Mittwoch, 9. Dezember 2020

Prostitution: Sind belastende Kindheitserfahrungen von Freiern auch eine Ursache dafür?

Bereits im Jahr 2013 schrieb ich in einem Blogbeitrag, der sich auf das Ausmaß von belastenden Kindheitserfahrungen von Prostituierten konzentrierte: „Zudem ist mir keine Untersuchung bekannt, die die Kindheiten von (männlichen) Zuhältern, Bordellbetreibern, Menschenhändler und auch von Freiern unter die Lupe nimmt. Dabei ist diese Gruppe ebenfalls von Interesse und auch die entsprechenden Kindheiten sind vermutlich alles andere als liebevoll verlaufen.“

Vielleicht gibt es dazu mittlerweile Studien (über Hinweise würde ich mich freuen)? Ich habe nicht die Kapazität, große Recherchen dazu zu unternehmen. Allerdings fand ich schon damals eine Studie, die einen Zusammenhang zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und Freiertum nahe legt.

Ich schrieb damals am Ende des eingangs verlinkten Beitrags (mit Bezug auf die erwähnte Studie): „Indirekt wurde in einer großen Studie, für die über 10.000 asiatische Männer befragt wurden und die im Kern eigentlich das Verbrechen Vergewaltigung erforschen wollte, ein Zusammenhang zwischen gewaltvollen Kindheiten von Männern und deren Gang zu Prostituierten festgestellt. 64 % der Vergewaltiger und 77 % der Gruppenvergewaltiger waren Freier, dagegen nur 30,8 % der Nicht-Vergewaltiger. Die Nicht-Vergewaltiger hatten allerdings auch die im Vergleich zu den Vergewaltigern deutlich gewaltfreieren Kindheiten. Beispielsweise hatten als Kind 58,7 % der Vergewaltiger und 60,5 % der Gruppenvergewaltiger körperliche Misshandlungen (also schwere Gewalt gegen das Kind) erlebt, dagegen "nur" 31,4 % der Nicht-Vergewaltiger. Ähnliche Zahlenverhältnisse zeigten sich beim sexuellen Missbrauch, emotionaler Misshandlung/Vernachlässigung und dem Beobachten von körperlicher Gewalt in der Familie.“

Ich möchte dieses Thema heute erneut aufgreifen.

Wieder ist es so, dass die Studienlage eher indirekte Hinweise bezogen auf die These liefert, dass belastende Kindheitserfahrungen mit „Sexkauf“ in einem Zusammenhang stehen. Aber diese Hinweise sind ziemlich deutlich und sollten zu weiteren direkten Forschungen führen.

In sogenannten „adverse childhood experiences“-Studien wurde herausgefunden, dass erhöhte Belastungen in der Kindheit (Misshandlungs-/Missbrauchsserfahrungen, Vernachlässigung, suchtkranke Elternteile usw.) mit einem Anstieg von sexuell riskanten Verhalten (z.B. viele Sexualpartner, früher Sex in Jugend, Sex ohne Kondom) in einem Zusammenhang stehen. (z.B. „Adverse childhood experiences andsexual risk behaviors in women: a retrospective cohort study“ + „Early Adversity and Sexual Risk in Adolescence: Externalizing Behaviors as a Mediator“ + „Adverse childhood experiences, gender, and HIV risk behaviors: Results from a population-based sample“) Warum das so ist, ist eine andere Frage. Da der Gang zu Prostituierten auch als „sexuell riskantes Verhalten“ bezeichnet werden kann, nehme ich an, dass diese Ergebnisse auch auf Freier übertragen werden können.

Eine Studie möchte ich dabei besonders hervorheben: Anderson, K. G. (2017): Adverse Childhood Environment: Relationship With Sexual RiskBehaviors and Marital Status in a Large American Sample. Evolutionary Psychology, April-June 2017: 15(2), 1–11.
17.530 Männer and 23.978 Frauen aus 13 US-Staaten im Alter zwischen 18-54 Jahren wurden dafür befragt. Innerhalb der Studie wurden auch diverse andere Studien besprochen, die Zusammenhänge zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und sexuell riskantem Verhalten sowie einer frühen geschlechtlichen Reifung fanden. Wichtiger aber noch ist die Fragestellung der Studie. Denn eine Frage beinhaltete bezogen auf eine potentielle AIDS-Erkrankung das riskante Verhalten bezogen auf die letzten 12 Monate vor der Befragung: intravenöser Drogengebrauch, Behandlung auf Grund einer Geschlechtskrankheit, bezahlen oder bezahlt werden für Sex oder Analverkehr ohne Kondom.

Leider wurde der Punkt „für Sex bezahlt oder bezahlt werden“ nicht gesondert aufgestellt, aber er war immerhin enthalten. Das Ergebnis ist recht eindeutig: Für Männer erhöhte jeder einzelne ACE-Wert (insgesamt 7 ACE-Werte) die Wahrscheinlichkeit für sexuell riskantes Verhalten. Für Frauen erhöhten jeweils 5 ACE-Werte (u.a. Misshandlungen und sexueller Missbrauch in der Kindheit) die Wahrscheinlichkeit für sexuell riskantes Verhalten. Insofern lässt sich aus den Ergebnissen der Studie schließen (wenn auch mit einigen Beschränkungen), dass belastenden Kindheitserfahrungen mit dem Bereich Prostitution insgesamt („Sexkauf“ oder für Sex bezahlt werden) in einem Zusammenhang stehen. (ganz ähnlich aufgebaut - mit der gleichen Fragestellung bezogen auf das, was als sexuell riskantes Verhalten definiert wird - war auch die bereits oben verlinkte Studie Adverse childhood experiences, gender, and HIV risk behaviors: Results froma population-based sample“ + die Ergebnisse gehen in die gleiche Richtung!)

Abschließend noch ein Gedanke: Wer sich allgemein mit den Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen befasst, wird schnell darauf stoßen, dass diese Erfahrungen die Wahrscheinlichkeit für Täterverhalten (inkl. häuslicher Gewalt gegen Frauen), verminderte Empathie und Moralvorstellungen, selbstschädigendes Verhalten, (Selbst-)Hass usw. erhöhen. Dass diese „Schablone“ auch auf Freier angewendet werden kann, ist mehr als naheliegend! Hat doch ihr Verhalten viel mit dem Ausblenden von Realitäten (dem Leid von Prostituierten), Hass, Bedürfnis nach Macht (oder bzgl. Sado Maso Fantasien auch mit inszenierter Ohnmacht), Kontrolle, Demütigungen von anderen Menschen, fehlender Selbstachtung und fehlender Moral zu tun. Ich bin davon überzeugt, dass das wissenschaftlich erwiesene hohe Ausmaß von leidvollen Kindheitserfahrungen von Prostituierten nur die eine Seite der Medaille ist. Die andere Seite beinhaltet höchst wahrscheinlich kindliche Ohnmachtserfahrungen der Freier, Zuhälter und Menschenhändler. Das soll deren Verhalten nicht entschuldigen, erklärt aber, wie man Prostitution präventiv verhindern kann: Mehr Kinderschutz und mehr Fürsorge und gute Lebensbedingungen für Kinder!

9 Kommentare:

Michael Thomas Kumpmann hat gesagt…

"wie man Prostitution präventiv verhindern kann: Mehr Kinderschutz und mehr Fürsorge und gute Lebensbedingungen für Kinder!"

Nein. Das wird so nicht funktionieren. Ganz ehrlich.

Dir ist wohl klar, dass der Sexualtrieb angeboren ist, es aber auch Männer gibt, mit denen ohne Bezahlung keine Frau Sex haben will.

Und an einem Markt ist es so, dass wenn irgendjemand bereit ist, für irgendwas zu zahlen, sich auch jemand findet, der dieses etwas gegen Bezahlung anbietet.

Natürlich wird es auch massenhaft Psychophaten geben, die damit Frauen schikanieren wollen. Aber es wird auch Leute geben, die deshalb zu Prostituierten gehen, weil sie ihre Bedürfnisse nicht anderweitig erfüllt kriegen.

Deshalb kriegt man durch bessere Kindererziehung vielleicht die Sadisten und Psychophaten weg. Die "Loser", die am "Sexuellen Markt" niemand abkriegen, bleiben aber erhalten.

Insbesondere da heutiges Dating nach extremkapitalistischen Prinzipien funktioniert und quasi die Regel hat "Nur die Besten sollen in der Liebe Erfolg haben, und der Rest soll bleiben, wo der Pfeffer wächst", wird es immer eine hohe Zahl an Versagern geben.

(Und ein Zeichen dafür, dass auch gerade die "sexuellen Versager" zu Prostituierten gehen, ist z.B. der Artikel, wo eine Prostituierte erzählt, dass sehr viele ihrer Freier weniger an Sex interessiert sind, sondern daran, jemanden zu haben, wo sie sich sachen von der Seele reden dürfen: https://www.cracked.com/personal-experiences-1490-5-ways-life-as-prostitute-nothing-like-you-expect.html Das hat mich auch was überrascht. Und ich denke ganz ehrlich, jemand, der als Psychophat Frauen quälen will, geht nicht hin und heult sich erstmal bei der betreffenden Frau aus.

Abgesehen gibt es auch spezielle Formen von Prostitution, die sich schwerpunktmäßig an Behinderte richten. Siehe dieser Spiegel Artikel: https://www.spiegel.de/gesundheit/sex/sexualbegleitung-edith-arnold-hilft-menschen-mit-behinderung-beim-sex-a-00000000-0003-0001-0000-000000710781 Wenn Prostitution nur vom Wunsch getrieben sei, Frauen zu quälen, würde es solche Spezialangebote für Behinderte nicht geben. Mir ist jedenfalls nicht bekannt, dass Behinderte überdurchschnittlich häufig das Bedürfnis haben, Frauen zu misshandeln. Falls Du da Gegenbeweise hast, würde mich das interessieren. ;) )

Feministinnen glauben scheinbar, dass Versager sich damit abfinden sollen, dass keine Frau sie will, und dann das Maul halten sollen. (Während Feministinnen solche Leute heimlich auslachen.)

Doch so etwas hat nie funktioniert. Liberale wie Ayn Rand haben auch den Armen gesagt, sie sollen sich damit abfinden, dass sie kein Geld haben, und es auch nicht besser verdient haben. Und Reiche hätten ein gutes Recht, den Armen nicht zu helfen.

Hat die Mehrheit auf solche Ratschläge und Moralpredigten gehört? Nein. Stattdessen haben Arme Streiks, Randale, kommunistische/linksanarchistische Bewegungen usw. organisiert, um ihre Situation zu verbessern.

Michael Thomas Kumpmann hat gesagt…

Das zeigt gut, dass feministische Moralpredigten von wegen "Männer die keine Frau abkriegen haben es auch nicht besser verdient", nicht funktionieren werden.

Deshalb, um Prostitution los zu werden, reicht es nicht, nur eine bessere Kindererziehung einzuführen (es sei denn, du kannst begründen, dass bei gewaltfreier Erziehung auch der "Erfolg" bei Liebe und Sexualität steigen würde). Man müsste auch was tun, um die Zahl der Verlierer im "Datingmarkt" merklich zu reduzieren. Und dazu bräuchte es einen Kulturwandel, der eine Dating Szene ermöglicht, die deutlich weniger von "Freiem Wettbewerb", "Konkurrenzkampf" und "Survival of the Fittest" dominiert wird.

Die neoliberale Idee des "Freien Wettbewerbs" wird nämlich immer nur eine klitzekleine Anzahl extremer Sieger und einen großen Haufen totaler Verlierer hervorbringen.

Und bitte nicht falsch verstehen: Das ist keine Verteidigung der Prostitution. Ich wäre echt froh, wenn Prostitution (insbesondere in ihrer heutigen Form) verschwinden würde. Nur sehe ich es so, dass wir leider eine Gesellschaft haben, deren Folge ist, dass Prostitution weiter existieren wird.

Michael Thomas Kumpmann hat gesagt…

Wahrscheinlich, wenn man eine Gesellschaft hätte, die nicht auf Konkurrenz und diesem "freien Wettbewerb" Scheiss aufgebaut wäre (z.B. wie der Frühsozialist Charles Fourier oder der Nationalbolschewist Eduard Limonov in "Das andere Russland" als Möglichkeit beschrieben), und wo es eher nach dem Prinzip "Du leidest darunter, keine Frau / keinen Mann für Dich zu finden. Ich helfe Dir, dass Du unter die Haube kommst" zu geht, statt "Du leidest darunter, keine Frau / keinen Mann für Dich zu finden. Da hast Du Pech gehabt. Erwarte bloß keine Hilfe, da Du es nicht besser verdient hast".

In so einer Gesellschaft bräuchte man keine Prostitution und so ein Scheiss würde schnell nur noch eine Fußnote der Geschichte sein.

Aber da man komischerweise gerade im Bereich der Sexualität und Liebe auf Radikalindividualismus und brutalstmöglichen Konkurrenzkampf setzt, wird man auch die Prostitution nicht weg kriegen. Einfach weil dieses System von freiem Wettbewerb immer Versager produziert.

Michael Thomas Kumpmann hat gesagt…

Was ich übrigens totalst scheinheilig finde, ist dass der moderne Feminismus Prostitution komplett verteufelt, aber gleichzeitig jede andere Form von Arbeit als Mittel zu Emanzipation und Selbstverwirklichung in den Himmel lobt. Ganz ehrlich. Manch eine erfolgreiche Prostituierte wird ein deutlich menschenwürdigeres Leben führen als z.B. ein Arbeiter in einer Uranmine in Westafrika.

Das war ein extrem wichtiger Punkt der früheren Linken, dass man Lohnarbeit als Ausbeutung und Entfremdung kritisiert hat. Nur seitdem die Feministinnen die dominante Fraktion in der politischen Linken sind, hat man leider die berechtigte Kritik an unfairen Arbeitsbedingungen über Board gekippt, und verherrlicht Arbeit jeglicher Art um jeden Preis.

Und bei Sachen wie Behindertenhilfe (die massivst feministisch geprägt ist) ignoriert man auch jegliche andere Notlage und Leiden des Behinderten und denkt sich "Wir geben ihm einen Job und fertig. Dann haben wir den armen Behinderten gerettet". (Und ignoriert dabei ob der jeweilige Behinderte wirklich nen 8 Stunden Job, oder den Job, den man für ihn aussuchte, freiwillig haben will. Man zwingt ihn quasi zu seinem Glück.)

Nur Prostitution nimmt man komischerweise von der feministischen Lobhudelei auf die Arbeit aus.

Sven Fuchs hat gesagt…

Michael, sicher ist es eine Illusion, die Prostitution an sich komplett abzuschaffen. Aber alle Schrauben, die dazu beitragen können, dass es weniger Prostitution gibt, sollten gedreht werden.

Du schreibst: "Die "Loser", die am "Sexuellen Markt" niemand abkriegen, bleiben aber erhalten."

Dann müssen sich die Loser halt bemühen, an sich arbeiten und sich verändern. Oder auch, ja, ohne Sex leben. Niemand sagt, dass das Leben einfach ist. Außerdem ist es nicht selten so, dass Freier sehr wohl auch freiwilligen Sex haben oder auch in festen Partnerschaften leben. Trotzdem gehen sie zu Prostituierten. Das Thema ist sehr komplex und ich sage nicht, dass ich Experte bin. Nur: Das Thema Kindheitseinflüsse scheint mir oft zu kurz zu kommen. Darauf wollte ich hinweisen.

Michael Thomas Kumpmann hat gesagt…

Ich leugne nicht, dass es sicher richtig viele gefährliche Freier gibt, die tatsächlich eher Leute schikanieren wollen. Ich glaube auch definitiv, dass die Mehrheit der Leuten, die zu Prostituierten gehen, ein psychisches Problem haben. (Dazu muss man sich nur einen Straßenstrich ansehen. Ich sag mal ganz ehrlich. Sex in so einer Situation ist wohl meistens eher eklig. Wer daran spaß hat, der wird wahrscheinlich echt ein Problem haben.)

Wie gesagt. Ich mag insbesondere die heutige Art der Prostitution definitiv nicht. (Ich sag deshalb "heutige Art", weil es im Altertum in manchen Kulturen Prostitutionsformen gab, wo die Prostituierten scheinbar deutlich mehr geachtet wurden, als heute. Deshalb will ich das lieber ausklammern.)

Ich bin definitiv dafür, die Prostitution so gut es geht zu reduzieren. Da bin ich vollkommen einer Meinung.

Ich halte definitiv die heutige Prostitution für ein Zeichen dafür, wie viel in unserer Gesellschaft schief läuft.

Und ich glaube auch, dass definitiv Kindheitseinflüsse eine Rolle bei dem Thema spielen.

Michael Thomas Kumpmann hat gesagt…

Was definitiv auch helfen würde, wäre der Jugend klar zu machen, dass Sex nicht so toll und so wichtig ist, wie man einem überall in Kultur und Medien eintrichtert. Und auch, dass das "erste Mal" nicht unbedingt das schönste Erlebnis aller Zeiten sein muss.

An dem Spruch "Our Youth is oversexed but underfucked" ist definitiv was dran.

Wahrscheinlich würde man das Prostitutionsproblem teilweise auch lösen, wenn man diese groteske Überhöhung des Sex beenden würde.

Michael Thomas Kumpmann hat gesagt…

"Dann müssen sich die Loser halt bemühen, an sich arbeiten und sich verändern. Oder auch, ja, ohne Sex leben. Niemand sagt, dass das Leben einfach ist"

Nimm mir das bitte nicht übel, aber das Argument ist eigentlich nichts weiter als das neoliberale Argument von wegen "Wer Arm oder Arbeitslos ist, ist nur zu faul, denn wenn man sich wirklich bemüht, dann kommt man an Geld und nen Job". (Siehe Klaus Beck, Guido Westerwelle etc.)

Natürlich ist es so, dass jemand der in einer Misere steckt, auch immer zum Teil selbst Schuld an seiner Misere hat. Es ist nicht nur die "böse Gesellschaft". Aber bei irgendwas zu sagen "Ihr seid nur selbst schuld und Gesellschaft und System laufen perfekt.", das ist auch was heikel.

Es gibt bei "menschlichem Elend" (egal um was es geht) viele Leute, die nur einen "Ordentlichen Tritt in den Arsch brauchen", damit sie "ihre Scheisse in Griff kriegen", aber es gibt auch viele, die es ohne Hilfe nicht schaffen.

Deshalb braucht es ne richtige Balance zwischen Eigenverantwortung und Solidarität.

Sven Fuchs hat gesagt…

Dem brauche ich nichts mehr hinzuzufügen, Michael :-)