Kleinen war arm und eng, aber nach den Jahren der Ungewissheit und der Aufregung endlich ruhig“ (Wald 2004, S. 15).
 Über seine Mutter berichtete Ley später: „Sie musste öfters auf Gericht gehen, Demütigungen ertragen. Dann weinte sie sich bitter aus, und wir Kinder trösteten sie“ (Smelser 1989, S. 33). Als Robert 11 Jahre alt war, kam sein Vater wieder nach Hause. Ley notierte dazu: „Wir Kinder hatten ihn kaum vermisst. (…) Und die Mutter redete nie von ihm … So war denn die Heimkunft des Vaters wie eine Alltäglichkeit“ (Smelser 1989, S. 33). Robert Leys Tochter schreibt zum Vater-Sohn-Verhältnis ihres Vaters: „Zum Vater (…) bestand Distanz. Der war kein Vorbild“ (Wald, 2004, S. 127). Zur Mutter habe dagegen, so Robert Reys Tochter Renate Wald, eine enge Bindung bestanden. Die Mutter habe auch hohe Erwartungen gegenüber ihrem Sohn Robert gehabt, was seine Lebensperspektive geformt hätte.

1914, als junger Mann, meldete sich Robert Ley als Kriegsfreiwilliger. Er machte diverse Kampferfahrungen und blieb in Frankreich zusammen mit zwei Kammeraden der einzige Überlebende einer 42-köpfigen Batteriebesatzung (Smelser 1989, S. 22).

Leider erfährt man in beiden verwendeten Quellen im Grunde nichts über den Erziehungsalltag bei den Leys. Auf jeden Fall war der Alltag hart. Die Kinder mussten auf dem Hof mitarbeiten. Der Brand und die Haft des Vaters blieben Familientrauma. Mit Blick auf die gezeigten Abläufe und die vielen Kinder ist zu vermuten, dass kaum Zeit für mütterliche Fürsorge gegenüber den Kindern, insbesondere auch den Jüngsten, zu denen damals Robert gehörte, da war. Der Vater an sich war sowohl durch die Haft, als auch danach auf Abstand zu seinem Sohn Robert. Dass Robert Ley als Kind vielfach belastet war, ist überdeutlich.

Ich betone in solchen Fällen auf Grund der Quellenlage immer, dass weder elterliches Gewaltverhalten, noch elterliche Gewaltfreiheit nachweisbar ist. Wir wissen nicht, ob zu all den schweren Lebensumständen auch noch elterliche Strafen und Gewalt dazukam. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass Robert Ley 1890 geboren wurde (dazu noch im ländlichen Raum). Nachweisbar wurde die große Mehrheit der um 1900 Geborenen im Elternhaus geschlagen, oft kamen dann auch noch Prügelstrafen durch Lehrer oder Lehrherren hinzu. Das Leben an sich war damals von Härten geprägt. Ich halte es demnach für sehr wahrscheinlich, dass Robert Ley nicht zu der Minderheit gehörte, die gewaltfrei aufwachsen durfte.



Verwendete Quellen:

Smelser, Ronald (1989): Robert Ley : Hitlers Mann an der "Arbeitsfront". Eine Biographie. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn.

Wald, Renate (2004): Mein Vater Robert Ley. Meine Erinnerungen und Vaters Geschichte. Martina Galunder-Verlag, Nümbrecht.

Freitag, 8. Februar 2019

Die Kindheit des NS-Generaloberst Alfred Jodl

In meinem Buch habe ich die Kindheiten etlicher NS-Verbrecher (Adolf Hitler, Rudolf Heß, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Martin Bormann, Albert Speer, Julius Streicher, Karl Dönitz, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Rudolf Höß, Josef Mengele, Adolf Eichmann, Alfred Filbert, Amon Göth und Reinhard Heydrich) ausführlich analysiert und Gemeinsamkeiten herausgestellt. Wesentliche Merkmale der von mir untersuchten Kindheiten sind, dass bei allen Akteuren keine Belege für eine gewaltfreie und liebevolle Kindheit gefunden werden konnte, sondern ganz im Gegenteil deutliche Belege oder Indizien vorliegen, die auf eine äußerst destruktive und belastete Kindheit hinweisen (mit oft mehrfachen Belastungsfaktoren).

Die Biografie von Alfred Jodl habe ich erst jetzt durcharbeiten können. Insofern ergänze ich diese Analyse jetzt hier im Blog.

Alfred Jodl war einer der höchsten Militärs im NS-Staat und gehörte später zu den während der Nürnberger Prozesse Angeklagten. Der 1890 geborene Alfred Jodl stammt aus einer Familie mit langer militärischer Tradition. Sein Großvater, Vater, Onkel, Bruder und Schwiegervater waren allesamt bayerische Offiziere (Jodl 1976, S. 252). Entsprechend war auch der Weg von Alfred Junior vorbestimmt: „Vater wie Mutter – ehrgeizig – schienen entschlossen, ihn von vornherein zur Armee zu geben. (…) Vielleicht brauchten sie den – militärbegeisterten – Sohn nicht einmal zu drängen. Trotzdem hieß für ihn das Ganze: frühzeitige Zäsur. Gerade einmal dreizehnjährig, betrat er seinen Schicksalsweg, wurde er Zögling des bayerischen Kadettenkorps. Die Anstalt (…) forderte vollkommene Unterwerfung. Glockenschläge trieben zum Dienst, der Vor- und Nachmittage beherrschte; Kommandos regelten – bis auf knappste Pausen – jeden Schritt des Tages. Der Kadett war Soldat, und als Soldat hatte er zu traben und strammzustehen“ (Scheurig 1999, S. 10).

Alfred Jodl meinte später, dass er gerne Kadett gewesen sei: „Mit der strengen Disziplin fand ich mich rasch ab, das waren wir ja von daheim gewohnt“ (Jodl 1976, S. 90). Wie diese strenge Disziplin daheim in seiner Familie genau ausgesehen hatte, lässt sich nur erahnen. Jodl selbst bleibt diesbezüglich oberflächlich. Auf seine Mutter angesprochen sagte er: „Sie hasste alle faulen Menschen, denen sie furchtlos und offen ihre Fehler vorhielt. So waren mein jüngerer Bruder Ferdinand und ich einer scharfen Zucht unterworfen, der wir unendlich viel verdanken“ (Jodl 1976, S. 89). Strenge Disziplin, scharfe Zucht, eine Mutter, die „leicht reizbar“ (Scheurig 1999, S. 9) war und eine vom Militär durchzogene Familienlinie, all dies lässt Demütigungen, Unterwerfungsrituale und wohl auch Prügel – zumal Jodl Ende des 19 Jahrhunderts aufwuchs – mehr als wahrscheinlich erscheinen. Alfred Jodl selbst machte in dem oben zitierten Satz deutlich, dass er sich vollkommen mit dieser Strenge identifiziert hatte, indem er betonte, wie unendlich viel er dieser zu verdanken habe. Noch im Kindesalter wechselte er dann von einem strengen Zuhause in eine strenge Kadettenanstalt. All dies deutet auf eine sehr belastete Kindheit hin.

Zudem gibt es deutliche Hinweise auf das Miterleben von Gewalt während seiner Schullaufbahn und von selbst erlitten sexuellem Missbrauch durch einen Geistlichen: „Anerzogene Zucht ersparte dem Schüler Stockschläge und Strafen, doch Beichte, Kommunion und ein sadistisch prügelnder Religionslehrer irritierten ihn. Als er, auf dessen Zimmer bestellt, erleben musste, dass sich der Geistliche ihm zu nähern suchte, war er angewidert. Sofort spürte er, was später zunahm: seine Ablehnung der Kirche“ (Scheurig 1999, S. 10). Jodl im O-Ton dazu: „Bei mir hatte dann auch eine Rolle gespielt, dass mir als kleiner Bub ein junger Geistlicher zu nahegetreten war, und später bin ich dann aus der Kirche ausgetreten“ (Jodl 1976, S. 89).

Erwähnenswert scheint mir noch, dass die Familie den Tod von drei Mädchen im Kindesalter zu verkraften hatte (Scheurig 1999, S. 9). Nur Alfred und sein jüngerer Bruder wuchsen zusammen auf. Ob Alfred Jodl seine Schwestern kennengelernt und ihren Tod miterlebt hatte, ist der Quelle nicht zu entnehmen. Falls er ihren Tod miterlebt hatte, stellt dies an sich bereits ein schweres Kindheitstrauma dar. Wie sich der Tod von drei Kindern auf die Psyche der Eltern ausgewirkt hat, scheint nicht überliefert zu sein. Auch hier lassen sich starke Belastungen erahnen.

Ich möchte abschließend sagen, dass die Recherche und die Erkenntnisse über die Kindheiten der o.g. NS-Täter für mich ein schwer ausdrückbares Gefühl ausgelöst haben. Es ist wohl ein Mix aus Erstauen (über den recht leichten Zugang über klassische Biografien zu Infos über Kindheitserfahrungen, die mit viel Fleiß und einem Blick für Details und das Wichtige auch jeder Andere hätte zusammenfassen können) gepaart mit einem Zusatzerstaunen darüber, dass mir bisher keine einzige Arbeit bekannt ist, die diese Kindheiten bzgl. ihrer Parallelen analysiert und zusammengefasst hat (selbst jemand wie Alice Miller ging zwar davon aus, dass alle Kindheiten der NS-Täter destruktiv waren, aber sie hat nur einzelne Täter - vor allem Adolf Hitler - analysiert. Sicherlich lagen damals aber auch weniger Biografien vor). Wie kann das sein?  Gleichzeitig weiß ich, wie schwer die Widerstände in der Gesellschaft sind, sich den Kindheitshintergründen der NS-Zeit zu stellen. Mein Erstaunen ist also gepaart mit einem Wissen um dieses Schweigen. Gerade klassische Historiker schauen oft an den Kindheitshintergründen vorbei oder erwähnen sie beiläufig, drittrangig oder reden sie gering  (dazu habe ich ein eigenes Kapitel in meinem Buch geschrieben: "Das große Schweigen"). Gerade klassische Historiker verfügen aber über die Deutungshoheit der NS-Zeit. Wenn diese Akteure schweigen, traut sich auch kein Journalist an dieses Thema ran, denn Journalisten brauchen anerkannte Experten, die sie zitieren können.

Meine Analyse und Zusammenfassung über die Kindheiten von NS-Tätern ist im Grunde eine Sensation. Nicht, weil ich so toll bin! Sondern weil die Fakten einfach auf dem Tisch liegen und einen überdeutlich ins Auge stechen und bisher noch nicht zusammengefasst wurden. Das Ziel ist letztlich, dass diese Fakten zum Alltagswissen werden. Für mich gibt es keine "Entdeckungsreisen" mehr. Das Wissen um die Kindheitshintergründe der NS-Zeit ist für mich zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Die Beschäftigung mit der Kindheit von Alfred Jodl "haute mich" insofern nicht mehr um, wie dies früher der Fall gewesen wäre. Dass seine Kindheit derart destruktiv war, ist einfach nur logisch und reiht sich ein in die Kindheiten seiner Mittäter.


Verwendete Quellen:

Jodl, Luise (1976): Jenseits des Endes. Leben und Sterben des Generalsoberst Alfred Jodl. Molden Verlag, Wien – München – Zürich.

Scheurig, Bodo (1999): Alfred Jodl. Gehorsam und Verhängnis. Biographie. Bublies Verlag, Schnellbach.

Montag, 5. November 2018

Politische Wahlen und die Identifikation mit dem Aggressor: Beispiel Brasilien.

Der ultrarechte Politiker Jair Bolsonaro hat aktuell die Präsidentschaftswahlen in Brasilien gewonnen (er erhielt ca. 55 % der Stimmen). In einem Artikel für den Tagesspiegel wurde dieser Mann treffend in seinem Sein zusammengefasst: „Bolsonaro beschimpft regelmäßig Schwarze, Indios, Frauen und Flüchtlinge. Er hält Hitler für einen `großen Strategen`. Einmal sagte er, dass es ihm lieber wäre, einer seiner Söhne stürbe, als dass er schwul sei. Politische Gegner möchte er am liebsten an die Wand stellen und die Gewerkschaften verbieten. (…) Jeder Brasilianer soll eine Waffe tragen dürfen, um sich zu verteidigen, das ist eines seiner Haupt-Wahlkampfversprechen. Er befürwortet Folter und will der Polizei eine Lizenz für außergerichtliche Exekutionen erteilen. (…) Eine linke Abgeordnete bedrohte Bolsonaro sogar vor laufender Kamera: `Du verdienst es nicht, von mir vergewaltigt zu werden.`" (Lichterbeck, P. (2018, 05. Okt.): Jair Bolsonaro – Brasiliens Revolverheld. Tagesspiegel)

Wie kann so ein Mensch bei demokratischen Wahlen zum Präsidenten gewählt werden?

Unzweifelhaft gibt es in Brasilien viele ungelöste Probleme und Konflikte. Das Wahlverhalten der Menschen wird vor diesem Hintergrund als rational angesehen. Die Menschen wünschten sich einen massiven politischen Wandel und jemanden, der sie schützt. Doch ist es wirklich rational, sich in die Hände eines unberechenbaren Aggressors zu begeben? Warum sollte konstruktiver Wandel und Schutz gerade von diesem Mann kommen?
Alle Informationen sprechen dafür, dass genau das Gegenteil der Fall sein wird. Man nehme nur das zentrale Wahlversprechen Bolsonaros, dass jeder Brasilianer zukünftig eine Waffe tragen dürfe. Die Mordraten werden in der Folge stark steigen, nicht sinken. Dass Menschen Schutz und Zukunft bei einem solchen Aggressor suchen, spricht nicht ausschließlich für rationale Beweggründe, sondern auch für emotionale.

Als in Deutschland lebender Mensch mag ich die Situation in Brasilien natürlich nicht absolut real einschätzen können. Allerdings befasse ich mich zentral mit Kindheitserfahrungen und familiärer Gewalt. Und diesbezüglich kann ich einige Informationen bieten:

In Südamerika und dem karibischen Raum kommt Gewalt gegen Kinder häufig vor. Für diverse Länder wurden einige Studienergebnisse tabellarische ausgewertet (allerdings ohne Daten für Brasilien): Child abuse: a painful reality behind closed doors. (In: Challenges, Number 9, July 2009)

Speziell für Brasilien fand ich zwei aussagekräftige Studien:

Eine Studie aus dem Jahr 2010 (4.025 Befragte über 16 Jahre) fand, dass 70.5% der befragten Brasilianer in ihrer Kindheit Körperstrafen erlitten hatten. 20,2 % wurden fast jeden Tag oder einmal in der Woche körperlich bestraft. Fast die Hälfte der Gewaltbetroffenen berichtet von Schlägen mit Stöcken oder Gürteln.  (Cardia, N. (2012): Pesquisa nacional, por amostragem domiciliar, sobre atitudes, normas culturais e valores em relação à violação de direitos humanos e violência: Um estudo em 11 capitais de estado. São Paulo, Núcleo de Estudos da Violência da Universidade de São Paulo, S. 87)

Für eine andere Studie wurden 1.172 Frauen (15 bis 49 Jahre) in São Paulo und 1.473 Frauen in der Region Pernambuco befragt. (World Health Organization (2005): Multi-country Study on Women’s Health and Domestic Violence against Women. Brazil.)

Ergebnisse: 
- In São Paulo berichteten 27 % und in Pernambuco 34 % der Frauen jemals körperliche Partnergewalt erlitten zu haben.
- 10% der Frauen in São Paulo and 14% in Pernambuco erlitten sexuelle Gewalt durch einen Partner.
- Werden körperliche und sexuelle Gewaltformen zusammengefasst, dann erlebten 29 % der Frauen in São Paulo und 37 % der Frauen in Pernambuco Partnergewalt.
- 40 % der gewaltbetroffenen Frauen in São Paulo und 37 % der gewaltbetroffenen Frauen in Pernambuco wurden mindestens einmal durch die Partnergewalt so sehr angegangen, dass sie Verletzungen davontrugen.
- Von den Frauen, die jemals schwanger waren, berichteten 8% in São Paulo and 11% in Pernambuco von Partnergewalt während der Schwangerschaft.
- 12% der Frauen in São Paulo and 9% in Pernambuco berichteten von sexuellen Missbrauchserfahrungen vor dem 15. Lebensjahr.


Beide Studienergebnisse zeigen ein hohes Ausmaß von Opfererfahrungen und gleichzeitig auch ein hohes Ausmaß von Täterverhalten (Eltern als Täter, männliche Partner als Täter). Auffällig ist für mich vor allem die besondere Schwere der Gewalt gegen Kinder (häufig Schläge mit Stöcken oder Gürteln und zentral auch die 20,2 %, die täglich oder wöchentlich geschlagen wurden). Für ca. 10 % der Kinder begannen die Gewalterfahrungen sogar schon als Fötus, wie die Daten über Gewalt gegen Schwangere zeigen.

Sowohl Täter als auch Opfer zeigen erfahrungsgemäß leider oftmals eine starke Identifikation mit Aggressoren und auch eine hohe Akzeptanz von Gewalt- und generellem Strafverhalten oder ein ohnmächtiges Erdulden dieser Dinge. Oder anders gesagt: In schwierigen politischen und sozialen Zeiten, wie sie Brasilien derzeit erlebt und unter politischen Reden, die Ängste und Hass schüren, ist die Gefahr groß, dass das Opfer in den Menschen zu irrationalen Handlungen verführt wird (bzw. Täterintrojekte getriggert werden).

Leider ist die gängige Sozialwissenschaft blind bzgl. dieser möglichen Zusammenhänge. Dabei wäre der Sachverhalt ziemlich einfach zu klären: Man müsste einfach repräsentative Befragungen zu belastenden Kindheitserfahrungen durchführen und in dem Fragebogen auch erfassen, für wen die jeweilige Person bei den Wahlen abgestimmt hat. Meine Vermutung ist, dass Jair Bolsonaro überdurchschnittlich oft von Menschen gewählt wurde, die Opfererfahrungen (dabei vor allem auch in der Kindheit) erlitten haben.

In Deutschland gibt es übrigens die gleiche Lücke. Bzgl. Wählern wird alles Mögliche erfasst und in einen Zusammenhang zum Wahlverhalten gesetzt (Einkommen, Schulbildung,  Geschlecht, Schicht, Beruf, Liebesleben, Zufriedenheit, Meinungen zu bestimmten Fragen usw. usf.) Allerdings ist mir keine Studie bekannt, die Kindheitserfahrungen und Wahlverhalten in einen Zusammenhang gesetzt hat. Für mich wäre vor allem spannend, ob sich die Kindheiten von AFD-Wählern signifikant von den Kindheiten von Wählern anderer Parteien unterscheiden?


Freitag, 12. Oktober 2018

Mein Buch ist fertig!


Mein ursprünglicher Plan war, dies mit dem 400. Blogbeitrag (was ich irgendwie nett gefunden hätte) hier anzukündigen und dann gleich auch auf eine Bestellmöglichkeit als selbstveröffentlichtes E-Book hinzuweisen. Nun hat sich allerdings ein Verlag gefunden, der das Buch veröffentlichen wird, was mich sehr freut. Die Veröffentlichung über einen Verlag bedeutet für mich, dass das Buch zitierfähiger wird, aber auch breitere und professionelle Werbemöglichkeiten über klassische Verlagswege hinzukommen. Außerdem muss ich mich nicht mit dem Layout herumschlagen.

Der Nachteil ist für den Moment, dass die Veröffentlichung wohl noch etwas dauern wird (vermutlich wird es im Februar 2019 veröffentlicht werden). Daher möchte ich jetzt doch in diesem 400. Beitrag bereits das Buch vorankündigen.

Titel und Untertitel sowie das Inhaltsverzeichnis möchte ich allerdings noch nicht verraten, auch, weil evtl. noch kleine Änderungen durch den Verlag kommen könnten. Allerdings kann ich ausführen, was ich im Wesentlichen geschrieben habe und was vor allem Neu im Vergleich zu den Texten im Blog und zu meinem Text „Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an“ ist.

Zunächst: Das Buch wird sehr umfangreich werden. Im DIN A4 Format komme ich auf über 400 Seiten (inkl. Literaturverzeichnis und Fußnoten). Im Buchformat dürften es entsprechend noch mehr Seiten werden.  Der Grundstil ist wissenschaftlich orientiert, aber das Ganze lesefreundlich und so einfach wie möglich (ich mag zwar wissenschaftliche Fachbücher, aber mein Sprachstil ist nun einmal anders).

Sehr viel Raum habe ich historischen Erziehungseinstellungen, der Historie des Kinderleids an sich und auch der Gewalt in vorzivilisatorischen Gesellschaften gegeben, damit wir verstehen, wo wir eigentlich herkommen und auf welchen Grund wir heute stehen. Diese Themenfelder hatte ich im Blog bisher nur angerissen und nicht vertieft. Dazu kommt auch ein kleiner Ausflug in die Gehirnforschung, worüber ich bisher noch gar nichts geschrieben habe.

Es folgt eine sehr systematische Analyse von belastenden Kindheitserfahrungen und von Kindesmisshandlung in der Welt. Diese Analyse habe ich auf spezielle Gruppen wie (Gewalt-)Straftätern, Soldaten, Extremisten, Terroristen, politischen Führern und von Hitlers Helfern (NS-Elite + bekannte NS-Täter) gesondert ausgeweitet. Die Quellen und verwendeten Studien für die Analysen sind deutlich breiter und vertiefender, als das, was ich bisher im Blog geschrieben habe. Auch die Anzahl an Einzelbiografieanalysen übertrifft deutlich das, was bisher im Blog oder in extern von mir verfassten Texten steht.

U.a. nachfolgende Personen werden bzgl. ihrer destruktiven Kindheit systematisch analysiert: 
John F. Kennedy, Lyndon B. Johnson, Ronald Reagan, George H. W. Bush, George W. Bush, Bill Clinton, Hillary Clinton, Tony Blair, Ludwig XIII., Napoleon Bonaparte, Friedrich II., Otto von Bismarck, Wilhelm II., Adolf Hitler, Benito Mussolini, Francisco Franco, Nicolae Ceauşescu, Slobodan Milosevic, Tito, Mao Zedong, Lenin, Stalin, Ivan IV., Wladimir Putin, Augusto Pinochet, Manuel Noriega, Fidel Castro, Jean-Bédel Bokassa, Saddam Hussein, Hassan II., Jassir Arafat, Recep Tayyip Erdoğan, Charles Manson, Rudolf Heß, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Martin Bormann, Albert Speer, Julius Streicher, Karl Dönitz, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Rudolf Höß, Josef Mengele, Adolf Eichmann, Alfred Filbert, Amon Göth, Reinhard Heydrich, Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Inge Viett, Horst Mahler, Stefan Wisniewski, Peter-Jürgen Boock, Lutz Taufer, Astrid Proll, Anders Breivik, Beate Zschäpe, Osama Bin Laden. Dazu kommen diverse Personen (Terroristen, Extremisten und Gewalttäter), die öffentlich nicht so bekannt sind. Auch werden hier und da destruktive Kindheiten im Textverlauf gestreift (z.B. von Martin Luther, Jim Jones oder von Anthony Kiedis)

Mir ist bisher kein Buch bekannt, in dem derart umfassend und systematisch destruktive Kindheiten von destruktiv (einst oder auch noch aktuell) agierenden Menschen analysiert wurden.

Die Studienlage (allgemeine Studien, Befragungen von Akteuren) bzgl. der Kindheiten von Extremisten habe ich außerdem deutlich breiter dargestellt. Ich selbst wundere mich darüber, dass es öffentlich kaum Einlassung auf diese Studien gibt. Die BKA-Studie „Die Sicht der Anderen“ wurde zwar öffentlich hier und da besprochen, aber es gibt da noch deutlich mehr Studien, die zusammengefasst öffentlich gar nicht angekommen sind. Öffentlich müsste demnach eigentlich vor allem im Angesicht von Rechtsextremismus immer auch über die Kindheit gesprochen werden. Aber es herrscht breites Schweigen.

Sehr viel Raum (ein eigenes Kapitel)  habe ich also der Frage gegeben, warum die gesammelten Dinge und Erkenntnisse im Buch zu Kindheitseinflüssen öffentlich meist ausgeschwiegen werden. Dabei habe ich auch deutlich Beispiele aus Wissenschaftskreisen benannt, wo ganz klar an den Dingen vorbeigesehen wird.

Dazu kommen weitere Kapitel, die ich nicht wirklich zusammenfassend vorstellen kann. Auf jeden Fall leuchte ich die Dinge in verschiedene Richtungen aus, erkläre, warum es nicht immer leicht ist, die Kindheitshintergründe von Einzelpersonen komplett zu ergründen, befasse mich mit gängiger Kritik an meinen und psychohistorischen Thesen und ergründe auch, wie destruktive Kindheiten und deren individuellen Folgen sich kollektiv ausdrücken und auch enorm destruktiv wirken können.

Was man in dem Buch kaum finden wird, sind dagegen ausführlich Einlassungen auf psychohistorische Modelle und die Theorie von deMause. Es würde kaum Sinn machen, diese auszubreiten und zu wiederholen. Viel mehr sehe ich mein Buch als eine Ergänzung und Stütze der Psychohistorie. Mein Buch ist vor allem durch die deutlich sozialwissenschaftliche Ausrichtung anders. Ich frage mich wirklich, warum in der Sozialwissenschaft aber auch der klassischen Geschichtswissenschaft bisher kein ähnliches Werk vorliegt? Denn die Studienlage ist enorm. Es gibt derart viele Einzelarbeiten, die die Dinge ergründet haben, dass es im Gesamtblick darauf kaum Sinn macht, nicht von enormen Einflüssen von Kindheitserfahrungen auf die Welt wie wir sie erleben und auch wie wir sie im historischen Rückblich sehen auszugehen. Und dies meine ich vor allem mit Blick auf politisches Agieren, mit Blick auf Krieg, Gewalt, Selbstzerstörung, Terror, Extremismus, politischer Verrücktheit und sozialen Schieflagen.

Viel mehr kann und will ich jetzt hier gar nicht vorwegnehmen. An dem Buch habe ich zwar ca. ein Jahr lang gearbeitet, aber im Grunde ist es das Resultat aus einer Arbeit und Recherchen, die ca. im Jahr 2002 begonnen haben.

Nun, wir werden sehen, wie es angenommen und ob es gar auch diskutiert werden wird.

Ich persönlich habe ab sofort wieder mehr Zeit. Mir schweben bereits zwei Blogbeiträge vor. Allerdings markiert mein Buch auch einen gewissen Abschluss für mich. Ich lasse die nächsten Monate einfach erst einmal auf mich zukommen und wir sehen dann, was wird.

Freitag, 17. März 2017

Kindheit von Gewalt- und Straftätern. Wann endlich werden diese Daten von der Gesellschaft ernst genommen?


(Dieser Text wird zukünftig von mir aktualisiert, sofern ich weitere Studien und auch die Zeit finde, sie auszuwerten. Hinweise auf die Aktualisierung mache ich dann jeweils im Kommentarbereich.)


Ich habe in diesem Blog bisher vor allem die Kindheiten von politischen Gewalttätern (Diktatoren wie Stalin, Hitler, Mao etc., Terroristen und Extremisten behandelt.) oder die Kindheiten der Gesamtbevölkerung in (aktuellen oder ehemaligen) Bürgerkriegs-, Kriegs- und Krisenländern analysiert.  Bzgl. allgemeinen Straftätern der Kategorie "Sexualstraftäter" habe ich hier bereits zwei eindrucksvolle Studien (!) besprochen oder bzgl. Mördern/Serienmördern die Arbeiten von Jonathan H. Pincus, James Gilligan und Stephan Harbort besprochen. Ergänzend habe ich einige Fallbeispiele für die grausame Kindheit von grausamen Mördern zusammengefasst oder in Diagrammen aufgezeigt, wie auch innerhalb eines einzigen Belastungsfaktors (KFN Studie - in diesem Fall nur körperliche Gewalt) verschiedene gesteigerte Schwere- und Häufigkeitsgrade von körperlicher Gewalt die Wahrscheinlichkeit für Gewalttäterschaft stets erhöhen.

In diesem Text möchte ich jetzt mehrere Studien besprechen, die die Kindheit von Straftätern und Straftäterinnen untersucht und eindrucksvolle Ergebnisse hervorgebracht haben. Ich halte es für diesen Rahmen hier und auch für die Chance auf ein Bewusstsein für den massiv destruktiven Einfluss von destruktiven Kindheitserfahrungen für notwendig, solche Studien ausführlich darzustellen (genauso wie ich es hier im Blog stets für notwendig halte, die Kindheit von einzelnen Diktatoren und Massenmördern sehr ausführlich zu schildern, weil nur dann ein "Verstehen" - ohne gleichzeitig zu entschuldigen - möglich ist). Insofern werde ich die Zahlen und Ergebnisse relativ breit darstellen.
(In einem Grundlagentext über die "Ursachen von Kriminalität" (Ostendorf 2010) auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung heißt es beispielsweise im Text:
"Gerade Kindheitserfahrungen mit selbst erlittener und miterlebter Gewalt sind nach empirischen Untersuchungen ein bedeutsamer Faktor für spätere Gewalttätigkeiten." Ließt man den gesamten Text, geht diese Information im Grunde unter. Ebenso werden in dem Text keine Zahlen über Misshandlungraten in der Kindheit von StraftäterInnen angegeben, wofür sicherlich zwei Zeilen frei gewesen wären. Um so wichtiger finde ich Texte wie diesen Blogbeitrag hier, die sich speziell auf die Kindheitshintergründe konzentrieren. Denn: Nach meinen Recherchen im gesamten Blog sind destruktive Kindheitserfahrungen der bedeutsamste Faktor für spätere Gewalttätigkeit.)

Die unten aufgezeigten Ergebnisse sind ´bzgl. ihrer Aussagen nicht neu für mich, da ich immer wieder hier und da etwas über die Kindheiten von Straftätern gelesen habe. Auf eine Art hat mich diese komprimierte Arbeit an diesem Beitrag aber auch etwas wütend gemacht. Denn: Die Ergebnisse sind derart eindeutig, dass ich der Meinung bin, dass alle "Expertenrunden" zum Thema Mörder/(Gewalt-)Straftäter, entsprechende Mediendiskussionen und Präventionsprogramme immer über Kindheitshintergründe von Tätern und Täterinnen sprechen müssen (was sie leider nach meiner Wahrnehmung vor allem in den Medien oft nicht tun). Wenn sie dies nicht tun, arbeiten sie letztlich unsauber/uninformiert oder stellen sich blind.

Bzgl. politisch gefärbter Gewalttaten wie aktuell islamistischem Terror sind die nachfolgenden Ergebnisse übrigens insofern besonders interessant, weil nachweislich viele europäische junge Männer (und Frauen), die außerhalb Europas in den "heiligen Krieg" zogen, vorher in Europa eine kriminelle Karriere gemacht haben und sich nun durch die Hinwendung zum Dschihad "reingewaschen" fühlen. Für diese Islamisten gelten entsprechend ganz sicher ähnliche Kindheitshintergründe, wie für die allgemeinen Straftäter auch. 
Das Bundeskriminalamt konnte z.B. in einer großen Untersuchung von 784 Islamisten (79 % männlich, 21 % weiblich), die aus Deutschland nach Syrien oder dem Irak ausgereist sind, diverse Daten sammeln und auswerten.  Zwei Drittel der Islamisten hatte eine kriminelle Vorgeschichte (vor allem Eigentums-, Gewalt- und/oder Drogendelikte). 53 % von den Personen mit einem kriminellen Hintergrund hatten drei oder mehr Delikte und 32 % hatten sechs oder mehr Delikte begangen. Es waren also vor allem Mehrfachtäter. (Bundeskriminalamt; Bundesamt für Verfassungsschutz  & Hessisches Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus 2016)


Hier nun die Studien:


Für die US-amerikanische Studie Reavis, J. A., Looman J., Franco, K. A., Rojas B. (2013). Adverse Childhood Experiences and Adult Criminality: How Long Must We Live before We Possess Our Own Lives?. The Permanente Journal, Spring 2013, Vol. 7, No. 2, S. 44-48. wurden 151 Straftäter (eingeteilt in Kindesmissbraucher, häusliche Gewalttäter, Sexualtäter, Stalker) zu diversen belastenden Kindheitserfahrungen (ACE`s) befragt und die Ergebnisse mit einer allgemeinen Stichprobe der Bevölkerung mit 7.970 Befragten verglichen.

Keinen einzigen ACE Punkt gaben 9,3 % der Straftäter an, dagegen 38 % der Durchschnittsbevölkerung. 48,3 % der Straftäter gaben mehr als 4 ACE Punkte an, dagegen 12,5 % der Durchschnittsbevölkerung. Ein ergänzender Blick in die Details macht die Zusammenhänge offensichtlich:

(jeweils links die Prozentangaben bzgl. belastenden Kindheitserfahrungen für die Straftäter (ST) und rechts die der Durchschnittsbevölkerung (DB) )
  • Psychische Misshandlungen erlebten 52,3 % der Straftäter (ST) und 7,6 % der Durchschnittsbevölkerung (DB)
  • Körperliche Misshandlungen: 41,1 % (ST) und 29,9 % (DB)
  • Sexueller Missbrauch: 27,2 % (ST) und 16 % (DB)
  • Emotionale Vernachlässigung: 50,3 % (ST) und 12,4 % (DB)
  • Körperliche Vernachlässigung: 21,9 % (ST) und 10,7 % (DB)
  • Suchtmittel Gebrauch im Haushalt: 47,7 % (ST) und 23,8 % (DB)
  • Psychische Krankheit mind. eines Familienmitgliedes: 25,8 % (ST) und 14,8 % (DB)
  • Speziell mütterliche körperliche Misshandlungen: 27,8 % (ST) und 11,5 % (DB)
  • kriminelles Verhalten eines Familienmitgliedes: 20,5 % (ST) und 4,1 % (DB)
  • Scheidung der Eltern: 53,6 % (ST) und 21,8 % (DB)
Was übrigens in der Studie fehlt ist u.a. die Frage nach miterlebter Gewalt (Eltern untereinander oder gegen Geschwister) und die Frage nach Heim- oder Pflegefamilienaufenthalten, was ganz wesentliche Punkte sind.  Interessant fand ich persönlich noch, dass die Sexualstraftäter auch die verglichen mit den anderen Straftätertypen höhere Betroffenheit von sexuellem Missbrauch aufwiesen (Kindesmissbraucher: 28,6 % und Sexualstraftäter allgemein: 39,3 %). Die Stalker – welche ja vor allem auch psychische Gewalt und/oder die Drohung mit körperlicher Gewalt als Straftat anwenden - wiesen ihrerseits die – verglichen mit den anderen Tätern - höchsten Raten von psychischer Misshandlung in der eigenen Kindheit auf (70%), ergänzend aber auch hohe Raten von körperlichen Misshandlungserfahrungen (50 %).

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Ein direkter Vergleich der Kindheitsbelastungen von Straftäterinnen mit den Kindheitsbelastungen von Frauen aus der Allgemeinbevölkerung wurde auch in folgender deutschen Studie unternommen: 

Schröttle, M. & Müller, U. (2004): III. Teilpopulationserhebung bei Inhaftierten. „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

88 inhaftierte Frauen (über 16 Jahre alt) wurden befragt und mit einer repräsentativen Stichprobe der allgemeinen deutschen Frauenbevölkerung verglichen.

Von den inhaftierten Frauen wurden in ihrer Kindheit und Jugend…

- 25% häufig oder gelegentlich von den Erziehungspersonen lächerlich gemacht oder gedemütigt (8% bei den allgemein Befragten der Hauptuntersuchung),

- 51% häufig oder gelegentlich so behandelt, dass es seelisch verletzend war (10% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

- 38% häufig oder gelegentlich niedergebrüllt (11% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

- 35% häufig oder gelegentlich leicht geohrfeigt (17% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

- 33% bekamen häufig oder gelegentlich schallende Ohrfeigen mit sichtbaren Striemen (6% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

- 23% bekamen häufig oder gelegentlich einen strafenden Klaps auf den Po (20% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

- 25% wurde häufig oder gelegentlich mit der Hand kräftig der Po versohlt (10% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

- 17% häufig oder gelegentlich mit einem Gegenstand auf den Finger geschlagen (3% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

- 24% häufig oder gelegentlich mit einem Gegenstand kräftig auf den Po geschlagen (6% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

- 35% bekamen häufig oder gelegentlich heftige Prügel (5% bei den Befragten der Hauptuntersuchung).

- 31% wurden in ihrer Kindheit und Jugend durch eine erwachsene Person sexuell berührt oder an intimen Körperstellen angefasst (Hauptuntersuchung 8%),

- 22% wurden gezwungen, die erwachsene Person an intimen Körperstellen zu berühren (Hauptuntersuchung 3%),

- 9% wurden gezwungen, sich selbst an intimen Körperstellen zu berühren (Hauptuntersuchung 1%),

- 28% wurden zum Geschlechtsverkehr gezwungen (Hauptuntersuchung 2%),

- 22% wurden zu anderen sexuellen Handlungen gedrängt oder gezwungen (Hauptuntersuchung 2%).
(ebd., S. 50+51)

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Sehr aufschlussreich ist auch eine deutsche Studie, für die 76 inhaftierte Männer und 63 inhaftierte Frauen befragt wurden:

Driessen, M. / Schroeder, T. / Widmann, B/  von Schönfeld, C.-E. & Schneider. F. (2006). Childhood trauma, psychiatric disorders, and criminal behavior in prisoners in Germany: a comparative study in incarcerated women and men. Journal of Clinical Psychiatry. 67(10), S. 1486-1492.

Bzgl. dieser Studie muss ich darauf hinweisen, dass die Straftaten sehr unterschiedlich waren. Wegen Mord waren 10,8 %, wegen Sexualdelikten 3,6 % und wegen Körperverletzung 8,6 % der Befragten verurteilt. Delikte der weiteren Befragten waren u.a. Diebstahl, Raub, Betrug, Fälschung von Dokumenten, Drogendelikte und Straßenverkehrsdelikte.

Für die Befragung wurde der sogenannte „Childhood Trauma Questionnaire“ (CTQ) verwendet. Dieser kam auch bei einer Repräsentativbefragung der deutschen Bevölkerung zum Einsatz. (Häuser, Winfried; Schmutzer, Gabriele; Brähler, Elmar; Glaesmer, Heide (2011).  Misshandlungen in Kindheit und Jugend: Ergebnisse einer Umfrage in einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung. Deutsches Ärzteblatt, Jahrgang 108, Heft 17) Die Ergebnisse der beiden Studien sind insofern direkt miteinander vergleichbar. Siehe entsprechend die folgenden Ergebnisse:

- Emotionale Misshandlungen erlebten 50 % der inhaftierten Männer und 58,7 % der Frauen (dagegen 15,2 % der deutschen Allgemeinbevölkerung)

- Körperliche Misshandlungen erlebten 50 % der inhaftierten Männer und 47,6 % der Frauen (dagegen 12,2 % der deutschen Allgemeinbevölkerung)

- Sexuellen Missbrauch erlebten 15,8 % der inhaftierten Männer und 31,7 % der Frauen (dagegen 12,7 % der deutschen Allgemeinbevölkerung)

- Emotionale Vernachlässigung erlebten 76,3 % der inhaftierten Männer und 61,9 % der Frauen (dagegen 49,7 % der deutschen Allgemeinbevölkerung)

- Körperliche Vernachlässigung erlebten 43,4 % der inhaftierten Männer und 36,5 % der Frauen (dagegen 48,6 % der deutschen Allgemeinbevölkerung)

Im Fragebogen „Childhood Trauma Questionnaire“ wird bzgl. den Misshandlungen unterschieden zwischen gering/mäßig, mäßig/schwer und schwer/extrem. Auffällig ist, dass die Tendenz bei den Strafgefangenen eindeutig in Richtung schwerer Misshandlungsformen geht. Mäßig/schwere oder schwere/extreme Misshandlungen in mindestens einer o.g. Kategorie erlebten 50,4 % aller befragten Strafgefangenen (Männer und Frauen). (Driessen et al. 2006, S. 1488+1489)

Die schweren/extremen Formen möchte ich beispielhaft anführen. Es lohnt dabei ebenfalls ein Vergleich mit der Allgemeinbevölkerung.

- Schwere/extreme Emotionale Misshandlungen erlebten 21,1 % der inhaftierten Männer und 27 % der Frauen (dagegen 1,6 % der deutschen Allgemeinbevölkerung)

- Schwere/extreme Körperliche Misshandlungen erlebten 23,7 % der inhaftierten Männer und 25,4 % der Frauen (dagegen 2,7 % der deutschen Allgemeinbevölkerung)

- Schweren/extremen Sexuellen Missbrauch erlebten 2,6 % der inhaftierten Männer und 17,5 % der Frauen (dagegen 1,9 % der deutschen Allgemeinbevölkerung)

- Schwere/extreme Emotionale Vernachlässigung erlebten 38,2 % der inhaftierten Männer und 27 % der Frauen (dagegen 6,5 % der deutschen Allgemeinbevölkerung)

- Schwere/extreme Körperliche Vernachlässigung erlebten 5,3 % der inhaftierten Männer und 4,8 % der Frauen (dagegen 10,8 % der deutschen Allgemeinbevölkerung)

Hinweis: Einzig bzgl. der körperlichen Vernachlässigung liegen die Werte der Strafgefangenen unter denen der Allgemeinbevölkerung. Das liegt sehr wahrscheinlich daran, dass die befragten Strafgefangenen im Schnitt 34 Jahre alt waren, während bei der Befragung der Allgemeinbevölkerung das Durchschnittalter 50,6 war und bei letzterer Studie insofern viele Menschen der Kriegs-/Nachkriegsgeneration mit erfasst wurden, die materiell/körperlich schlecht versorgt werden konnten.

- Ergänzend wurde in der Studie festgestellt, dass 86,3 % der Inhaftierten mindestens einmal in ihrem Leben an einer psychischen Störung litten. 83,5 % waren akut (innerhalb der letzten 6 Monate vor der Befragung) psychisch erkrankt.

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In den USA (Kalifornien) wurden 500 Straftäterinnen befragt, die sich in einem Resozialisierungsprogramm von fünf verschiedenen Gefängnissen befanden:

Messina, N. & Grella, C. (2006). Childhood Trauma and Women’s Health Outcomes in a California Prison Population. American Journal of Public Health. Vol. 96, No. 10.

Die Studie arbeitete wie schon oben aufgezeigt mit sogenannten ACE Werten und verglich die Ergebnisse der Straftäterinnen mit den Werten der Allgemeinbevölkerung.

Ergebnisse:

- Keinen einzigen ACE Wert gaben 15,7 % der Straftäterinnen an, dagegen 31,3 % der weiblichen Befragten aus der Allgemeinbevölkerung

- Einen  ACE Wert gaben 16,7 % der Straftäterinnen an, dagegen 24,2 % der weiblichen Befragten aus der Allgemeinbevölkerung

- Zwei ACE Werte gaben 21,8 % der Straftäterinnen an, dagegen 14,8 % der weiblichen Befragten aus der Allgemeinbevölkerung

- Drei  ACE Werte gaben 14 % der Straftäterinnen an, dagegen 10,4 % der weiblichen Befragten aus der Allgemeinbevölkerung

- Vier  ACE Werte gaben 10,6 % der Straftäterinnen an, dagegen 6,8 % der weiblichen Befragten aus der Allgemeinbevölkerung

- Fünf oder mehr ACE Werte gaben 21,2 % der Straftäterinnen an, dagegen 12,5 % der weiblichen Befragten aus der Allgemeinbevölkerung

Details für belastende Kindheitserfahrungen:

- Emotionale Misshandlungen und Vernachlässigung erlebten 34,2 % der Straftäterinnen, dagegen 12,2 % der weiblichen Befragten aus der Allgemeinbevölkerung

- Körperliche Vernachlässigung erlebten 14,5 % der Straftäterinnen, dagegen 9,2 % der weiblichen Befragten aus der Allgemeinbevölkerung

- Körperliche Misshandlungen erlebten 30,6 % der Straftäterinnen, dagegen 25,1 % der weiblichen Befragten aus der Allgemeinbevölkerung

- Sexuellen Missbrauch erlebten 45,1 % der Straftäterinnen, dagegen 24,3 % der weiblichen Befragten aus der Allgemeinbevölkerung

- Häusliche Gewalt miterlebt haben 47,6 % der Straftäterinnen, dagegen 13,9 % der weiblichen Befragten aus der Allgemeinbevölkerung

- Trennung der Eltern erlebten 43,7 % der Straftäterinnen, dagegen 25,4 % der weiblichen Befragten aus der Allgemeinbevölkerung

- Inhaftierung eines Familienmitgliedes erlebten 33,8  % der Straftäterinnen, dagegen 6,9 % der weiblichen Befragten aus der Allgemeinbevölkerung

- Fremdunterbringung von zu Hause (Pflegefamilie oder Adoption) erlebten 19,9 % der Straftäterinnen, bzgl. der Allgemeinbevölkerung liegen keine Daten dazu vor.


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Für eine große Studie aus Großbritannien wurden Daten von 1.435 Strafgefangenen (die meisten Männer), die Haftstrafen zwischen einem Monat und vier Jahren zu verbüßen hatten (wobei die Mehrheit Haftstrafen unter 12 Monaten absaß) ausgewertet:

Williams, K. /  Papadopoulou, V. & Booth, N. (2012). Prisoners’ childhood and family Backgrounds. Results from the Surveying Prisoner Crime Reduction (SPCR) longitudinal cohort study of prisoners.  Ministry of Justice (UK), Research Series 4/12.

Leider ist mir nicht klar, welche Straftaten die Verurteilten begangen haben. Auf Grund der relativ kurzen Haftstrafen würde ich besonders schwere Gewaltverbrechen eher ausschließen. 

Ergebnisse:

- 24 % der Strafgegangen wurden eine Zeitlang als Kind fremduntergebracht (Heim, Pflegefamilie etc.)

- 7 % lebten als Kind immer oder die meiste Zeit in einer Pflegefamilie oder einer staatlichen Institution

- 29 % haben als Kind emotionale, körperliche und/oder sexuelle Misshandlungen erlebt (Vernachlässigung wurde offensichtlich nicht abgefragt)

- 41 % haben als Kind zu Hause Gewalt miterlebt

- 18 % haben ein Familienmitglied mit einem Alkoholproblem

- 14 % haben ein Familienmitglied mit einem Drogenproblem

- 27 % haben ein Familienmitglied mit einem Drogen- und/oder Alkoholproblem

- 37 % haben ein Familienmitglied, das auf Grund einer Straftat verurteilt wurde (von diesen 37 % wurden 84 % inhaftiert)

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Interessant finde ich – gerade mit Blick auf die gerade zuvor besprochene Studie –, dass bzgl. Straftätern, die besonders schwere Gewaltverbrechen begangen haben, deutlich höhere Raten bzgl. belastenden Kindheitserfahrungen festgestellt werden. Dies zeigten die Ergebnisse folgender Studie:

Craparo, G. / Schimmenti, A. & Caretti, V. (2013). Traumatic experiences in childhood and psychopathy: a study on a sample of violent offenders from Italy. European Journal of  Psychotraumatology. 4: 10.

22 Straftäter in Italien wurden befragt. 14 waren Mördern, 4 Vergewaltiger und 4 Kindesmissbraucher. Bei allen war eine antisoziale Persönlichkeitsstörung diagnostiziert worden.

Ergebnisse:

- 50 % wurden als Kind körperlich misshandelt

- 40,9 % wurden als Kind emotional misshandelt

- 68,2 % wurden als Kind emotional vernachlässigt

- 18,2 % wurden als Kind sexuell missbraucht

- 55,5 % erlebten mindestens zwei Formen der vorgenannten Misshandlungen

- 100 % berichteten zudem mindestens über ein traumatisches Ereignis in ihrem Leben.

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Der letzte Punkt ("100 % berichteten zudem mindestens über ein traumatisches Ereignis in ihrem Leben.") in der zuvor besprochenen Studie scheint ergänzend zu kindlichen Gewalterfahrungen häufig im Leben von Tätern zu sein. Insofern möchte ich folgende Hinweise an dieser Stelle anführen:

Eine Studie fand, dass von 64 befragten jugendlichen Straftätern 96,8 % mindestens ein traumatisches Erlebnis gemacht haben. (Carrion, V. G. & Steiner, H. (2000). Trauma and Dissociation in Delinquent Adolescents. Child & Adolescent Psychiatry, Vol. 39, Issue 3, S. 353-359.)

Eine große europaweite Studie (siehe unten) mit 1.055 befragten männlichen Strafgefangen (verurteilt wegen Mord, Raub, Sexualstraftaten, Körperverletzung, Eigentums- oder Drogendelikten, also eine sehr gemischte Gruppe) ergab, dass 88,2 % von mindestens einem traumatischen Erlebnis berichten, im Durschnitt erlebten die Strafgefangenen drei Arten von Traumatisierungen (Abgefragt wurden diverse traumatische Erfahrungen wie Kriegserfahrungen, Folter, Naturkatastrophen, lebensbedrohliche Erkrankung, schwere körperliche Angriffe u.ä.). Die AutorInnen der Studie betonen, dass der Anteil von traumatischen Erfahrungen bei den befragten Gefängnisinsassen sechs mal höher ist, als der in der Allgemeinbevölkerung und die Gefängnisinsassen sogar höhere Traumaraten aufweisen, als stationär aufgenommene Psychiatriepatienten.

Dudeck, M. /  Drenkhahn, K. / Spitzer, C. /  Barnow, S.  / Kopp, D.  / Kuwert, P. /  Freyberger, H. J. & Dünkel, F.  (2011). Traumatization and mental distress in long-term prisoners in EuropePunishment & Society 13 (4), S. 403-423. 

Die Studie zeigte auch folgendes:
- Bei 14 % konnte eine Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert werden
- 50 % waren auf Grund von psychischen Symptomen in Behandlung
- 29,7 % haben bereits versucht, sich umzubringen
- Ca. ein Drittel berichteten von selbstverletzendem Verhalten

Bzgl belastenden Kindheitserfahrungen ist die Studie leider nicht ergiebig. 39,4 % berichteten von einem schwere körperlichen Angriff durch ein Familienmitglied oder einem Bekannten (wobei nicht klar ist in welcher Lebensphase dies geschah und wer der Täter war), 5,4 % berichteten von einem sexuellen Angriff durch ein Familienmitglied und 5,7 % von einem sexuellen Angriff durch einen Fremden, 22,5 % hatten Sexualverkehr im Alter unter 18 Jahren mit einer mindestens 5 Jahre älteren Person.

Eine wissenschaftliche Arbeit aus Großbritannien hat Daten von verschiedenen Studien ausgewertet und die Ergebnisse bzgl. jungen Strafgefangenen und der Allgemeinbevölkerung verglichen:

Hughes, N. / Williams, H. /  Chitsabesan, P. /  Davies, R. &  Mounce, L. (2012). Nobody made the connection: The prevalence of neurodisability in young people who offend. Office of the Children’s Commissioner (UK).

(Links jeweils die Daten für die junge Allgemeinbevölkerung und recht die Daten für junge Strafgefangene)

- Lernbehinderung (learning disabilities):   2 - 4% (junge Allgemeinbevölkerung) / 23 - 32% (junge Strafgefangene)

- Legasthenie (Dyslexia):  10%  (junge Allgemeinbevölkerung) / 43 - 57% (junge Strafgefangene)

- Kommunikationsstörung (Communication disorders): 5 - 7% (junge Allgemeinbevölkerung) / 60 - 90% (junge Strafgefangene)

- ADHS (Attention deficit hyperactive disorder): 1.7 - 9% (junge Allgemeinbevölkerung) / 12% (junge Strafgefangene)

- Autismusspektrumstörung (Autistic spectrum disorder): 0.6 - 1.2% (junge Allgemeinbevölkerung) / 15% (junge Strafgefangene)

- Schädel-Hirn-Trauma (Traumatic brain injury): 24 - 31.6% (junge Allgemeinbevölkerung) / 65.1 - 72.1% (junge Strafgefangene)

- Epilepsie (Epilepsy): 0.45 - 1% (junge Allgemeinbevölkerung) / 0.7 - 0.8% (junge Strafgefangene)

- fetales Alkoholsyndrom (Foetal alcohol Syndrome): 0.1 - 5% (junge Allgemeinbevölkerung) / 10.9 - 11.7% (junge Strafgefangene)

Vor allem der letzte Punkt stellt eine Form von schwerer mütterlicher Misshandlung gegenüber dem ungeborenen Kind da! Bzgl. der anderen Störungen ist die Frage, ob diese nicht wiederum in einem starken ursächlichem Verhältnis zu kindlichen Gewalterfahrungen der Straftäter stehen, was ich persönlich vermute.

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Für eine Studie in New Mexico, USA, wurden 220 jugendliche (13-18 Jahre) inhaftierte Straftäter und Straftäterinnen befragt:

Cannon, Y. / Davis, G. / Hsi, A.  & Bochte, A.  (2016). Adverse Childhood Experiences in the New Mexico Juvenile  Justice Population. New Mexico Sentencing Commission.

Ergebnisse:

- 0,5 % der männlichen und 0 % der weiblichen Befragten hatten keinen einzigen ACE Punkt angegeben.

- 3,7 % der männlichen und 0 % der weiblichen Befragten gaben nur einen einzigen ACE Punkt an.

- 86 % aller Befragten (männlich und weiblich) haben 4 oder mehr ACE Punkte angegeben. Diese Werte übertreffen bei weitem Vergleichsdaten bzgl. der Allgemeinbevölkerung (12 – 15 % mit 4 oder mehr ACE Punkten), die ebenfalls in der Studie vorgestellt wurden.

Details für belastende Kindheitserfahrungen:

- 57 % der männlichen und 67 % der weiblichen Befragten wurden emotional misshandelt

- 49 % der männlichen und 70 % der weiblichen Befragten wurden körperlich misshandelt

- 21 % der männlichen und 63 % der weiblichen Befragten wurden sexuell missbraucht

- 74 % der männlichen und 90 % der weiblichen Befragten wurden emotional vernachlässigt

- 93 % der männlichen und 100 % der weiblichen Befragten wurden körperlich vernachlässigt

- 85 % der männlichen und 90 % der weiblichen Befragten erlebten, dass ihre Eltern sich trennten

- 55% der männlichen und 53 % der weiblichen Befragten erlebten häusliche Gewalt mit

- 81 % der männlichen und 77 % der weiblichen Befragten erlebten Suchtmittelmissbrauch in ihrer Familie

- 55 % der männlichen und 60 % der weiblichen Befragten erlebten, dass ein Familienmitglied inhaftiert wurde

Die psychische Situation der Jugendlichen ist entsprechend schwierig. Fast die Hälfte (47,7 %) der Befragten hat beispielsweise Depressionen, 19,1 % verletzen sich selbst, 13,6 % unternahmen als Kind einen Selbstmordversuch und 28,6 % leiden an einer posttraumatischen Belastungsstörung.

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Eine ähnliche Studie wurde ebenfalls in den USA in Florida mit 64.329 jugendlichen Straftätern und Straftäterinnen (unklar ist, welche Delikte die Jugendlichen begangen haben. Vermutlich sind bei einer solch großen Gruppe auch viele Straftäter dabei, die keine Gewaltdelikte begangen haben) durchgeführt:

Baglivio, M. T. /  Epps, N. /   Swartz, K. /  Sayedul Huq, M.  , Sheer A. , Hardt, N. S. (2014). The Prevalence of Adverse Childhood Experiences (ACE) in the Lives of Juvenile Offenders. Journal of Juvenile Justice. Vol. 3, Issue 2.

Ergebnisse:

- 2,8 % aller befragten StraftäterInnen gaben keinen einzigen ACE Punkt an (dagegen 36 % einer Vergleichsstudie zur Allgemeinbevölkerung)

- 90 % aller Befragten gaben mindesten 2 ACE Punkte an

- 73 % aller Befragten gaben 3 oder mehr ACE Punkte an

- 52 % aller Befragten gaben 4 oder mehr ACE Punkte an (dagegen 13 % einer Vergleichsstudie zur Allgemeinbevökerung)

- 32 % aller Befragte gaben 5 oder mehr ACE Punkte an

Details für belastende Kindheitserfahrungen:

- 31 % der männlichen und 39 % der weiblichen Befragten wurden emotional misshandelt

- 26 % der männlichen und 41 % der weiblichen Befragten wurden körperlich misshandelt

- 7 % der männlichen und 31 % der weiblichen Befragten wurden sexuell missbraucht

- 31 % der männlichen und 39 % der weiblichen Befragten wurden emotional vernachlässigt

- 12 % der männlichen und 18 % der weiblichen Befragten wurden körperlich vernachlässigt

- 78 % der männlichen und 84 % der weiblichen Befragten erlebten, dass ihre Eltern sich trennten

- 81% der männlichen und 84 % der weiblichen Befragten erlebten häusliche Gewalt mit

- 24 % der männlichen und 30 % der weiblichen Befragten erlebten Suchtmittelmissbrauch in ihrer Familie

- 65 % der männlichen und 68 % der weiblichen Befragten erlebten, dass ein Familienmitglied inhaftiert wurde

- 8 % der männlichen und 12 % der weiblichen Befragten erlebten, dass ein Familienmitglied psychisch krank war

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Für eine große Studie wurden in Florida (USA) 22.575 jugendliche Straftäter und Straftäterinnen zu belastenden Kindheitserfahrungen (ACE Werte) befragt:

Fox, B. H.; Perez, N.; Cass, E.; Baglivio, M. T.;  Epps, N. (2015). Trauma changes everything: Examining the relationship between adverse childhood experiences and serious, violent and chronic juvenile offenders. Child Abuse & Neglect. Volume 46, S. 163–173.

Das Besondere an dieser Studie ist, dass die StraftäterInnen in zwei Gruppen eingeteilt wurden. 10.714 StraftäterInnen wurden als „serious, violent and chronic offenders“ (SVCs) und 11.861 als „one & done“ (O&D) klassifiziert. Die erste Gruppe (SVCs) hatten drei oder mehr Straftaten begangen, von denen mindestens eine Straftat eine Gewalttat war. Die zweite Gruppe (O&D) hatte nur eine, nicht-gewalttätige Straftat begangen.

Ergebnisse:

- Keinen einzigen ACE Punkt gaben 7,4 % der SVCs an, dagegen 30,6 % der O&Ds

- Einen ACE Punkt gaben 21,2 % der SVCs an, dagegen 28,4 % der O&Ds

- Vier oder mehr ACE Punkte gaben 32,9 % der SVCs an, dagegen 14 % der O&Ds

Details für belastende Kindheitserfahrungen:

- 39,8 % der SVCs wurden emotional misshandelt, dagegen 21,3 % der O&Ds

- 33,9 % der SVCs wurden körperlich misshandelt, dagegen 17,8 % der O&Ds

- 8,8 % der SVCs wurden sexuell missbraucht, dagegen 8 % der O&Ds

- 15,4 % der SVCs wurden emotional vernachlässigt, dagegen 9,9 % der O&Ds

- 19,6 % der SVCs wurden körperlich vernachlässigt, dagegen 7,9 % der O&Ds

- 39,6 % der SVCs erlebten häusliche Gewalt mit, dagegen 21,9 % der O&Ds

- 29,8 % der SVCs erlebten Suchtmittelmissbrauch in ihrer Familie, dagegen 16 % der O&Ds

- 14,5 % der SVCs berichteten von psychischer Erkrankung mind. eines Familienmitgliedes, dagegen 8,5 % der O&Ds

- 80 %  der SVCs  erlebten, dass ein Familienmitglied inhaftiert wurde, dagegen 49,7 % der O&Ds

Für jeden einzelnen ACE Wert, so die Autorinnen der Studie, steigt das Risiko zu einer (gewalttätigen) Mehrfachtäterschaft (SVCs) um 35 % im Verhältnis zu nicht-gewalttätigen Straftätern der Kategorie O&D. Diese Studie konnte also deutlich den von mir im Blog wie auch in diesem Text gemachten Hinweis bestätigen, dass gewalttätige (Mehrfach)Täter als Kind deutlich belasteter sind, als nicht-gewalttätige Straftäter (und natürlich auch als die Allgemeinbevölkerung). (Bzw. diese Studie bestätigt tendenziell auch die von mir gemachte Formel: Je gewalttätiger die Tat und je häufiger jemand Täter ist, desto gewaltvoller die Kindheit.)

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Für eine Studie aus den USA wurden 658 jugendliche Straftäter und Straftäterinnen (13 – 18 Jahre alt) befragt, die entweder inhaftiert waren oder unter gerichtlicher Aufsicht standen:

Dierkhising, C. B. ; Ko, S. J.; Woods-Jaeger, B.; Briggs, E. C.; Lee, R. & Pynoos, R. S. (2013). Trauma histories among justice-involved youth: findings from the National Child Traumatic Stress Network. European Journal of Psychotraumatology. Vol. 4.

Allgemeine Ergebnisse:

- Fast 90 % der befragten Jugendlichen berichteten von mind. einem traumatischen Erlebnis. Im Durschnitt gaben die Befragten ca. 5 (4,9) verschiedene traumatische Erlebnisse an.

- Ca. 62 % der Befragten erlitten die erste traumatische Erfahrung in den ersten 5 Lebensjahren

- Ca. 70 % erfüllten Kriterien für eine psychische Störung

- 23,6 % erfüllten Kriterien für eine posttraumatische Belastungsstörung

Details für belastende Kindheitserfahrungen:

- 58,6 % der Straftäter und 64,9 % der Straftäterinnen erlebten einen traumatischen Verlust (Trennung von Erziehungspersonen oder einen Todesfall in der Familie)

- 47,5 % der Straftäter und 57,3 % der Straftäterinnen hatten einen behinderten/gestörten Erziehungsberechtigten

- 51,4 % der Straftäter und 56,3 % der Straftäterinnen erlebten häusliche Gewalt mit

- 46,3 % der Straftäter und 53,9 % der Straftäterinnen erlebten emotionale Misshandlungen

- 39 % der Straftäter und 40,6 % der Straftäterinnen erlebten körperliche Misshandlungen

- 15,5 % der Straftäter und 31,8 % der Straftäterinnen erlebten sexuellen Missbrauch

- 30,7 % der Straftäter und 29,7 % der Straftäterinnen erlebten Vernachlässigung

Neben diesen belastenden Kindheitserfahrungen, die ähnlich auch in den anderen hier im Text vorgestellten Studien abgefragt worden sind, wurden weitere (außerfamiliäre) Belastungsfaktoren abgefragt, die ich hier nicht alle darstellen kann. Auszugsweise möchte ich drei Beispiele aufführen:

- 8,8 % der Straftäter und 38,7 % der Straftäterinnen erlebten einen sexuellen Überfall/Vergewaltigung

- 40,8 % der Straftäter und 30,1 % der Straftäterinnen erlebten Gewalt in ihrem nachbarschaftlichen Umfeld

- 23 % der Straftäter und 23,1 % der Straftäterinnen erlebten Gewalt in der Schule


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Ebenfalls in den USA wurden für eine Studie 740 Sexualstraftäter und -täterinnen befragt (93,5 % Männer und 6,5 % Frauen):

Levenson, J. S. (2016). The influence of childhood trauma on sexual violence and sexual deviance in adulthood. Traumatology, 22(2): 94-103.

Ergebnisse:

- 15,7 % gaben keinen einzigen ACE Punkt an

- 45,3 % gaben 4 oder mehr ACE Punkte an

Details für belastende Kindheitserfahrungen:

- 52 % der Befragten wurden emotional misshandelt

- 42 % der Befragten wurden körperlich misshandelt

- 38 % der Befragten wurden sexuell missbraucht

- 37 % der Befragten wurden emotional vernachlässigt

- 16 % der Befragten wurden körperlich vernachlässigt

- 24 % der Befragten erlebten häusliche Gewalt mit

- 46 % der Befragten erlebten Suchtmittelmissbrauch in ihrer Familie

- 23 % der Befragten erlebten, dass ein Familienmitglied inhaftiert wurde

- 26 % der Befragten erlebten, dass ein Familienmitglied psychisch krank war

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Für eine Studie aus Großbritannien wurden 200 inhaftierte GewalttäterInnen (die meisten männlich, wenige weiblich) befragt:

Boswell, G. (1997). The Backgrounds of Violent Young Offenders. The Present Picture. In: Varma, V. P. (Hrsg.). Violence in Children and Adolescents. S. 22-36. London: Jessica Kingsley Publishers.

Ergebnisse (ebd., S. 27):

- Emotionale Misshandlung erlebten 28,5 %

- Sexuellen Missbrauch erlebten 29 %

- Körperliche Misshandlungen erlebten 40 %

- organisierten oder rituellen Missbrauch erlebten 1,5 %

- Insgesamt erlebten 72 % eine oder mehrere der vorgenannten kindlichen Belastungsfaktoren

- 57 % erlebten als Kind einen Todesfall oder die Trennung von einer wichtigen Bezugsperson

- 49,5 % verloren als Kind den Kontakt zu einem Elternteil; von 10 % aller Befragten starb, als sie noch ein Kind waren, ein Elternteil

- Zusammenfassung: Insgesamt 91 % aller Befragten erlebte als Kind eine einschneidende Trennung von einer Bezugsperson und/oder mindestens eine Form von den o.g. Misshandlungen.

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Interessant ist auch eine Studie, für die 136.549 SchülerInnen in Minnesota (USA) bzgl. belastenden Kindheitserfahrungen und eigenem destruktivem Verhalten (Delinquenz, Mobbing, körperliche Gewalt, Gewalt gegen Partner „Dating Violence“, Tragen von Waffen, Selbstverletzungen, Selbstmordversuchen oder - -gedanken) befragt wurden:

Duke, N. N. / Pettingell, S. L. / McMorris, B. J. & Borowsky I. W. (2010). Adolescent Violence Perpetration: Associations With Multiple Types of Adverse Childhood Experiences. Pediatrics, VOL. 125, ISSUE 4.

Das wesentliche Ergebnis der Studie lässt sich mit einem Zitat zusammenfassen: „For every unit increase in the adverse-events score (additional type of adverse event reported), the risk of violence perpetration increased  35% to 144%.“ (S. 784). Das bedeutet umgekehrt natürlich auch, dass je weniger belastende Kindheitserfahrungen gemacht wurden, desto unwahrscheinlicher wird eigenes Gewaltverhalten.
Ein Wert sticht in der Studie übrigens besonders hervor. Für männliche Schüler, die als Kind von einem Familienmitglied sexuell missbraucht worden sind, erhöht sich das Risiko, bei einem Date Gewalt gegen die Partnerin anzuwenden, um den Faktor 44 im Vergleich zu Schülern, die nicht sexuell missbraucht worden sind.

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Abschließend möchte ich noch eine spezielle Studie bespreche. Für folgende Studie wurden 7 Serienmörder in den USA interviewt und analysiert:

Beasley, J. O. (2004). Serrial Murder in America: Case Studies of Seven Offenders. Behavioral Sciences and the Law. Law 22, S. 395-414.

Aufschlussreich war für mich besonders die Diskussion der Studie im Schlussteil. Der Autor betont, dass er einen Schwerpunkt bei der Analyse auch auf die Kindheitshintergründe und mögliche Misshandlungsgeschichten gelegt hätte. (ebd., S. 410) Familienprobleme seien häufig bei den Mördern zu finden gewesen. (Diese wurden aber erstaunlicher Weise in den Fallanalysen selten ausführlich dargestellt, dazu gleich mehr). Aber: Körperliche und/oder sexuelle Misshandlungen wurden seltener gefunden, als angenommen, so der Autor. Nur zwei von sieben Serienmördern wurden als Kind körperlich misshandelt, schreibt er weiter. Außerdem würden die meisten Opfer von Kindesmisshandlung später nicht zu Serienmördern. Somit scheint das Thema Kindheit für den Autor entsprechend abgehakt zu sein.

Das erste, was ich nach dem Lesen dieser Zeilen getan habe, war eine Rechenaufgabe zu lösen. 2 von 7 bedeutet, dass 28,57 % der befragten Serienmörder körperlich misshandelt wurden. Das ist kein sehr hoher Wert, aber auch nicht gerade niedrig. (Der Wert entspricht übrigens genau der Zahl, die mir noch bzgl. Jonathan H. Pincus im Kopf ist, der schrieb, dass von ihm befragte Mörder zunächst zu zwei Drittel sagten, sie seien nicht misshandelt worden, was - das zeigten seine intensiven Recherchen - nicht stimmte. Zu Pincus komme ich gleich noch.)  Die Fallanalysen von Beasley zeigen ein ergänzendes Bild. Bei keinem einzigen Serienmörder fanden sich keine Belastungen in der Kindheit. Es verwundert sehr, dass der Autor in seiner Zusammenfassung nicht deutlich darauf eingeht.

- Serienmörder Nr 1. wurde als Kind adoptiert. Was alles in seiner Herkunftsfamilie geschah und warum er adoptiert wurde, wird nicht beschrieben. Außerdem wird von familiärer Instabilität und sozialer Isolation gesprochen, auch wieder ohne in Details zu gehen. Mörder Nr. 1 tötete insgesamt 17 Frauen. Obwohl er über keine Misshandlungen berichtete, zeigen die wenigen Information, dass seine Kindheit einer weiteren Analyse bedurft hätte.

- Serienmörder Nr 2 ist der einzige Mörder, dessen Kindheit in der Fallanalyse explizit als unauffällig bezeichnet wird. Diese deutliche Aussage verwunderte mich besonders, denn auch dieser Mörder wurde als Kind von einer Familie adoptiert und wuchs dann als Einzelkind auf. Informationen über seine Herkunftsfamilie erhält man erneut nicht. Auffällig fand ich auch, dass er bereits als Jugendlicher Drogen nahm und dass er später vor den Morden (er ermordete drei Frauen) einen intensiven Hass und intensive Wut auf Frauen empfunden habe.

- Die Kindheit von Serienmörder Nr 3 war  eindeutig ein Alptraum. Die Mutter war Alkoholikerin, kalt und distanziert. Sie wechselte zudem mehrmals ihre Partner. Ein Stiefvater misshandelte den Jungen häufig. Im Alter von neun Jahren wurde der Junge für einige Monate bei einer Pflegefamilie untergebracht. Im Alter von zehn wurde er nach einem Einbruch inhaftiert.

- Ebenfalls wurde Serienmörder Nr 4 häufig von seinem Vater sowohl verbal als auch körperlich misshandelt.

- Serienmörder Nr 5 berichtet von einem Gefühl der Isolation als Kind, Frustationen und einer instabilen Familie. Als Jugendlicher schloss er sich einer Straßengang an. Es bleibt in dem Bericht bei diesen oberflächlichen Daten.

- Serienmörder Nr 6 wurde von seinem Vater psychisch misshandelt und berichtet von einem instabilen Zuhause. In seiner frühen Jugend fühlte er sich extrem isoliert. Auch hier bleibt es bei diesen Oberflächendaten.

- Serienmörder Nr 7. wurde als Kind körperlich und psychisch von seinem Vater misshandelt. Als Jugendlicher nahm er exzessiv Drogen und Alkohol.

Ich möchte noch einmal wiederholen, dass es mehr als erstaunlich ist, dass der Autor in seiner Schlussbesprechung Kindheitserfahrungen quasi bei Seite schiebt, obwohl seine eigenen kurzen Fallanalysen bereits in eine andere Richtung zeigen.

Im Text oben habe ich bereits auf meine Buchbesprechung von Jonathan H. Pincus hingewiesen. Ergänzend möchte ich auf eine Arbeit Hinweisen, an der auch Pincus beteiligt war:

Lewis, D. O. / Yeager, C. A. / Swica, Y. /  Pincus, J. H. & Lewis, M. (1997). Objective Documentation of Child Abuse and Dissociation in 12 Murderers With Dissociative Identity Disorder. American Journal of  Psychiatry 154:12, S. 1703-1710

Die befragten Mörder erinnerten entweder keine Misshandlungen oder redeten sie gering. "We were surprised to find that in their usual personality states, most subjects denied or minimized childhood maltreatment. Four of them, for whom documentation of extraordinary abuse was discovered, totally denied any physical or sexual abuse. Seven others who had been severely physically and/or sexually abused had but fragmentary memories of the abuse. None attempted to use histories of abuse to enlist the sympathy of jurors or to excuse their violent acts. Since in their usual personality states most of the subjects had no idea of the kinds of maltreatment they had sustained, they could not use histories of abuse to manipulate clinicians or anyone else." (ebd., S. 1707)

Nun ist es so, dass diese Mörder nachweisbar unter einer Dissoziativen Identitätsstörung litten, womit natürlich Erinnerungslücken einhergehen. (Ähnliche Lücken oder Verneinung von Misshandlungserfahrungen fand Pincus allerdings auch bei anderen Mördern, was ich in meiner oben verlinkten Buchbesprechung ausgeführt habe.) Bei 12 Mördern fanden die Forscher - entgegen den Darstellungen der Mörder selbst - extreme Misshandlungshintergründe, was sie wie folgt zusammenfassten: "The term “abuse” does not do justice to the quality of maltreatment these individuals endured. A more accurate term would be `torture.` " (ebd., S. 1707) Pincus und die anderen Forscher befragten u.a. Eltern, Geschwister, Ehepartner, Onkel und Tanten, Nachbarn, Lehrer, Kindheitsfreunde und in einem Fall sogar Priester für Informationen zur Kindheit und Misshandlungshintergründen. Ergänzend analysierten sie offizielle Unterlagen wie Krankenhausberichte/Krankenakten aus der Kindheit, Gerichtsurteile gegen Elternteile der Mörder, Psychiatrieberichte, Berichte von Pflegefamilien und sozialen Diensten, Polizeiberichte, Schulberichte usw. Die Forschenden betrieben also einen enormen Aufwand um der Frage nachzugehen, was diesen Mördern als Kind alles widerfahren war. Ein solcher Aufwand ist in gängigen Gewaltstudien natürlich nicht machbar. Worauf ich erneut hinaus will ist, dass gerade in Anbetracht von extremen Taten wie Mord oder gar Serienmord berechtigte Zweifel angebracht sind, wenn die Mörder sagen: Meine Kindheit war gut.

In diesem Blog habe ich die Kindheiten von etlichen Diktatoren und politischen Massenmördern analysiert und extrem schwere Misshandlungshintergründe gefunden. Bzgl. Mördern einer Kategorie wie Hitler, Stalin usw. hat man im Gegensatz zu einem "ganz normalen" Mörder den Vorteil, dass sich etliche Historiker und andere Forschende quasi auf diese stürzen und jeden Winkel ihres Lebens ausleuchten. Auch wenn normale Historiker nicht so sehr die Kindheit im Fokus haben, erfährt man doch sehr viel, wenn man genau hinschaut. Ein Fragebogen, der in einem Gefängnis Mördern in die Hand gedrückt wird, ist hilfreich, das haben die oben besprochenen Studien gezeigt. Alleine dem Fragebogen zu vertrauen und daraus abzuleiten, dass ein kleiner Teil der Gewalttäter keinerlei kindliche Belastungen erlebt haben, halte ich für fragwürdig.

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Der Ansatz von der Autorin Necla Kelek ist bzgl. des Themas „Strafgefangene und deren kindliche Sozialisation und Erfahrungen“ ein besonderer und ich möchte diesen gezielt ans Ende dieses Blogbeitrags setzen.  In ihrem Buch „Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes“ hat sie fünf muslimische, inhaftierte (türkischstämmige) Straftäter ausführlich vorgestellt, mit denen sie zuvor intensive Interviews geführt hat. Den Berichten über die Straftäter hängt sie eine generelle Analyse der traditionellen muslimischen Erziehung an. Man erhält dadurch ein sehr komplexes Bild. Sie berichtet von der Macht der Väter, von kollektiven Familiensystemen, von mittelalterlichen Normen, vom Einfluss des Islam, vom Trauma der Jungenbeschneidung, von destruktiven Ehrvorstellungen, von Kindern die zuschauen, wenn Tieren beim Opferfest die Kehle durchgeschnitten wird usw. und auch von ihren eigenen Kindheitserinnerungen in der Türkei. Ihre Berichte sind – das betont sie – nicht repräsentativ (sie versteht ihren Ansatz als "qualitative Sozialforschung"), zeigen aber einen wichtigen Ausschnitt aus der Wirklichkeit.
Bzgl. dieser speziellen Gruppe der ursprünglich in der Türkei geborenen und hier in Deutschland inhaftierten männlichen Straftäter zeigt sich, dass zu den Erfahrungen von Gewalt und Demütigungen in der Kindheit dieser Männer (was sie mit anderen Straftäter gemein haben) ergänzend ein ganzes „Kultursystem“ betrachtet werden muss, in dem sie aufgewachsen sind.

Individuelle Freiheit und Entfaltung gibt es in diesen quasi "mittelalterlichem" Kultursystem, aus dem diese Täter stammen, nicht. Wie ein Junge und ein Mann zu sein hat und was sein Lebensweg sein wird (und wen er wann heiraten wird), bestimmen die Älteren, Sitten, Bräuche, die Religion, die Großfamilie und die (Dorf-)Gemeinschaft. Hinzu kommt eine strickte Trennung der Lebenswelten von Frauen und Männern, Mädchen und Jungen, aber auch von Eltern und Kindern. Kelek zitiert einen Mann, der berichtet, dass seine Eltern nichts von ihm wüssten. „Das ist bei den meisten Familien so, nicht nur in meiner. Die Eltern leben für sich, und die Kinder sind auch für sich.“ (Kelek 2007, S 104) Dieser Mann berichtet über seine Familie: „Bei uns (…) spielt der Respekt eine große Rolle. Wenn mein Vater mich besuchen käme, würde ich sofort aufstehen und seine Hände küssen. Wenn er nach Hause kam, standen wir Kinder immer auf, küssten ihm die Hände und verließen den Raum, damit er seine Ruhe hatte. Wir achteten ihn, wir dienten ihm, denn er ist unser Vater.“ (ebd., S. 105)
Necla Kelek berichtet über das Kinderleben in dem anatolischen Dorf ihrer Mutter. „Im Dorf wurden die Kinder nicht betreut. Sie liefen, sobald sie laufen konnten, einfach mit. Die Jungen lernten von den älteren Jungen, was es hieß, ein Junge zu sein. Sie mussten die Schafe, die Gänse hüten oder Besorgungen erledigen. Die Mädchen halfen der Mutter im Haus und lernten durch Zuschauen und Mitmachen. In dieser Welt gab es keine bewusste Erziehung durch Ausbildung und fürsorgliches, erklärendes Beibringen, sondern nur das Prinzip Aneignung durch Nachahmung und Strafe bei Nachlässigkeiten.“ (ebd., S. 118) Strafen waren dann vor allem körperliche Gewalt (auch gegen Kleinkinder) und/oder Ausgrenzung.

Auch die Berichte der Strafgefangen sind voll von Gewalt, Ohnmachtserfahrungen und Gehorsamsforderungen. Kelek fasst an einer Stelle kurz zusammen:
„Die Lebensgeschichten, die ich im Gefängnis gehört habe, erzählen von Vätern, die ihre Söhne mit dem Stock oder mit einem Kabelende schlagen oder ihnen heißes Öl über die Hand gießen – alles Vergeltungsmaßnahmen für verweigerten Gehorsam oder nicht gezollten Respekt.“ (ebd., S. 182+183) Keiner der männlichen muslimischen Gesprächspartner – sowohl Strafgefangene als auch diverse andere -, die alle samt durch ihre Väter bestraft wurden und Gewalt erlebt hatten, machte ihren Väter deswegen Vorwürfe, schreibt Kelek. (ebd., S. 174+175) „Alle ´respektierten` seine Macht bis zur Selbstzerstörung. Der Vater, so scheint es, hat einen gottähnlichen Status, und die Angst, vor ihm zu versagen, ist groß.“ (ebd., S. 175)

Kelek spitzt im hinteren Teil des Buches an einer Stelle zu: „Muslimische Jungen wachsen ohne Liebe auf. In ihrer Sozialisation geht es in erster Linie darum, dieses Leben zu bestehen, Gott zu gehorchen und dafür zu sorgen, dass ihnen gehorcht wird. Es ist eine Welt von Schwarz und Weiß, von Entweder-Oder, von oben und unten. In ihr können keine Gefühle ausgebildet werden (…)“ (ebd., S. 179) Neben dieser Ohnmacht erleben diese Jungen aber auch, dass sie als männliche Wesen mehr wert sind, als Frauen. Gleichzeitig ist ihr Leben ein trauriges. Dies ist in meinen Augen eine unheilvolle Mischung aus Ohnmacht und Gehorsam + Macht und überhöhter Männlichkeit, alles die besten Zutaten für einen gewalttätigen Charakter. Diese Seiten zeigen sich sehr gut an einer Stelle im Buch:
„Die Söhne werden von den Müttern gepampert und verwöhnt und von den Schwestern bedient, mit ihnen spielen, träumen, weinen, lachen – das tut keiner. Das müssen die Jungen mit sich selbst, vielleicht noch mit ihren `Kumpels` abmachen. (…) Die Mutter und die Schwestern sind als Gesprächs- und Gefühlspartner unerreichbar, der Vater wird meist als strafende Instanz oder Herrscher über die Familie erlebt – als Partner seines Sohnes, der dessen Sorgen und Nöte teilt, ihn beschützt oder einfach für ihn da ist, fällt er aus.“ (ebd., S. 179)

Die Autorin berichtet auch über den Umgang mit Säuglingen in dem anatolischen Dorf ihrer Mutter. Die Säuglinge wurden in zwölf Meter lange Tücher so sehr eingewickelt, dass sie sich nicht mehr bewegen konnten. „Dem Kind wurde, damit es vor dem `bösen Blick` oder auch vor Fliegen geschützt war, ein Tuch über die Augen gelegt. Solche Tücher gehören bei jeder Frau zur Aussteuer. Oft wurde ein Kleinkind ein Jahr lang so mumifiziert, es konnte weder etwas sehen noch sich bewegen. Wenn man das Kind vom Tuch befreite, schüttelte es wie wild den Kopf hin und her, weil das unbekannte Licht grell in den Augen schmerzte.“  (ebd., S. 116) Kelek betont, dass diese Praxis heute auch in Anatolien nicht mehr üblich sei. Man kann sich allerdings vorstellen, dass dieser traumatische Terror gegen das Kind in seinen ersten 12 Lebensmonaten nachhaltig wirkte, sowohl auf die Persönlichkeit der so Terrorisierten, als auch auf deren Umgang mit ihren eigenen Kindern.

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass Kelek auch den Blick auf viele Türken und Türkinnen richtet, die ihre Kinder anders erziehen, „die ihren Kindern die Liebe, Fürsorge und Nähe angedeihen lassen, die den von mir beschrieben Männern fehlt. Sie sollen aufstehen und sagen, wie sie es machen – je mehr es sind, desto besser.“ (ebd., S. 184)

Ich denke, es ist klar geworden, dass die Biografien von Gewalt- und Straftätern sehr stark ausgeleuchtet werden können, wenn Forschende sich auf den Weg dahin machen wollen und ergänzend entsprechende Ressource zur Verfügung gestellt bekommen oder sich beschaffen. Je mehr man erfährt und ausleuchtet, desto mehr versteht man auch die Genese von Gewalt, ohne sie gleichzeitig zu entschuldigen, sondern mit dem einzigen Zweck: Prävention im Hier und Jetzt, bei der heutigen Kindergeneration.
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Ich fasse die Erkenntnisse der Studien (inkl. der oben verlinkten) und auch etwas Kritik wie folgt zusammen:

- Straftäter und Straftäterinnen unterscheiden sich bzgl. ihrer Kindheiten überdeutlich von den Kindheiten der Allgemeinbevölkerung. Sie erlebten deutlich häufiger Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung, wie auch andere belastende Kindheitserfahrungen wie Suchtverhalten der Eltern, inhaftierte Familienmitglieder, Miterleben häuslicher Gewalt, psychische Erkrankungen von Elternteilen und Trennung der Eltern u.ä. (Man könnte auch zugespitzt formulieren: Täter und Täterinnen kennen sich aus eigener Erfahrung gut mit Opfererfahrungen aus.)

- Straftäter und Straftäterinnen erlebten ebenfalls deutlich häufiger als die Allgemeinbevölkerung multiple belastendende Kindheitserfahrungen.

- In manchen der o.g. sogenannten ACE Studien - z.B. Reavis et al. (2013) - wird bzgl. elterlichem Gewaltverhalten (laut "Adverse Childhood Experiences Questionnaire") nach häufigen oder sehr häufigen Gewalterfahrungen oder besonders schweren Gewaltformen gefragt. Leider wurden diese drei Punkte nicht weiter aufgeschlüsselt. Es macht z.B. einen Unterschied, ob jemand "sehr häufig" schwere Gewalt erlebt (dies vielleicht auch noch in Kindheit und Jugend)  oder "häufig" leichtere Gewalt in der Kindheit. Interessant wäre hier ebenfalls ein Vergleich mit der Allgemeinbevölkerung. Die Frage wäre, ob die Straftäter verglichen mit Menschen aus der Allgemeinbevölkerung, die ebenfalls als "körperlich misshandelt" eingestuft wurden, überrepräsentiert bzgl. Häufigkeit und besonderer Schwere der Gewalt sind? Zudem zeigt die Fragestellung der ACE Studie, dass weniger als "häufig" erinnerte Gewalterfahrungen nicht angegeben wurden. Insofern bekommen wir kein komplexes Bild über alle Gewalterfahrungen der Straftäter.

- Dass in den o.g. Studien nicht alle Belastungsfaktoren abgefragt werden (was realistisch betrachtet auch schwer möglich ist), zeigte mir neben den oben auch im Text schon gemachten Hinweisen, besonders die Arbeit von Hughes et al. (2012) - siehe oben - die herausstellte, dass für junge Menschen der Allgemeinbevölkerung zwischen 0.1 - 5% das "Fetale Alkoholsyndrom" (Schädigung des Kindes durch Alkoholkonsum in der Schwangerschaft) festgestellt werden konnte, während junge Menschen, die in Haft sind, zu 10.9 - 11.7% betroffen sind.
Ein anderes Beispiel: Die Psychologin und Autorin Susan Forward hat in einem Interview (Süddeutsche Zeitung - Magazin, Heft 10/2017, »Eine Mutter kann dir dein Essen kochen und trotzdem ein Teufel sein«) ein sie sehr prägendes Erlebnis mit ihrer Mutter beschrieben.
"Ein junger Mann an der Schule hatte mir gerade das Herz gebrochen, und mir war zum Heulen zumute. Als wir zurückkamen, legte mir meine Mutter die Hand auf die Schulter. Ich dachte, sie würde mich trösten. Dann sagte sie: »Weißt du, Liebes, du wirst nie so eine gute Reiterin werden, wie ich es bin. Du wirst nie die Athletin sein, die ich bin. Du wirst nie die Tänzerin sein, die ich bin, und du wirst nie die Frau sein, die ich bin.« Die Worte höre ich, als wäre es gestern gewesen. Nimm ein Messer und stich noch ein paarmal fester zu!" Ich bin mir nicht sicher, ob solche extrem destruktiven, elterlichen Verhaltensweisen in den o.g. Studien erfasst worden wären, wahrscheinlich nicht. 
Neben all diesen und ähnlichen Problemen, vor denen Studienmacher stehen, zeigen vor allem die oben besprochenen Arbeiten von Jonathan H. Pincus, dass viele Mörder sich nicht an Misshandlungserfahrungen erinnern können oder wollen und dass man sehr aufwendige Wege gehen muss, um ein komplexes Bild über die Kindheit zu bekommen.

- Besonders bei den oben besprochenen ACE Studien Cannon et al. (2016) und Baglivio et al. (2014), die Straftäter und Straftäterinnen befragt hatten, fiel mir auf, dass die Straftäterinnen fast durchweg höhere Belastungen in der Kindheit angaben, als die Straftäter. In vielen Gewaltstudien bzgl. der Allgemeinbevölkerung wurde zwar eindeutig gezeigt, dass Frauen häufiger von sexuellem Missbrauch in der Kindheit betroffen waren, als Männer, aber bei den anderen Belastungen - vor allem körperliche Elterngewalt, aber auch emotionale Gewalt und Vernachlässigung - sind nach meinem Kenntnisstand Männer je nach Studie oft deutlich häufiger oder zumindest gleichauf betroffen wie Frauen (ich habe diverse Zahlen dazu in einem Text besprochen). Wie erklärt sich jetzt, dass in den Straftäterstudien Frauen deutlich belasteter sind als Männer? Ich vermute, dass hier klassische Männlichkeitsbilder in der Gesellschaft wie "Ein Mann ist kein Opfer" und "Ein Mann zeigt keine Schwäche" eine Rolle spielen; vermutlich gerade bei männlichen (Gewalt-)Straftätern, die oft zu einer überhöhten, "starken" Männlichkeit neigen, sogar eine besondere Rolle. Demnach vermute ich, dass die männlichen Befragten der genannten ACE Studien sich bzgl. Gewalterfahrungen in der Kindheit deutlich mehr ausgeschwiegen haben, als die weiblichen Befragten.

- Einige - vor allem größere - der o.g. Studien schlüsseln nicht genau die Straftätertypen auf und setzten diese dann in ein Verhältnis zu den Kindheitserfahrungen. Die Erkenntnisse aus einigen oben besprochenen und zu Beginn verlinkten Studien deuten eindrucksvoll darauf hin, dass besonders grausame Täter (vor allem Mörder, Serienmörder) auch besonders und auch besonders häufig grausame Kindheitserfahrungen gemacht haben. Wenn in Straftäterbefragungen auch Straftäter zur Kindheit befragt werden, die z.B. nur Eigentums-, Betrugs- oder Drogendelikte begangen haben, verwässern diese Tätertypen evtl. die Ergebnisse. Vor allem in den USA ist zudem die Gesetzgebung besonders streng im Vergleich zu Europa. Dort landen nach meinem Eindruck manches mal Leute in Gefängnissen, die in Europa nicht im Gefängnis landen würden. Mir persönlich geht es in der Analyse vor allem um Gewalttaten. Kindheitserfahrungen von Gewaltstraftäter bedürfen meiner Meinung nach einer gesonderten Aufstellung, das gilt erst Recht, wenn es um Mord geht.

- Über die destruktiven Kindheitserfahrungen hinaus, haben manche Studie eindrucksvoll gezeigt, dass Straftäter auch ergänzend besonders belastet sind; vor allem in Form von sonstigen traumatischen Erfahrungen während ihres Lebens und vor allem auch, was ihre psychische Situation angeht. Es zeigt sich letztendlich deutlich, dass diese Menschen vor allem Hilfe brauchen. Trotzdem muss man natürlich parallel auch den Schutz der Bevölkerung vor Tätern im Auge behalten. Die enormen Kosten, die solche Täter verursachen, könnte man sich sparen, wenn gezielt in Kinderschutz investiert würde, um solche Täterbiografien gleich von Beginn an gar nicht entstehen zu lassen.


Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass die WHO explizit als Folge von der Aufdeckung des Ausmaßes der Gewalt gegen Kinder folgenden Bericht bereits im Jahr 2007 veröffentlicht hat: World Health Organization (2007). The cycles of violence. The relationship between childhood maltreatment and the risk of  later becoming a victim or perpetrator of violence. Copenhagen. In dem Bericht wird auf den Opfer-Täter-Kreislauf, aber auch auf den Opfer-Opfer-Kreislauf hingewiesen und Prävention und Intervention gefordert. Mein persönlicher Eindruck ist - wie bereits eingangs geschrieben -, dass es auf der einen Seite immer mehr wissenschaftliche Arbeiten über die destruktive Kindheit von Straftätern gibt oder sogar eindeutige Fakten-Papiere inkl. Präventionsaufruf wie das der WHO und auf der anderen Seite immer noch große Fragezeichen bzgl. der Ursachen von Kriminalität und Straftaten in den Medien und der allgemeinen Bevölkerung stehen. Ich hoffe, dass ich durch diesen Text diesen Widerspruch etwas weiter auflösen kann.




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