Donnerstag, 28. April 2022

Kindheit von Peter I., der Große (Russland, 1672 - 1725)

Peter I., genannt "der Große",  wurde am 9. Juni 1672 als Sohn von Zar Alexei I. und dessen zweiten Frau Natalja Naryschkina geboren. 

Kurz nach seiner Taufe wurde der Säugling Peter „von seinem kleinen Gefolge in seine Privaträume gebracht – eine Amme (…), eine Gouvernante und eine Gruppe von Zwergen, die den Zarenkindern als Diener und Spielgefährten zugewiesen waren. Als Peter zwei Jahre alt war, zogen er und sein Gefolge, zu dem inzwischen vierzehn adelige Frauen gehörten, in eine größere Wohnung innerhalb des Kremlpalastes um“ (Massie 1982, S. 29). 

Das Kind wurde also von Beginn an von seinen Eltern entfremdet und von diversen Bediensteten aufgezogen, ein übliches Vorgehen in hohen Kreisen nicht nur in Russland. Die vielen Zuständigen lassen an sich schon erahnen, dass keine wirkliche Bindung mit einer Hauptbezugsperson möglich war. Für das Kind wird das nicht folgenlos geblieben sein. 

Die Zarenfamilie bekam noch eine Tochter hinzu. Ein drittes Kind starb kurz nach der Geburt (ebd. S. 31). Am 08.02.1676 starb der Zar, Peters Vater. Peter war zu der Zeit drei Jahre alt. „Damit hörte das unbeschwerte Daseins Peters auf. Jetzt war er der potentielle störende Abkömmling der zweiten Frau seines verstorbenen Vaters“ (ebd. S. 31). Zunächst aber wurde der fünfzehnjährige Fjodor III. Thronfolger, der Peters Halbbruder war. Das Pendel der Macht war somit zurück zu der Familie der ersten Frau von Alexei I. – den Miloslawskis - zurückgeschwungen. 1682 starb Fjodor III. und der erst zehnjährige Peter wurde sein Nachfolger. Die offizielle Regentin war seine Mutter Natalja. 

Kurz danach brach ein Aufruhr der sogenannten Strelitzen (bewaffnete Fußsoldaten, Pikoniere und Musketiere, die u.a. den Kreml bewachten) aus. Sie waren schon vorher unzufrieden mit ihrer Behandlung durch höher Gestellte und wurden teils auch gezielt von Mitglieder der Miloslawskis-Familie gegen die Naryschkinas (Peters Linie) aufgestachelt. Schließlich behauptetet man, dass die Naryschkinas den Zarewitsch Iwan (aus der Linie der Miloslawskis) ermordet hätten und weiteres Unheil anrichten würden. 

Die wütenden Soldaten stürmten in den Palast. Die Mutter von Peter versuchte die Soldaten zu beruhigen, indem sie ihnen mit Peter und Iwan an der Hand entgegentrat, um zu zeigen, dass Iwan am Leben war. „Für Natalja war es eine schreckliche Aufgabe, sich mit ihren Söhnen den brüllenden, bewaffneten Männern zu zeigen, die das Blut ihrer Familie forderten“ (ebd. S. 47). Zunächst gelang die Beruhigung. Später schlug die Stimmung um, der erste Adlige wurde ermordet bzw. „in Stücke gerissen, ringsherum war alles mit Blut bespritzt“ (ebd. S. 49).
Ungehindert rannten nun die Strelitzen im Kreml durch die offiziellen Räume und die Privatgemächer (…) und schrien nach dem Blut der Naryschkins und der Bojaren. Die erschreckten Bojaren bangten um ihr Leben und ergriffen die Flucht. (…) Nur Natalja, Peter und Iwan blieben zurück, zusammengekauert in einer Ecke des Bankettsaals. Für die meisten gab es kein Entkommen. Die Strelitzen schlugen Türen ein (…). Stießen mit ihren Lanzen in jede dunkle Ecke (…). Diejenigen, die sie aufstöberten, wurden zur Roten Treppe geschleift und über die Balustrade geworfen. Die Leichen zerrte man vom Kreml hinunter (…) auf den Roten Platz, wo man sie auf eine immer höher wachsende Pyramide verstümmelter Körper warf“ (ebd. S. 49).
Als die Nacht hereinbrach, legten die Soldaten eine Pause ein. „Die im Kreml zurückgeblieben Angehörigen der Zarenfamilie verbrachten eine Nacht des Schreckens“ (ebd. S. 50). Am nächsten Morgen ging das Grauen weiter. Peter und seine Familie blieben allerdings weiter unentdeckt. Der ganze Aufruhr konnte erst beendet werden, als die Soldaten den verhassten Bruder von Peters Mutter in die Hände bekamen, ihn folterten und schließlich auf dem Roten Platz zerrten. Man hackte ihm Hände und Füße ab und zerstückelte ihn schließlich komplett (ebd. S. 52). Danach herrschte wieder Ruhe und die Zarenfamilie konnte sich wieder ihres Lebens sicher sein. 

Für den zehnjährigen Peter war dies eine lebensbedrohliche Situation und ganz gewiss eine hoch traumatische Erfahrung. „Den Aufstand der Strelitzen sollte Peter sein Leben lang nicht vergessen. Im Herzen trug er fortan einen unversöhnlichen Hass (…).“ (ebd. S. 55). Als er siebzehn Jahre alt war erlitt er einen Schock, nachdem er angenommen hatte, die Strelitzen würden anrücken und ihm nach dem leben trachten (eine Fehlannahme). „Sieben Jahre lang hatte er Alpträume, in denen die Strelitzen die Naryschkins zu Tode hetzten“ (ebd. S. 93). 
Troyat (1990, S. 36) fasst Peters Kindheit wie folgt zusammen: "Seit seinen ersten Schritten war er in Greueln und Gewalttaten gewatet, der Anblick der Wunden und der Leichname wurde zu einer Begleiterscheinung seiner Kindheit."

Während seiner weiteren Kindheit und Jugend entwickelte Peter einen starken Hang zu Kriegsspielen aller Art, in die auch Untergebenen involviert wurden. Um sich herum sammelte er immer mehr junge Knaben (einige hundert) und organisierte sie militärisch (inkl. Unterbringung in Kasernen). Echte Waffen wurden besorgt, kleine Forts errichtet usw. und vor allem Krieg gespielt (ebd. S. 69ff.). 

Als Peter siebzehn Jahre alt war, wurde er in die Ehe mit einer drei Jahre älteren Frau gezwungen (ebd. S. 75). Diese Ehe verlief sehr unglücklich und er hatte eine schlechte Beziehung zu seiner Frau. 

Über den Erziehungsstil oder sonstige traumatische Erfahrungen konnte ich in dieser Quelle nichts finden. Allerdings fand ich in einer anderen Biografie folgende Schilderungen:
Peter hat als Erzieher gewirkt und sich als Erzieher empfunden. Gegen Ende seines Lebens (1723) sagte er einmal: ´Unser Volk gleicht den Kindern, die sich niemals ans ABC machen, wenn sie nicht vom Meister dazu gezwungen werden´. (…) Widersetzlichkeit, Untreue, Unredlichkeit weckten einen Grimm, bei dem er sich selbst vergaß. Mit grausamsten Strafen hat er Unterschlagungen geahndet (…). Die Nächststehenden züchtigte er in stiller Kammer eigenhändig mit dem Stock, auch die höchsten Würdenträger (…). Oder auch er ließ sie am frühen Morgen kommen und in seiner Gegenwart einen nach dem anderen mit Ruten streichen. Er konnte gelegentlich hinwerfen, man solle ihm ebenso gehorchen wie seine Hündin (…)“ (Wittram 1954, S. 32)
Peters eigener erwachsener Sohn Alexej kam  "infolge einer unmenschlichen Auspeitschung, die sein eigener Vater angeordnet hatte" ums Leben (Cronin 2008, S. 37). Schon vorher hatte der Zar seinem Sohn Alexej und auch dessen Mutter Angst eingeflößt. Als Alexej acht Jahre alt war, verbannte der Vater die Mutter in ein Kloster. Der Sohn wurde in der Folge von einer Tante und von Hauslehrern aufgezogen (Troyat 1990, S. 211ff.). Es gibt Erzählungen und Vermutungen, dass Alexej im Rahmen der Folter auch von seinem Vater geschlagen wurde. Troyat (1990, S. 259f.) hält dies für "(...) durchaus möglich. Nach dem Knüppel die Peitsche. Der Zar hat die Arbeit des Henkers nie gescheut."

Solche Verhaltensweisen lassen zumindest deutlich erahnen, dass Peter selbst als Kind körperlich bestraft wurde und dies später wieder-aufführte. Ergänzend mögen sie auch Ausdruck seiner traumatischen Erfahrungen als Zehnjähriger sein: Nicht er will mehr Angst vor seinen Untertanen haben, sondern sie sollen ihn fürchten. 

Auch weitere Verhaltensweisen von Peter legen den Schluss nahe, dass sie in einem Zusammenhang mit seinen traumatischen Kindheitserfahrungen während des Aufstands stehen. Der Zar Peter I. behielt trotz einer gewissen westlichen Ausrichtung "eine barbarische Grausamkeit, die bei keinem anderen europäischen Monarchen denkbar gewesen wäre. Als er wieder einmal im Ausland war, rebellierte die Moskauer Garde; Peter eilte zurück, ließ 1700 Gardisten langsam über dem Feuer rösten, bis sie ein ´Geständnis` ablegten, und schlug eigenhändig mit der Axt vierhundert Meuterern die Köpfe ab" (Cronin 2008, S. 36).  

Die Besprechung weiterer Grausamkeiten des Zaren würden hier wohl den Rahmen sprengen. Eine davon möchte ich abschließend noch erwähnen:
Peter kehrte einmal mitten in der Nacht unvermutet nach Petersburg zurück. Im Vorzimmer fand er den Kammerherren William Mons de la Croix nicht vor, dieser befand sich im Zimmer der Zarin. William wurde bald darauf wegen anderer "Delikte" angeklagt und gestand unter der Folter alles mögliche. Katharina schwieg. "Nach der Verurteilung und Enthauptung Williams schleppte Peter seine Gattin an die Stätte der Exekution, er forschte in ihrem Antlitz und lauerte auf ein Beben, eine Träne, ein Erschauern, vermochte aber kein Anzeichen einer Gemütsbewegung zu entdecken. Er ging noch weiter, indem er das Haupt des Toten in einer Schüssel auf den Kaminsims ihres Schlafzimmers stellen ließ. Doch bald erregte dieser grausige Kaminschmuck Peters Enkel, während Katharina weder Abscheu noch Verzweiflung zu erkennen gab" (Olivier 1963, S. 11). 


Quellen: 

Cronin, V. (2008). Katharina die Große. Piper Verlag, München. 

Massie, R. (1982). Peter der Grosse und seine Zeit. Athenäum Verlag, Königstein/Ts.

Olivier, D. (1963). Elisabeth von Rußland. Die Tochter Peters des Grossen. Paul Neff Verlag, Wien / Berlin / Stuttgart.

Troyat, H. (1990). Peter der Grosse. Zar - Reformer - Despot. Wilhelm Heyne Verlag, München. 

Wittram, R. (1954). Peter der Grosse. Der Eintritt Russlands in die Neuzeit. Springer Verlag, Berlin/Göttimngen/Heidelberg. 


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