Sonntag, 26. Oktober 2008

8. Der Krieg, die nachfolgenden Generationen und „Der Kreislauf der Gewalt“


Bisher habe ich in dieser Arbeit auf verschiedenen Ebenen herauszustellen versucht, wie destruktive Kindheitserfahrungen ursächlich mit kriegerischem Handeln zusammenhängen können. In diesem Abschnitt möchte ich das ganze jetzt von der umgekehrten Seite aufziehen und stelle die Frage: In wie weit entsteht durch Krieg, Terror und Leid ggf. wiederum Gewalt gegen Kinder? Ist hier gar ein „Kreislauf der Gewalt“ zu erkennen?
Der idealtypische Kreislauf [1], an den ich hier denke, sieht folgendermaßen aus: Die destruktiven Kindheitserfahrungen und die Psychopathologie der Machthaber scheinen in einem ursächlichen Verhältnis zu deren kriegerischer Politik zu stehen, wie weiter oben ausgeführt. Das einst misshandelte Volk identifiziert sich wiederum mit den Aggressoren und unterstützt diese destruktive, kriegerische Politik aktiv und/oder durch Mitläufertum bzw. dem Verharren in der Opferrolle. Aus diesem „willigen“ Volk rekrutieren sich bei einem gesamtgesellschaftlichen Krieg (wie z.B. im 1. und 2. Weltkrieg) auch die SoldatInnen. Berufsarmeen rekrutieren ihrerseits (ob nun bewusst oder unbewusst) Menschen, die bereits im Vorfeld eine problematische Sozialisation hatten bzw. die schlimmstenfalls Exzesse von Gewalt in ihren Herkunftsfamilien erleiden mussten. Durch die verletzende Ausbildung wird ihnen zusätzlich ihr Mitgefühl „abtrainiert“. Im Krieg machen dann alle – vor allem das Volk und die Soldaten – zusätzlich traumatische Erfahrungen (als Opfer ebenso wie als Täter, denn auch jemand der tötet, traumatisiert sich dadurch selbst), so dass dann im Extremfall wie nach den Weltkriegen ein kollektiv traumatisiertes bzw. durch die individuellen Vorerfahrungen „multi-traumatisiertes“ Volk zurückbleibt. Ich denke, es leuchtet ein, dass sich diese destruktiven Erfahrungen nach einem Friedensschluss nicht einfach in Luft auflösen und ohne Nachwirkungen auf die nunmehr zivile Gesellschaft bleiben. Diese möglichen „Nachwirkungen“ möchte ich an Hand einiger ausgewählter Indizien andeuten. Die vier ausgewählten Beispiele scheinen auf den ersten Blick nicht gerade homogen zu sein. Die Parallelen sehe ich dabei vor allem in den möglichen Folgen für die Familie und die nachfolgende Generation, denn Leid erzeugt letztlich oftmals wiederum Leid.



[1] Die Realität ist sehr komplex. „Idealtypisch“ meint, dass das Vorgestellte nur ein Gedankenmodell ist, dem sich die Realität so annähern kann bzw. das die Realität nie absolut erfüllen wird.



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8.1 (demoralisierte) Soldaten und ihre Familien

Hauser (2003) weist darauf hin, dass in Nachkriegszeiten vor allem durch politische Instabilität, Kriegszerstörungen und ihren sozialen Folgen und der ökonomischen Perspektivlosigkeit eine erhöhte Inzidenz von Gewalt wie beispielsweise häuslicher Gewalt und Inzest. (in allen Ländern von Ex-Jugoslawien, Ruanda, etc.) zu verzeichnen wäre. (vgl. Hauser, 2003)
Dieser Erklärungsansatz für ein Ansteigen häuslicher Gewalt verharrt auf der gesellschaftlich-politischen Ebene, was fehlt sind die Zusammenhänge bzgl. den Folgen erlittener psychischer Kriegstraumatisierungen. Die Heinrich-Böll-Stiftung stellt dazu fest: In Zeiten kriegerischer Auseinandersetzungen nimmt die „private Gewalt“ extrem zu und sie endet auch nach dem Abschluss offizieller Friedensverhandlungen meist nicht. Die Heimkehr demobilisierter Soldaten lässt das Ausmaß häuslicher Gewalt häufig drastisch ansteigen (vgl. Heinrich-Böll-Stiftung, 2003)
Häusliche Gewalt tritt laut einem Medienbericht nach unterschiedlicher Schätzungen zwischen zwei und fünf mal so häufig in der US-Armee auf, wie im Rest der Gesellschaft. (vgl. Netzeitung, 2002) Diese Einschätzungen müsste wissenschaftlich auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden, um mehr Gültigkeit zu haben. (Die Frage dabei ist, in wie weit das Militär ein Interesse hat, solche Studien überhaupt zu unterstützen)

Kümmel / Klein (2002) schreiben bzgl. Berufssoldaten passend zu diesem Kapitel: „Bei Gewalt in Soldatenfamilien können die weit verbreitete Kultur des Machismo, der hierarchisch-autoritäre, dem Prinzip von Befehl und Gehorsam folgende Charakter des Militärs als Institution, das Training in Gewaltanwendung, die soziale und geographische Isolation in Folge von zahlreichen Versetzungen und einsatzbedingten Abwesenheitszeiten, die immer von Neuem das Gleichgewicht im Familiensystem stören, und die potentiell wie aktuell lebensbedrohende Tätigkeit des Soldaten eine Gewalt unterstützende Rolle als Stressoren spielen.“ (Kümmel / Klein, 2002, S. 223) Die Autoren weisen auch darauf hin, dass der häuslichen Gewalt auch einige Faktoren entgegen spielen könnten wie z.B. der „soldatische Ethos“. Letztlich weisen Kümmel / Klein (2002) auf den Forschungsbedarf für das weitgehend unbeleuchtete Themenfeld „Gewalt in Soldatenfamilien“ hin, um weitere Antworten geben zu können.
Im Rahmen der Studie „Gewalt gegen Männer“ äußert sich in der Expertenbefragung ein Berater einer Initiative gegen Zwangsdienste aufschlussreich :„Ich weiß, dass diese Prägung, die du beim Militär selbst er fährst, wenn du normalerweise durchmarschierst, sich fortsetzt für den Rest deines Lebens. Dieses Befehl- und Gehorsamsprinzip verfestigt sich [...] und das setzt sich ins Familienleben fort. Jemand der gewöhnt ist, Befehle auszuführen, das für sich selbst verinnerlicht hat, der geht später mal auf seine Kinder so zu und sagt: Warum hast du das jetzt nicht gemacht – und wenn du das jetzt nicht machst, dann bestrafe ich dich dafür! Das sind Sachen, die ich selbst bei mir noch merke. (...) Ich merke es bei Männern, die seit längerer Zeit in der Armee sind, und das hört man auch immer wieder von Angehörigen, von Freunden, von Freundinnen: ‚Innerhalb der ersten zwei Monaten hat der Typ sich so verändert, dass ich den teilweise gar nicht wieder erkenne.‘ Das äußert sich in der Sprache und in der Verhaltensweise. Natürlich auch in der Gewaltbereitschaft, in der direkten Gewaltbereitschaft, die wird nämlich logischerweise trainiert. (...)“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004a, S. 177ff)
Der weiter o.g. Medienbericht schildert außerdem eine Serie tödlicher häuslicher Gewalt im US-Armeestützpunkt Fort Bragg. Mehrere Soldaten hatten ihre Ehefrauen brutal ermordet. Experten haben darauf hingewiesen, dass es in allen der Fälle von Fort Bragg bereits vorher Probleme mit häuslicher Gewalt gegeben habe, und durchweg lehnten sie einen engen kausalen Zusammenhang mit den Einsätzen in Afghanistan ab. (vgl. Netzeitung, 2002)

Sicherlich endet die häusliche Gewalt durch Soldaten nicht immer tödlich. Man sollte allerdings die Frage stellen, was mit einem Menschen passiert, der erst durch eine verletzende, demütigende und ggf. traumatische Ausbildung zum Töten anderer Menschen gebracht werden soll und anschließend ggf. real tötet und/oder selbst traumatische Erfahrungen durch das Kriegsgeschehen machen muss. (und ggf. auch noch als Kind verschiedene Formen von Gewalt erlebt hat, so dass sich die Traumatisierungen zu einer gefährlichen Masse addieren)?
Erschreckend und aufschlussreich sind auch folgende Daten: Im Jahr 2009 starben mehr US-Soldaten durch Suizid (334) als auf dem Schlachtfeld im Irak (149). Schon 2008 stellten Militärärzte fest, dass jeden Monat 1000 Veteranen versuchen, sich das Leben zu nehmen. Weit über 100 Ex-Kämpfer aus dem Irak und aus Afghanistan sind durchgedreht und haben Menschen getötet; ein Drittel der Opfer waren Freundinnen, Ehefrauen oder andere Familienmitglieder. (vgl. SPIEGEL-Online, 25.03.2010)

Folgendes Zitat (Gesprächsauszug der bosnischen Journalistin Jasna Bastic mit Anton Golik, einem ehemaligen Major der kroatischen Armee) bringt noch mal einige Kerngedanken zu diesem Thema auf den Punkt. „Soldaten waren Zivilisten, bevor sie Soldaten wurden, und sie werden nach dem Krieg meistens wieder zu Zivilisten. Sie haben Eltern, vielleicht eine Ehefrau und Kinder, sie sollten einer zivilen Arbeit nachgehen und sie bewegen sich in einem Netz von FreundInnen und Bekannten. Wenn sie aus dem Krieg psychische Probleme mitbringen, die es ihnen unmöglich machen, im gewohnten zivilen Umfeld zu funktionieren, so wird ihr Trauma zum Problem für ihr ganzes Umfeld. Sie bedrohen die psychische Stabilität ihrer Bezugspersonen, indem sie sich nun in der einen oder anderen Form «kriegsgerecht» verhalten oder indem sie sich umbringen. Manchmal - wenn sie zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen neigen - gefährden diese Leute sogar die physische Sicherheit ihrer Mitmenschen.“ (Gruppe für eine Schweiz ohne Armee)
Die Soldaten bringen sich und ihre Erlebnisse mit nach Hause, in die zivile Gesellschaft. Im Irak beispielsweise hielten sich im Jahr 2006/2007 beständig ca. 150.000 Soldaten und Soldatinnen der US-Armee auf (Die Gesamtzahl der dort stationierten SoldatInnen erhöht sich noch erheblich, wenn man die Ablösungen dazurechnet). Wenn ein gewisser Teil davon traumatische Erfahrungen machen musste (Vorsichtig wird geschätzt, dass jeder fünfte US-Soldat mit psychischen Störungen von den fernen Kriegsschauplätzen zurückkehrt – vgl. Ärzte Zeitung, 09.03.2005 - andere Schätzungen gehen davon aus, dass jeder dritte Heimkehrer aus dem Irak oder Afghanistan langfristige psychologische Betreuung braucht - vgl. ZDF „auslandsjournal“, 13.12.07 - ), bleibt dies sicherlich nicht ohne Folgen für die amerikanische Gesellschaft. Ewas überspitzt könnte man formulieren, dass die Gefahr einer „Militarisierung des Zivilen“ besteht, wenn dergleichen viele SoldatInnen in Kriegseinsätze geschickt werden.
In der Fernsehdokumentation „Gezeichnet fürs Leben“ kommen – um hier ein weiteres Fallbeispiel anzuführen – einige deutsche Soldaten zu Wort, die die Folgen für ihr persönliches, ziviles Leben nach den Einsätzen beschreiben. „In ergreifender Art schilderte ein junger Vater, wie er das Grauen des Krieges nicht verarbeiten konnte und über längere Zeit keinerlei Gefühl für seine Frau und seine beiden kleinen Kinder mehr empfinden konnte. Er sei wie abgestorben gewesen, er habe gar nichts mehr fühlen und sich seinen Kindern nicht mehr zuwenden können. Heute nach längerer therapeutischer Behandlung seien Gefühle wieder am Entstehen. Doch die lange Zeit seines totalen Rückzuges habe dazu geführt, dass auch der ältere der beiden Söhne therapeutisch behandelt werden müsse. Der kleine Sohn sei verzweifelt gewesen, dass dies nicht mehr der Vater war, den er vor dem Einsatz in Afghanistan gekannt hatte.“ (Zeit-Fragen, 27.11.2006)
Und in einem anderen Fernsehbericht über traumatisierte Soldaten heißt es:
„Zurück in Deutschland ist Martin J. ein anderer Mensch. Er schottet sich ab. Stundenlange, einsame Läufe. Seine Familie erkennt ihn nicht mehr wieder. Im Keller kämpft er weiter – am PC. Er ist voller Aggressionen. Doch es wird alles noch viel schlimmer. Martin J. fühlt nichts mehr, er wird unkontrolliert brutal, trinkt. Lange versucht er, den Schein zu wahren: Gute Soldaten sind keine Weicheier – und er ist ein besonders stolzer Soldat.“ (Panorama, 31.08.2006)
Auch das ZDF Magazin „Mona Lisa“ widmete sich am 18.11.2007 unter dem Titel „Von der Bundeswehr alleingelassen? Nach Einsatz traumatisiert“ diesem Thema. Die Geschichte hier gleicht denen der anderen „Einzelfälle“. Den Krieg, sagt der vorgestellte deutsche Kriegsheimkehrer, habe er mit nach Hause genommen: Aus dem ehemaligen Soldaten ist ein Jahr nach dem Einsatz "Enduring Freedom" ein psychisch kranker Mann geworden. Er hatte sich nach dem Einsatz verändert, war ständig gereizt, seine langjährige Beziehung ist zerbrochen. Alltägliche Geräusche wie ein Rasenmäher, ein Flugzeug, oder das Brummen seines Eisschranks versetzten ihn in höchste Alarmbereitschaft: Herzrasen, Schweißausbrüche, Panik, die Muskeln bis zur Verkrampfung angespannt. (siehe http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/4/0,1872,7125732,00.html)
"fritz1949" berichtet bei SPIEGEL-Online: "Mein Vater war Teilnehmer des zweiten Weltkrieg und kam bis zu seinem Tot bei jedem Gespräch, das länger als ein paar Sätze dauerte, auf das Thema Krieg. Seine Erlebnisse haben ihn sein Leben lang verfolgt. Ich habe als Kind von angreifenden Flugzeugen und fallenden Bomben geträumt, obwohl ich den Krieg selber gar nicht erlebt habe." Auch an diesem Beispiel wird deutlich, wie sich ein Kriegstrauma auf die nachfolgende Generation auswirken kann.
Einen Gedanken möchte ich hier noch anbringen. Ich erinnere mich an einzelne Fernsehberichte über heimkehrende Soldaten (die ich leider aus der Erinnerung nicht mehr betiteln kann). Und einen Satz hörte ich dabei so oder so ähnlich mehr als einmal: „Einen anderen Menschen zu töten, das war für mich so, als ob ich selbst mich ein Stück weit tötete.“ Oder „Mit jedem getöteten Gegner, starb auch ich ein Stück mehr.“ Konkrete Sätze: "Nach dem Kriegseinsatz geht der Kampf erst richtig los", berichtet ein traumatisierter, deutscher Kriegsheimkehrer und er spricht von "Narben im Kopf", die immer wieder aufreißen würden. (vgl. DIE ZEIT-Online, 21.4.2010) Die Witwe eines traumatisierten US-Soldaten, der Selbstmord begang, sagte, ihr Mann habe sich oft gewünscht, dass er im Krieg ein Bein verloren hätte. Und nicht die Seele. "Joseph hat nicht Selbstmord begangen", sagte sie. "Er ist an seinen Kampfwunden im Kopf gestorben." (SPIEGEL-Online, 25.03.2010)
Diese (und ähnliche) Sätze machen die möglichen individuellen und gesellschaftlichen Folgen deutlich, die aus Kriegseinsätzen heraus entstehen können.

An dieser Stelle möchte ich noch ein Zitat des amerikanischen Psychologen und Ex-Offiziers David Grossman anbringen, der dazu ermahnt, die „psychologischen Kosten“ von Krieg nicht zu vergessen: „Individuelles Leid wird nicht als „Kosten“ des Krieges erfasst. Man rechnet in Geld, Menschenleben, Verwundeten. Doch allein die Teilnahme an Kriegshandlungen ist seelisch extrem zerstörerisch. In jedem Krieg des 20. Jahrhunderts war die Wahrscheinlichkeit, psychisch krank zu werden, größer als die, getötet zu werden. Zwei Monate nach der Landung in der Normandie 1943 waren 98 Prozent aller US-Soldaten psychisch krank. Beim Töten selbst hängt es vom Einzelnen ab, manche können damit leben, manche entwickeln eine dauerhafte Amnesie, manche leiden ihr Leben lang unter posttraumatischem Stress (PTSD)“ (Greenpeace Magazin, 01/2004) (Nach David Grossman haben sich ca. 150.000 Vietnam-Veteranen das Leben genommen – dreimal mehr, als während des Krieges gefallen sind.)

Dass nach traumatischen Kriegserfahrungen die Gefühle abstumpfen oder gar komplett verschwinden ist menschlich. Dies ist letztlich eine wichtige Überlebensstrategie für uns Menschen, um dergleichen Erlebnisse psychisch erst einmal aushalten zu können. Doch dieses „Ausschalten der Gefühle“ belastet - wie oben geschildert - nicht nur den Soldaten, sondern auch sein Umfeld und vor allem seine Familie. Gerade Kinder brauchen glückliche, lebendige Eltern, die sich selbst fühlen, eigene Grenzen und die der anderen wahrnehmen und dem Kind ein Vorbild sind. Was mit Kindern passiert, die ihren heimkehrenden Vater plötzlich als innerlich leer, kalt und abgestumpft erleben, lässt sich nur erahnen. Zu vermuten ist auch, dass dort, wo das Gefühl für sich selbst verloren ging, auch die Gefühle und Wahrnehmung bzgl. der Mitmenschen getrübt wird. Hier liegt der Nährboden und die Gefahr für destruktives Verhalten gegen Andere und Familienmitglieder.



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8.2 Nazi-Täter und ihren Familien

Noch deutlicher werden die möglichen Auswirkungen von Krieg und Terror für „das Private“ im Zusammenhang von Nazi-Tätern und ihren Familien. Auch wenn die nachfolgenden Forschungsansätze natürlich nicht verallgemeinerbar sind, machen sie doch hellhörig. Müller-Hohagen (1996) geht auf Grundlage seiner Forschungen (und derer anderer AutorInnen wie z.B. Alice Miller, Ursula Wirtz und Jacqueline Spring), die sich mit Aus- und Fortwirkungen der Nazizeit bei seinen KlientInnen einschließlich der jeweiligen Familien befasst, davon aus, dass auch nach 1945 „der Terror im Schoße deutscher Familien weiterging“, dass ein direkter Zusammenhang zwischen politischer Gewalt[1] und sexuellem Missbrauch bestehen kann. „Viele Täter und Tatbeteiligte haben nach der „Stunde Null“ weitergemacht, haben weiterhin Schwächere und Wehrlose „fertiggemacht“, vorausgesetzt, sie liefen dabei keine Gefahr, entdeckt oder bestraft zu werden. Der Missbrauch der „eigenen“ Kinder war die optimale Gelegenheit für solchen Terror, denn wo sonst, außer in der Folter, sind Menschen so schutzlos ausgeliefert? Und wo sonst ist die Gefahr des Entdecktwerdens geringer?“ (Müller-Hohagen, 1996, S. 37)
Die Kontinuitäten der NS-Gewalt haben sich, so Müller-Hohagen, natürlich nicht nur im sexuellen Missbrauch manifestiert. „Vielmehr gibt es eine ganze Reihe von Hinweisen, die belegen, dass Täter und Beteiligte von NS-Verbrechen ihre Taten nach 1945 in vielfältiger Weise innerhalb der Familie fortgesetzt haben: Kindesmisshandlung, versuchter oder ausgeführter Totschlag und Mord.“ (ebd., S. 39) Der Autor weißt auch auf ein zentrales Ergebnis seiner Forschung hin, nämlich auf die ständige Verleugnung dieser möglichen Zusammenhänge, die nicht verallgemeinerbar seien (sprich: nicht jeder NS-Täter misshandelte und missbrauchte später seine eigenen Kinder), aber in untersuchten Fällen eben real.
Dass diese Erkenntnisse offensichtlich vielfältige Abwehrmechanismen der Menschen bzw. der Gesellschaft hervorrufen, deute ich als Hinweis dafür, dass hier ein wunder Punkt getroffen wurde, ein Punkt, der vielleicht ein ganzes Stück deutscher Nachkriegsgeschichte bzw. -realität bedeutet und der u.U. Folgen auch für die 2. Generation nach dem Krieg haben konnte und kann (sprich NS-Täter misshandelten und terrorisierten ihre Familien und Kinder, die wiederum Kinder bekamen und ggf. ihrerseits die erlittene Gewalt auf die ein oder andere Weise weitergaben; somit befinden wir uns bzgl. den Folgen des 2. Weltkrieges im Hier und Jetzt.).



[1] zusätzlich setzt der Autor noch die Folter in diesen Zusammenhang, deren Ziel die Zerstörung als Person sei, ähnlich wie beim sexuellen Missbrauch und die von den Herrschenden angewandt wird, um eben diese Herrschaft zu sichern.



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8.3 Die Kriegskinder

Ich möchte ein weiteres Indiz für die Folgen von Krieg bzw. den Zusammenhang bzgl. dem „Kreislauf der Gewalt“ hinzufügen, denn auch Kinder erleiden in Kriegssituationen u.U. vielfältige Traumata. Psychologische Untersuchungen, die an Kindern in Sarajevo nach dem (Bürger-)Krieg vorgenommen wurden, ergaben beispielsweise, dass 5 % so extrem traumatisiert waren, dass sie klinisch behandelt werden mussten, 15 % wiesen schwere und 50 % mittelschwere Traumatisierungen auf. (vgl. amnesty journal, 11/2006) Andere Quellen geben bzgl. der Folgen des Bosnienkrieges an, dass 64 % der Kinder an traumatischen Störungen leiden, 24 % davon an schweren psychosomatischen Folgen. Im Kinderberatungszentrum der zweitgrößten bosnischen Stadt Banja Luka waren von 1992 bis 1994 insgesamt 14.995 Kinder in Behandlung. Sie zeigten
Sprach- und Verhaltensstörungen, Neurosen, Apathie, Angst,
Lernschwierigkeiten sowie emotionale Störungen. (vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung, 2003, S. 57)
Der Krieg endete 1995, doch die Folgen sind immer noch spürbar. Die Hilfsorganisation „Wings of Hope“ beobachtete eine Veränderung der Symptome bei Kindern und Jugendlichen. Unmittelbar nach dem Krieg litten die Kinder u.a. unter Alpträumen, Bettnässen und Trennungsängsten. Jahre danach äußerte sich die Traumatisierung durch Lern- und Konzentrationsstörungen, aggressiven Verhalten, psychosomatischen Störungen, Drogenproblemen usw. (vgl. amnesty journal, 11/2006) Es gibt laut diesem Bericht also eine Veränderung der Folgen bei diesen untersuchten „Kriegskindern“ hin zu selbst- und fremdschädigendem Verhalten. Und. „Die Psychologen beobachten inzwischen sogar die Weitergabe nicht verarbeiteter Traumata der Erwachsenen an die nächste Generation – so zum Beispiel bei Kindern, die erst nach dem Krieg geboren sind, und die voller Hass auf andere Bevölkerungsgruppen reagierten.“ (ebd.)

Ein daueraktuelles Beispiel ist auch der Israel-Palästina-Konflikt. (Im Folgenden werde ich mich an Hand der Quelle auf palästinensische Kinder konzentrieren, was natürlich nicht bedeutet, dass nicht auch auf der israelischen Seite Kinder schweres Leid erfahren.) Die palästinensischen Kinder sind einer ständigen Angst ausgesetzt. Sie werden Zeugen der Bombardements und des panikartigen Verhaltens ihrer Eltern. Das Ergebnis dieser Situation ist, dass 40 % der Kinder glauben, ihre Eltern könnten sie nicht mehr schützen. Von 3.000 befragten Heranwachsenden bestätigten außerdem 55 %, dass sie hilflose Zeugen waren, wie ihr Vater von israelischen Soldaten geschlagen wurde. Fast 32 % der Kinder haben starke posttraumatische Störungen. Von 945 untersuchten Kindern litten alle an einem direkten oder indirekten Trauma sowie den Folgen posttraumatischer Störungen (vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung, 2003, S.51ff)
„Besonders beunruhigend ist, dass 24 % der palästinensischen Kinder davon träumen als Märtyrer zu sterben, also Selbstmordattentäter zu werden. Das ist beängstigend, denn jeder Selbstmordattentäter von heute ist ein Kind der ersten Intifada. Und wenn die Kinder der ersten Intifada schon so traumatisiert sind, dass allein 24 % von ihnen Märtyrer werden wollen, dann kann man sich vorstellen, was für zukünftige Politiker, Lehrer und Richter wir in diesem Land haben werden.“ (ebd., S.55) (Interessant wäre es, die palästinensischen Kinder zusätzlich zu Gewalterfahrungen in ihren Familien zu befragen und evtl. Zusammenhänge zwischen kumulierten traumatischen Erfahrungen und eigenen Gewaltfantasien und –handlungen herauszufinden.)
Ich möchte hier nicht unterstellen, dass alle Kinder, die Krieg erlebt haben, wiederum zu Gewalt (gegen sich und andere) neigen werden. Eine solche These würde das menschliche Potential und die Komplexität der Wirklichkeit verleugnen. Dass Kriegskinder allerdings schwerwiegende Folgen für den Rest ihres Lebens mit sich tragen werden, ist wahrscheinlich. Wenn dieses Leid nicht aufgearbeitet und bestenfalls verarbeitet wird, erhöht sich – so meine ich – auch die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich eine gewisse Destruktivität im Leben der späteren Erwachsenen ausbreitet, die sich schlimmstenfalls auch auf die Kinder der Kriegskinder auswirken könnte.

Unter „Kriegskindern“ in Deutschland werden die Geburtsjahrgänge zwischen 1930 und 1945 verstanden. Dabei handelt es sich folglich um mehrere Generationen. Fünfzehn Jahrgänge sind angesiedelt zwischen der Flakhelfergeneration und der auf der Flucht Geborenen. (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004b, S.162)
In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Homepage www.kriegskinder.de (Projekt zur Therapie Kriegstraumatisierter, insbesondere bezogen auf die Kriegskinder des 2.Weltkriegs) hinweisen, auf der sich umfangreiche Informationen zum Thema finden und von der auch folgendes Zitat stammt:
„Krieg hat massive Folgen, insbesondere für Kinder. Anders als Erwachsene sind sie nicht in der Lage, das militärische Geschehen in einen politischen Zusammenhang zu bringen. Sind schon Erwachsene mit der Verarbeitung von Erlebnissen wie Bombardierung, Lebensbedrohung, Flucht und Verfolgung überfordert, trifft dies auf Kinder noch mehr zu. Sie sind einerseits unmittelbar von den Kriegsgräueln betroffen, haben aber weniger körperliche und psychische Kräfte, um die Katastrophe durchzustehen. Sie erleben andererseits den Verlust des Schutzes der elterlich Fürsorge. Ihre Eltern können ihnen Sicherheit und Geborgenheit nicht mehr geben, weil sie selbst mit Existenzbedrohung und Angst kämpfen. In ihrer Not, sich das Unverstehbare begreifbar zu machen, entwickeln Kinder Vorstellungen eigener Schuld an diesem Geschehen. Sie bauen Rachephantasien auf, stumpfen seelisch ab, entwickeln eine Vielzahl von Symptomen (Albträume, sich aufdrängende Schreckensbilder, Angstzustände, Wutanfälle, körperliche Krankheiten, ...), verlieren den Lebensmut und die Grundüberzeugung, dass das Leben verstehbar abläuft.“ (Öffentliche Erklärung von Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Lindauer Psychotherapiewochen 2003, http://www.kriegskinder.de/lindauer_erklaerung.htm)
Zusätzliche Belastungen prägen die Lebenssituation von Kindern in der Nachkriegszeit. Viele Kinder sorgten beispielsweise nach Ende des 2. Weltkrieges in Deutschland für ihre durch Ausbombung, Verlust des Mannes oder Vergewaltigung „emotional erstarrten Mütter“ (Parentifizierung) und schafften es dadurch nicht, eigene Entwicklungsaufgaben wahrzunehmen. Kehrte der abwesende, häufig idealisierte Vater zerrüttet aus der Gefangenschaft zurück, war er meist nicht in der Lage, Vaterfunktionen wahrzunehmen. Durch die starke Bindung an die hilfsbedürftigen Eltern konnten die Kriegskinder ihre affektiven (seelischen) Fähigkeiten nicht gut ausbilden. Die kognitiven Fähigkeiten dagegen waren bei dieser Generation meist sehr gut ausgeprägt. Viele sitzen heute an Schaltstellen in Politik und Wirtschaft. (vgl. Ärzteblatt, 2005)
Schönfeldt (2006) weist schon auf frühe Belastungen von Säuglingen hin: „(...) in der Realität des Krieges werden viele Säuglinge in den Augen ihrer Mütter auch das Entsetzen gesehen haben, wenn die Mutter die Nachricht vom Umgebracht-Werden oder „Gefallen-Sein“ des Vaters bekommt, oder die Entwürdigung nach Vergewaltigungen oder die unendliche Angst bei Bombenangriffen oder vielleicht auch die mehr oder weniger bewusste Scham, wenn sie die Misshandlung der Juden sah. Ich denke, dass – solange den Kindern noch nicht gänzlich der ihnen angeborene Instinkt zerstört worden ist – sie auch das verdrängte Entsetzen der Mütter bzw. Eltern haben spüren können – die unbewusste Wechselseitigkeit. Viele meiner Klientinnen der nächsten Generation litten unter Schuldgefühlen oder Scham, aber waren sich nicht bewusst, warum und woher.“ (Schönfeldt, 2006, S.239) Schönfeldt behandelt in ihrem Text ausführlich weitere Folgen für die Kriegskindergeneration, deren Kinder und Kindeskinder, die hier nicht in Gänze dargestellt werden können, aber auf die ich hiermit verweise.

Das Thema „Kriegskinder“ scheint ein weitgehend unbearbeitetes, verdrängtes Thema deutscher Nachkriegsgeschichte zu sein (siehe o.g. Homepage). Erst Ende der 90er Jahre schien die Zeit dafür reif zu sein, dass allmählich der Blick auf die Opfer gerichtet wird, die während des Krieges Kind waren. (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004b, S.161)
Die Folgen dürften allerdings erheblich gewesen sein. Einzelne Zahlenbeispiele verdeutlichen die Dimensionen: Rund 300.000 Kinder (meist Kleinkinder) wurden in den Kriegswirren von ihren Familien getrennt, vor allem auf den Flüchtlingstrecks aus dem Osten. (vgl. ARD Bericht zum Film „Suchkind 312“, http://www.daserste.de/suchkind312/allround_dyn~uid,sue0zitsvjrynrz1~cm.asp)Was allein diese (kurz- bis auch langfristige) Trennung von den Eltern bei diesen Kindern an Ängsten etc. bewirkt hat, lässt sich nur erahnen.
Der Zweite Weltkrieg hinterließ auch 1,8 Millionen Witwen und 2,5 Millionen Halbwaisen in Deutschland. Circa 20 bis 25 Prozent der damaligen Kinder/Jugendlichen (geboren zwischen 1929 und 1945) wuchsen Schätzungen zufolge unter dauerhaft beschädigten familiären, sozialen und materiellen Bedingungen auf, weitere 25 bis 30 Prozent unter lange anhaltenden vergleichbaren Bedingungen. (vgl. Ärzteblatt, 2004) Etwa ein Drittel der Kinder dieser o.g. Altersgruppe galt als traumatisiert, ein weiteres Drittel machte belastende Erfahrungen, für ein weiteres Drittel galt all dies nicht. (vgl. SPIEGEL-Online, 14.01.2008) Die damaligen Kriegskinder haben natürlich unterschiedliche Erfahrungen gemacht bzw. diese unterschiedlich verarbeitet.

Abschließend möchte ich noch kurz auf das besondere Schicksal von „Kindersoldaten“ hinweisen. Zu jeder Zeit sind mehr als 300.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren - sowohl Mädchen wie Jungen - in den Streitkräften und bewaffneten Oppositionsgruppen von mehr als 30 Ländern als Soldaten im Kampfeinsatz. Weltweit erhalten Millionen Kinder militärisches Training und werden in Jugendbewegungen und Schulen indoktriniert. (vgl. Globaler Bericht über Kindersoldaten, 2001) Ihre Erfahrungen mit Hass, Gewalt und Zerstörung hinterlassen tiefe Spuren in den kindlichen Seelen. Das Leid dieser „Kriegskinder“ möchte ich durch ein Zitat verdeutlichen:
„Ich habe sehr viel Blut gesehen und das hat mir sehr weh getan. Mein Problem ist, dass ich nichts Rotes mehr sehen kann. Dann werde ich sofort nervös und bin wütend und ängstlich zugleich. Ich kann kein Blut mehr sehen, ich hasse die Farbe Rot.“ (Sandra, eine ehemalige kolumbianische Kindersoldatin zitiert nach Friedrich-Ebert-Stiftung, 2003, S.26)

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8.4 Extrembeispiel: Die Kinder von Holocaust-Überlebenden

Am deutlichsten wird die Auswirkung von Leid auf nachfolgende Generationen am (Extrem-)Beispiel der Holocaust-Überlebenden. Die israelische Psychoanalytikerin Ilany Kogan (1998) hat sich mit den Kindern von Holocaust-Überlebenden und den Folgen für deren Leben beschäftigt. Sie weist – auch mit Verweis auf die Forschungen von KollegInnen - darauf hin, dass nicht alle Familien von Überlebenden psychisch beeinträchtigte Kinder hatten, allerdings seien die Nachkommen von Überlebenden im Hinblick auf die Entstehung psychischer Problem besonders gefährdet. (vgl. Kogan, 1998, S. 19)
PatientInnen litten u.a. unter Schuldgefühlen, Ängsten, Zerrissenheit, innerer Leere, Misstrauen gegenüber der Welt, Depressionen, selbstzerrstörerischen Neigungen und diversen psychischen Störungen; sie hatten Probleme, anderen Menschen zu vertrauen, Nähe und Liebe zu empfinden, mit dem Übernehmen von Verantwortung und auch mit der Affektregulierung und –toleranz. Manche PatientInnen erlitten Unfälle, die eng mit ihren Verhaltensmustern in Verbindung standen; andere gingen sadomasochistische Beziehungen ein und wurden durch ihre Partner verletzt.
Manche Verhaltensweisen der PatientInnen lassen es dem Leser gar kalt über den Rücken laufen. Eine Patientin vergaß beispielsweise, ihren Gasofen über Nacht auszuschalten (in der Analyse wird die Verbindung zu den Gaskammern in den Konzentrationslagern deutlich), nachdem ihre Katze auf Grund ihres unvorsichtigen Verhaltens verstorben war und sie anschließend an die vielen Soldaten gedacht hatte, die im Krieg gestorben waren. (ebd., S. 69) Eine andere Patientin schwelgte in todbringenden Phantasien gegenüber ihrem Mann und ihren Kindern, ohne jedes Schuld- oder Schamgefühl. Sie selbst misshandelte ihre Kinder auch real schwer (sie selbst war von ihrer Mutter auch körperlich misshandelt worden) und hatte mehrmals versucht, diese zu verlassen, so dass in diesem Fall bereits die 3. Generation traumatisiert wurde. Ihr Stiefvater - einziger Überlebender in seiner Familie, diese war komplett im Holocaust umgekommen, seine Mutter und Schwestern waren während eines „Sonderkommandos“ in einem Ofen verbrannt worden – benutzte nie den Backofen und erschreckte die Patientin als Kind immer mit der Drohung, sie in den Ofen zu stecken. Die Patientin litt außerdem unter einem beeinträchtigten Geruchssinn und war gänzlich kälteunempfindlich, das Ausschalten dieser Sinne war für ihren Stiefvater im KZ einst lebensrettend. (ebd., S. 95+104ff) Einen Auszug aus dem Buch bzgl. dieser Patientin möchte ich hier komplett zitieren, ich denke, er spricht für sich:
Der Stiefvater „(…)hatte überlebt, als er eine Nacht lang nackt zwischen elektrisch geladenen Drähten in der Kälte ausharren musste. Zu stürzen hätte bedeutet, die Drähte zu berühren und durch Stromschlag zu sterben. In dieser Zeit bat mich Ruth um ihren Zeichenblock, um ihn nochmals durchzusehen. Sie fand darin die Zeichnung „Elektrizität“, auf der ein Mann zu sehen war, dem eine drahtige Todesblume aus dem Schädel spross. Die Todesblume symbolisierte die elektrischen Drähte, die ihr Stiefvater zwar überlebt hatte, die nun aber in Ruths Kopf eingepflanzt waren. „Daddy hat mir einen Elektrostab eingepflanzt“, sagte Ruth. „Es ist einer, mit dem man Kühe tötet. Daddy ist in meinem Selbst eingepflanzt.“ (ebd., S. 110)

Kogan berichtet, dass den Kindern durch Erzählen oder Agieren seitens ihrer Eltern Andeutungen von deren Erlebnisse während des Holocaust vermittelt wurden (die meisten Eltern hatten nie mit ihren Kindern bewusst über ihre Erlebnisse gesprochen; es herrschte meist ein „Pakt des Schweigens“). Die Träume und Phantasien (und auch der Übergang dieser in die Realität) der PatientInnen kommen also nicht auf Grund irgendeiner physischen oder gar „metaphysischen“ Vererbung zu Stande, sondern wurden unterbewusst vermittelt. Kogan beschreibt, wie die massive Traumatisierung der Eltern und das Verleugnen dieser Erlebnisse bei den Kindern der Überlebenden deutliche Spuren hinterlassen: „Diese Kinder versuchen in endlosen Bemühungen das, was die Eltern erlebten, durch Wiederholung der elterlichen Erfahrungen samt ihrer Begleitaffekte im eigenen Leben erfahrbar zu machen.“ ebd., S. 147)

Das von den Eltern Abgewehrte drängt oftmals auf Wiederkehr im Lebensvollzug des Kindes und gefährdet die Entfaltung des authentisch eigenen Lebensplans des Kindes, was Bründl (1998) [1] auch bzgl. der Weitergabe von Fluchttraumata des 2. Weltkriegs nachweist: „Die Abhängigkeit der Kinder von ihren Eltern lässt die Kinder bewusste und unbewusste Seins- und Handlungsweisen der Eltern übernehmen. Damit werden Kinder auch unwissentlich Vermittler von lebensgeschichtlichen Erfahrungen der Eltern an die nachfolgenden Generationen, die die Eltern den Kindern wissentlich oder unwissentlich verschwiegen haben.“ (Bründl, 1998, S. 98)

Es wird außerdem – um wieder zu den Nachkommen der Holocaustüberlebenden zurück zu kommen - auch deutlich, wie sehr die Kinder darunter leiden, dass ihre Eltern leiden. Eine Patientin sagte: „Wo kommen meine schwarzen Gefühle her? Ich weiß, dass sie von meiner Mutter kommen. Nicht wegen ihrer Krankheit, sondern wegen des Krieges, den sie durchmachte. Sie übertrug ihre Depressionen auf mich, ständig war ihr trauriges Gesicht vor mir, das Gefühl des Unglücklichseins, die stille Verzweiflung.“ (Kogan, 1998, S. 50)
Und eine andere Patientin sagte: “Meine ganze Kindheit stand unter dem Einfluss einer Vergangenheit, die nicht meine eigene war (…)“ (ebd., S. 75)

Das (unverarbeitete) Trauma der Eltern wirkte in deren Kindern fort. Kogan schreibt: „Häufig wurde das Kind von den Eltern unbewusst als „Container“ für ihr fragmentiertes Selbst und ihr Leid benutzt. Somit ist die Wahrnehmung der Gegenwart durch die Hüllen einer Vergangenheit deformiert, die nicht ihre eigene ist, sondern ihnen auferlegt wurde. Ihr Verhalten gehorcht einem Zwang, der ihnen nicht bewusst ist und der sie dazu verleitet, in einem überheizten Zimmer ein kleines Kätzchen zu töten, einen Unfall herbeizuführen, bei dem ein Kind stirbt, einen Vater zu verletzen, der bei einem Selbstmord zu Hilfe eilt. (…) Das Unbewusste dieser Patienten, das belagert, überfallen und besetzt wurde, beginnt nun [zuweilen] seinerseits zu töten, zu verletzen und zu verstümmeln. Meist wendet es sich jedoch gegen die Subjekte selbst. Beziehungen fallen auseinander, Liebe wird unmöglich, Glück ist verboten. Das Dunkel der polnischen Wälder bricht über die Söhne und Töchter der Überlebenden herein. Noch immer bringen die Stacheldrahtzäune den elektrischen Tod, wird ein Familienschlafzimmer zur Gaskammer. (…)“ (ebd., S. 16)

Kogan beschreibt mögliche Muster des Traumas, das von der einen Generation auf die andere übertragen wird.
1. Traumatisierung durch den Verlust des eigenständigen Selbstgefühls des Kindes (dazu sind oben einige Andeutungen zu finden)
2. Traumatisierung durch die Benutzung des Kindes als „Lebensretter“. oder auch als Werkzeug zur Wiederholung des elterlichen Traumas
3. Im-Stich-Lassen des Kindes oder auch emotionale Unzulänglichkeit des Elternteils als Traumatisierung.
4. Das Kind wird traumatisiert, weil ihm die Möglichkeit der Hoffnung und der Zukunft genommen wird. Die traumatische Botschaft an das Kind lautet: Die Welt ist ein böser Ort, voller Schmerz und Leid, ohne Hoffnung und Zukunft.
5. Traumatisierung in der Phantasie. Dieser Vorgang tritt ein, wenn das Kind in seinen endlosen Bemühungen, den Elternteil zu verstehen und ihn dadurch zu helfen, die Erlebnisse dieses Elternteils mitsamt ihren Begleitaffekten in der Phantasie nachzuerleben versucht. (ebd., S. 57ff + S. 245)

In der Nachbemerkung zum Buch heißt es, dass viele Kinder der Überlebenden auf Grund der Geschichte ihrer Eltern selbst zu Überlebenden geworden sind. Sie sind „Protagonisten im Drama ihrer Eltern.“ Kogan meint allerdings auch, dass in den Fällen, wo es den Eltern gelungen ist, Trauer- und Schuldgefühle über ihre traumatische Vergangenheit durchzuarbeiten und ihre Lebensgeschichte den Kindern auf eine gesunde Weise zu vermitteln, „die Kinder viel weniger dazu neigen, in ihrer psychischen Realität ein „psychisches Loch“ zu erleben.“ (ebd., S. 253) Hier liegt ein wichtiger Hinweis zum Schlüssel dafür, wie die Weitergabe von Destruktivität an nachfolgende Generationen unterbunden werden kann.
Mir fiel beim Lesen der Forschung über die Kinder der Holocaust-Überlebenden auf, wie sich hier erneut das Konzept wiederfindet, das Arno Gruen stets beschreibt: Die Entwicklung eines authentischen Selbst der Kinder der Überlebenden wurde unmöglich gemacht, sie wurden viel mehr durch „das Fremde“, durch die Erlebnisse und das Trauma ihrer Eltern bestimmt. Für die Kinder war letztlich gar kein Raum mehr da, dieser wurde gänzlich von der Vergangenheit ausgefüllt. Dies erzeugte eine enorme Destruktivität in ihrem eigenen Leben (und auch wiederum in ihren Familien), die nur durch eine therapeutische Bearbeitung überwunden werden konnte. Das Beispiel „Kinder von Holocaustüberlebenden“ ist sicherlich ein Extrembeispiel. Es verdeutlicht allerdings die Weitergabe von Destruktivität an nachfolgende Generationen und es macht auch sehr deutlich, dass es den für Kinder verantwortlichen Erwachsenen gut gehen muss, damit es auch ihren Kindern gut gehen kann.

Was für Folgen mag das Trauma Krieg oder konkret bzgl. der jüngsten europäischen Geschichte der 2. Weltkrieg für die nachfolgenden Generationen gehabt haben? Es scheint auf den ersten Blick eine „Black Box“ zu sein. Doch irgendwie bekommt man eine Ahnung davon, dass sich dergleichen Erfahrungen und Erlebnisse der Kriegsgeneration nicht einfach in Luft auflösen und auf die ein oder andere Art ihre Schatten warfen und vielleicht auch weiterhin werfen.



[1] Bründl (1998) beschreibt in seinem Beitrag an Hand eines Fallbeispiels die psychischen Probleme von Kindern, deren Eltern ein Fluchttrauma erlitten haben.
Dazu möchte ich eine Information anmerken:
Etwa 14 Millionen Deutsche sind während des 2.Weltkrieges vertrieben worden. Ca. zwei Millionen von ihnen kamen während der Flucht und Vertreibung um. In den 50erJahren war jeder fünfte Bundesbürger ein Flüchtling oder Vertriebener. (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004b, S. 156)



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9. Der gesellschaftstheoretische „Hamburger Ansatz“ der Kriegsursachenforschung und die fehlende Verknüpfung mit der Psychohistorie


Destruktive Kindheitserfahrungen sind wie gezeigt wichtige Einflussfaktoren auf eigenes destruktives Verhalten von Männern und Frauen und wirken auf die Gesellschaft als Ganzes. Ich betrachte dies als „Wurzel des Übels“ und insofern nicht als monokausale Ursache für Krieg. Der sogenannte „Hamburger Ansatz“ der „Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung“ (AKUF) bietet aktuell einen sehr anspruchsvollen gesellschaftstheoretischen Erklärungsrahmen für das Kriegsgeschehen (siehe ausführlich bei Jung / Schlichte / Siegelberg (2003); ergänzend Homepage der AKUF http://www.akuf.de) und hat den selbstbewussten Anspruch, dieses im Grundsatz zu beschreiben.
Weltweit ist ein unabgeschlossener kapitalistischer Transformationsprozess traditional strukturierte Lebenswelten (Zerfall traditionaler Vergesellschaftungsformen und ein andauernder sozialer Wandel) hin zu einer (modernen) kapitalistischen Weltgesellschaft zu beobachten, der einhergeht mit (sozialen) Widersprüchen, Gegensätzen und Konflikten. Dieser Transformationsprozess betrifft alle erdenklichen Bereiche wie z.B. zwischenmenschliche Beziehungen, materielle Produktionsweisen, Geschlechtsrollen, Familie, Kunst, Religion, Politik usw. und er bildet die Grundlage für erhebliche Konflikte. Ein wesentlicher (ggf. destruktiv wirkender) Konflikt – z.B. Konflikte um die Grenzziehung zwischen weltlichem und religiösem Geltungsbereich - ist dabei das in- und nebeneinander von alt und neu (im einzelnen Menschen wie auch in der Gesellschaft und zwischen verschiedenen Gesellschaften), von traditionalen und modernen Vergesellschaftungsformen (im „Hamburger Ansatz“ heißt dies dann „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, siehe auch ausführlich Conrad (2002) ). (Als bildliches, zugegeben sehr reduziertes, aber verständlich machendes Beispiel stelle ich mir dabei z.B. ganz einfach eine Stadt in Afrika oder Asien vor, in der eine verschleierte Frau traditionell hinter ihrem Mann gehend an einem Coca Cola Schild im Hintergrund und einer jungen, modern gekleideten unverschleierten Frau vorbeigeht und dabei mit einem Handy telefoniert. Dieses in- und nebeneinander von alt und neu in einer Gesellschaft, aber auch über Grenzen hinweg ist es, was hier in diesem Konzept u.a. angesprochen ist. Mögliche gesellschaftliche Reibungspunkte werden hier deutlich)
Solche Spannungen auf Grund beschriebener Widersprüche treffen auf Entwicklungsgesellschaften in großem Maße zu, können aber durchaus auch innerhalb der weitgehend neuzeitlichmodernen Gesellschaften des Westens vorgefunden werden. (vgl. Conrad, 2002, S.23)
Beispiele für die mögliche Wirkungsweise solcher Spannungen sind Rückgriffe auf religiöse, ethnische, sprachliche oder regional vermittelte Identitäten, die als Widerstand gegen das Neue, gegen die Moderne herhalten und damit einhergehend Traditionalismus, Fundamentalismus, Rassismus und tendenziell Gewalt fördern können.

Diese gesellschaftlichen Transformationsprozesse allein sind als Erklärungsmuster für kriegerisches Handeln allerdings nicht ausreichend. „Denn sie geben noch keinen Aufschluss über die subjektiven Gründe des konfliktiven Handelns der Akteure. Diese Kernfrage der Kriegsursachenforschung, wie nämlich die im globalen Vergesellschaftungsprozess induzierten Widersprüche auf Seiten der Akteure mit Ideen und Weltbildern verknüpft werden, kann nur auf der Grundlage des Analysekonzeptes »Grammatik des Krieges« beantwortet werden. Die »Grammatik des Krieges« zerlegt den kriegsursächlichen Prozess in die vier systematischen Analyseebenen: Widerspruch – Krise – Konflikt – Krieg.“ (Schneider / Schreiber / Wilke, 1997)
Die Wiederspruchebenen habe ich oben bereits kurz dargestellt, diese kennzeichnen den strukturellen Hintergrund bzw. objektive Gründe für das Handeln von Akteuren. Diese Wiedersprüche können – laut „Hamburger Ansatz“ - nur kriegsursächlich werden, „wenn sie auf der Ebene Krise einen Anknüpfungspunkt in den Weltbildern und Ideen der Akteure finden und ein Umschlag von Objektivität in Subjektivität erfolgt.“ (ebd.) Oder übersetzt: Gesellschaftliche Wiedersprüche müssen bei den Menschen auch zu einer (inneren) Krise führen bzw. subjektiv als Krise wahrgenommen werden, damit die „Grammatik des Krieges“ ins Rollen kommt und auf der Ebene „Konflikt“ dann letztlich das „Verhalten“ dazukommt. Es kommt auf dieser Verhaltensebene (Eskalationsprozess).dann zu Protesten, Auseinandersetzungen, gewalttätigen Zusammenstößen usw. (Oftmals eine Art Gegenbewegungen bezogen auf zukünftig gefürchtete Modernisierungsprozesse) Auf der Kriegsebene schließlich verselbständigt sich nach diesem Konzept allmählich die Gewalt und wird schließlich selbst zu ihrer Ursache (Krieg wird ggf. zum Selbstzweck). Oftmals verschwimmen in der Realität die Ränder dieser vier Stadien, die sich somit nicht einwandfrei unterscheiden lassen.

Es ist – wie bereits beschrieben - die Grundthese des Hamburger Ansatzes, dass die zeitgenössischen Kriege aus dem konfliktiven Aufeinandertreffen von traditionalen und modernen Sozialformen zu erklären sind bzw. dass dies getreu der „Grammatik des Krieges“ zu (sozialen und letztlich individuellen) Krisen führt, die sich auf die Gesellschaft ausweiten können.
Traditionsbrüche hatten und haben für viele Menschen in der Tat tiefgreifende Konflikte, Desorientierungen und Sinnleere zur Folge. Bzgl. des Modernisierungsprozesses im 19. Jahrhundert bis vor dem ersten Weltkrieg spricht de Visser (1997) beispielsweise davon, dass Individuen zurückblieben, die es nicht gewohnt waren, selbstständig über den Sinn ihrer Existenz nachzudenken, und die es deshalb nicht aushalten konnten, ein Individuum zu sein. Eine neue Sinnstiftung musste her, insbesondere wenn der Zerfall traditioneller Orientierungen nicht als Chance sondern als Bedrohung angesehen wurde. Eine (ideologische) Weltanschauung - de Visser bezieht sich vor allem auf die NS-Zeit - , die ein geschlossenes Gesamtbild von Welt (wieder)herstellt, versprach dem Einzelnen, bestehende Konflikte und Spannungen abzubauen und hatte somit eine entlastende Funktion. Der Verehrung der Kriegsidee (sowie auch Antisemitismus und Rassismus) kommt in diesem Rahmen nach de Visser eine große Bedeutung zu. (vgl. de Visser, 1997, S. 61ff)
Der „Hamburger Ansatz“ beschreibt sehr gut und systematisch o.g. gesellschaftliche Prozesse und ist auch empirisch gut abgesichert. Spannend ist, dass die ForscherInnen hier eine wahre und überall in der Welt zu beobachtende „Dynamik“ kennzeichnen, dabei aber eben diese Dynamik als Ursache von Krieg meinen erkannt zu haben. Diese Theorie unterstellt meinem Verständnis nach also, dass die krisenhafte und schließlich kriegerische Reaktion auf Konflikte und Wiedersprüche so man will „menschlich“ ist bzw. sie geht nicht weiter in die (psychologische) Tiefe. Die „Grammatik des Krieges“ soll die Entstehung von kriegerischem Verhalten auch auf der subjektiven Ebene erklären und die Theorie „rund machen“. Ich empfinde den „Hamburger Ansatz“ allerdings als unvollständig. Gerade in der Frage: Warum handelt der Einzelne unter bestimmten gespannten gesellschaftlichen Verhältnissen kriegerisch? bieten psychoanalytische Erklärungsansätze in Zusammengang von (kindlichen) Gewalterfahrungen wesentliche, grundlegende Erkenntnisse. Beim Umschlag von „Objektivität in Subjektivität“ (siehe oben) ist die Schnittstelle zwischen Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse zu finden, so meine ich.

Wie oben gezeigt reduziert sich die Identität des Kindes durch die erzwungene Anpassung an äußere Umstände und die Identifikation mit den (destruktiven) Eltern, was zunächst das seelische Überleben des Kindes sichert. Wenn Identität eine grundlegende Konstellation von immanenten Persönlichkeitsmerkmalen ist, dann deuten diese Beobachtungen darauf hin, dass viele Menschen keine solche Identität besitzen und von einem inneren Fremdsein bestimmt sind. (vgl. Gruen, 2000).
Wenn ein gesellschaftlicher Rahmen auseinander fällt bzw. sich transformiert, wird eine Persönlichkeit, die aus äußeren sozialen Rollen, gesellschaftlichen Positionen, vorgefertigten (traditionellen) Identitätspaketen usw.[1] besteht in ihren Grundfesten erschüttert und der alte Terror der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins und der Scham tauchen wieder auf. Zusätzlich bringt Freiheit Angst mit sich, wenn Identität auf der Identifikation mit der Autorität basiert. Solche Menschen müssen dann, laut Gruen (2000), das Opfer in sich selber mit Gewalt gegen Andere verdecken. An anderer Stelle schreibt Arno Gruen passend: „Das auf Spaltung beruhende Selbst kann seinen Zusammenhalt nicht mehr bewahren, wenn es von sozialen Umwälzungen bedroht ist. Beginnt sich die soziale Struktur aufzulösen, bricht die unterdrückte Wut hervor. Dann offenbaren sich die mörderischen Impulse und das innere Chaos, die nur mittels eines äußeren „Feindes“ kanalisiert werden können.“ (Gruen, 1990, S. 114)
Untersuchungen zur „Autoritären Persönlichkeit“ weisen zusätzlich nach, dass entsprechend geprägte Menschen nicht in der Lage sind, sich unabhängig von externen Druck an elementaren moralischen Standards zu orientieren. (vgl. Christel / Hopf, 1997, S. 32) Unter „externen Druck“ kann sicher auch die traditionelle Einbettung und entsprechende soziale Kontrolle von Individuen verstanden werden, die sich im modernen Transformationsprozess weiter auflöst und somit destruktive Potentiale freisetzt.
Ähnliches gilt bzgl. Untersuchungen über unsicher-gebundene Kinder, die im Vergleich zu sicher-gebundenen Kindern z.B. über geringere Empathie, geringeres Selbstwertgefühl und über geringere Ressourcen und Flexibilität bei der Bewältigung ihrer Umwelt und schwieriger Situationen verfügen. (ebd., S. 53ff) Diese Kinder werden vermutlich (auch in ihrem späteren Leben) tendenziell größere Probleme mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen haben und diese eher als eine Krise bzw. einen tiefgehenden Konflikt erleben und evtl. destruktiv darauf reagieren. Die gleichen Schlussfolgerungen ergeben folgende Informationen, wie ich meine: Studien zur Auswirkung von körperlicher Gewalt zeigen, dass misshandelte Kinder im Vergleich zu nicht-misshandelten Kindern ein niedrigeres Selbstbewusstsein besitzen, weniger soziale Kompetenz haben, geringere verbale und kognitive Fähigkeiten aufweisen und eine stärkere Gewaltbereitschaft zeigen (vgl. Melzer / Lenz./ Ackermann, 2002, S. 847)

Gewalterfahrungen innerhalb der Familie üben auch laut Schneider (1998) wesentliche Einflüsse auf die Entwicklung von Wertvorstellungen beim Kind aus. Sie stehen in Beziehung zu der Bejahung des Einsatzes von Gewalt als Mittel der Problemlösung im Erwachsenenalter. (vgl. Schneider, 1998, S 338) Auch hier findet sich weitergedacht also die Information, dass nicht die Probleme oder die Konflikte die entscheidenden Faktoren bei der Entstehung von Gewalt sind, sondern die kindlichen Vorerfahrungen eine wesentliche Rolle bei der Reaktion auf Probleme spielen. Schneider schreibt: „Die Familie, die Gewalt in der Kindererziehung einsetzt, wird (...) auf mannigfache Weise zum sozialen Trainingsfeld der Gewalt. Da Gewalt gegen Kinder ein außerordentlich weit verbreitetes Phänomen darstellt, ist zu befürchten, dass sie über die von dem einzelnen erlernten Werte das gesamtgesellschaftliche Wertgefüge zugunsten einer Befürwortung eines wie auch immer begrenzten oder unbegrenzten Einsatzes von Gewalt beeinflusst.“ (ebd., S. 338)
Van der Kolk & Streeck-Fischer (2002) stellen fest: „Wenn Kinder traumatisiert werden, konstruieren sie eine katastrophische „Landkarte“ von der Welt, in der Unterschiede und Probleme nicht durch Aushandeln, sondern durch Gewaltanwendung oder Unterwerfung gelöst werden. Die Sicherheit der frühen Beziehungen bestimmt also die Anpassung eines Kindes an spätere Herausforderungen der Umgebung und prägt den künftigen Umgang mit Belastungen nachhaltig.“ (Van der Kolk & Streeck-Fischer, 2002, S. 1024)
Die Konfrontation mit Gewalt wirkt sich auf die Informationsverarbeitung des Kindes und seine Interpretation künftiger bedrohlicher Erfahrungen aus. Eine Kampf-oder-Flucht-Reaktion ist laut den genannten AutorInnen bei traumatisierten Kindern oft ein „automatischer Reflex“ auf bedrohliche oder unklare Situationen (dies gilt insbesondere für Menschen ohne sonstige Ressourcen und wenn das Trauma nicht therapeutisch bearbeitet und verarbeitet wurde), die mit einer Erinnerung an ein frühes Trauma verbunden sind. (ebd., S. 1025ff + S.1034ff) „Viele traumatisierte Menschen zeigen ein oberflächlich unauffälliges Verhalten, was aber nur bedeutet, dass sie eine oberflächliche Anpassung an ihre Umgebung erreicht haben, die solange funktioniert, wie sie nicht emotional erregt werden; sobald sie sich bedroht fühlen, bricht diese Anpassung zusammen. Diese Unterscheidungen sind wichtig für die Untersuchung von Gruppenprozessen in Schulen und Einrichtungen sowie bei gewalttätigen Jugendlichen wie z.B. Jugendbanden.“ (ebd., S. 1029)
Diese Prozesse werden von o.g. AutorInnen nur auf kleinere Gruppen übertragen. Gesellschaftliche Transformationsprozesse und entsprechende Widersprüche (Hamburger Ansatz), die in größeren Zusammenhängen stehen, können meiner Auffassung nach auch als „bedrohliche und unklare Situationen“ aufgefasst werden, sie bringen Erinnerungen an Ohnmacht, Hilflosigkeit und Vernichtungsangst mit sich. Erwachsene, die sich als Kinder sicher fühlen konnten und durften, deren Entwicklung freundlich gefördert wurde, die ein Vertrauen in die Welt aufbauen konnten, die lernen konnten, dass schwierige Situationen zu meistern und zu bewältigen sind usw. werden auch später mit schwierigen gesellschaftlichen Situationen besser zurechtkommen und unwahrscheinlicher mit Gewalt und Destruktivität darauf reagieren.[2]

Sehr interessant sind auch Überlegungen von deMause (2005), der von einer (individuellen und kollektiven) „Wachstumspanik“ ausgeht, die auf Grund früher Traumatisierungen und destruktiver Erziehung entsteht.(vgl. deMause, 2005, S. 72ff + 96ff) Gesellschaftliche Veränderungen, Erhöhung des Wohlstandes, wirtschaftlicher Erfolg usw. ermöglichen den Menschen einen Zuwachs an Möglichkeiten der individuellen Lebensführung. Gerade der Eigensinn und der individuelle Wille vieler Kinder wurde aber einst durch destruktive Eltern stark beschränkt oder oftmals mit Gewalt ganz unterbunden. Freies Wachstum wurde nicht toleriert. Destruktive Eltern beschimpfen ihre Kinder und werfen ihnen z.B. vor, „verwöhnt“, „gierig“, „sündig“, „selbstsüchtig“, „undankbar“, „unanständig“ und „außer Kontrolle“ zu sein (wenn diese ganz normale kindliche Bedürfnisse zeigen und in ihrer Entwicklung fortschreiten, die Kinder selbstständiger werden wollen usw.) und rechtfertigen so Bestrafungen und Liebesentzug. Dadurch entstehen bei den Einzelnen und dann letztlich auch bei Gruppen u.a. Fantasien wie: „Wenn ich wachse und mich vergnüge, wird etwas schreckliches passieren.“ oder „Wenn wir wachsen, werden wir nie das sein, was Mami und Papi wollen, das wir sein sollten, und wir werden ihre Liebe niemals bekommen.“ Es entstehen Ängste des Verlassenwerdens. Der voranschreitende gesellschaftliche Fortschritt und Wandel baut einen unerbittlichen Druck auf, „und es fließen Erinnerungen an Erniedrigungen in der Kindheit zurück ins Bewusstsein, während die umhertreibenden Ängste auf externe Giftcontainer warten.“ (ebd., S. 103). Grundsätzlich gilt nach deMause: „Je primitiver der dominante Kindererziehungsmodus einer Gesellschaft, umso mehr muss Wachstumsangst abgewehrt werden.“ (ebd., S. 98) Eine Form der Abwehr ist das Finden von Feinden und Sündenböcken (als „Giftcontainer“). Diese „Feinde“ können im Inneren – Minderheiten, Kriminelle, Frauen, Kinder usw. – oder nach Außen hin gesucht werden.[3] Das Finden von Feinden im Inneren gelingt mit zunehmenden sozialen Forschritt (nach deMause vor allem ausgelöst durch „entwickeltere Psychoklassen“, die eine fortschrittlichere Kindheit genießen duften) allerdings immer weniger. „(...) Alte Formen der Abwehr stehen nicht mehr zur Verfügung, und die Menschen können diverse Sündenböcke nicht mehr in der gleichen Art wie zuvor dominieren und bestrafen – Ehefrauen, Sklaven, Dienstboten, Minderheiten. Die weniger fortschrittlichen Psychoklassen – die Mehrheit der Gesellschaft – beginnen eine enorme Wachstumspanik zu erleben, und neue Wege müssen gefunden werden, mit diesen Ängsten umzugehen. Für sie findet überall Veränderung statt; die Dinge scheinen außer Kontrolle zu geraten. (...)“ (ebd., S. 96ff)
Die Abwehr wird dann – nach deMause - an die Führer eines Volkes delegiert (vor allem bzgl. äußerer „Feinde“), diese nehmen intuitiv wahr (besonders, wenn sie selbst eine destruktive Erziehung durchlebt haben), dass sie „Gegengifte gegen Wachstumspanik“ bereitstellen sollen. „Es ist die primäre Aufgabe eines Führers, die kollektiven emotionalen Probleme seines Volkes zu verkörpern und zu versuchen, diese aufzulösen.“ (ebd., S. 101) Wenn sich eine äußere Nation entsprechend auf Provokationen einlässt, die Rolle des „Feindes“ bereitwillig annimmt, Demütigungen gegen die eigene Nation ausspricht (so wie man als Kind von den Eltern gedemütigt wurde) usw. (deMause beschreibt z.B. wie der Irak zum „äußern Feind“ der USA wurde und Politiker diesen Weg beförderten, um die „Wachstumspanik“ der Amerikaner abzuwehren) kommt es ggf. zum Krieg (und vorher schon zu einer enormen Erleichterung: „Aha! Ich wusste, der Feind war real und nicht nur in meinem Kopf.“). Krieg ist demnach ein Opferritual, „dazu bestimmt, Angst vor Individuation und Verlassenwerden abzuwehren, indem unsere frühen Traumata an Sündenböcken wiederaufgeführt werden.“ (ebd., S. 65)

Spannend sind hier auch weitere Parallelen, die letztlich nur unterschiedlich gedeutet werden, zwischen deMause (Psychohistorie) und dem „Hamburger Ansatz“. Auch deMause spricht von „Ungleichzeitigkeit“, allerdings vor allem in Bezug auf verschiedene Kindererziehungspraktiken und in Folge dieser bzgl. verschiedener „Psychoklassen“. (An dieser Stelle sei auch an Kapitel 2. erinnert, in dem deutlich wurde, dass es erhebliche Unterschiede zwischen den Erziehungspraktiken im Westen und denen in traditionelleren Gesellschaften gibt) Die wesentliche (politische/gesellschaftliche) Konfliktlinie liegt hier zwischen definierten „Psychoklassen“, die sich gewaltig voneinander unterscheiden, die ganz andere Wertesysteme und eine andere Sicht auf Freiheit besitzen usw. Bei den „Hamburgern“ ist es außerdem vor allem der „kapitalistische Transformationsprozess“, der im Zentrum ihrer Sicht steht und für gesellschaftliche Veränderungen verantwortlich sei. Bei deMause ist die Kindheit der zentrale Fokus für psychische und soziale Evolution Im „Hamburger Ansatz“ heißt es schließlich, dass die benannte Theorie mit fortschreitender Zeit auch immer mehr zutreffen würde. Bei deMause ließt sich dies dann so: „Der Großteil der Welt ist immer noch am Sprung in die Moderne, wird gerade erst frei, demokratisch und wohlhabend, ist aber hinsichtlich Kindererziehung noch nicht modern – insofern durchlaufen diese Nationen nun den gleichen schweren Wachstumspanikprozess, den Deutschland in der Mitte des 20. Jahrhunderts durchmachte. Wir können deshalb in den kommenden Jahrzehnten höhere Todesraten durch Krieg und Demozid in den sich entwickelnden Ländern erwarten.“ (ebd., S. 164ff)

Der bekannte und viel diskutierte „Hamburger Ansatz“ könnte um diese o.g. „Wurzeln“ ergänzt werden, um dann einen komplexeren Erklärungsrahmen für das aktuelle Kriegsgeschehen abliefern zu können. Der kriegerische Umgang mit Konflikten und Krisen ist meiner Ansicht nach nicht „typisch menschlich“ oder mögliche Konsequenz einer entsprechenden gesellschaftlichen Dynamik, sondern ein wesentliches Produkt der destruktiven Erziehung und den Verfehlungen und Versäumnissen in selbiger. Bildlich gesprochen beschreibt nach meinem Empfinden der „Hamburger Ansatz“ in seiner jetzigen Form nur den Zündfunken, der alles zur Explosion bringt. Das Dynamit (die destruktive Kindheitsgeschichte) übersieht er gänzlich. Zündfunken wird es in unserer Welt allerdings immer geben. Entscheidender ist, dass wir das Dynamit beseitigen. Unter langfristig präventiven Aspekten gesehen meine ich, - um auf das alte Bild zurück zu kommen -, dass nur Pflanzen mit „gesunden Wurzeln“ auch weniger anfällig für „schlechte Umweltbedingungen“ sind.



[1] Das zentrale Kriterium für die Lebensbewältigung war in früheren (europäischen) Zeiten die Übernahme vorgefertigter (traditioneller) Identitätspakete. (vgl. Keupp, 1999) Keupp spricht bzgl. des Modernisierungsprozesses in Anlehnung an Giddens von gesellschaftliche Phasen, in denen die individuelle Lebensführung in einen stabilen kulturellen Rahmen von verlässlichen Traditionen "eingebettet" wird, der Sicherheit, Klarheit, aber auch hohe soziale Kontrolle vermittelt und es dagegen Perioden der "Entbettung" gebe (siehe auch Transformationsprozess im Hamburger Ansatz!), in denen die individuelle Lebensführung wenige kulturelle Korsettstangen nutzen kann bzw. von ihnen eingezwängt wird und eigene Optionen und Lösungswege gesucht werden müssen Viele Menschen würden dies (auch auf die heutige Zeit bezogen z.B. durch das Brüchigwerden der Identitätsbildung durch Erwerbsarbeit) als "ontologische Bodenlosigkeit" erleben bzw. sie erleben sich als Darsteller auf einer gesellschaftlichen Bühne, ohne dass ihnen fertige Drehbücher geliefert würden. Ohne die erforderlichen materiellen, sozialen und psychischen Ressourcen würde die gesellschaftliche Notwendigkeit und Norm der Selbstgestaltung zu einer schwer erträglichen Aufgabe, der man sich gerne entziehen möchte.

[2] Häufig wird bzgl. dem Entstehen von Gewalt und auch Rechtsextremismus als Ursache Arbeitslosigkeit, Armut und sozial schwierige Situationen genannt. Die im Text genannten Erkenntnisse weisen auch hier darauf hin, dass dieser Ansatz letztlich zu oberflächlich ist und um psychoanalytische Ansätze ergänzt werden müsste. Demnach wäre auch hier die Arbeitslosigkeit nur der Zündfunke, der die Gewalt zum Explodieren bringt. Dazu auch ein Zitat aus einer Schweizer Studie zur Entstehung von Rechtsextremismus, die sogar ökonomische Einflussfaktoren nahezu ausschließt: „Thomas Gabriel hält fest, dass die Jugendlichen und ihre Familien nicht als «Modernisierungsverlierer» bezeichnet werden können, also entgegen den Behauptungen bisheriger Forschungen keine Opfer von ökonomischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen seien. In den 26 untersuchten Fällen lasse sich ein hohes Mass an «Normalität» der Lebensentwürfe und - welten nachweisen. Hingegen spielten häusliche Gewalt und die Folgen von Konflikten im sozialen Nahraum eine wichtige Rolle, insbesondere dann, wenn sie für die Heranwachsenden mit Misshandlungs- und Ohnmachtserfahrungen verbunden seien.“ (Schweizer Nattonalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, 2008)

[3] Eine andere Form der Abwehr ist nach deMause die „Interne-Opfer-Lösung“ z.B. in Form einer Revolution oder einer ökonomischen Depression und Rezession, die unbewusst von den Menschen selbst herbeigeführt wird, um das Wachstum und damit verbundene Ängste abzuschwächen.



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10. Fazit

Wo die Liebe fehlt, wächst die Wut.“ ist der Titel einer Fernsehdokumentation von Jo Frühwirth. Der Film zeigt eindrücklich, wie kaputte Familienstrukturen kaputte Kinder produzieren und dass intakte Familien und andere sichere Beziehungen die beste Keimzelle für ein gesundes menschliches Aufwachsen sind, so die Filmbeschreibung auf Phoenix vom 17.10.07. „Wo die Liebe fehlt, wächst die Wut“, ein Satz, der eigentlich schon alles sagt, um was es hier grundsätzlich in diesem Text geht.

In diesem Text finden sich einige Anhaltspunkte dafür, wie präventiv bzgl. individuellem Leid, aber auch bzgl. (kriegerischer) Gewalt als mögliche Folge von Kindesmisshandlung gehandelt werden könnte. Da ist zum einen das Konzept des „Helfenden Zeugen“ (siehe Alice Miller), das einen Auftrag an alle Erwachsenen (gerade auch PädagogInnen und PsycholgInnen, aber auch Nachbarn, Familienmitglieder usw.) enthält, die Kinder (aus schwierigen Verhältnissen) erleben. Da ist z.B. die (internationale) Politik gefordert, statt milliardenschwer in Militär, Verteidigung, Terrorbekämpfung usw. milliardenschwer in Kinderschutz und menschenwürdige Lebensverhältnisse zu investieren, sowohl national als auch international. (Zahlenbeispiel für den Irak-Krieg: Die vorsichtige Prognose des Ökonomen und Nobelpreisträgers Joseph Stiglitz lautet: Angenommen die US-Truppen ziehen sich bis 2012 schrittweise zurück, dann kostet zum Beispiel der weitere Militäreinsatz inklusive Milliardensummen für versehrte Veteranen und Zinsen für Kriegskredite: Insgesamt drei Billionen US-Dollar (!).“Monitor“ fragt: Was hätte man mit drei Billionen US-Dollar eigentlich machen können? Die Schätzungen des Nobelpreisträgers und anderer Experten: 45 Millionen Lehrer ein Jahr lang bezahlen. Oder 219.000 Grundschulen bauen. Oder das Studium von 129 Millionen Studenten finanzieren. (vgl. ARD-Magazin „Monitor“, 13.03.2008) Persönliche Anmerkung: Oder man hätte weltweit massiv und nachhaltig in Kinderschutz investieren können.
Die Prävention von Kindesmisshandlung lohnt sich grundsätzlich immer auch finanziell. Laut einem Bericht,verursacht Kindesmisshandlung allein in Deutschland pro Jahr rund 30 Milliarden Euro an direkten und indirekten Kosten. (vgl. sueddeutsche.de, 25.09.2008) )
Lloyd deMause fordert beispielsweise insbesondere kostenlose globale Trainingszentren für Eltern (vgl. deMause, 2005, S. 306), in denen u.a. Unterstützung, Rat, Begleitung und Austausch angeboten wird und wo man Eltern zeigt, wie man Kinder aufzieht, ohne sie zu schlagen, zu missbrauchen und zu vernachlässigen und wie man die Unabhängigkeit von Kindern fördert usw. Da unsere destruktive (Kriegs-)Technologie unseren Fortschritt bei der Kindererziehung bei weitem übersteigt, ist nach deMause Eile geboten; wir können es uns nicht leisten abzuwarten, bis sich die globale Kindererziehung von selbst weiterentwickelt.
Gefordert ist auch die Gesellschaft an sich, gefordert sind die Medien usw. die vorliegenden Erkenntnisse weiter auszuformulieren und zu verbreiten, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Bzgl. der Biologie bzw. Genforschung und Gewaltursachen werden sogar ganze Titelthemen besetzt mit ausdruckstarken Titeln wie „Tatort Gehirn. Neuro-Forschung. Warum Menschen zu Verbrechern werden“ im Focus Nr. 41 vom 08.10.2007 oder „Das Böse im Guten. Die Biologie von Moral und Unmoral“ im Spiegel 31/2007. Bzgl. dem Zusammenhang von Kindheit und Krieg/Gewalt ist mir in den Medien noch kein Titelthema aufgefallen, obgleich mir dies sinnvoller erschiene, als uns Menschen auf unsere Gene und neurobiologische Prozesse zu reduzieren...
Ich halte es insbesondere auch für erforderlich, dass die „Evolution der Kindheit“ nach Lloyd deMause (genauso wie die biologische Evolution des Lebens), Formen und das aktuelle Ausmaß der Gewalt gegen Kinder, die möglichen Folgen der Gewalt und Infos über mögliche Hilfen und Anlaufstellen in die Lehrpläne von Schulen und Universitäten aufgenommen werden.
Vor allem ist aber auch jeder Einzelne gefordert, selbst bei sich zu schauen, seiner Familiengeschichte bewusst und realistisch gegenüber zu treten und ggf. mit Hilfe einer Psychotherapie Blockaden aufzubrechen, erfahrenes Leid zu verarbeiten, „das Fremde“ (siehe Arno Gruen) abzuschütteln, selbst zu leben und zu fühlen. Aus einem gesunden Gefühl zu sich, entsteht sehr wahrscheinlich auch Mitgefühl gegenüber den Mitmenschen und dies macht Krieg und Gewalt letztlich unmöglich, wie ich meine. Miller schreibt dazu: „Wenn unser Planet überleben soll, gibt es zur Wahrheit, d.h. zur Konfrontation mit unserer individuellen und kollektiven Geschichte, keine Alternative. Nur deren Kenntnis kann uns vor der perfekten Selbstzerstörung bewahren.“ (Miller, 1991)
Mir ist natürlich bewusst, dass gerade diejenigen, die eine Therapie am Nötigsten haben und ein enormes destruktives Handeln an den Tag legen, diesen Text hier wohl kaum lesen werden und auch sonst schwer zugänglich für Hilfsmaßnahmen und Veränderungen sind. Diesen Menschen kann man nur mit einem konsequenten Grenzen-setzen entgegenwirken. Gewalt muss schon im Ansatz und auch im Privaten entgegengetreten werden. Die Wahrscheinlichkeit für dieses Entgegentreten wird meiner Meinung nach steigen, wenn sich mehr Menschen nicht auf ihre Opferrolle (die zweite Seite der Medaille, durch die Gewalt möglich wird) zurückziehen und Selbstbewusstsein entwickeln, wenn mehr Menschen feststellen, dass sie die Dinge aktiv beeinflussen können. Auch hier kann eine Therapie u.U. sicherlich hilfreich sein.
Arno Gruen hat darüber hinaus betont (vgl. Gruen / Weber, 2001, S. 65ff), wie wichtig es für die Demokratie ist, die Menschen in der Mitte (nicht zu verwechseln mit der gebetsmühlenartig beleuchteten ökonomischen „Mitte“, die PolitikerInnen meinen.) zu erreichen. Diese Mitte besteht aus Menschen, die in ihrer Kindheit Förderung und Ablehnung/Zurückweisung erlebt haben. Anders ausgedrückt könnte man auch sagen, dass diese Mitte nicht nur Destruktivität als Kind erlebt hat und ihnen auch Schutzfaktoren zur Seite standen. Das Wissen um diese „Mitte“ scheint wichtig für zukünftige Friedensarbeit.

Was NICHT helfen wird ist, misshandelte Kinder bzw. Erwachsene, die dies erlebt haben, vorzuverurteilen und zu stigmatisieren! Ich hoffe, ich konnte – trotz der notwendigen klaren Worte - auch im Verlauf des Textes deutlich machen, dass mir dies fern liegt. Wir müssen Menschen immer nach ihrem Verhalten beurteilen.
Mit Blick auf die „Wurzeln des Übels Krieg“ möchte ich mit zwei eindrücklichen Zitaten schließen:
Kriege „(...) werden leider akzeptiert, weil es unzählige Menschen gibt, für die das Leben wertlos und hassenswert ist, das eigene genau wie das des anderen, die nur gelernt haben, Leben zu zerstören und von anderen zerstört zu werden. Es sind Menschen, die ihre Liebe zum Leben nie entwickeln konnten, weil sie keine Chance dazu erhalten haben.“ (Miller, 1991)

"Je mehr Kinder bei uns und weltweit vernachlässigt, geschlagen, gedemütigt werden und in Hoffnungslosigkeit und Hass abgleiten, desto höher ist das destruktive Potential in unserem eigenen Land und weltweit. Vor diesem Hintergrund ist Kinderschutz zu einer Frage des Überlebens geworden. Weltweiter Kinderschutz ist der Königsweg zur Prävention nicht nur von seelischem Leid, sondern auch von Kriminalität, Militarismus und Terrorismus. Er sichert die Demokratie und den friedlichen kulturellen und ökonomischen Austausch." (Riedesser, 2001)
Diese Erkenntnisse müssen den Menschen weltweit bewusst gemacht werden, wenn ich mit diesem Text ein wenig dazu beitragen konnte, dann freut mich das natürlich sehr.



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Nachwort


Ich erinnere mich an eine allgemeine Vorlesungsreihe an der Universität Hamburg zum Thema NS-Zeit und Ursachen (Titel: „Denn sie wussten und wollten, was sie taten. Der Holocaust und seine Täter“ Ringveranstaltung am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Uni Hamburg, WS 2002/2003)

Diese wöchentliche Abendveranstaltung wurde vorwiegend von Menschen besucht (und auch veranstaltete), die diese Zeit selbst miterlebt hatten. Entsprechend emotional verliefen die Lesungen. Ich möchte hier in diesem Zusammenhang eines anmerken. Es wurden im Laufe der Lesungsreihe viele interessante Aspekte dieser Zeit vorgestellt. Auch wurden verschiedene politisch-soziologische und wirtschaftliche Zusammenhänge als Ursachen für die NS-Zeit aufgeführt, die alle wirklich sehr logisch und nachvollziehbar und sicherlich auch wahr waren und sind. Das spannende für mich war aber folgendes. Einer der hauptverantwortlichen Dozenten für diese Reihe reichte einmal – so ca. in der Mitte der gesamten Lesereihe - ein Blatt mit dem Inhalt der entsprechenden Lesung an diesem Abend im Publikum durch. Auf der Rückseite dieses Blattes hatte er – ganz entgegen des Themas dieses Lesungstages - die Inhaltsangabe des Buches „Der Fremde in uns“ von Arno Gruen kopiert, in dem vor allem die „Identifikation mit dem Aggressor“ bzw. destruktive Kindheitserfahrungen als Ursache für Krieg und speziell auch den 2. Weltkrieg benannt sind. Auf diese rückseitige Inhaltsangabe machte der Dozent nicht aufmerksam, er reichte sie einfach stillschweigend herum. Überhaupt waren destruktive Kindheitserfahrungen als eine mögliche Ursache von Krieg und Täterschaft in dieser Veranstaltungsreihe kein Thema. Trotzdem machte der Dozent leise auf Arno Gruens Thesen aufmerksam. Warum? Warum so heimlich und leise? Dies machte mich zunächst stutzig, aber ich fand es auch irgendwie bezeichnend. Die Generation, die diese Zeit miterlebt hatte, umkreiste in ihrer Analyse letztlich einen wahren Kern, den wirklich offen zu beleuchten sie wohl nicht ertragen konnte.

Am 06.02.2003 fand mit dem Schlussthema „Wie können Menschen zu Tätern werden?“ die Abschlusssitzung der gesamten Lesereihe statt. Auch hier wurde wieder nicht auf destruktive Kindheitserfahrungen als mögliche Ursache hingewiesen (und das obwohl die Lesereihe am Fachbereich Erziehungswissenschaft statt fand). Als ich dann nach der Lesung im Plenum freundlich darauf hinwies, dass mir das psychoanalytische Ursachenverständnis von Krieg und Täterschaft gefehlt hätte und dies obwohl ein leitender Dozent in einem Beiblatt sogar auf „Der Fremde in uns“ und somit auf den Zusammenhang mit destruktiven Kindheitserfahrungen hingewiesen hätte, bekam ich als Reaktion aus dem Plenum „ein Raunen“ und teils offene Anfeindungen. An eine Frau erinnere ich mich noch besonders. Sie stand auf und rief irgendetwas wie: „Eine Welt, wie sie sie wollen, gibt es nicht!“ Und ich hätte unrecht mit meinen Gedanken usw.

Zumindest die hauptverantwortlichen Dozenten bedankten sich höflich für meine Kritik, wiegelten diese nach meiner Erinnerung aber auch mit einigen Ausschweifungen über den Lesungsverlauf ab, nahmen sie somit nicht wirklich an und überhörten auch meinen Hinweis auf Arno Gruens Buch, das sie mit keinem Wort weiter erwähnten. Mir persönlich wird diese Lesereihe immer in Erinnerung bleiben, ich habe dort viel gelernt, vielleicht mehr, als ich durch Bücher hätte lernen können.

Und ich habe noch eine weitere Nachmerkung zum Thema Terror: Am 18.10.07 gab es auf dem Sender N-TV eine Dokumentation über den „Terror der RAF“, in der auch der Ex-Terrorist Peter-Jürgen Boock interviewt wurde. Er sagte dort aus, dass der Moment der Schleyer Entführung (damals kamen während der Entführung auch Begleiter von Schleyer ums Leben; Schleyer selbst wurde später umgebracht) und nachdem alles so „glatt gelaufen“ wäre, er sich so lebendig gefühlt habe, wie nie zuvor in seinem Leben. Wenn sich ein Mensch nur mit Hilfe von Terror „lebendig“ fühlen kann, dann sagt das viel über tiefere, emotionale Ursachen seiner Taten aus, die im Kern nichts mit politischen Zielen oder der Zeit usw. zu tun haben, wie ich meine. Bzgl. der möglichen inneren Motive der RAF-TerroristInnen möchte ich hier noch Alice Schwarzer eindrücklich zitieren: "Was eigentlich waren zum Beispiel die wahren Motive der Terroristinnen der 70er Jahre, die das Gewehr auf die Vätergeneration richteten? Was waren die innersten Motive? Einer Ulrike Meinhoff, die sich jahrelang von ihrem Ehemann Klaus Rainer Röhl hatte demütigen lassen (und diese Tradition dann mit Bandenchef Baader fortsetzte)? Einer Inge Viett, die als Mädchen von Pflegeeltern zu Pflegeeltern geschoben wurde? Einer Großbürgertochter wie Susanne Albrecht, die den eigenen Onkel, den Bankier Ponto, ans Messer lieferte? Wieweit haben diese Frauen in Wahrheit nicht nur den Vater Staat gemeint, sondern auch die eigenen Väter, Männer, Onkel? Und das nicht etwa aus einer 'unerfüllten inzestuösen Vaterliebe' (wie in den 70ern Psychologe Hofstätter räsonierte) - sondern ganz im Gegenteil aus einer zu erfüllten 'Vaterliebe'?" (Schwarzer, 2000, S.121)

Ich möchte noch darauf hinweisen, dass ich in diesem Text den Versuch einer Analyse der Kriegsursachen unternommen habe. Diese Analyse soll selbstverständlich kein kriegerisches Verhalten entschuldigen und die TäterInnen entlasten. Einem Opfer kann es ziemlich egal sein, was ein Täter als Kind möglicherweise erlitten hat. Ich persönlich nehme jeden Täter und jede Täterin trotz dieser Analyse voll in die Verantwortung. Als Menschen haben wir immer die Wahl und den Entscheidungsspielraum Gewalt gegen Andere anzuwenden oder es nicht zu tun.



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Gedanken zu möglicher und typischer Kritik

Wenn es um das Aufzeigen möglicher Zusammenhänge von Kindesmisshandlung und späterem eigenen destruktiven/gewalttätigen Verhalten geht, gibt es als Reaktion erfahrungsgemäß häufig starken Widerspruch und Kritik (insbesondere natürlich auch bei politischer Gewalt). Als Beispiel sei die Kritik in der vom Deutschen Bundstag herausgegebenen Wochenzeitung „Das Parlament“ vom 28.02.2005 gegenüber der Studie „Bush auf der Couch“ von Justin A. Frank (aus der ich auch im Kapitel 3.1 zitiert habe) genannt. Frank sieht in seiner Studie einen direkten Zusammenhang zwischen den destruktiven Kindheitserfahrungen von Präsident George W. Bush und seinem späteren destruktiven, politischen Wirken. Im „Parlament“ heißt es dazu u.a. kritisch: „Tauscht man den Namen Bush in der Studie Franks einfach gegen andere Politiker aus jüngster Vergangenheit und Gegenwart aus - angefangen bei der "Eisernen Lady" Margaret Thatcher, dem "Lügner" Bill Clinton, über Gerhard Schröder, dessen Bruder Lothar Vosseler sogar öffentlich kein gutes Haar an dem Kanzler lässt, bis hin zum einst steinewerfenden und wehrlose Polizisten tretenden Joschka Fischer - passt die Studie Wort für Wort häufig auch auf diese Staatslenker - bei der verkorksten Kindheit der angeführten Personen angefangen. Insofern ist diese Studie wohl eher eine für Führungspolitiker allgemein "zutreffende" Analyse - es kommt eben nur auf den jeweiligen Standpunkt an. Sie ist auf keinen Fall ernst zu nehmen. (...)“

Dieses Beispiel ist klassisch und interessant in mehrfacher Hinsicht. Als Argument wird häufig genannt, dass ja auch viele andere (vergleichbare) Menschen destruktive Kindheitserfahrungen gemacht haben und trotzdem nicht in gleicher Weise destruktiv agieren. Als erstes verwundert dabei in diesem Beispiel die Auswahl der genannten Vergleichs-PolitikerInnen, die allesamt – meiner Meinung nach – nicht gerade einen Heiligenschein verdienen und bei denen auch destruktive Züge und Verhaltensweisen zu erkennen sind, wenn auch oftmals verdeckter und in anderer Form als es bei dem „Kriegspräsidenten“ (wie er sich selbst einmal nannte) George W. Bush der Fall war.
Der machthungrige Selbstdarsteller Gerhard Schröder steht z.B. nicht gerade für eine teamorientierte, einfühlsame und soziale Politik (erinnert sei z.B. an die Einführung von Hartz IV auf Kosten der Schwachen) und er war zusammen mit Joschka Fischers Grünen für die ersten Kampfeinsätze im Kosovo und in Afghanistan unter deutscher Beteiligung nach dem 2. Weltkrieg verantwortlich (was nebenbei den Grünen etliche Parteiaustritte bescherte). Unvergessen bleibt mir persönlich auch sein autoritärer Auftritt nach den Neuwahlen im Fernsehen, wo er entgegen des durch das Wahlergebnis berechtigten Anspruchs von Angela Merkel auf die Kanzlerschaft meinte „man müsse die Kirche im Dorf lassen“ und er müsse Kanzler werden. Dieser Auftritt hatte etwas von Realitätsverlust und offenbarte vieles von Schröders Charakter. Zusätzlich bescherte seine Politik der SPD in der Nachfolge die größte Krise in ihrer Nachkriegsgeschichte.

Ebenso wenig sozial und einfühlsam stellte sich die Politik der "Eisernen Lady" Margaret Thatcher dar, die ihren Beinamen nicht ohne Grund trägt. Ihre als „Thatcherismus“ bekannte Wirtschaftspolitik könnte man als Kritiker auch als neoliberale Politik bezeichnen, die u.a. für weniger Gewerkschaftseinfluss, Privatisierung, Einschränkung staatlicher Sozialleistungen, Deregulierung usw. steht und dadurch insbesondere auf Kosten der Schwachen ging. In ihre Amtszeit fiel u.a. auch der Falklandkrieg gegen Argentinien im Jahr 1982.
Über Joschka Fischer schreibt Wirth (2006) dass dieser sehr stark an seine Mutter gebunden war und sich erst spät emotional von dieser lösen konnte – ein typischen Phänomen der Nachkriegsgeneration.(vgl. Wirth, 2006, S. 257ff) Fischer selbst deutet viele seiner rebellischen Verhaltensweisen von damals als „Abwehr ihr gegenüber“ (und steht als Politiker Psychologisierungen offensichtlich offener gegenüber als so mancher Kritiker).
Seine Mutter wurde beschrieben als "eine sehr bestimmende, eine dominierende Person und dabei, in einer überschießenden Neigung zur Sauberkeit, nicht ohne zwanghafte Züge". (Kurth, 2000, S. 63) Der Vater, von Beruf Schlachter, konnte manchmal streng werden und ohrfeigte die Kinder, aber normalerweise hielt er sich im Hintergrund und überließ die Kindererziehung seiner Frau. (ebd.) Zum Vater hatte Joschka ein distanziertes Verhältnis und hat ihn nach eigenen Angaben nie wirklich gekannt. (vgl. Wirth, 2006, S. 257ff)
Fischers Erfahrungen in seiner Familie waren – zumindest findet sich bei Wirth und Kurth nichts darüber – wohl nicht von offener, schwerer Gewalt geprägt und nicht derart destruktiv, wie es z.B. bei einem Bush oder auch Clinton der Fall war. Insofern hat der Autor im „Parlament“ recht, wenn er mahnt, die Studie von Frank nicht zu verallgemeinern. Hinter einer „verkorksten Kindheit“ wie der Autor es nannte, verbergen sich oftmals nun mal ganz unterschiedliche Erfahrungen. Joschka Fischer war ja offensichtlich auf Grund von positiven oder nicht all zu negativen Erfahrungen in seiner Familie auch in der Lage, sich weiterzuentwickeln und von militanten Verhaltensweisen Abstand zu nehmen. (Wenngleich Kurth (2000) auch auf Zusammenhänge zwischen den Kindheiten von Fischer, Schröder und Scharping - dem „deutschen Kriegskabinett“ - und dem Bundeswehreinsatz in Jugoslawien hinweist. Die Bombardierung war demnach eine "erzieherische Strafaktion“, was auch dem Willen und den „Gruppenphantasien“ der westlichen Bevölkerung entsprach. Die weiteren Zusammenhänge sind natürlich komplexer und werden von Kurth weiter ausgeführt.)

Am meisten verwundert der Vergleich im „Parlament“ mit dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton (In seine Amtszeit fiel u.a. der Einsatz in Somalia, Jugoslawien, die Bombardierung von Gebäuden im Irak, Luftangriffe auf Ziele in Afghanistan und im Sudan, Invasion von US-Truppen in Haiti.) DeMause beschreibt Clinton – der in der Tat ein hohes Ausmaß an Destruktivität und Gewalt in seiner Herkunftsfamilie erlitten hat z. B. in Form von Ablehnung und Vernachlässigung, Peitschenhieben, körperlicher Gewalt gegen ihn, Alkoholismus des Stiefvaters, erhebliche Gewalt gegen die Mutter (bis hin zu dem Versuch, diese zu töten) durch den Stiefvater usw. - als "Kriegsführungs-Persönlichkeit", die er mit folgenden Begriffen kennzeichnet: Selbstdramatisierung; extremer Narzissmus; wiederkehrende Gefühle einer feindlichen Verschwörung gegen ihn; die Fähigkeit, nach einem großen Kreuzzug zu rufen, der das Böse in der Außenwelt vernichten wird und die Welt von ihrer Sündhaftigkeit reinigen wird; ein tiefer Quell der Einsamkeit; häufige Rachephantasien und eine ausgeprägte Fähigkeit zur Abspaltung. (vgl. deMause, 2000a, S. 81) Weiter schreibt er: “Nach Ramsey Clarks Buch "The Children are Dying: The Impact of Sanctions on Iraq" brachte Clinton es durch sein Festhalten am Irak-Embargo fertig, eine Million irakische Kinder zu töten — fast so viele, wie jüdische Kinder im Holocaust getötet wurden! Die in den USA an Clinton übertragene Rolle scheint es zu sein, auf eine Weise für Menschenopfer zu sorgen, die unsere Schuldgefühle nicht hochkommen lässt: im Irak durch seine "unsichtbare" Kindstötung, in Jugoslawien durch die Konzentration auf die Vertreibungen der Kosovaren, die durch seinen Bombenkrieg erst richtig in Gang kamen, und sogar im Falle seiner eigenen Skandale, durch die er sich Amerika ein ganzes Jahr lang selbst als ein geeignetes Opfer präsentierte, das für unsere Sünden zu bestrafen sei.“ (deMause, 2000a, S. 77ff) Hinter Clintons „Skandalen“ steckt nach deMause im Privatbereich insbesondere seine Sexsucht und die damit verbundene jahrelange Demütigung seiner Ehefrau.

Wenn der Autor im „Parlament“ schreibt, dass die Studie von Frank wohl eher eine für Führungspolitiker allgemein "zutreffende" Analyse sei und sie deshalb nicht ernst zu nehmen ist, verwundert dies insbesondere auch in Anbetracht der Auswahl seiner Vergleichspersonen. (Vielmehr hätte der Autor Führungspolitikerinnen ausmachen müssen, die eine erwiesenermaßen glückliche und geborgene Kindheit hatten, die nicht misshandelt und/oder vernachlässigt wurden, sondern einfühlsam und mit Respekt behandelt wurden und die dann als Erwachsener (plötzlich) beschlossen, Krieg zu führen und tausende Menschen zu töten. Allerdings wird der Kritiker meiner Ansicht nach solche Politikertypen nicht finden!) Ich persönlich erschrecke mich eher, wenn mir gesagt wird, dass viele FührungspolitikerInnen offensichtlich eine destruktive Kindheit hatten (und diese wohl oftmals auch nicht aufarbeiten und verarbeiten) und mir stellt sich die Frage, ob die Macht auf der großen politischen Bühne nicht oftmals gerade die Menschen anzieht, die erhebliche Ohnmachtserfahrungen machen mussten. Sicherlich wirkte z.B. ein Schröder oder Fischer nicht annähernd so offen destruktiv wie ein Bush. Trotzdem zeigen sich natürlich – wie bei allen Menschen – deren Kindheitserfahrungen im späteren Verhalten. Warum sollte man das ausblenden?

Als nächstes fallen mir zu dem Thema Prostituierte ein. Laut verschiedenen internationalen Studien haben Prostituierte im Vergleich zu Kontrollgruppen oder der Gesamtbevölkerung im erheblicheren Maße sexuellen Missbrauch und auch körperliche Misshandlungen erlebt. (vgl. Zumbeck, 2001, S. 31ff) In manchen der Studien gaben die Prostituierten selbst an, dass sie einen Zusammenhang zu ihrem „Beruf“ und ihrer Missbrauchsgeschichte sehen. Die verschiedenen ForscherInnen kommen häufig zu dem gleichen Ergebnis.
Nun wird bei diesem Beispiel kaum jemand diesen festgestellten Zusammenhang mit dem Argument abstreiten wollen, dass ja auch unzählige andere Frauen in der Bevölkerung als Kind sexuell missbraucht und misshandelt worden sind und logischer Weise nicht allesamt zu Prostituierten wurden... Der Autor in „Das Parlament“ und viele andere argumentieren allerdings genau in dieser Weise, wenn es um gewalttätiges und gerade auch politisch gewalttätiges/destruktives Verhalten und entsprechenden Kindheitsgeschichten der ProtagonistInnen geht.
Wenn die destruktive Kindheit von Bush offensichtlich einen erheblichen Einfluss auf dessen Politik hatte, dann kann man diesen Umstand nicht damit abtun, dass andere Menschen mit ähnlichen Hintergründen nicht in gleicher Weise agieren. Wir leben schließlich in einer komplexen Welt. Misshandelte, ggf. traumatisierte Kinder wachsen in spezifischen und natürlich oftmals unterschiedlichen Kontexten auf. Gab es „helfende Zeugen“? Wie häufig und wie schwer wurden sie misshandelt? In welcher Form wurden sie misshandelt? In welchem Alter wurden sie misshandelt? Durch wen wurden sie misshandelt? Wurden die Misshandlungen therapeutisch aufgearbeitet? Zu welcher Zeit wuchsen die Kinder auf bzw. welcher Generation gehören sie an? In welcher Kultur, in welcher Schicht, in welchem Milieu usw. wurden sie groß? Welche Zufälle ergaben sich aus ihrem individuellen Lebensvollzug? Welches Geschlecht haben sie? Welche persönlichen Chancen und Möglichkeiten eröffneten sich ihnen aus angeborenen oder erlernten Fähigkeiten und Begabungen? Usw. usf. Unsere Welt ist komplex, natürlich. .
Sicherlich gab es z.B. verschiedene bedeutende gesellschaftliche Einflussfaktoren, die mit dazu führten, dass aus ehemals missbrauchten und misshandelten Frauen Prostituierte wurden. Zu allererst ist natürlich das Geschlecht ein wichtiger Einflussfaktor und entsprechende patriarchale Strukturen. Eine Frau aus der Oberschicht, die sexuell missbraucht wurde, wird zudem vielleicht unwahrscheinlicher in die Prostitution rutschen, als eine Frau mit ähnlichen Erfahrungen, die in der Unterschicht groß wurde und die durch ihr Umfeld oder Zufälle oder unbewusst herbeigeführte Zufälle auf Menschen traf, die mit diesem Milieu zu tun haben usw. Nur wer garantiert, dass sich aus dem Kontext der Frau aus der Oberschicht nicht andere destruktive Entwicklungsmöglichkeiten ergeben, die eben einfach eine andere Farbe annehmen und natürlich auch mit ihrer Kindheitsgeschichte in Zusammenhang stehen können?
Ein George W. Bush konnte z.B. nur zu einem amerikanischen „Kriegspräsidenten“ werden, da er u.a. in eine einflussreiche Familie und einen Kontext hineingeboren wurde, die und der ihm die gute Chance auf das Präsidentenamt erst erschloss (Fehlendes Mitgefühl muss eben auch mit großer Macht einhergehen, damit überhaupt großflächig destruktiv agiert werden kann). Der „Zufall“ der Ereignisse vom 11. September gaben ihm den Grund dafür, seine Destruktivität offen und scheinbar legitim auszuleben. Die Welt ist komplex, natürlich. Ein anderer Texaner, mit ähnlichen Machtmitteln und vergleichbarer Kindheit baut vielleicht ein Atomkraftwerk in einem Erdbebengebiet. Und dieser kann sich sicher sein, dass kein Analytiker wie z.B. Frank dieses Verhalten in einem Buch beleuchten würde...
Ich denke hier wird klar, dass ich die verschiedenen destruktiven Verhaltensweisen von Menschen nicht all zu sehr trenne, wenn es um die tieferen Ursachen geht. Viele SozialwissenschaftlerInnen würden wahrscheinlich aufschreien, wenn ich Prostituierte, Kriminelle, (mutwillige) Umweltzerstörer, Kindesmisshandler, Menschen mit selbstverletzendem Verhalten/Suchtverhalten usw. usf. und Menschen, die Kriege austragen in einen Topf werfe. Ich denke, man muss sich letztlich klar machen, dass keine Kindesmisshandlung/-vernachlässigung ohne Folgen bleibt und diese oftmals ein „Gift“ hinterlässt. Die „vergiftete“ Kindheit sucht später ihren Ausdruck in vielerlei Farben und Facetten, je nach Rahmen, Möglichkeiten, Machtmitteln und Zufällen. Gift kann logischerweise die Menschen selbst schädigen ggf. sogar umbringen oder wenn – wie deMause sagt – „Giftcontainer“ gesucht werden, andere Menschen (+ Tiere und die Natur) schädigen. Das Wissen um diese „zwei Richtungen“ (Gewalt gegen sich und/oder andere) und das Wissen um die unterschiedlichen Ausdrucksformen erlittener Gewalt ist wichtig, damit eben in der wissenschaftlichen Untersuchung unterschiedliches destruktives Verhalten auch erklärbar ist. Die Wurzeln dafür sind in der Kindheit zu suchen.
Zusätzlich zeigt sich auch in dieser Arbeit, dass so manches mal die Grenzen nicht so deutlich liegen. Ich denke da. z.B. an Stalin, der – wie oben dargestellt – erst eine kriminelle Karriere machte und dann Politiker/Kriegsherr wurde. Ich denke an einen George W. Bush oder auch einen Bill Clinton, die beide auch für eine Politik standen, die erheblich gegen den Umweltschutz wirkte, die Hilfsmaßnahmen und Unterstützung für Schwache (insbesondere auch Kinder und Sozialhilfeempfänger usw.) abbaute, die soziale Ungerechtigkeiten verstärkte, die militärischer Abrüstung entgegenwirkte usw. (vgl. Moore, 2003, S. 56ff + 251ff) Über George W. Bush wissen wir zudem, dass er zum Alkoholmissbrauch neigte. Über seinen Vater wissen wir, dass er zu Hause die Kinder vernachlässigte und schlug. Ebenfalls wurde in diesem Text dargestellt, wie NS-Täter neben der politischen Gewalt auch erhebliche Gewalt in ihren Familien ausübten. Usw. usf.
Hier verschwimmen die Grenzen zwischen privater und politischer Gewalt, zwischen der Zerstörung der Umwelt durch politische Entscheidungen und der militärischen Zerstörung vom „Feind“ (der Krieg schädigt zusätzlich natürlich immer auch die Umwelt), zwischen Selbstzerstörung und Fremdschädigung usw. Das Gift durchdringt eben den ganzen Menschen.

So manch einen Leser oder eine Leserin mag dieser Text sehr erschrecken und evtl. Gefühle der Hilflosigkeit, Wut und Ohnmacht auslösen. Das ist berechtigt, aber ich sehe diese Analyse auch als eine Chance und als ein Hoffungszeichen. Das faszinierende der in diesem gesamten Text vorgestellten Thesen und Abläufe ist für mich, dass diese uns Menschen eben nicht hilflos zurück lassen müssen sondern Hoffnung geben und Mut zur Initiative machen. Wir können eine friedlichere Welt schaffen, wenn wir für eine friedlichere Kindheit sorgen. Das ist der Schlussstrich, den mensch hier ziehen kann und der uns alle aufrütteln sollte.


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