Dienstag, 26. April 2022

20. Jahrestag vom Amoklauf von Erfurt und mein Bekannter, der sich als 18-Jähriger umgebracht hat

Ich erinnere mich heute, am 20. Jahrestag der Amoktat von Erfurt, an einen Bekannten von mir aus der Schulzeit. Er war der feste Freund meiner damaligen besten Freundin. Über die Kindheit von Robert Steinhäuser (dem Amoktäter von Erfurt), habe ich natürlich versucht zu recherchieren, fand aber fast nichts. Offensichtlich haben die Familienmitglieder kaum Einblicke gegeben. 

Mein damaliger Bekannter hat sich umgebracht, als er ca. 18 Jahre alt war… 

Kaum jemand hätte dies vorher für möglich gehalten. Er war sehr beliebt. Er war aber auch ein eher ruhiger Mensch, der vieles mit sich ausmachte. Als er alle Tabletten geschluckt hatte, rief er noch seinen besten Freund an, unterhielt sich, wurde immer müder, nahm auf seine Art Abschied. Niemals hätte dieser Bekannte eine Amoktat verübt, er war gänzlich zu keiner Gewalt fähig. Wohl aber gegen sich selbst. 

Sein Vater war ein reicher Architekt. Sein Sohn sollte in eine ähnliche Richtung gehen, das hatte der Vater beschlossen! Mein Bekannter hatte nicht viel Spaß an der Schule und er hatte auch keine hohen Ziele. Sein Traum war es, Maurer zu werden. Für den Vater undenkbar! 

Die Eltern lebten getrennt. Über seine Mutter sprach mein Bekannter gar nicht. Sein Vater kontrollierte alles. Ein Innenarchitekt hatte das Jugendzimmer meines Bekannten eingerichtet. Wir alle fanden das „cool“. Ein solches Zimmer hatte keiner von uns. Für meinen Bekannten hatte das Zimmer keinen Wert, es war nicht seins, er hatte dort kaum etwas bestimmt und gestaltet. In seinem Zimmer wirkte mein Bekannter wie ein Fremdkörper. 

Was genau alles in dieser Familie passiert ist, vermag ich nicht zu sagen. Eines war klar: Dem Bekannten wurde die Luft zum freien Atmen genommen. 

Auf der Trauerrede sprach der Pastor die Verantwortung des Vaters sehr deutlich an. Ich nahm das damals mit gemischten Gefühlen auf. Dieser Vater hatte ein Recht darauf, sich in diesem Moment zu verabschieden und zu trauern. Im Raum stand ein Stück weit eine Anklage, vor weit über 300 Menschen. Auf der anderen Seite war dieser offene Umgang eine Wohltat, so empfanden wir alle es, weil wir wussten, wie kalt und kontrollierend dieser Vater war. 

Dieser Vater wollte seinen Sohn gewiss nicht in den Selbstmord treiben. Aber es stimmt, er hatte seinen Anteil und damit muss er leben.  

Auch die Eltern von Robert Steinhäuser wollten ganz gewiss nicht, dass ihr Sohn eine solche Tat begeht. Falls sie irgendwann die Kraft und den Willen aufbringen, wünsche ich mir mehr Klarheit und Offenheit. Wie sah die Kindheit von Robert aus? Wie war die Bindung zwischen den Familienmitgliedern? Wie war die Familienatmosphäre? 

Antworten schulden wir den Opfern und Hinterbliebenen. 


Telefonseelsorge Hotline:

0800 1110111


1 Kommentar:

Michael Kumpmann hat gesagt…

ah. Das berühmte "Gutbürgerliche Elternhaus" mal wieder.

Die 68er haben sehr gut gezeigt, welche Scharade genau in solchen Lebensstilen üblich ist. Und trotzdem passiert sowas noch heute.