Donnerstag, 30. Dezember 2021

"Kindheit ist politisch": Zwei Jahrbücher für psychohistorische Forschung zu verschenken!

Das neue Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 21 ist draußen. Der Titel lautet: 

Kindheit ist politisch – Die Bedeutung der frühen Kindheit für die Konflikt- und Handlungsfähigkeit in der Gesellschaft.

In dem Jahrbuch sind viele Vorträge der diesjährigen Jahrestagung verschriftlicht. 

Ich habe zwei Exemplare zu verschenken! Bitte Email an mich, ich werfe dann Mitte Januar alle Namen in einen Topf und ziehe blind zwei.

Für das Jahrbuch habe ich zwei Beiträge verfasst: 

"Kindheitsursprünge von politischer Gewalt und Extremismus. Oder: Die Kindheit ist politisch!

und

"Kindheit in Afghanistan und der nie enden wollende Krieg und Terror"






Freitag, 17. Dezember 2021

Hitlers Heerführer - Lebenswege von 25 NS-Akteuren und Details über Kindheit und mögliche Traumaerfahrungen

 „Hitlers Heerführer - Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42“ (2007, R. Oldenbourg Verlag, München) von Johannes Hürter ist ein Buch, das auf den ersten Blick nicht viel über Kindheitshintergründe und potentiell traumatische Erfahrungen der hohen NS-Militärs bietet. Beim genaueren Hinsehen erschließen sich allerdings einige interessante Details! 

25 NS-Oberbefehlshaber wurden hier systematisch durchleuchtet:
Fedor von Bock, Ernst Busch, Eduard Dietl,  Nikolaus von Falkenhorst, Heinz Guderian, Gotthard Heinrici, Erich Hoepner, Hermann Hoth, Ewald von Leist,  Günther von Kluge, Georg von Küchler, Wilhelm Ritter von Leeb, Georg Lindemann, Erich von Lewinski gen. Manstein, Walter Model, Friedrich Paulus, Walter von Reichenau, Hans-Georg Reinhardt, Gerd von Rundstedt, Richard Ruoff, Rudolf Schmidt, Eugen Ritter von Schobert, Adolf Strauß, Carl-Heinrich von Stülpnagel und Maximilian Freiherr von Weichs. 

Die Geburtsdaten der Akteure schwanken zwischen ca. 1875 und 1891. 

92 % der Akteure stammten aus den damals „erwünschten Kreisen“, um einen hohen militärischen Rang einnehmen zu können: Die Väter der Akteure waren Offiziere, höhere Beamte, Gutsbesitzer oder Akademiker. Wobei mit 60 % die meisten Väter der Akteure Offiziere waren. Ich mutmaße alleine auf Grund dieser Zahl, dass ein entsprechender Anteil der Akteure auch in der Kindheit in ihrer Familie sehr militärisch geprägt wurde und entsprechende Erziehungsmethoden vorherrschten. 

Auch die Daten zur Schulbildung bringen einige Erkenntnisse zu Tage. 60 % (N= 15) der Akteure besuchten als Kind ein humanistisches Gymnasium, 40 % (N= 10) besuchten ein Kadettenkorps. 

Die 10 Kadettenschüler waren Fedor von Bock, Ernst Busch, Nikolaus von Falkenhorst, Heinz Guderian, Hermann Hoth, Günther von Kluge, Erich von Lewinski gen. Manstein, Gerd von Rundstedt, Rudolf Schobert und Eugen Ritter von Strauß. 

Wie es dort zuging, beschreibt Hürter wie folgt:
Die Kadettenhäuser (…) waren militärisch geführte, straff organisierte Internatsschulen, auf denen Kinder und Jugendliche nach strengen Regeln und weitgehend abgeschottet von der Außenwelt die für den Offiziersnachwuchs als ideal angesehene Erziehung und Schulbildung erhalten sollten. Die Kadettenanstalt wurde mit guten Gründen  als `totale Institution` beschrieben, deren Normen sich der Zögling vollständig unterwerfen musste, wenn er nicht ausgesondert werden wollte. (…) Die Erziehung war in der Regel hart, besonders in den Voranstalten. “ (S. 42). Die Erziehung war von Begriffen wie "Ehre", "Pflicht", "Gehorsam", aber auch "Verantwortung" geprägt.  

Johannes Hürter zitiert u.a. aus dem autobiografischen Roman „Die Katetten“:
Sie sind hier, um Sterben zu lernen. Alles, was Sie bisher erlebten, sahen und begriffen, haben Sie zu vergessen … Sie haben von nun an keinen freien Willen mehr; denn Sie haben gehorchen zu lernen, um später befehlen zu können“ (S. 42f.)
Der Autor zitiert auch den Heeresführer Herman Hoth: „Die Erziehung als Kadett wurde entscheidend für meine ganze innere Entwicklung. Ich habe hier in 8-jähriger Gemeinschafts-Erziehung eine glühende Liebe zum Soldatenberuf in mich aufgenommen, nicht durch Soldatenspielerei, sondern durch das Beispiel meiner militärischen Erzieher u. einen vorzüglichen Unterricht, der auf geschichtlichem Bewusstsein ruhte. Gewiss haben diese Jahre, die unter dem Zwang standen, mich sehr früh u. sehr eng in eine Gemeinschaft einordnen zu müssen, in mir das Gefühl für Disziplin, Gehorsam, Zurückstellung eigener Wünsche u. Ansichten besonders stark gefördert. Eine gewisse Überschätzung des Autoritätsglaubens, die in diesen Jahren ihren Ursprung hat, habe ich nicht mehr ganz verloren“ (S. 45f.) 

Jahrelange Erziehung in solchen Anstalten prägen und – davon gehe ich aus – traumatisieren die Kinder und Jugendlichen auch. Diese Erziehung gilt wie gesagt für 40 % der untersuchten Akteure!

Aber auch an den damaligen Gymnasien ging es rau und streng zu, wenn auch sicher nicht in dem Ausmaß, wie an den Kadetteneinrichtungen: „Die Stellung des Humanistischen Gymnasiums als Verteidigerin der Tradition gegen die Moderne besaß auch einen politischen Aspekt. Sie stützte die konservative bürokratische und akademische Klientel gegen fortschrittlich-liberale Kräfte des Bürgertums und erst recht gegen alle `Reichsfeinde`. Besonders im Wilhelmischen Deutschland verstärkten sich die autoritären und nationalistischen Züge. An der Loyalität gegenüber Kaiser und Reich gab es ohnehin keinen Zweifel. Die Schüler trugen uniforme Jacken und Mützen, die Disziplin war in der Regel streng, Sedantage und Kaisergeburtstage wurden mit Pathos gefeiert“ (S. 39).

Dazu kam mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine strenge, autoritäre Erziehung im Elternhaus, was der Autor allerdings weder im Allgemeinen, noch direkt auf die 25 untersuchten Akteure beschreibt. Die Geburtsdaten der Akteure und das bekannte Wissen um damalige Erziehungspraktiken und -einstellungen lassen allerdings viel erahnen.   

Dazu kommen vermutlich auch Traumatisierungen im Ersten Weltkrieg. Alle 25 Akteure waren „vom ersten bis zum letzten Kriegstag“ im Dienst und bestanden die „große Überlebens- und Bewährungsprobe des Ersten Weltkriegs“ (S. 70). 

Diese Akteure führten später Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion. 

Ich selbst habe in meinem Blog bereits die belastete Kindheit von Friedrich Paulus (einem der 25 hier untersuchten Führer) besprochen. Paulus besuchte keine Kadettenschule. Dies zur Ergänzung. 



Donnerstag, 16. Dezember 2021

Mein Interview mit Nick Greger

Ich habe heute ca. 1 ½ Stunden mit Nick Greger (online) gesprochen. Er hatte mich auf Grund meines Blogbeitrags ("Die angeblich harmonische Kindheit des Ex-Neonazis Nick W. Greger und meine Anmerkungen dazu") über ihn angeschrieben und sich bereit erklärt, sich meinen Fragen zu stellen, was ich dankend annahm. 

Wir haben über sehr vieles gesprochen. Wir sind fast gleichalt und ich fand schnell Draht zu Greger, der sehr offen und redegewandt ist. Wir haben auch etwas abgestimmt, über was ich dann öffentlich berichten kann. Ich bin kein Journalist oder ähnliches und fand es großartig, diese Gelegenheit zu bekommen. 

Nick Greger hat im Prinzip sehr viel von dem bestätigt, was er schon kurz in seiner Autobiografie ausgeführt hatte. Er erlebte seine Familie als harmonisch und zugewandt. Es gab keine Körperstrafen, keinen Suchtmittelmissbrauch, keine schweren Konflikte zwischen den Eltern oder ähnliche Belastungen. 

Eine für mich neue Info darf ich hier erwähnen: Seine Mutter war gerade einmal 16 Jahre alt, als Nick geboren wurde. Sie wurde im Alter von 15 Jahren schwanger. Dies sei so geplant gewesen. Nicks Vater war einige Jahre älter und konnte die junge Familie finanziell stemmen. Seine Mutter sei damals bereits sehr reif und verantwortungsvoll gewesen. 

Was auffällt ist, dass Nick ebenfalls im Alter von 15 Jahren „ausbrach“ und einfach seine Familie verließ, um in Dresden zu wohnen. Ich sehe da eine gewisse Parallele zu seiner Mutter und ihrem „Ausbruch“ aus der Norm durch die frühe Schwangerschaft.

Das Thema „Ausbruch“ aus dem kleinen Ort, der ihm nicht viel bot und ihn einengte, war auch Nicks Lebensthema als Jugendlicher. Der Anschluss an die kleine rechte Gruppe im Ort war zunächst quasi Mittel zum Zweck und nicht ideologisch bedingt (was viele Ehemalige so oder so ähnlich berichten). Die Ideologie kam natürlich später dazu. 

Ich habe Greger gegenüber sehr deutlich gemacht, dass ich trotzdem vorsichtig mit seinen Angaben über seine Kindheit bin und skeptisch bleibe. Es ist für jeden Menschen schwer, objektiv auf die eigene Kindheit zu schauen. Ich glaube ihm aber auch den Grundrahmen seiner Kindheit, den er sehr deutlich und klar gemacht hat. 

Ich kann den "Fall Greger“ einfach für sich so stehen lassen. Meine Datensammlungen zeigen, dass die allermeisten Extremisten als Kind destruktiven Bedingungen ausgesetzt waren. Bzgl. Prävention und Ursachenanalyse bleibt dies ein gewichtiger Faktor. 


Dienstag, 14. Dezember 2021

Kindheit des ehemaligen Skinheads und Rassisten Arno Michaelis

My Life After Hate“ heißt die Autobiografie (erschienen 2010: La Prensa de LAH, Milwaukee) des ehemaligen Skinheads und Rassisten Arno Michaelis. Er schreibt nicht viel über seine Kindheit. Das, was er schreibt, ist allerdings überdeutlich und spricht für sich selbst. Ganz „klassisch“ ist hier auch, wie er seine Kindheitserfahrungen in ihrer Wirkung für sein Leben ausklammert bzw. relativiert und im selben Part über Schilderungen über seine Kindheit (z.B. eine dysfunktionale Familie und Alkoholismus des Vaters) anhängt, er wäre sehr von seinen Eltern geliebt worden:  

Yeah, there were issues at home; dysfunction that paled in comparison to the billions of people on this planet with real problems that was nevertheless catastrophic to me. But looking back I don’t see any valid excuse for how fucked-up I turned out.
In the movies I would have been physically beaten by parents and/or ghetto thugs while clawing out survival from an impoverished hovel, like many of my comrades were to one degree or another. But in real life I grew up in a nice house in a nice neighborhood and never went hungry or took a beating. My parents loved me dearly, but that made my dad’s drinking and their subsequent fighting a constant hurt that drove me to lash out, denying their love for me and filling that void with hate.
In the absence of love’s light, hate can be exciting, seductive. It beckons you and sends torrid, empty power coursing through your veins. At first you think you can dabble. Just for kicks. Just a bit of entertainment to ripple the excruciating monotony of your disdain for the world. You blink, and you’re covered in someone’s blood. Another blink and the doors of your cell are slamming shut
“ (S. 29).

Für das „Forgiveness Project“ hat er auch online etwas über seine Kindheit geschrieben:
I grew up in an alcoholic household where emotional violence was the norm and as a kid who was told I could achieve anything, I reacted to that emotional violence by lashing out and hurting people. I started out as the bully on the school bus, and by the time I was in middle school I was committing serious acts of vandalism.
As a teenager I got into the punk rock scene which for a while was the ultimate outlet for my aggression. But, like any other addiction, my thrill seeking needed constant cranking up, so when I encountered racist skinheads I knew I’d found something far more effective. I joined up for the kicks and to make people angry.“



Montag, 13. Dezember 2021

Drei Jahre „Die Kindheit ist politisch!" - Rückblick und Ausblick

Kinder, wie die Zeit vergeht! Ich wollte eigentlich auf zwei Jahre „Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen“ zurückschauen. Dann merkte ich: es sind ja schon drei Jahre rum… Gut, na dann also drei. Es ist viel passiert seitdem. 

Fange ich zunächst so an: Die Thesen in meinem Buch sind im Grunde nicht neu und im Kern sage ich einfach: „destruktive Kindheitserfahrungen haben destruktive Folgen“. Auch die Übertragung auf das Politische ist nicht neu (auch wenn es nach meiner Googelabfrage im deutschsprachigen Raum das Wortpaar „Kindheit ist politisch“ vor meiner Arbeit nicht gab: Warum eigentlich nicht?). Ich habe ja auch das Rad nicht neu erfunden, was schon allein das umfangreiche Quellenverzeichnis im Buch deutlich macht. 

Neu ist die reine Masse und Dichte an Informationen und Empirie. Neu ist insbesondere auch die Masse an Biografieforschung bezogen auf politische Akteure. Es gab vorher meines Wissens nach keine Einzelarbeit, in der derart viele Kindheitsbiografien von Diktatoren, politischen Führern, Extremisten und NS-Tätern systematisch aufgestellt wurde. Vor allem alleine letzteres, die Kindheiten der NS-Täter, hätte zu einer breiten öffentlichen Diskussion anregen können. Aber auch das Aneinanderhängen von allgemeinen Arbeiten aus der Extremismusforschung bzgl. Kindheitshintergünden habe ich in der Form noch nirgends vorher gesehen (und in meinem Buch war ich sogar erst am Anfang, mittlerweile habe ich 32 Studien und Einzelarbeiten gefunden, innerhalb derer Kindheiten von rechten Gewalttätern bzw. Rechtsextremisten besprochen wurden!).

Ich fühlte und fühle mich mit diesem Buch so, als ob ich die „Zündschnur“ für eine Art „Bombe“ entzündet hätte und wöchentlich mit der „Explosion“ rechne. Es ist nicht ganz einfach, sich so zu fühlen (aber ich komme klar, keine Sorge!). Gleichzeitig weiß ich um die Mängel des Buches (ich bin kein bekannter Fachmensch mit akademischen Verdiensten, was eine allgemeine Aufmerksamkeit erschwert; zudem einige Formmängel im Buch, vielleicht hätte man auch einiges straffen können, letztendlich fehlte im Rückblick ein umfangreiches, professionelles Lektorat, das sich nur größere Verlage so leisten können). Und ich weiß um die emotionalen Hürden, weil das Sprechen über destruktive Kindheitserfahrungen und deren Folgen stets individuelle und öffentliche Scheuklappen aktiviert (ich habe auch einige Bekannte, die von mir mein Buch erhalten haben und nie wieder darüber gesprochen haben. Was ich auch verstehen und so stehen lassen kann, weil das Buch reines „Feuer“ ist und die Gefahr besteht, dass man sich emotional "verbrennt"…). 

Durch meinen Verlag wurde mein Buch 2020 auch für den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch und für den Preis "Das politische Buch" der Friedrich-Ebert-Stiftung vorgeschlagen. Für beide Preise hatte ich mir keine großen Hoffnungen gemacht. Allerdings wird bei der Preisverleihung der Friedrich-Ebert-Stiftung i.d.R. auf 3-5 Bücher gesondert verwiesen und in der entsprechenden Pressemitteilung eine Empfehlung dafür herausgegeben. Ich hatte gehofft, hier genannt zu werden, was leider nicht der Fall war…
Für sein Buch „Deutschland rechts außen. Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können“ erhielt also 2020 der Rechtsextremismusforscher Matthias Quent den Preis für „Das politische Buch“. Dies sei ihm gegönnt! Er verfügt über eine sehr gute Vita und sein Verlag war Piper. Wie wir die Rechten und andere Extremisten langfristig und nachhaltig stoppen können, das fand man allerdings nicht in Quents Buch, sondern nach meinem Ursachenverständnis in meinem. Ich hoffe sehr, dass dies gesellschaftlich zukünftig mehr gesehen und besprochen wird. 

Die „Explosion“ blieb also aus. Auch wenn es einige kurze Höhenflüge gab, so z.B. als die Journalistin Caroline Fetscher im Tagesspiegel mein Buch besprochen hat. Danach dachte ich kurz: Oh mein Gott, was kommt jetzt? Rein auf meine Person bezogen beruhigt mich die ausbleibende Explosion wiederum auch etwas. Ich mag an sich keinen Rummel um meine Person. Ich mag es auch nicht, wenn ich bewundert werde. Ich sehe mich eher als „Arbeiter“, der sich einfach durch Texte und Infos wühlt, diese sortiert, zentrale Ergebnisse herausnimmt und einfach alles zusammenfasst. Man mag meinen Fleiß würdigen, Neues schaffe ich nicht, das tun eher die Forschenden, die die Studien durchführen und veröffentlichen, auf die ich mich dann beziehen kann. 

Um so mehr freut es mich, dass überall immer mehr Fachleute eine Art „Zündschnur“ für eine Art „Bombe“ entzünden. Dazu gehört vor allem die enorm dynamische und sich stark beschleunigende Adverse Childhood Experiences (ACEs) Forschung. Dazu gehören aber auch Zusammenfassungen bzgl. einzelner Belastungsfaktoren und deren Folgen wie beispielsweise der Bericht „Corporal punishment of children: summary of its impacts and associations“ (2021), in dem es heißt:
The evidence that corporal punishment is harmful to children, adults and societies is overwhelming – the more than 300 studies included in this review show associations between corporal punishment and a wide range of negative outcomes, while no studies have found evidence of any benefits. Corporal punishment causes direct physical harm to children and impacts negatively in the short- and long-term on their mental and physical health and education. Far from teaching children how to behave, it impairs moral internalisation, increases antisocial behaviour and damages family relationships. It increases aggression in children and increases the likelihood of perpetrating and experiencing violence as an adult. It is closely linked to other forms of violence in societies, and ending it is essential in combatting other violence, including partner violence”.

Ich kann mich also etwas entspannen, wir laufen Stück für Stück auf die „Explosion“ zu. Was meine ich eigentlich mit der Explosion? Ich habe da ein inneres Bild vor Augen, das einem Misch aus der öffentlichen Debatte um Kindesmissbrauch in der Kirche und der Debatte um die Klimakrise gleicht. Also einer stetigen, jahrelangen öffentlichen Debatte (inkl. Titelstorys in den Medien), die zu einer traumainformierten und sich der kollektiven, individuellen, politischen, sozialen und ökonomischen Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen bewussten Gesellschaft führt. Einer Gesellschaft, die sich bewusst macht, wie sehr sie von Kindheiten geprägt ist. Vielleicht ist „Explosion“ also auch das falsche Wort. Aber einen zentralen Auslöser oder auch mehrere muss es wohl geben. Es gab diese Auslöser bzgl. der Kirche ebenso wie bei der Klimadebatte (z.B. mit Greta Thunberg und ihrem anfangs einsamen Protest an den Freitagen). 

Was ist sonst noch alles passiert, seitdem mein Buch herausgekommen ist? War das Buchprojekt nun ein Erfolg oder nicht? Tja, wie soll ich „Erfolg“ definieren und messen? Ich gehe von bisher ca. 1.000 verkauften Buchexemplaren aus. Ist diese Zahl nun ein Erfolg? Finanziell ist es bescheiden. Aber ich verdiene eh ausreichend Geld. Um Geld ging es mir nie. Mein erstes Autorenhonorar habe ich außerdem für ein Kinderschutzprojekt komplett gespendet. Die restlichen Einnahmen decken vielleicht meine Recherchekosten. 

Für einen gänzlich unbekannten Autor mit kleinem Verlag ist diese Zahl aber schon ein kleiner Erfolg. Was mich besonders freut ist, dass mein Buch in vielen UNI-Bibliotheken und teils auch öffentlichen Bücherhallen gelistet ist und dass immer mehr Autoren und Autorinnen mein Buch für ihr Buchprojekt verarbeiten. Ich kann auch etwas stolz auf eine Reihe von Buchrezensionen oder Kommentierungen von Fachleuten sein. Ganz besonders hat mich gefreut, dass ich für die „Interdisziplinäre Fachzeitschrift für Prävention und Intervention (DGfPI) Kindesmisshandlung und -vernachlässigung“ den Beitrag „Die Kindheit ist politisch!“ veröffentlichen durfte. Der Beitrag hat es in sich und die Leserschaft kommt aus allen möglichen Professionen aus Deutschland. Ohne meine Buchveröffentlichungen wäre ein solcher Fachblattbeitrag nicht möglich gewesen!

Das gilt u.a. auch für meinen Vortrag "Kindheit ist politisch!" auf der 35. Jahrestagung der GPPP und für meinen Vortrag "Kindheitsursprünge von politischer Gewalt und Extremismus" beim 26. Deutschen Präventionstag (beide Vorträge wurden von mir verschriftlicht und werden nächstes Jahr in Textform erscheinen). Außerdem war man auch bei der World Association for Dynamic Psychiatry (WADP) auf mein Buch aufmerksam geworden. In der Folge wurde ich zum Vortrag für den Kongress „Peace and aggression – a social challenge for psychiatry and psychotherapy“ in Berlin eingeladen, der leider coronabedingt abgesagt wurde. Ersatzweise konnte ich meinen Vortrag für „Dynamische Psychiatrie - Internationale Zeitschrift für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychiatrie“ verschriftlichen: „Die Kindheitsursprünge von (politischer) Gewalt und Friedlosigkeit“.
Unter  Leitung von Prof. Paul H. Elovitz durfte ich am 20.11.2021 im "Psychohistory Forum Meeting" unter dem Titel “The Childhood Origins of Political Violence and Extremism” online vortragen. Man möchte sich jetzt dafür einsetzen, mein Buch ins Englische zu übersetzen. Nun, wir werden sehen...

Ich ziehe also Bilanz: Mein Buch hat mir einige Türen geöffnet. Und mein Buch hat so einige Menschen sehr bewegt (Rückmeldungen zu Folge). Allerdings bleibt es dabei, dass bei diesem schwierigem Thema nur langsame Schritte zu erwarten sind. Ich werde weiterhin meinen Teil dazu beitragen, die Öffentlichkeit zu informieren und Aufklärung zu leisten. Dazu nutze ich auch immer mehr mein Twitter-Account, dem mittlerweile auch einige bekannte Fachleute und Institutionen folgen. Mittel- bis langfristig plane ich den Umbau des Blogs. Bzw. ich möchte zentrale Texte und meine Biografieforschungen überarbeiten und dann auf eine extra eingerichtete Homepage stellen. Das wird viel Arbeit sein und seine Zeit brauchen. Es wird also nicht langweilig!



Donnerstag, 9. Dezember 2021

Die angeblich harmonische Kindheit des Ex-Neonazis Nick W. Greger und meine Anmerkungen dazu

Die Schilderungen des ehemaligen Neonazis Nick W. Greger über seine Kindheit erstaunen zunächst bzw. stellen eine Ausnahme bzgl. meiner Recherchen dar. Er beschreibt seine Kindheit als durchgängig sorglos. Bei genauerem Hinsehen stellen sich aber Fragen, was ich gleich ausführen werde. 

Meine Quelle: "Verschenkte Jahre - Eine Jugend im Nazi-Hass" von Nick W. Greger (2012, epubil, Berlin)

Gleich zu Beginn des Buches stellt Greger klar: „Aus meiner Kindheit gibt es nichts Aufregendes zu berichten. Ich stamme aus einer bürgerlichen Familie der demokratischen Mitte, wie man heute wohl sagen würde. (…) Eltern und Großeltern kümmerten sich rührend um mich, und da ich ein Einzelkind war, stand ich als Jüngster im Mittelpunkt der Familie. Es fehlte mir an nichts, und mir wurde so ziemlich jeder Wunsch erfüllt. Auch mein späteres Agieren als Neonazi sollte das Verhältnis zu meiner Familie niemals ernsthaft trüben können. Kurz gesagt, ich hatte nichts zu leiden und gebe heute auch offen zu, dass es mir wohl ein bisschen zu gut ging und ich einfach nur ein verwöhnter Rotzlöffel war“ (S. 10).

Ab dem 7. Schuljahr habe er ein starkes Bedürfnis nach Auflehnung und rebellischem Verhalten entwickelt, „gegen die Schulordnung, die Lehrer, meinen Vater und einfach jede Autorität, die versuchte, mein Leben in einer Bahn zu halten“ (S. 11). Zunächst drückte sich dies in Schulschwänzen, zu-spät-nach-Hause-Kommen und Herumtreiben in der Stadt aus. „Als Konsequenz gab es natürlich Sanktionen von der Schule und vom Elternhaus, also Nachsitzen und Hausarrest“ (S. 12). 

Schließlich musste er die 7. Klasse wiederholen. In dieser Zeit traf er auf eine rechte Gruppe im Ort, die aus deutlich älteren Jugendlichen bestand. „Ich sollte eine Gruppe, in der ich meinen Frust gegen die über mich herrschende Ordnung ausleben konnte, gefunden haben“ (S. 12). 

Ziemlich schnell kam es dann auch zu Gewaltverhalten und Schlägereien. Die Lehrer seiner Schule sprachen entsprechende Warnungen aus, sich ja nicht mit Greger einzulassen. Wie solche Gewalt u.a. aussehen konnte, beschreibt Greger an einer Stelle, wo es gegen eine Gruppe von Punks auf einem Dorffest ging:
Zum Auftakt der Keilerei hatten wir einen benachbarten Gartenzaun zerlegt und die Latten verwendet, um auf den Gegner einzuprügeln. Einige Punks waren zu Fuß geflüchtet, andere hatten versucht, mit ihren Pkws unserem kleinen, jedoch Amok laufenden Mob zu entkommen. Wir hatten ein Auto gestoppt, mit dem fünf Punks zu flüchten versuchten und mit den Zaunlatten auf das Fahrzeug eingeschlagen. Scheiben waren zu Bruch gegangen, die Insassen durch Glassplitter und Lattenhiebe verletzt worden“ (S. 20). Zu der Zeit muss Greger 15 oder jünger gewesen sein. Er wurde erstmals verurteilt und musste 40 Arbeitsstunden absolvieren. 

15 war auch das Alter, in dem er eine weitere Grenze überschritt: er lief von zu Hause fort. Er wollte in den Osten nach Dresden, das damals als Neonazihochburg galt. In der Tat fand er schnell Anschluss und wurde von der rechten Szene aufgenommen und untergebracht. Seine Eltern waren in großer Sorge und gaben eine Vermisstenanzeige bei der Polizei auf. Erst Monate später gab er seiner Familie ein Lebenszeichen von sich. Die kommenden acht Jahre verließ er Sachsen nicht mehr, auch wenn seine Familie ihn zur Heimkehr bewegen wollte (S. 22).

Greger ging in dieser Zeit in Gewalt und Hass auf. Man zog durch die Straßen und verprügelte jeden, der „bunte Haare hatte, irgendwie links orientiert aussah oder einem Ausländer glich“ (S. 27). 1995 kam er das erste Mal ins Gefängnis, was nicht das letzte Mal gewesen sein sollte. 

Machen wir an dieser Stelle einen Strich und erinnern uns an die anfänglichen Schilderungen über eine harmonische Kindheit. Ich finde: Das passt alles nicht zusammen!

Wir bekommen hier ein Bild von einem Jungen, der schon ab der 7. Klasse auffällig wurde und schnell Gewaltverhalten entwickelte. Es kam auch, wie geschildert, zu schwerer Gewalt gegen andere Menschen. Als 15Jähriger floh der Junge aus seiner „harmonischen Familie“, in der sich alle „rührend“ um ihn gekümmert haben sollen und kam jahrelang nicht zurück. Wie es seiner Familie damit ging, scheint ihm herzlich egal gewesen zu sein. Dies spricht nicht für eine real starke Bindung innerhalb der Familie, sondern für das genaue Gegenteil. 

Interessant ist dabei auch, dass Greger im Grunde gar nichts über seine Familie schreibt, außer bzgl. der Zusammenfassung oben. Er beschreibt keine Szenen oder Episoden mit der Familie, keine Ausflüge, kein Erziehungsverhalten, gar nichts. Nur einmal wird, wie oben zitiert, erwähnt, dass zu Hause mit Hausarrest gestraft wurde. Auch das „Verhätscheln“ wurde erwähnt. Verhätscheln ist keine Liebe, sondern oft ein Anzeichen für ein problematisches Familiensystem. Was mir aber am aller meisten ins Auge sticht, ist der Hang zu Hass und (schwerer) Gewalt im jungen Leben von Greger. Wo soll der Hass herkommen? Aus der Luft? Greger wurde nicht gemobbt, beschreibt keine Übergriffe gegen sich als Kind außerhalb der Familie oder ähnliches. Ich gehe davon aus, dass in der Familie einiges schief gelaufen sein muss. Indizien dafür gibt es wie geschildert. 

Ich warne eindringlich davor, den Fall Nick W. Greger in der Extremismusforschung als Beispiel dafür aufzuwarten, dass auch geliebte Kinder zu hasserfüllten Neonazis werden können. Solche Fälle sollten eher dazu motivieren, weitere Nachforschungen zu betreiben und den Dingen auf den Grund zu gehen; Familie, ehemalige Lehrer, Klassenkameraden usw. zur Kindheit von Greger zu befragen. Und natürlich auch, so es denn die Gelegenheit dafür gibt, Greger direkt und ausführlich über seine Familie und Kindheit zu befragen. Ihn dabei auch Episoden berichten zu lassen, nicht nur allgemeine Etiketten wie „alles war normal und gut“.  Ergänzt ggf. auch um einen Fragebogen aus der ACEs-Forschung, der viele Belastungsfaktoren aus der Kindheit erfasst. Nun ist es so, dass dies alles sehr intime, ggf. schambesetzte Gegebenheiten berührt und es an sich schwierig ist, über Kindheit die ganze Wahrheit zu erfahren. Dies ist und bleibt ein Grundproblem bei der Erfassung der Kindheitsbiografie von Tätern.  

Nachtrag: Ich hatte die Gelegenheit, Nick Greger zu interviewen! Eine wichtige Info bzgl. seiner Kindheit kam dadurch hinzu:  
Seine Mutter war gerade einmal 16 Jahre alt, als Nick geboren wurde. Sie wurde im Alter von 15 Jahren schwanger. Dies sei so geplant gewesen. Nicks Vater war einige Jahre älter und konnte die junge Familie finanziell stemmen. Seine Mutter sei damals bereits sehr reif und verantwortungsvoll gewesen, sagte Greger zu mir.


Montag, 6. Dezember 2021

Tochter eines Ku-Klux-Klan Mitglieds und Leben in der Hölle: Kindheit von Jvonne Hubbard

 „White Sheets To Brown Babies“ heißt die Autobiografie von Jvonne Hubbard (2018, Sakshi Press). 

Die Lebensgeschichte von Jvonne Hubbard hat mich ursprünglich vor allem auf Grund ihres rassistischen und extremistischen Vaters interessiert, der tief in den Ku-Klux-Klan verstrickt war.

Immer wieder ist mir aufgefallen, dass extremistische Familien auch die eigenen Kinder misshandeln und terrorisieren. Dies ist für mich bedeutsam in der Hinsicht, dass es zum einen logisch ist, dass hasserfüllte Menschen mit ihrem Schwarz-Weiß-Denken natürlich auch in der Familie nicht aus ihrer Haut schlüpfen (entsprechend sollte auch das Jugendamt bei solchen Familien sehr aufmerksam sein!!). Zum anderen ist die Misshandlung und Demütigung der eigenen Kinder für mich immer auch ein Indiz dafür, dass diese Leute selbst eine traumatische Kindheit hatten und weitergeben, was sie selbst erlitten haben. Letzterer Punkt stellt für mich eine gedankliche Ableitung und Möglichkeit dar, etwas über die Kindheit von Extremisten zu erfahren, über die es ansonsten keine konkreten Infos über Kindheitshintergründe gibt (siehe dazu auch meinen Beitrag Die Kinder der NS-Täter und die Kindheit der NS-Täter). 

Die Lebens- und Kindheitsgeschichte von Jvonne Hubbard entpuppte sich im Textverlauf für mich aber als weit mehr. Ihre Geschichte ist derart traumatisch und kaum in Worte zu fassen, dass ein Filmregisseur das Manuskript wahrscheinlich ablehnen würde, weil es zu „unglaublich“ ist. 

Ihre Geschichte ist ein wichtiges Zeugnis für Kinderschutz und Aufklärung über Kindesmisshandlung und geht weit über die Extremismusforschung hinaus. 

Das Ausmaß an Gewalt und Trauma in dieser Familie ist derart komplex, dass ich kaum weiß, wo ich anfangen soll. Der Vater war gewalttätig, rassistisch, launisch, kalt und Alkoholiker. Was das für die Familie bedeutet, kann man sich vorstellen. Dazu kamen viele Alltagsdemütigungen und Verletzungen. So z.B. in der Grundschule. Jvonnes beste Freundin, Yonnie, war schwarz. Als der Vater davon erfuhr, drohte er: „If I ever see or even hear tell of you playing with or associating with any nigger ever again I am going to have to whip your ass and burn a cross in little Yonnie`s yard to make you understand“ (S. 7). Um sich und ihre Freundin zu schützen, ignorierte Jvonne ihre beste Freundin zukünftig, was ihr das Herz brach…

Dass ihr Vater gefährlich war, wurde ihr schon als Siebenjährige klar. Ihre Mutter musste das Auto lenken, Jvonne musste sich im Auto hinlegen. Ihr Vater schoss aus dem fahrenden Auto mit einer Waffe auf das Auto eines Anderen, um ein Zeichen zu setzen. Ein anderes Mal warf der Vater eine Art Molotov-Cocktail aus dem fahrenden Auto in das Fenster einer Familie, in der eine weiße Frau ein schwarzes Baby hatte (S. 9). 

An einer Stelle formuliert Jvonne Hubbard (nachdem sie etliche Schrecklichkeiten ausgebreitet hat, die sie in dieser Familie erlebte): „I can´t really remember all of what I was thinking and feeling save one thing: my dad had finally succeeded in teaching me hate. The first person I ever truly hated in my life was him (S. 14). 

Auch ohne rassistische Motivation verbreitetete dieser Vater Terror, auch gegenüber seiner Frau. Dies gipfelte eines Tages darin, dass er Jvonnes Mutter eine Waffe an den Kopf hielt und drohte, sie zu töten (S. 11). Ihre Mutter hatte in der Folge nichts anders zu tun, als sich bei ihrer Tochter auszuweinen und zu fragen, warum ihr Vater sie nicht mehr lieben würde (Parentifizierung). „I´ll admit (…) this was the beginning of when I started to lose resprect for my mother. In my little mind, with only two horribly dysfunctional examples of how human beings conduct themselves during a crisis, it was my mom who worried me most. Why? Because she accted being a victim“ (S. 11f.). 

Diese Mutter neigte immer wieder zu extrem destruktiven Verhalten. Nicht in der Art, dass sie mit einer Pumpgun neben dem Auto wartete (wie der Vater dies einmal tat; S. 13) und die beiden anderen Familienmitglieder bedrohte. Sondern durch unterlassene Hilfeleistung, durch Verhalten wie ein kleines Kind, Ignorieren der Bedürfnisse ihrer Tochter, durch absolute Hilflosigkeit und gleichzeitige Identifikation mit ihrem aggressiven Mann, dem sie alles unterordnete. 

Überhaupt fällt im Verlauf des Buches auf, dass alle Familienmitglieder - auch aus dem weiteren Verwandtenkreis - zu destruktiven Beziehungen neigten. Wenn der eine schlagende und alkoholkranke Partner verlassen wird, dann war der Nächste garantiert nicht viel besser! Angefangen bei der eigenen Mutter, die nach der Trennung von ihrem Mann erst zu One-Night-Stands überging (teils musste beim Sex die Tochter im Flur eingeschüchtert zuhören, S. 17) und sich dann einen Partner suchte, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war. Diverse Beziehungsabbrüche und Konflikte folgten. 

Jvonne hatte indes mit weiteren Problemen zu kämpfen: Armut, Wohnortwechseln, fehlende Freunde und fehlender Anschluss in der Schule, Hänseleien usw. 

In dieser Situation bot ein Mann namens Fred eine gewisse Stütze für Jvonne. Er war 44 Jahre alt, Jvonne war 14. Ihre Familie wusste um diese „Freundschaft“, hatte damit aber kein Problem. Als Jvonne 15 Jahre alt war, fuhr ihre Mutter sie zu Freds Haus, um sie dort übernachten zu lassen. Fred hat sie dann offensichtlich vergewaltigt (weitere Übergriffe sollten später folgen). „Pain, disgust, confusion, not knowing what to do or how to feel, followed. When my mom picked me up the next morning I told her what had happend. All she had to say was `Did it hurt? The first time is often painful`. Then the next move was to take me to the health department and put me on birth control!“ (S. 50). Von dieser Mutter war keine Hilfe und kein Schutz zu erwarten, in jeder Hinsicht...

Alle anderen Erlebnisse und Traumatisierungen hier zusammenzufassen, überfordert mich. Fast auf jeder Seite des Buches schildert die Autorin irgendwelche Grausamkeiten und destruktiven Erlebnisse. Dazu gehören z.B. Dinge wie eine Situation, in der eine Frau, die mit ihrem Freund im schweren Streit lag, zum Vater von Jvonne ging und ihn um eine Waffe bat. Sie wolle ihren Freund erschießen. Der Vater übergab die Waffe, die Frau erschoss ihren Freund. Jvonne wunderte sich, warum ihr Vater dafür nicht inhaftiert wurde (S. 82). 

Später wurde ihr Vater selbst zum Opfer. Er hatte eine Alkoholiker-Freundin, die ihn später stalkte. Sie schoss ihm eines Tages mehrere Kugeln in den Körper. Er überlebte und blieb pflegebedürftig. 

All diese Erlebnisse blieben nicht ohne Folgen für Jvonne. „Sometimes it feels like I am a hundred years old, for all the life I`ve lived“ (S. 162). Ihre Gesundheit war schwer beeinträchtigt. „Those ailments were as follows: anxiety, depression, panic attacks, fibromyalgia, TMJ, interstitial cystitis, irritable bowel syndrome, premature ventricular oft he heart, chronic episodes of bronchitis, immun deficiecy and eventually pneumonia. My immune system and even my heart (…) were damaged (…)“ (S. 140). Die meisten Diagnosen waren chronisch. 

Ihr Fall und die Gesundheitsfolgen werden auch durch die Adverse Childhood Experiences Forschung bestätigt: Je mehr Trauma als Kind, desto höher die Wahrscheinlichkeit für diverse Erkrankungen. 

Der Fall Jvonne Hubbard hat mich sehr berührt und teils sprachlos gemacht. Jvonne Hubbard ist fast so alt wie ich. Ihre Geschichte stammt nicht aus dem Mittelalter! Sie ist ganz nah und real. Und viele andere Kinder erleben immer noch ähnliches. Das sollten wir nicht vergessen!


Mittwoch, 1. Dezember 2021

Linksextremist, Rechtsextremist, Söldner und Mörder. Die Kindheit von Thomas Adolf

Thomas Adolf hat in seinem Leben scheinbar alle Extreme mitgenommen, die es zu fassen gibt. Am Ende wurde er zum kaltblütigen Mehrfach-Mörder... 

Thomas Adolf sei das unerwünschte Ergebnis einer Kneipenbekanntschaft, sagte sein Vater. Von dem Kind und der Mutter wollte dieser nichts wissen. Thomas Adolf aber fehlte ein Vater: „Dem Vater, der ihn in der Kindheit jämmerlich im Stich gelassen hat, schreibt er emotionale Briefe. `Wer bin ich in Deinem Leben? Gibt es irgendwann einmal einen flüchtigen Gedanken in Dir, in dem ich vorkomme? Es gäbe viele Dinge, die ich mit meinem Vater besprechen könnte, die intim und diskret sind`“ (Elendt, G. & Schmalenberg, D. 2003 (23. Okt.): MORDE VON OVERATH. "Zwei bis drei nehme ich mit", Stern.de)
Hannelore Adolf, bei der Entbindung 18 Jahre alt, kümmert sich auch nicht um Thomas. Elterliche Wärme und Geborgenheit lernt er nie kennen. Die Mutter schiebt ihn zur Großmutter ab und wandert selbst bald wegen Diebstahls, Betrugs und Hehlerei ins Gefängnis“ (Ebd.).
Thomas war zu dieser Zeit fünf Jahre alt und wirkte verwahrlost. In einem anderen Bericht wurde geschrieben: „Verstoßen von seiner Mutter, einer Prostituierten, erhält Adolf bereits in der Kindheit bei der Großmutter seine nationalsozialistische Prägung“ (Spilcker, A. (2004, 18. Nov.): Staatsanwältin fordert lebenslänglich, Kölner Stadt-Anzeiger)

Als Thomas ca. 11 Jahre alt war, verschwand die Mutter spurlos. Kurz darauf starb auch noch die Großmutter. Thomas kam bei einem Onkel unter. Das Kind wurde um diese Zeit bereits stark verhaltensauffällig, schlug zu, drohte und quälte seine Mitmenschen.  "Der Junge hat einen tiefen Hass auf das Leben", sagte der Onkel (Elendt & Schmalenberg, 2003).

Als Jugendlicher driftete Thomas in die die linksextreme Szene ab. Als 19Jähriger kam er das erste Mal in U-Haft. Danach kam er mit rechtsextremen Parolen nach Hause. Sein Onkel schmiss ihn daraufhin raus.