Nur wenige Tage nachdem der Rechtsterrorist Brenton Tarrant einen Massenmord in Christchurch (Neuseeland) an vorwiegend muslimischen Menschen verübt hatte, schrieb ich einen Beitrag über seine Kindheit. Ich mahnte, dass wir in Bezug auf Tarrants Satz in seinem Manifest „I had a regular childhood, without any great issues“ vorsichtig sein sollten. Bereits Anders Breivik (Vorbild für Tarrants Tat) hatte seine Kindheit in seinem Manifest idealisiert, obwohl er nachweisbar eine extrem traumatische Kindheit hatte.
Am 08.12.2020 wurde der „Report: Royal Commission of Inquiry into the terrorist attack on Christchurch masjidain on 15 March 2019“ online veröffentlich (aktualisiert wurde der Report am 10.12.)
Im „Chapter 2: The individual’s upbringing in Australia“ finden sich einige Details über Tarrants Kindheit und Familie, die mir vorher nicht bekannt waren. In meinem Text aus dem Jahr 2019 äußerte ich bereits die Vermutung, dass weitere Belastungen in seiner Kindheit zu finden sein werden. Seine Tat war derart kalt, grausam und im Grunde unvorstellbar, so etwas tun Menschen nicht, nur weil sie Trennungskinder sind und in der Schule gemobbt wurden. Da musste mehr passiert sein.
Das für mich wichtigste neue Detail ist, dass Tarrants Mutter nach der Trennung von ihrem Mann (wobei der genaue Zeitraum der Trennung nicht klar ist; Brenton soll zwischen 7 und 10 Jahre alt gewesen sein) mit einem gewalttätigen Partner zusammenkam!
Brenton und seine Schwester lebten nach der Trennung der Eltern zunächst bei ihrer Mutter. Brentons Mutter sagte nach der Tat ihres Sohnes aus, dass ihre Kinder durch die Trennung der Eltern, aber auch durch den Verlust ihres Hauses durch einen Brand und den Tod des Großvaters traumatisiert wurden (vgl. S. 168). Das Verhalten ihres Sohnes hätte sich nach der Trennung stark verändert, er sei vor allem sehr ängstlich geworden (Brenton selbst sagte ebenfalls aus, dass er ein sehr ängstliches Kind gewesen sei). Vermutlich wird nicht nur die Trennung Auslöser für die starken Ängste gewesen sein, denn der neue Partner der Mutter war gewalttätig, sowohl gegen die Kinder als auch gegen die Mutter:
„That relationship was violent, with the new partner assaulting Sharon Tarrant and the children. An apprehended violence order was taken out against his mother's partner to protect the individual. Lauren Tarrant, and later the individual, went to live with their father“ (S. 168).
Für Brenton Tarrant bedeutete dies gleich zwei belastende Kindheitserfahungen: Selbst erlittene Gewalt und das Miterleben von häuslicher Gewalt gegen Mutter und Schwester. Dies sind traumatische Erfahrungen für ein Kind.
Ab dem 12. Lebensjahr habe Brenton laut Aussagen seiner Schwester stark an Gewicht zugenommen, was ihn zur Zielscheibe für Mitschüler machte. Er wurde in der Folge in der Schule gemobbt und hatte kaum soziale Kontakte oder Freunde. Bereits ab ca. den 6. oder 7. Lebensjahr verbrachte Brenton viel Zeit mit Computerspielen. Als Kind hatte er auch einen unkontrollierten Zugang zum Internet in seinem Zimmer. Er verbrachte immer mehr Zeit im Internet oder mit Computerspielen, was man wohl als Flucht vor der Realität deuten kann. Die Eltern scheinen hier nicht eingegriffen und Alternativen angeboten zu haben. Insofern deute ich dies auch als ein Zeichen für elterliche Vernachlässigung (wobei das Wort Vernachlässigung in dem Bericht nicht erwähnt wird).
Als Brenton ca. 16 oder 17 Jahre alt war, wurde Krebs bei seinem Vater diagnostiziert, was auch die Kinder, die ja aus der mütterlichen Wohnung zu ihrem Vater geflohen waren, schwer belastete. Der Vater wurde zudem depressiv. „After the diagnosis Rodney Tarrant became increasingly depressed and his children did not cope well“ (S. 169). Die Gesundheit des Vaters verschlechterte sich so weit, dass er Palliativpflege brauchte. Im April 2010 brachte sich der Vater um (Brenton muss zu der Zeit ca. 20 Jahre alt gewesen sein). Brenton soll den leblosen Vater entdeckt haben und er schein evtl. auch in die Suizidabsichten des Vaters eingeweiht gewesen zu sein. Die Vermutung steht laut dem Report im Raum, dass Brenton seinen Vater beim Selbstmord unterstützt hat. Fest steht, dass der Tod des Vaters eine große Belastung für Brenton war.
Die psychische Situation von Brenton Tarrant wird an einer Stelle recht gut zusammengefasst:
„As the individual grew older, he told his sister that he thought he was autistic and possibly sociopathic. He also said that he did not care for people, including his own family, but knew that he should. His friendships with those outside his family were limited and we have seen no evidence that the individual was involved in sustained romantic or sexual relationships“ (S. 170).
Die Belastungen in Kindheit und Jugend werden auf Grundlage dieses Berichts mehr als deutlich. Für mich steht weiterhin die Frage im Raum, wie der Erziehungsstil der biologischen Eltern war. Haben auch sie (manchmal) Gewalt angewandt? Waren sie liebevoll und zugewandt oder das Gegenteil davon? Wir wissen es nicht.
Was für sich fest steht ist, dass die Mutter-Sohn-Beziehung einen schweren Bruch erlitten hat. Sie war es, die einen gewalttätigen Mann in ihrem Haus gewähren ließ. Sie selbst erlitt Gewalt und ihre Kinder gleichfalls. Aus unserer erwachsenen Perspektive wissen wir um all die Schwierigkeiten, die von häuslicher Gewalt betroffene Frauen haben. Viele dieser Frauen haben auch als Kind selbst Gewalt erlitten (ob dies auch bei Brentons Mutter so war?). Solche Partner einfach rauszuschmeißen fällt diesen betroffenen Frauen, die ja oftmals auch massiv eingeschüchtert werden, nicht immer leicht. Kinder aber können die Situation nicht neutral erfassen und bewerten. Für sie ist es immer ein mütterlicher Verrat, wenn die Mutter keinen Schutz vor der Gewalt ihres Partners leisten, geschweige denn sich selbst schützen kann. So etwas hinterlässt immer tiefe Risse in der Beziehung zueinander.
Abschließend noch der Hinweis, dass derartige Taten in der Regel von Männern verübt werden (von 172 vom „The Violence Project“ untersuchten Massenmördern in den USA waren nur 3 weiblich!). Frauen haben eher andere Wege, um solche kindlichen Belastungen auszudrücken (z.B. Selbstverletzung, Misshandlung der eigenen Kinder, psychosomatische Beschwerden usw., was im Übrigen auch für viele belastete Männer gilt, denn die meisten von ihnen werden keine Massenmörder). Traditionelle Männlichkeitsbilder und entsprechende Strukturen tragen sicher ihren Teil dazu bei, dass Massenmorde Männersache sind. Die Welt ist komplex und viele Einflussfaktoren müssen in Betracht gezogen werden. Aber: Der Fall Brenton Tarrant zeigt – mal wieder – eindrucksvoll auf, dass als Kind geliebte, gewaltfrei und fürsorglich behandelte Menschen keine Massenmörder werden. Der Fall zeigt aber auch auf, dass Prävention nicht nur bedeutet, solche Belastungen für Kinder zu verhindern, sondern auch, dass psychosoziale Hilfen greifen müssen, wenn Kinder solchen Belastungen ausgesetzt sind. Wer weiß, wenn Brenton Tarrant frühzeitig Hilfen bekommen hätte, vielleicht wäre all das Grauen dann nicht passiert. Das ist eine von vielen Lektionen, die wir aus diesem Fall ziehen können.
1 Kommentar:
War Tarrant nicht auch der, der den Begriff Akzelerationismus populär machte?
(Nur zur Info: Akzelerationismus bedeutet soviel wie "Die Welt geht unter. Als Reaktion darauf, dass gerade die Welt untergeht, müssen wir alles dafür tun, den Weltuntergang noch zu beschleunigen". Selbst 99 Prozent der übelsten Neonazis hassen diese Ideologie und sehen Akzelerationisten als gemeingefährliche Psychophaten an.
Ich meine mich erinnern zu können, dass der in seinem Manifest mehrfach sich selbst als einen solchen bezeichnet hat. Kann aber sein, dass ich den mit nem anderen Amokläufer verwechselt habe.)
Kommentar veröffentlichen