In dem Band „Die SS: Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe“ finden sich, wie der Titel schon sagt, 30 Lebensläufe von hochrangigen SS-Männern. Kürzlich hatte ich den Band bereits als eine Quelle für die Kindheit von Gestapochef Heinrich Müller verwendet. Die Beiträge ersetzen keine komplette Biografie, das gibt der kurze Rahmen nicht her, aber sie geben einen guten Überblick über die Akteure. Neben Heinrich Müller fand ich nur bei 2 weiteren SS-Männern, mit denen ich mich bisher nicht befasst hatte, Auffälligkeiten bzgl. deren Kindheit. Und zwar bei diesen beiden:
Wilhelm Bittrich (hochrangiger SS-Kommandeur) wurde am 26.02.1894 geboren. Im März 1895 starb seine Mutter. Der Vater heiratete erneut. „Des jungen Wilhelm Kindheit war freudlos; es gab mehr Schläge als Brot. Er verließ das Elternhaus und wuchs bei einem Verwandten, einem tüchtigen Handwerksmeister, auf (…)“ (Mühleneisen, H. (2000): Wilhelm Bitterich. Ritterlicher Gegner und Rebell. In: Smelser, R. & Syring, E. (Hrsg.): Die SS: Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe. Verlag Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn: S. 77.)
Bzgl. Erich von dem Bach-Zelewski (hochrangiger SS-Mann) fand ich in der verwendeten Quelle im Grunde fast nichts über seine Kindheit. Allerdings ist ein schweres Trauma belegt: Als er 10 Jahre alt war, starb sein Vater (Angerick, A. (2000): Erich von dem Bach-Zelewski. Himmlers Mann für alle Fälle. In: Smelser, R. & Syring, E. (Hrsg.): Die SS: Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe. Verlag Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn: S. 28.) Ein Gutsbesitzer nahm sich seiner als Pflegesohn an.
Einzelne andere Akteure, die in dem Band besprochen wurden, stammen aus Familien mit militärischer Tradition, aber daraus lässt sich nur vermuten, wie die Erziehung ausgesehen haben könnte. Hinweise geben die Biografen nicht.
Was ich spannend fand waren die Berichte in dem Band über die Akteure, mit denen ich mich schon ausführlich befasst habe: Reinhard Heydrich, Werner Best, Adolf Eichmann, Heinrich Himmler, Rudolf Höss und Ernst Kaltenbrunner.
In dem Beitrag über Reinhard Heydrich finden sich überhaupt keine Berichte über Belastungen in seiner Kindheit, entgegen dem, was ich für mein Buch recherchiert habe. Was allerdings neu für mich war ist, dass Heydrich während seiner Zeit beim Militär (ab dem 18. Lebensjahr) ein Außenseiter ohne Freunde war, der von Kammeraden gehänselt wurde (Sydnor, C. (2000): In: Smelser, R. & Syring, E. (Hrsg.): Die SS: Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe. Verlag Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn: S. 210) Dies sind zwar keine Belastungen im Kindesalter, aber sie knüpfen nahtlos an all die Belastungen in seiner Kindheit und Jugend an, die ich recherchiert habe.
Bzgl. Werner Best wird in dem Band (von Fritz Petrick) nur kurz der Tod des Vaters geschildert, aber nicht die Belastungen, die daraus folgten. (siehe meinen Beitrag im Blog über Werner Best)
Der Beitrag über Adolf Eichmann (von Hans Safrian) hat mich insofern nicht verwundert, weil – wie so oft, wenn es um Eichmann geht – die autoritäre, strenge Erziehung in seinem Elternhaus ausgeklammert wurde. Was mich dann doch gewundert hat ist, dass der Autor den frühen Tod von Eichmanns Mutter nicht erwähnte.
Bzgl. Heinrich Himmler erwähnt der Autor Johannes Tuchel immerhin mit einem Wort die autoritär-konservative Erziehung, die Heinrich erlebt hat. Leider bleibt es bei dieser Erwähnung ohne ergänzende Anmerkungen. (ausführliches über seine Kindheit in meinem Buch)
Der Beitrag von Gunnar Boehnert über Rudolf Höß ist da schon deutlicher: Die strenge Familie wird erwähnt, ebenso der Vater, der eiserne Disziplin forderte und kaum Gefühle gegenüber dem Sohn zeigte. Auch die Zeit als „Kindersoldat“ wird erwähnt (Höß ging bereits als 15-Jähriger zum Militär und kam bald darauf an die Front). Andere Belastungen wie z.B. der frühe Tod der Mutter bleiben unerwähnt.
Was ich aufschlussreich finde ist, dass gerade in diesem Beitrag, in dem doch im Grunde mit Deutlichkeit auf belastende Kindheitshintergründe eingegangen wird, der Autor sich den Raum dafür nimmt, sozialpsychologische Arbeiten zu besprechen (inkl. dem Milgram-Experiment) und er gleichzeitig keinen einzigen Wink in Richtung Kindheit von Höß gibt. Das ist etwas, was ich immer wieder bei meinen Recherchen fand. Die Biografen sehen belastende Kindheitshintergründe und schauen doch und trotzdem an ihnen vorbei. Das ist paradox, aber es ist leider auch Routine.
Der Beitrag über Ernst Kaltenbrunner von Peter Black reiht sich dann wieder in Nichts-Sagen über die Kindheit ein: Weder der gewalttätige Vater, noch die 5-jährige Verschickung in eine Schülerpension (mit strenger Gastmutter) werden erwähnt. Beides scheint für den Autor also keine gewichtige Info zu sein. Aufschlussreich ist auch hier erneut, dass ich mich bei der Recherche über Kaltenbrunners Kindheit auf die Kaltenbrunner-Biografie geschrieben von Peter Black bezogen habe, der – wie oben erwähnt – auch Autor des Beitrags in dem Band über den SS-Mann Kaltenbrunner ist.
Was der Band „Die SS: Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe“ überdeutlich für mich zeigt ist, dass man nicht voreilige Aussagen treffen sollte, wenn es um Kindheitserfahrungen von NS-Tätern geht. Wenn man alle 30 Beiträge auswertet, würde man zu dem Schluss kommen, dass es bzgl. der Kindheiten der meisten Akteure fast keine Auffälligkeiten gibt. Gleichzeitig wird aber auch nicht nachgewiesen, dass diese Akteure liebevoll, unbelastet und gewaltfrei aufgewachsen sind.
Der Band zeigt somit eindrucksvoll auf, dass belastende Kindheitserfahrungen für die Biografen und Historiker oft keine zentrale Rolle spielen. Entsprechend ziehen sie auch keine Verbindung zwischen diesen Kindheiten und dem mörderischen Verhalten der später Erwachsenen in Betracht.
Meine Recherchen über NS-Täter haben dagegen gezeigt, dass man viele wertevolle Informationen über die Kindheitshintergründe finden kann, wenn man denn genau hinsieht, was die Biografen – oft nebenbei oder nebensächlich erwähnt – berichten.
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