Donnerstag, 19. Mai 2022

Kindheit von Zar Nikolaus II. (Russland, 1868 - 1918)

Nikolaus II. erhielt „nicht die bestmögliche Erziehung für sein künftiges Herrscheramt. Er wuchs als ältestes der fünf Kinder (…) in der spartanischen Atmosphäre auf, die sein Vater so schätzte“ (d'Encausse 1998, S. 69). Die Erziehung des jungen Nikolaus sei durch „Dürftigkeit, ja sogar Strenge der Lebensführung“ geprägt gewesen (d'Encausse 1998, S. 69). 

Nikolaus musste in seiner Kindheit den Tod seines jüngeren Bruders Alexander verkraften.  Sein Bruder Georg erkrankte an Tuberkulose und musste künftig in einem Sanatorium leben. „Dass er nicht mehr da war, bedeutete für Nikolaus den Verlust einer Kameradschaft, die ihren Einfluss auf ihn wahrscheinlich nicht verfehlt hätte“ (d'Encausse 1998, S. 70).

1881 erlebte der künftige Herrscher (…) hautnah die Gewaltbereitschaft seines Volkes, als der zerfetzte und mit abgerissenen Beinen im Todeskampf zuckende Leib seines Großvaters Alexander II. in den Zarenpalast gebracht wurde, wo sich die Familie um den Sterbenden versammelte. Nikolaus sollte diesen Moment nie mehr vergessen (…)“ (d'Encausse 1998, S. 70). Sein Großvater war einem Attentat zum Opfer gefallen. Nikolaus II. war damals gerade einmal dreizehn Jahre alt und war laut Berichten „totenblass“, als er all dies mitansehen musste (Ferror 1991, S. 19).

Schon unter Alexander II. war in Russland der erste Polizeistaat der westlichen Welt entstanden (Ferror 1991, S. 22ff.). Nach dem Attentat wurde Alexander III., der Vater von Nikolaus II., Zar von Russland und regierte „mit Hilfe eines Schreckensregimes“ (Ferror 1991, S. 26).
Alexander III. ließ alle liberalen Ansätze des früheren Regimes fallen und verkündete seinem Volk im Gegenteil sein Manifest vom 28. April 1881, dass er als absoluter Monarch regieren werde und die Geschicke des Reichs in Zukunft nur zwischen Gott und ihm zu erörtern seien“ (de Grünwald 1965, S. 13). Liberale Mitarbeiter wurden in der Folge entlassen, die Presse geknebelt, die Autonomie der Hochschulen praktisch aufgehoben, Überwachung ausgeweitet, Juden zu Sündenböcken gemacht usw. 

Der Vater von Nikolaus wird u.a. wie folgt beschrieben: „(…) seine hohe, massige Gestalt und sein bärtiges Gesicht erinnerten jeden seiner Untertanen an einen Bauern Zentralrusslands“ (de Grünwald 1965, S. 13). Der Biograf Marc Ferro beschreibt bzgl. diesen Vaters einen Widerspruch: „Für den jungen Nikolaus war Alexander III., dieses strenge und grobe Familienoberhaupt, als `Vater die Zärtlichkeit in Person`“ (Ferror 1991, S. 30). Er habe seinen Sohn geherzt und geküsst, während „die Mutter sich in den Beziehungen zu ihrem Sohn mit dem begnügte, was das Protokoll verlangte (…)“ (Ferror 1991, S. 30).
Strenge und Grobheit werden hier in einem Satz mit zärtlicher Zuneigung beschrieben. Für mich passt dies nicht ganz zusammen (und ich habe schon häufig bei solchen Recherchen diese Art von Widerspruch gefunden: Strenge und Liebe im gleichen Satz!). Auch die Kälte bzgl. des politischen Agierens passen hier nicht ins Bild. Ich würde nicht in Abrede stellen, dass dieser Vater Zuneigung ausdrückte (die Belege dafür gibt es offensichtlich). Ich warne aber davor, daraus auf eine grundsätzlich zugeneigte Vater-Sohn-Beziehung zu schließen, die z.B. Strafen und/oder Gewalt ausschließt. Für letzteres fand ich keine Belge, weder dafür noch dagegen. Wie der Erziehungsalltag und ggf. Strafen aussahen, bleibt also im Dunkeln. Dass die Mutter ihrem Sohn weit weniger zugeneigt war, geht ergänzend aus den o.g. Zitaten hervor. 

Ansonsten betont d'Encausse (1998, S. 72f.) die Unfähigkeit, Borniertheit und den Konservatismus von den Erziehern (darunter ein General), die Alexander III. seinem Sohn ausgesucht hatte. „Sein Vater bestimmte einen obskuren General namens Danilowitsch zu seinem Erzieher, einen Mann, der durch nichts, außer durch seine ultrakonservative Gesinnung, für diese verantwortungsvolle Aufgabe geeignet schien. (…) Er verstand es, die moralischen Ansichten des jungen Prinzen zu bestimmen und erzog ihn zu der außergewöhnlichen Zurückhaltung und Verschlossenheit, die der hervorstechendste Zug im Charakter von Nikolaus II. werden sollte. Die autoritäre Art Alexanders II. wirkte sich im gleichen Sinne aus: da der Zar auch nicht den leisesten Widerspruch duldete, zwang er Frau und Kinder, ihr Tun und Lassen vor ihm zu verbergen“ (de Grünwald 1965, S. 21). Hier wirkten also sowohl Erzieher als auch der autoritäre Großvater Alexander II. auf Nikolaus ein. Auch hier bleibt im Grunde unklar, wie der Erziehungsalltag wirklich aussah. 
Ein weiterer Erzieher, der allerdings nur fünf Monate wirkte, beschreibt lobend die Gelehrigkeit, Folgsamkeit und den spontanen Gehorsam von Nikolaus (de Grünwald 1965, S.22f.) Niemals hätten Rügen erteilt werden müssen, so der Erzieher. 

Zusammenfassend sehen wir einzelne, potentiell traumatische Erfahrungen (Attentat auf Großvater, Tod des Bruders, Verlust des zweiten Bruders), eine Mutter, die in den Berichten kaum auftaucht und ein widersprüchliches Bild über den Vater. Ergänzt wird dieses Bild über die negativen Berichte von Erziehern, allerdings ohne konkrete Schilderungen über evtl. Belastungen für den Jungen. 

Verglichen mit anderen Zaren erscheint die Kindheit von Nikolaus II. weniger belastet zu sein. Die Familie war auch etwas enger zusammen (de Grünwald (1965, S. 20) berichtet u.a. auch von einer harmonischen Ehe der Eltern und vom Zusammenleben der Familie in bescheidenen Gemächern), als bei vorherigen Zaren üblich. Dies passt auch in die Zeitachse: Je weiter wir in der Geschichte zurückschauen, desto schlimmer wird oft das Bild, das wir über Kindheit bekommen. 

Nikolaus II. war Russlands letzter Zar, er wurde 1918 ermordet. 


Quellen:

d'Encausse, H. C. (1998). Nikolaus II.: Das Drama des letzten Zaren. Paul Zsolnay Verlag, Wien.

de Grünwald, C. (1965). Der letzte Zar. Leben und Tod Nikolaus II. Paul Neff Verlag, Wien / Berlin. 

Ferro, M. (1991). Nikolaus II. Der letzte Zar. Benzinger Verlag, Zürich. 


The Childhood of Vladimir Putin

(original in German: https://kriegsursachen.blogspot.com/2022/05/die-kindheit-von-wladimir-putin.html; translation by Gabriella Becchina)

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Introduction

“Does Putin's traumatic childhood have a link with Ukraine and other wars? Looking at his backstory does not justify his actions but offers one of the many explanations for an unfolding crisis. And a lesson for many of us” (Singh 2022). I can’t but agree. His childhood explains a lot and yet excuses nothing!

In addition, one must keep in mind that there is also an inherent connection to childhood and trauma experiences in Russia. Russia is not just Putin. His actions would not be possible without the direct or tacit support of countless people. Childhood in Russia was and is a great source of strain (see: “The Cruel and Brutal Russian Family of the 17th Century and the Relation to Contemporary Times” (Fuchs 2022) and “Childhood in Russia” (Fuchs 2014). Of course, this also has (political) consequences.

Parents traumatized by war

Let us now tackle his childhood and family backgrounds. Putin's father fought on the front lines during World War II and was almost killed. Putin's mother also nearly died when her hometown of Leningrad was besieged and starved (Baker & Glasser 2005, p. 40).

In an article, Vladimir Putin (2015) explicitly described his parents' war experiences. His father was part of a diversion group of 28 people. They were once ambushed. His father survived only because he spent hours burying himself in a swamp and breathing through a reed. Of the 28 men, only four returned alive. Putin's father was immediately sent back to the front. There he was badly wounded and almost lost a leg. He had metal splinters in his body all his life. He was only fortuitously saved because a neighbor found him and dragged him to the military hospital at the risk of his life. While there, he diverted food for Putin's mother and their three-year-old son, which led to Putin's father sometimes fainting from hunger. Meanwhile, his mother had to withstand the siege of Leningrad. Her son was eventually taken away from her. He came into a home to save him from starvation. However, the little boy fell ill with diphtheria and died.

He was buried in a mass grave with over 470,000 further people (Myers 2015, p. 11). The family had previously lost a child who had died shortly after birth (Baker & Glasser 2005, p. 40).

At the time, Putin's mother was also closer to death than to life. Putin goes on to tell how one day his father was walking home on crutches. Paramedics were carrying bodies outside, including Putin's mother. The father discovered that she was still breathing. He cared for his wife and was able to save her (Putin 2015). Putin adds that five of his father's six brothers died in the war. His mother also lost relatives.

Putin's parents combined must have been highly traumatized people. We know today that this can put a heavy burden on the offspring (keyword: transgenerational transmission of trauma).

Childhood nightmare

The family lived in only one room and Vladimir's life arguably took place mainly outside and in backyards. "Everyone somehow lived within themselves," as recounted later by Putin in his description of that period and life with his parents. "I can't say that we were a very emotional family, that we discussed anything much. They kept a lot to themselves. I still wonder today how they dealt with the tragedies” (Seipel 2015, chapter: “Upheavals of the Past”). Another source describes how his parents left the boy to his own devices and he basically grew up as a type of street kid (Retter 2022). The living conditions were poor, they had to share the kitchen with others; to wash, the family went to public washhouses and often had to dodge hordes of rats in their home (Baker & Glasser 2005, p. 41).

Putin's father is described as a hard, strict and silent man who showed no feelings towards his son Vladimir and often argued with him. Once Vladimir left town with his friends without telling his parents. When he returned home, his father beat him with a belt (Baker & Glasser 2005, pp. 41f.). The biographer Steven Lee Myers (2015, p. 12) describes him in a very similar way: "Vladimir`s father was taciturn and severe, frightening even to people who knew him well." Myers (2015, p. 14) confirms the previously described fatherly violence against the son as well.

"His father was, by all accounts, concerned primarily with discipline, not with the quality of schooling his son received," writes Gessen (2014, p. 47f.) and adds that the boy initially had little interest in his education and most of the biographical descriptions from this period centered on the many "fistfights of his childhood and youth". On the street and with regard to the other boys, everything revolved around “constant drinking, cursing, fistfights. And there was Putin in the middle of all this,” reported a former classmate (Gessen 2014, p. 48).

Putin's former teacher, Vera Gurevich, relayed that she once visited the father and explained to him that his son was not developing his full potential. The father replied: "Well, what can I do? Kill him or what?" (Myers 2015, p. 15). Quite an unusual answer, which in turn testifies to the roughness of this person.

Putin, who was younger and slimmer than the other children around him, tried to hold up by persistently fighting. He also brought this violence to school, which got him into trouble and made him an outsider: "The school punished Putin by excluding him from the Young Pioneers Organization - a rare, almost exotic form of punishment, generally reserved for children who were held back repeatedly and essentially deemed hopeless. Putin was a marked boy: for three years, he was the only child in the school who did not wear a red kerchief around his neck, symbolizing membership in the Communist Organization for ten-to-fourteen-year-olds” (Gessen 2014, p. 48).

“As is almost always the case with bullies, Putin started out as a victim. (…) he was bullied and humiliated as a child” (Strick 2022). Myers also confirms that Putin was bullied and attacked because of his small size (Myers 2015, p. 15, 153). Ihanus (2022) describes another scene in which attacks against Putin took place: "His former teacher Vera Gurevich once said that the small Putin was locked by other schoolmates in the girls’ toilet where the girls slapped him."

Learning martial arts was evidently a way for the young Putin to be able to defend himself. He was used to violence since childhood. His teacher Vera Gurevich reported that when Putin broke the leg of one of his classmates at the age of 14, he said that some people "only understand violence" (Welt-Online 2022).

Are Putin's parents his biological parents?

In a research series (Dobbert 2015), Die ZEIT newspaper addressed the subject of Vera Putina, the woman who claims to be Vladimir Putin's real mother. Apparently, there is some evidence to justify publishing this story (including similarities in facial features between her and Putin). I myself don't want to skip this chapter, thus referring to the article (which can be viewed online and is very interesting). However, questions obviously still persist and there is no absolute certainty (through a genetic test) about this story. If the story is true, then Vladimir had an ominous odyssey of changing caregivers behind him, which would have implied an enormous burden for the child.

The story goes like this: Vera Putina fell in love with a man named Platon Privalov and became pregnant. Only then did she find out that he was married, and broke up with him. She moved in with her parents. During that time, she had to leave her barely two-year-old son with her parents for weeks at a time because her work took her out of town. Eventually, she met a Georgian, married him and moved to Georgia with her illegitimate son. A girl was born. For years there was a dispute about the boy. Her husband no longer wanted him to stay. Once her husband's sister simply gave the boy away to a strange man. The mother went looking for her son and brought him back. After that, she decided to place him with her parents again. However, her father became very ill and the boy had to move to foster parents who were distant (childless) relatives of her parents: Vladimir Spiridonovich Putin and Maria Ivanovna Putina (Putin's official parents).

Stanislav Belkovsky (2022, pp. 42f.) also doubted the official version of Putin's origins in his biography of Putin and basically explained the ZEIT story in a similar way (his book was originally published in 2013, i.e. before the ZEIT article). As a result of these experiences, Vladimir had become a withdrawn and grim child. In addition, he has hated Georgians as an ethnic group and as a category since then.

I find a further piece of information regarding the above-mentioned context noteworthy. Sadovnikova (2017, p. 30) specifies that Putin's father wanted a son. The mother actually didn't want a child (let’s also remember: she had lost two children before), but agreed. In this respect, Putin was an unwanted child on the part of his mother (which may have influenced the mother-son bond). For one. According to the source, the father wanted a son, which there is approximately a 50/50 chance for through natural pregnancy. The situation is different when a son is "offered" through relatives, as suggested in the above-mentioned ZEIT article. Just as an additional mental note.

Closing remarks

It is safe to say that Vladimir Putin's childhood was not "exotic" in the Russia of that time. Many Russians grew up with parents traumatized by war, in poverty and with violence, and were neglected and/or experienced the death of family members. With it loomed the shadows of Russian history: e.g. the oppression by the tsars, Stalin's terror, famines, all the wars, serfdom and despotism. Still, I would not use this information and background to say that not all people who grew up this way became like "Putin" (which is often used as an argument to downplay any contingent bearings). Needless to say, there is something psychopathic about Putin that few people develop in this fashion. However, his actions would not have been possible without the direct or tacit support of countless Russian people (including those following and helplessly frozen), as I already wrote at the beginning. The circle is now closing, especially in light of the suffering and trauma endured by many!

Or as Juhani Ihanus (2008, p. 255) expressed it: "The mystery and charisma of the leader reflect the secrets of abuse, shared by the majority of Russians in one form or another."



Bibliography

Baker, P. & Glasser, S. (2005). Kremlin Rising: Vladimir Putin's Russia and the End of Revolution. A Lisa Drew Book/Scribner, New York. Kindle e-book Edition.

Belkowski, S. (2022). Wladimir: Die ganze Wahrheit über Putin. Redline Verlag, München (3rd edition). Kindle e-book edition.

Dobbert, S. (2015, May 7): Vera Putina’s Lost Son. DIE ZEIT. https://www.zeit.de/feature/vladimir-putin-mother

Fuchs, S. (2022). Die grausame und rohe russische Familie des 17. Jahrhunderts und der Bezug zur heutigen Zeit. https://kriegsursachen.blogspot.com/2022/04/die-grausame-und-rohe-russische-familie.html

Fuchs, S. (2014). Kindheit in Russland. https://kriegsursachen.blogspot.com/2014/04/kindheit-in-russland.html

Gessen, M. (2014). The Man Without a Face: The Unlikely Rise of Vladimir Putin. Granta, London. Kindle e-book edition.

Ihanus, J. (2008). Putin the Aging Terminator: Psychohistorical and Psychopolitical Notes. The Journal of Psychohistory, Winter 2008, 35(3), S. 240-269. 

Ihanus, J. (2022). Putin, Ukraine, and Fratricide. (will be published in Clio's Psyche, spring issue, discussed in advance and sent to participants of the "Psychohistory Forum Virtual Meeting" on May 14, 2022)

Myers, S. L. (2015). The New Tsar: The Rise and Reign of Vladimir Putin. Alfred A. Knopf, New York. Kindle e-book edition. 

Putin, W. (2015, May 9). Das Leben ist eine einfache und grausame Sache. Frankfurter Allgemeine-online. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wladimir-putin-zum-70-jahrestag-des-kriegsendes-13578426.html

Retter, E. (2022, Feb. 23). Vladimir Putin's childhood explained - from 'miracle baby' to power-crazed president. Mirror. https://www.mirror.co.uk/news/world-news/vladimir-putins-childhood-explained-miracle-26303775?utm_source=twitter.com&utm_medium=social&utm_campaign=sharebar

Sadovnikova, A. (2017). Wenig folgsam und sehr frech. In: DER SPIEGEL-Biografie (Ed.). Wladimir Putin. 05/2017. SPIEGEL-Verlag, Hamburg.

Seipel, H. (2015): Putin. Innenansichten der Macht. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg. Kindle e-book edition.

Singh, D. (2022, March 15). Putin's rough childhood and its shadow over Ukraine and other wars. India Today. https://www.indiatoday.in/news-analysis/story/russia-ukraine-war-vladimir-putin-childhood-1925663-2022-03-15?t_source=rhs&t_medium=It&t_campaign=readthis&utm_source=twshare&utm_medium=socialicons&utm_campaign=shareurltracking

Strick, K. (2022, March 24). Is Vlad mad or bad? The life of Putin — from a childhood being chased by rats to today’s isolation and paranoia. Evening Standard. https://www.standard.co.uk/insider/vladimir-putin-russia-ukraine-war-background-president-life-covid-pandemic-b988399.html

Welt-Online (2022, Feb 22). Putin als Jugendlicher: „Wenn der Kampf unvermeidbar ist, muss man als Erster zuschlagen“. https://www.welt.de/politik/ausland/article237062307/Putin-Wenn-der-Kampf-unvermeidbar-ist-muss-man-als-Erster-zuschlagen.html


Author profile (in german): https://mattes.de/autoren/fuchs_sven.html


Dienstag, 17. Mai 2022

Sind naturnahe Völker "im Grunde gut"?

 „Bei den naturnahen Völkern helfen Kinder öfter, teilen mehr und wirken auch sonst glücklicher. Was können wir von deren Erziehungsgeheimnissen lernen?“ fragt Saara von Alten für einen Artikel im Tagesspiegel (15.05.2022: „Erziehungsgeheimnisse indigener Kulturen: Wie Kinder freiwillig im Haushalt helfen und teilen lernen“)

Ausgangspunkt ihrer Recherche ist das neue Buch „Kindern mehr zutrauen: Erziehungsgeheimnisse indigener Kulturen. Stressfrei – gelassen – liebevoll“ von Michaeleen Douclef. 

Ich bin kein Ethnologe und ich schließe nie aus, dass ich mich bei diesem Themenfeld auch irre. Aber ich musste einige Mal schwer durchatmen, als ich den Artikel las. Die Idealisierung von indigenen Kulturen ist mir schon oft begegnet. Meine Recherchen zeigten dagegen ein anderes Bild und auch viele dunkle Seiten, die sich bei diesen einfachen Kulturen offenbaren. Siehe dazu das Kapitel „Es gab kein Paradies! Gewalt in vorzivilisatorischen Gesellschaften“ in meinem Buch

Neben Doucleff verweist die Autorin auch auf die Arbeit von Jean Liedloff („Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“), die ich wiederum in meinem Buch kritisiert habe. 

Der Schlussteil des genannten Tagesspiegel-Artikels macht dann aber noch eine Wendung, die ich richtig und wichtig fand. Sie schreibt: „Sicherlich kann man den beiden Autorinnen entgegenhalten, dass sie die Yequana oder Mayas sehr idealisieren. So erwähnen sie nicht, dass der hohe Gemeinschaftssinn in naturnahen Völkern oft zulasten der Individualität geht, weshalb einige Indigene aus ihren Stämmen ausbrechen und in die Städte ziehen. Ebenso haben Mayas oder Yequana in ihrer Vergangenheit wie westliche Nationen Kriege geführt. Auch zum Thema Gleichberechtigung gibt es je nach Region unterschiedliche Beobachtungen: In einigen Jäger- und Sammlervölkern war beispielsweise Frauenraub ein legitimes Mittel zur Stammeserhaltung.“
Ich würde dem noch Stichwörter wie Kindes-/Säuglingstötungen, hohe Kindersterblichkeit, schmerzhafte bis traumatisierende Initiationsriten, Aussetzen oder Töten von kranken oder alten Mitgliedern des Stammes, hoher Konformitätsdruck und andere Formen der Kontrolle von Kindern (z.B. stark verängstigende Gruselgeschichten, „Lernen“ durch Verletzung/Unfälle z.B. unkontrolliertes Spielen am Feuer, mit Messern usw. oder Ausschluss aus der Gruppe) anhängen. 

Wenn es darum geht, positive Aspekte der Kindererziehung in indigenen Kulturen zu übernehmen (z.B. lange Stillzeit, viel Körperkontakt, keine getrennten Schlafräume für Babys usw.), dann bin ich sofort dabei! Auch dies betont die Autorin des Artikels, was ich wunderbar finde. 

Insofern möchte ich den Artikel auch gar nicht zu sehr kritisieren, weil er eine gewisse Ausgewogenheit erreicht. Etwas widersprüchlich wurde es dann aber noch an einer Stelle: „Auch nach einem cholerischen Wutanfall à la Klaus Kinski“ (siehe seinen Ausraster hier) könne man in indigenen Gemeinschaften lange suchen, so die Autorin. In diesem Zusammenhang fällt das Wort „Gelassenheit“. Allerdings erwähnt die Autorin in diesem Kontext auch, dass bei den damaligen Dreharbeiten im lateinamerikanischen Dschungel die Amazonas-Bewohner dem Regisseur angeblich anboten, Klaus Kinski nach dessen langem Wutanfall zu töten. Traditionelle Art von „Gelassenheit“ halt…, wenn ich das so anmerken darf.

Ähnlich argumentierte auch Rutger Bregman (2020) in seinem Buch „Im Grunde gut“. Er kritisiert in seinem Buch das schlechte Bild über Jäger- und Sammlerkulturen. Er betont dagegen den Zusammenhalt, die häufige Friedfertigkeit und die innere Ausgeglichenheit dieser Völker. An einer Stelle erzählt er dazu eine Geschichte, um seine Thesen zu untermauern: 

Natürlich hat es immer Menschen gegeben, die sich nicht an diese Ehrlich-teilen-Etikette gehalten haben. Aber damit gingen sie ein großes Risiko ein, denn wer sich arrogant oder gierig verhielt, konnte verbannt werden. Und wenn selbst das nicht half, gab es ein letztes Mittel: Nehmen Sie einen Vorfall, der sich unter den !Kung ereignete. Die Hauptperson war /Twi, ein Mitglied des Stammes, das zuvor zwei Menschen getötet hatte und sich immer untolerierbarer aufführte. Die Gruppe hatte genug davon: `Und dann feuerten sie giftige Pfeile auf ihn, bis er wie ein Stachelschwein aussah. Er lag still da. Alle traten näher heran, Männer und Frauen, und durchbohrten ihn mit Speeren, bis er tot war.` Anthropologen zufolge müssen sich solche Szenarien in prähistorischen Tagen von Zeit zu Zeit ereignet haben. Wenn jemand die Nase über den anderen rümpfte, rechnete die Gruppe mit ihm ab. So domestizierte der Mensch sich selbst“ (Bregman 2020, S. 120).
Die Aussage hier ist klar: Die Kultur ist im Grunde harmonisch und gut! Sie duldet keine Disharmonie und Destruktivität innerhalb der Gruppe. Man löst dies in diesen einfachen Kulturen durch Verbannung (was dem Tod gleichbedeutend ist) oder durch kollektiven (grausamen) Mord. Bleibt mir noch anzufügen, dass im kleinen Rahmen dieser Gruppen auch die Kinder Zeugen dieses Gemeinschaftsmordes geworden sein werden, eine höchst traumatische Erfahrung. 
Schauen wir abschließend auch auf die drei Morde aus diesem o.g. Fallbeispiel und setzen sie in Relation zu den oft sehr kleinen Gruppen: Die Mordrate bei dieser !Kung Gruppe wäre entsprechend hoch


Donnerstag, 12. Mai 2022

Die Kindheit von Wladimir Putin

aktualisiert am 18.05.2022

Does Putin's traumatic childhood have a link with Ukraine and other wars? Looking at his backstory does not justify his actions but offers one of the many explanations for an unfolding crisis. And a lesson for many of us” (Singh 2022). Dem kann ich nur zustimmen. Seine Kindheit erklärt vieles und entschuldigt dennoch nichts! 

Ergänzend muss bedacht werden, dass es auch eine Verbindung zu Kindheit bzw. Traumaerfahrungen an sich in Russland gibt. Russland ist nicht nur Putin. Seine Taten wären ohne eine direkte oder stillschweigende Unterstützung unzähliger Menschen nicht möglich. Kindheit in Russland war und ist sehr belastend (siehe: Die grausame und rohe russische Familie des 17. Jahrhunderts und der Bezug zur heutigen Zeit und Kindheit in Russland). Auch dies hat selbstverständlich (politische) Folgen. 

Kriegstraumatisierte Eltern 

Kommen wir nun zu seinen Kindheits- und Familienhintergründen. Der Vater von Putin kämpfte im Zweiten Weltkrieg an der Front und wurde dabei fast getötet. Putins Mutter kam ebenfalls fast zu Tode, als ihre Heimatstadt Leningrad belagert und ausgehungert wurde (Baker & Glasser 2005, S. 40). 

Wladimir Putin (2015) hat in einem Artikel die Kriegserlebnisse seiner Eltern deutlich beschrieben. Sein Vater war Teil einer Diversionsgruppe von 28 Mann. Sie gerieten einst in einen Hinterhalt. Sein Vater überlebte nur, weil er sich stundenlang im Sumpf vergrub und durch ein Schilfrohr atmete. Von den 28 Mann kamen nur vier lebend zurück. Putins Vater wurde sogleich wieder an die Front geschickt. Dort wurde er schwer verwundet und verlor fast ein Bein. Er hatte sein Leben lang Metallsplitter im Körper. Nur durch Zufall wurde er damals gerettet, weil ihn ein Nachbar fand und ihn unter Lebensgefahr zum Lazarett schleppte. Im Lazarett zweigte er Lebensmittel für Putins Mutter und den gemeinsamen dreijährigen Sohn ab, was dazu führte, dass Putins Vater teils Hungerohnmachten erlitt. Die Mutter musste derweilen der Belagerung von Leningrad standhalten. Ihr Sohn wurde ihr schließlich weggenommen. Er kam in ein Heim, um ihn vor dem Hungertod zu retten. Der Kleine erkrankte dort allerdings an Diphterie und starb.
Er wurde zusammen mit über 470.000 anderen Menschen in einem Massengrab beigesetzt (Myers 2015, S. 11). Die Familie hatte schon zuvor ein Kind verloren, das kurz nach der Geburt starb (Baker & Glasser 2005, S. 40).
Auch Putins Mutter war dem Tod damals näher als dem Leben. Putin berichtet weiter, wie eines Tages sein Vater auf Krücken nach Hause ging. Sanitäter trugen Leichen nach draußen, darunter die Mutter von Putin. Der Vater entdeckte, dass sie noch atmete. Er pflegte seine Frau und konnte sie retten (Putin 2015). Putin hängt an, dass fünf von sechs Brüder seines Vaters im Krieg gefallen sind. Auch seine Mutter habe Verwandte verloren.
Putins Eltern müssen zusammengefasst hoch traumatisierte Menschen gewesen sein. Wir wissen heute, dass dies die Nachkommen schwer belasten kann (Stichwort: transgenerationale Weitergabe von Traumata).  

Alptraum einer Kindheit

Die Familie lebte in nur einem Zimmer und Wladimirs Leben spielte sich wohl hauptsächlich draußen und den Hinterhöfen ab. „Jeder lebte irgendwie in sich selbst“, beschreibt Putin später diese Zeit und das Leben mit seinen Eltern. „Ich kann nicht behaupten, dass wir eine sehr emotionale Familie waren, dass wir uns austauschten. Sie behielten vieles für sich. Ich wundere mich noch heute, wie sie mit den Tragödien umgingen“ (Seipel 2015, Kapitel: „Vergangenheit und Umbruch“). In einer anderen Quelle wird beschrieben, wie seine Eltern den Jungen sich selbst überließen und er im Grunde als eine Art Straßenkind aufwuchs (Retter 2022). Die Wohnverhältnisse waren ärmlich, die Küche mussten sie sich mit Anderen teilen; um sich zu waschen, ging die Familie in öffentliche Waschhäuser und oft mussten sie in ihrem Haus Horden von Ratten ausweichen (Baker & Glasser 2005, S. 41). 

Putins Vater wird als harter, strenger und stiller Mann beschrieben, der seinem Sohn Wladimir gegenüber keine Gefühle zeigte und oft Streit mit ihm hatte. Einmal verließ Wladimir mit seinen Freunden die Stadt, ohne den Eltern Bescheid zu sagen. Als er wieder nach Hause kam, wurde er von seinem Vater mit einem Gürtel verprügelt (Baker & Glasser 2005, S. 41f.). Der Biograf Steven Lee Myers beschreibt (2015, S. 12) ihn ganz ähnlich: "Vladimir`s father was taciturn and severe, frightening even to people who knew him well." Auch die zuvor beschriebene väterliche Gewalt gegen den Sohn wird von von Myers (2015, S. 14) bestätigt. 
His father was, by all accounts, concerned primarily with discipline, not with the quality of schooling his son received” schreibt Gessen (2014, S. 47f.) und fügt an, dass auch der Junge anfänglich kaum Interesse an seiner Bildung hatte und sich die meisten biografischen Schilderungen aus dieser Zeit um die vielen „fistfights of his childhood and youth“ drehten. Auf der Straße und bzgl. der anderen Jungs drehte sich alles am „constant drinking, cursing, fistfights. And there was Putin in the middle of all this“, berichtete ein ehemaliger Klassenkamerad (Gessen 2014, S. 48). 
Putins ehemalige Lehrerin Vera Gurevich berichtete, dass sie einmal den Vater besuchte und ihm erklärte, dass sein Sohn nicht sein volles Potential entfalten würde. Der Vater antwortete: "Well, what can I do? Kill him or what?" (Myers 2015, S. 15). Eine ungewöhnliche Antwort, die wiederum von der Rauheit dieser Person zeugt. 

Putin, der jünger und schmaler gebaut war als die anderen Kinder um ihn herum, versuchte durch beharrliches Kämpfen gegenzuhalten. Diese Gewalt brachte er auch mit in die Schule, was ihm Probleme und eine Außenseiterstellung einhandelte:
The school punished Putin by excluding him from the Young Pioneers Organisation – a rare, almost exotic form of punishment, generally reserved für children who were held back repeatedly and essentially deemed hopeless. Putin was a marked boy: for three years, he was the only child in the school who did not wear a red kerchief around his neck, simbolizing membership in the Communist Organisation for ten-to-fourteen-year-olds” (Gessen 2014, S. 48). 

As is almost always the case with bullies, Putin started out as a victim. (…) he was bullied and humiliated as a child” (Strick 2022). Auch Myers bestätigt, dass Putin auf Grund seiner kleinen Größe gemobbt bzw. angegriffen wurde (Myers 2015, S. 15, 153). Ihanus (2022) beschreibt eine weitere Szene, in der Übergriffe gegen Putin stattfanden: "His former teacher Vera Gurevich once said that the small Putin was locked by other schoolmates in the girls’ toilet where the girls slapped him."
Kampfsport zu lernen war für den jungen Putin offensichtlich ein Mittel, sich verteidigen zu können. Von Kindheit an war er Gewalt gewohnt. Seine Lehrerin Vera Gurewitsch berichtete, als Putin im Alter von 14 Jahren einem seiner Mitschüler das Bein brach, habe er gesagt, dass manche „nur Gewalt verstehen“ (Welt-Online 2022). 

Sind Putins Eltern seine leiblichen Eltern? 

Die ZEIT hat sich in einer Recherchereihe (Dobbert 2015) mit Vera Putina befasst, der Frau, die behauptet, die echte Mutter von Wladimir Putin zu sein. Offensichtlich gibt es einige Belege, die eine Veröffentlichung dieser Geschichte rechtfertigen (inkl. Ähnlichkeiten der Gesichtszüge zwischen ihr und Putin). Ich selbst möchte dieses Kapitel nicht ausblenden, darum verweise ich auf den Artikel (der online einsehbar und sehr interessant ist). Allerdings bleiben Fragen und absolute Gewissheit (durch einen Gentest) über diese Geschichte gibt es offensichtlich nicht. Sollte die Geschichte stimmen, dann hatte Wladimir als Kind eine unheilvolle Odyssee an wechselnden Bezugspersonen hinter sich, was eine enorme Belastung für das Kind bedeuten würde.

Die Geschichte geht so: Vera Putina verliebte sich in einen Mann namens Platon Priwalow und wurde schwanger. Erst dann erfuhr sie, dass er verheiratet war und trennte sich von ihm. Sie zog zu ihren Eltern. Wochenlang musste sie in dieser Zeit ihren noch nicht ganz zwei Jahren alten Sohn bei ihren Eltern lassen, weil sie beruflich außerorts arbeiten musste. Sie lernte schließlich einen Georgier kennen, heiratete ihn und zog mit ihrem unehelich geborenen Sohn zu ihm nach Georgien. Ein Mädchen wurde geboren. Jahrelang gab es Streit wegen dem Jungen. Ihr Mann wollte nicht mehr, dass er bleibt. Einmal gab die Schwester ihres Mannes den Jungen einfach zu einem fremden Mann. Die Mutter suchte ihren Sohn und brachte ihn zurück. Danach entschloss sie sich, ihn wieder bei ihren Eltern unterzubringen. Allerdings wurde ihr Vater sehr krank und der Junge musste zu Pflegeeltern, entfernte (kinderlose) Verwandte ihrer Eltern: Wladimir Spiridonowitsch Putin und Maria Iwanowna Putina (die offiziellen Eltern von Putin).
Auch Stanislaw Belkowski (2022, S. 42f.) hat in seiner Putin-Biografie die offizielle Version von Putins Herkunft angezweifelt und im Prinzip die ZEIT-Story ähnlich ausgeführt (sein Buch wurde ursprünglich 2013 veröffentlicht, also noch vor dem ZEIT-Artikel). Wladimir sei durch diese Erlebnisse zu einem verschlossenen und grimmigen Kind geworden. Außerdem habe er seitdem die Georgier als Ethnie und Gruppe gehasst. 

Eine weitere Information finde ich bzgl. des o.g. Zusammenhangs bemerkenswert. In der Reihe DER SPIEGEL-Biografie (2017, S. 30) wird beschrieben, dass sich Putins Vater einen Sohn wünschte. Die Mutter wollte eigentlich kein Kind (wir erinnern uns auch: sie hatte zuvor zwei Kinder verloren), stimmte aber zu. Insofern war Putin seitens seiner Mutter ein ungewolltes Kind (was evtl. die Mutter-Sohn-Bindung beeinflusst haben wird). Das ist das Eine. Der Vater wollte der Quelle nach einen Sohn, was bei einer natürlichen Schwangerschaft eine Chance von ca. 50/50 bedeutet. Anders sieht es aus, wenn über Verwandte ein Sohn „angeboten“ wird, wie es in o.g. ZEIT-Artikel nahegelegt wird. Dies nur als gedanklicher Anhang. 

Schlussbemerkungen

Man könnte sicher sagen, dass die Kindheit von Wladimir Putin nicht "exotisch" im damaligen Russland war. Viele Russen wuchsen mit kriegstraumatisierten Eltern, in Armut und mit Gewalt auf, wurden vernachlässigt und/oder erlebten den Tod von Familienmitgliedern. Dazu kamen die Schatten der russischen Geschichte: z.B. die Unterdrückung durch die Zaren, Stalins Terror, Hungersnöte, all die Kriege, Leibeigenschaft und Willkür. Diese Informationen und Hintergründe würde ich aber nicht nutzen, um zu sagen, dass ja nicht alle so aufgewachsenen Menschen zu einem "Putin" wurden (was gerne getan wird, um die möglichen Zusammenhänge gering zu reden). Natürlich hat Putin etwas psychopathisches, was nur wenige Menschen so entwickeln. Seine Taten wären aber ohne eine direkte oder stillschweigende Unterstützung (inkl. Mitläufertum und Verharren in Ohnmacht) unzähliger russischer Menschen nicht möglich, wie ich eingangs bereits schrieb. Der Kreis schließt sich, gerade mit Blick auf das Leid und das Trauma der Vielen! 
Oder wie Juhani Ihanus (2008, S. 255) es ausdrückte: "The mystery and charisma of the leader reflect the secrets of abuse, shared by the majority of Russians in one form or another."


Hinweis: Dieser Beitrag ersetzt bzw. ergänzt meinen Blogbeitrag Kindheit von Wladimir Wladimirowitsch Putin


Quellen:

Baker, P. & Glasser, S. (2005). Kremlin Rising: Vladimir Putin's Russia and the End of Revolution. A Lisa Drew Book/Scribner, New York. Kindle e-book Edition.

Belkowski, S. (2022). Wladimir: Die ganze Wahrheit über Putin. Redline Verlag, München (3. Auflage). Kindle e-book edition.

DER SPIEGEL-Biografie (2017, 01. Mai). Wladimir Putin. SPIEGEL-Verlag, Hamburg. 

Dobbert, S. (2015, 07. Mai): Vera Putinas verlorener Sohn. DIE ZEIT, Nr. 19. https://www.zeit.de/feature/wladimir-putin-mutter#kapitel2. (in Englisch frei zugänglich online:  https://www.zeit.de/feature/vladimir-putin-mother)

Gessen, M. (2014). The Man Without a Face: The Unlikely Rise of Vladimir Putin. Granta, London. Kindle e-book edition.

Ihanus, J. (2008). Putin the Aging Terminator: Psychohistorical and Psychopolitical Notes. The Journal of Psychohistory, Winter 2008,  35(3), S. 240-269. 

Ihanus, J. (2022). Putin, Ukraine, and Fratricide. (wird noch in Clio's Psyche, spring issue veröffentlicht, vorab besprochen und an Teilnehmer des "Psychohistory Forum Virtual Meeting" vom 14.05.2022 versandt)

Myers, S. L. (2015). The New Tsar: The Rise and Reign of Vladimir Putin. Alfred A. Knopf, New York. Kindle e-book edition. 

Putin, W. (2015, 09. Mai). Das Leben ist eine einfache und grausame Sache. Frankfurter Allgemeine-online. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wladimir-putin-zum-70-jahrestag-des-kriegsendes-13578426.html

Retter, E. (2022, 23. Feb.). Vladimir Putin's childhood explained - from 'miracle baby' to power-crazed president. Mirror. https://www.mirror.co.uk/news/world-news/vladimir-putins-childhood-explained-miracle-26303775?utm_source=twitter.com&utm_medium=social&utm_campaign=sharebar

Seipel, H. (2015): Putin. Innenansichten der Macht. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg. Kindle e-book edition.

Singh, D. (2022, 15. März). Putin's rough childhood and its shadow over Ukraine and other wars. India Today. https://www.indiatoday.in/news-analysis/story/russia-ukraine-war-vladimir-putin-childhood-1925663-2022-03-15?t_source=rhs&t_medium=It&t_campaign=readthis&utm_source=twshare&utm_medium=socialicons&utm_campaign=shareurltracking

Strick, K. (2022, 24. März). Is Vlad mad or bad? The life of Putin — from a childhood being chased by rats to today’s isolation and paranoia. Evening Standard. https://www.standard.co.uk/insider/vladimir-putin-russia-ukraine-war-background-president-life-covid-pandemic-b988399.html

Welt-Online (2022, 22. Feb.). Putin als Jugendlicher: „Wenn der Kampf unvermeidbar ist, muss man als Erster zuschlagen“. https://www.welt.de/politik/ausland/article237062307/Putin-Wenn-der-Kampf-unvermeidbar-ist-muss-man-als-Erster-zuschlagen.html


Donnerstag, 5. Mai 2022

Neue Studie: Kindheiten von rechten Jugendlichen

Erneut habe ich eine Studie (Studie Nr. 35 !) gefunden, für die rechte Akteure über ihre Kindheit befragt wurden:

Fahrig, K. (2020). Rechte Jugendliche und ihre Familien: Eine Perspektiven triangulierende Rekonstruktion biografischer Hintergründe (Studien zur Kindheits- und Jugendforschung, Band 4). Springer VS, Wiesbaden.

Katharina Fahrig hat ausführlich mit sechs jungen Männern bzw. Jugendliche (Alter zwischen 18 und 23 Jahre), die sich rechten Gruppen angeschlossen hatten, gesprochen. Teils wurden ergänzend die Mütter der Jugendlichen befragt. Zwei der befragten Jugendlichen mussten Haftstrafen absitzen, bei einem drohte eine Jugendstrafe. Der rechte Organisationsgrad der Befragten unterschied sich zwischen „gering“ bis „sehr stark“. Ein Befragter („Piet“) hatte sogar eine eigene, rechte Kameradschaft gegründet. Der Einstieg in die rechte Szene erfolgte durch Freunde oder Bekannte.

Die Zusammenfassungen der Autorin über die Kindheits-/Familienhintergründe und Krisen der Befragten gleichen denen, die ich immer wieder in ähnlichen Studien fand: 

Bei allen Jugendlichen erfolgte der Anschluss an die rechte Szene im Zusammenhang mit sich krisenhaft zuspitzenden Ereignissen und Konstellationen ihres Lebens, die mit innerfamilialen und/oder schulischen Desintegrationserfahrungen verbunden waren“ (S. 334). 

Die rekonstruierten subjektiv belastenden Lebensumstände der Jugendlichen lassen sich zu emotionalen Ausgangslagen verdichten, die die Suche nach und Offenheit für neue rückhaltversprechende soziale/jugendkulturelle Einbindungen begründen und erkennen lassen, welche Funktion der Anschluss an die rechte Szene für die Jugendlichen hatte. Entscheidend ist hier, dass die sich Jugendlichen durch die Selbstpräsentation der Szene und die darüber vermittelten Strukturen von Spaß, Zusammenhalt, Respekt und Freizeiterleben, aber auch die Möglichkeit, Aggressionen auszuleben und dafür sogar positive Resonanz zu bekommen, emotional angesprochen fühlten. Sie bot einen Ausweg aus der als unbefriedigend und belastend erlebten Lebenssituation“ (S. 336). 

Hinsichtlich der viel diskutierten Frage nach den Einflüssen und der Bedeutung von Familie und Peers lässt sich konstatieren, dass bei den hier untersuchten Fällen die familiale Situation eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung von subjektiv empfundenen Problemlagen und krisenhaften Zuspitzungen spielte, die bei den Jugendlichen die Bereitschaft zu einem Anschluss an eine starke, Anerkennung und Zusammenhalt versprechende Jugendclique begründete. (…) Das Gefühl akzeptiert, verstanden und angenommen zu werden, wurde (…) durch die Szene geboten und verband sich mit der Chance auf ein neu gewonnenes Selbstbewusstsein“ (S. 338). 

Je nach Problemlage fungierte die rechte Clique als eine Ersatzgemeinschaft für die Klassen bzw. Schulgemeinschaft oder übernahm quasi-familiale emotionale Rückhalts- und Hilfsfunktionen für die Jugendlichen“ (S. 346) Das Umschlagen erlebter Ohnmachtserfahrungen in (zumindest partielle) Gewaltakzeptanz sei ein weiterer, wichtiger Punkt, so die Autorin 

Zusammenfassung
Die Autorin hat an mehreren Stellen (S. 337, 354, 362, 367, 368, 369) die Familien- und Kindheitshintergründe der Befragten zusammengefasst, was ich wiederum wie folgt zusammenfasse: 

Dennis: frühe Trennung der Eltern; leiblicher Vater unbekannt; schwere Krankheit der Schwester;  Aufwachsen mit gewalttätigen, oft abwesenden Stiefvater (schlechte Beziehung zu diesem) und erneute Trennung als Dennis 14 Jahre alt war; danach neuer Stiefvater; ambivalentes Verhältnis zur Mutter, die teilweise autoritär und abwertend war und unerfüllbare Anforderungen stellte; Vernachlässigung. 

Kai: Trennung der Eltern, als Kai sechs Jahre alt war; Aufwachsen mit Stiefvater (von Konflikten und Ambivalenz geprägte Beziehung zu diesem; Stiefvater war kritisierend, abwertend und negativ sanktionierend); Suizid des leiblichen Vaters, als Kai vierzehn Jahre alt war; schulischer Absturz.  

Piet: Trennung der Eltern, als Piet acht Jahre alt war; vorher schwere Krebserkrankung von Piet, Mutter konnte Piet in dieser Zeit nichts abschlagen und setzte kaum Grenzen; nach Gesundung Rückstellung in der Schule, Schulprobleme und fehlende Anerkennung.

Bastian: Mutter und Vater vernachlässigten ihn emotional; Vater war häufig abwesend; Bastian war als Kind häufig alleine.

Holger: bei Konflikten sei die Mutter hoch erregbar gewesen (siehe auch Anmerkungen über Interviews mit ihm unten).

Peter: Trennung der Eltern, als Peter sechszehn Jahre alt war; vorher von massiven Konflikten sowie langjähriger von psychischer und physischer Gewalt geprägte Beziehung zum Vater (später Beziehungsabbruch zu diesem); die Mutter hätte ihn „ordentlich“ erzogen und sei „immer lieb“ gewesen, obwohl sie eine Autorität war und ihm Gehorsam abverlangt hätte; massive Mobbingerfahrungen in der Schule 

Bei den Interviews speziell mit Bastian und Holger blieben, laut der Autorin, die Erzählungen über das Aufwachsen in der Familie vage, Nachfragen wurden nur knapp abgehandelt. Bastian war während der Interviews sogar hochgradig aggressiv, was intensivere Nachfragen erschwerte (S. 335). Insofern wird hier die Schwierigkeit, die ganze Wahrheit über als unangenehm empfundene Themenfelder zu erfahren, deutlich. Ich persönlich gehe grundsätzlich davon aus, dass Menschen über destruktive Kindheitserfahrungen routinemäßig meist eher zu wenig, als zu viel berichten. Trotz dieser Hürden hat die Autorin einiges zu Tage bringen können! 


Dienstag, 3. Mai 2022

Kindheit von Elisabeth I. (Russland, 1709-1761)

Über die Kindheit der Zarin Elisabeth I. fand ich nur wenige Informationen. Was ich fand, zeigt allerdings deutliche Tendenzen: 

Zar Peter der Große „konnte selten mehr als einige Tage hintereinander mit seinen Töchtern zusammensein. Oft vergingen Wochen, in denen sie ihn gar nicht zu Gesicht bekamen. Ihre Kinderzeit war außergewöhnlich einsam. (…) Anfangs wurden die Kinder von zwei Pflegerinnen betreut (…)“ (Rice 1970, S. 19). Auch die Mutter sei oft abwesend gewesen.
In einer anderen Quelle wird von "zwei derben Ammen" (Olivier 1963, S. 35) gesprochen, die das Mädchen und ihre Schwester aufzogen. Später kamen eine französische Gouvernante und als Erzieher ein Mann hinzu. 

Fremdbetreuung und frühe Weggabe der Kinder war üblich in diesen hohen Kreisen. Ich betone dies hier erneut (siehe meine anderen Beiträge über die Kindheiten der Zaren). Insofern wurden die Kinder systematisch von ihren Eltern entfremdet. 

Die Biografin bezieht sich auf Schilderungen von Katharina II., die bzgl. Elisabeth und ihrer Schwester berichtete: „Die beiden sind – zumindest anfangs – sehr vernachlässigt worden. Ihr Vater behandelte sie zunächst als Bastarde. Die zwei Mädchen hatten in frühster Kindheit niemanden außer den finnischen Bedienerinnen und später schrulligen Deutschen, denen die Kinder einzig und allein als Spielzeug dienten“ (Rice 1970, S. 19). Die Biografin hängt dem kritisch an: „Solche Äußerungen sind anfechtbar. Es sieht so aus, als stammten Katharinas Informationen in diesem Fall von voreingenommen Höflingen“ (Rice 1970, S. 19). Da die Biografin zuvor – wie oben zitiert – auf die außergewöhnliche Einsamkeit in der Kindheit von Elisabeth hingewiesen hat, scheinen Katharinas Eindrücke zumindest ins Bild zu passen.
Auch eine andere Quelle bestätigt die frühe Vernachlässigung: „Elisabeth war 1709 geboren (…). Sie sah ihre Eltern wenig, die viel auf Reisen waren; ihre Erziehung wurde vernachlässigt (…)“ (Cronin 2008, S. 39). Olivier (1963, S. 36) schreibt: "Der Herrscher fand nicht die Zeit, die Erziehung seiner Töchter zu überwachen. Seiner Gattin wiederum fehlten die Voraussetzungen dazu (...). Die Prinzessinnen sahen (...) ihre Eltern nur selten."

Elisabeths Vater – Peter der Große – starb 1725, Elisabeth war zu der zeit fünfzehn Jahre alt. Ca. zwei Jahre später starb die Mutter Katharina I.; Elisabeth war da siebzehn Jahre alt (Rice 1970, S. 24, 35).

Über die Kindheit von Peter dem Großen habe ich hier im Blog bereits geschrieben. Seine Kindheit war hoch traumatisch und der später Erwachsene hatte eine sehr grausame Seite. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass dieser Vater ein gutes Vorbild für seine Tochter war. Ganz im Gegenteil würde ich eher vermuten, dass von ihm deutliche Belastungen ausgingen (über die erwähnte Vernachlässigung hinaus), die dann auch Elisabeth geprägt haben dürften. Dies bleibt Spekulation, wäre aber nur logisch und nachvollziehbar.

Leider fand ich in den verwendeten Quellen keine Informationen zu den verstorbenen Geschwistern von Elisabeth. Insofern muss ich mich hier auf den Wikipedia-Eintrag über Elisabeth I. beziehen. Ihre Mutter soll bis zu elf Kinder bekommen haben. Nur Elisabeth und ihre Schwester Anna erreichten das Erwachsenenalter. Die Mutter hatte demnach vor der Geburt von Elisabeths Schwester Anna bereits drei Kinder verloren. Zwischen ihrem sechsten und sechszehnten Lebensjahr verlor Elisabeth sieben Geschwister an den Tod. 


Haupt-Quellen: 

Cronin, V. (2008). Katharina die Große. Piper Verlag, München

Olivier, D. (1963). Elisabeth von Rußland. Die Tochter Peters des Grossen. Paul Neff Verlag, Wien / Berlin / Stuttgart.

Rice, T. T. (1970). Elisabeth von Russland. Die letzte Romanow auf dem Zarenthron. Verlag George D. W. Callwey, München. 


Montag, 2. Mai 2022

Kindheit von Maximilien de Robespierre

Auch die Kindheit von Maximilien de Robespierre zeigte deutliche Schatten. 

Meine Quelle: Gallo, M. (1989). Robespierre. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart. 

Maximilien de Robespierre wurde am 6. Mai 1758 in Arras (Frankreich) geboren. Nach der Geburt eines fünften Kindes stirbt am 14. Juli 1764 seine Mutter. Maximilien ist zu der Zeit sechs Jahre alt. 

Der Vater wird von dem Biografen als labiler Mensch beschrieben, der innerhalb von vier Jahren vier Mal umzog, obwohl seine Frau in dieser Zeit fast ununterbrochen schwanger war. Nach dem Tod seiner Frau verschwindet der Vater Stück für Stück aus dem Leben seiner Kinder: „Maximilien ist sechs Jahre alt, als bei seinem Vater (…) erneut Anzeichen der seelischen Labilität spürbar werden (…).  Er beginnt immer häufiger, sich von zu Hause zu entfernen, verlässt Arras für längere Zeit und nimmt Anleihen bei seiner Schwester auf. (…) Das Fehlen des Vaters muss schwer auf dem empfindlichen Jungen gelastet haben“ (S. 24f.) 

Maximilien kommt zusammen mit seinem Bruder Augustin bei seinem Großvater mütterlicherseits unter. Die beiden Schwestern kommen zu einer Tante. Insofern wurden hier auch die Geschwister voneinander getrennt. Immerhin scheint es eine ganze Zeit lang sonntägliche Treffen mit den Schwestern gegeben zu haben. 

Bei seinem Großvater war man auf den Vater nicht gut zu sprechen. Er hatte zunächst die Mutter entehrt, die mit Maximilien bereits im fünften Monat schwanger war, als es zur Heirat kam und dann „durch die Vielzahl der Kinder den Tod seiner Frau verursacht. Maximilien muss diese Wunde, diese erdrückende Erbschande, die auf ihm lag, tief empfunden haben. Er fühlt sich schuldig für seinen Vater, dessen Gedächtnis er auslöschen muss und den er verleugnet, indem er ein radikal entgegengesetztes Verhalten an den Tag legt. Psychologisch gesehen hat er keine Wahl, als die Sorglosigkeit, den Leichtsinn und die Prinzipienlosigkeit seines Vaters durch Pflichtbewusstsein, Würde und Tugend zu ersetzen. `Eine radikale Veränderung ging in ihm vor`, schreibt seine Schwester Charlotte. `Vorher war er wie alle Kinder seines Alters sorglos, ausgelassen und leichtsinnig. Aber seit er sich als Ältester sozusagen in die Rolle des Familienoberhauptes gedrängt sah, wurde er vernünftig, gesetzt und strebsam (…)`“ (S. 25).

Maximilien muss „die Schuld seines Vaters, die auf ihn übergegangen ist, auslöschen, zunächst weil er der Sohn ist, aber auch und vor allem weil er sich in Beziehung auf diesen Vater, den er wie seine Umgebung verachtet, schuldig fühlt. Hat nicht auch er irgendeinen unbekannten Fehler begangen, der den Vater davongejagt hat? So kommt Maximilien dazu, sich selbst anzuklagen und für schuldig zu halten, weil er seinen Vater zugleich liebt und hasst. Diese Situation ist um so eindeutiger, als er seine Mutter sehr verehrte und nun, wie seine Umgebung, allen Grund dazu hat, dem Vater die Schuld an ihrem Tod zu geben. (…) Mehr als bei anderen werden bei ihm Charakter und Lebensweise durch diese frühen Erfahrungen geprägt.  Ohne Zweifel leidet er auch darunter, den anderen `zur Last zu fallen`, denn als Vollwaise ist er künftig vom Wohlwollen des Großvaters und bald auch von der Wohltätigkeit religiöser Institutionen abhängig“ (S. 25f.)

Im Alter von sieben Jahren wird Maximilien auf das örtliche Collège geschickt. „Er ist dort ein guter Schüler, diszipliniert, ernsthaft und fleißig, aber verschlossen. An den Spielen seiner Mitschüler beteiligt er sich nicht“ (S. 27). Das Kind scheint sich ein Stück weit emotional von seiner Umwelt entfernt zu haben. 

Als Maximilien ca. zehn Jahre alt ist, kommt seine Schwester Charlotte auf eine Art Internat, seine Schwester Henriette folgt, als er ca. fünfzehn Jahre alt ist. Maximilien selbst erhält im Alter von elf Jahren ein Stipendium für ein Collège in Paris (wo er zwölf Jahre bleibt) und wird „von neuem aus dem ihm vertrauten Milieu gerissen, wodurch ein weiterer Bruch in seiner Entwicklung eintritt. Zwar hat sich der entscheidende Umbruch beim Tod seiner Mutter und dem Verschwinden seines Vaters ereignet; aber die Abreise nach Paris muss den Jungen in seiner Verschlossenheit und in der unbewussten Überzeugung, die Wirklichkeit sei ihm feindlich gesonnen, bestärken, so dass sich in ihm die zähe `Melancholie` festsetzt, von der Charlotte spricht. Sie erwähnt auch, dass ihre jüngere Schwester Henriette starb, `während Maximilien in Paris seinen Studien nachging`. ´So kam es`, fügt sie hinzu, ´dass unsere Kindheit mit Tränen getränkt und jedes unserer frühen Jahre durch den Tod eines geliebten Wesens markiert war. (…)`“ (S. 27f.)

Auch im Pariser Collège sondert er sich eher von Mitschülern ab, glänzt aber durch seine Intelligenz und Leistungen. Die Achtung und das Interesse seiner Lehrer hätten allerdings nicht den „Durst nach Liebe“ stillen können, „um die Leere auszufüllen“ (S. 30). Seine Suche nach Achtung, Zuneigung und Liebe sei zum Scheitern verurteil gewesen. „Aus diesem Grunde ist es nicht verwunderlich, dass Maximilien Robespierre, dem Verfemten und Verfolgten, eine tiefe Bewunderung entgegenbringt“ (S. 30). Auch das Gefühl der Armut war ihm nicht fremd. 

Als Maximilien ca. siebzehn Jahre alt ist, stirbt seine Großmutter, drei Jahre später sein Großvater. Der Vater bleibt verschollen (S. 33f.).  

Über den Erziehungsalltag erfährt man leider nichts in der verwendeten Quelle. Im 18. Jahrhundert sind weitere Belastungen zumindest hoch wahrscheinlich, z.B. Körperstrafen, Kinderarbeit usw.

Die aufgezeigten Informationen über die Kindheit von Maximilien de Robespierre zeigen allerdings deutlich, dass er schwer traumatisiert wurde. Dazu kamen die Zeichen der Zeit, die seinen späteren Weg ebneten. Im Oktober 1793 beginnen im Verlauf der Französischen Revolution die Tage der Schreckensherrschaft, „der Terreur, an denen `die heilige Guillotine nie zur Ruhe kommt`" (S. 217).

Die Terrorherrschaft wurde vom sogenannten Wohlfahrtsausschuss ganz wesentlich von Maximilien de Robespierre angeführt. Robespierre definierte diese Herrschaft so: „`Terror ist nichts anderes als rasche, strenge und unbeugsame Gerechtigkeit. Er ist eine Offenbarung der Tugend.` Genau so hätten die Attentäter von Paris und Wien und die IS-Kämpfer in Syrien ihre Gräueltaten begründen können. Terror ist für sie kein krimineller Akt, sie wollen nicht bloß Angst und Schrecken verbreiten, sondern er hat für sie eine moralische Dimension “ (Die Presse, 05.11.2020, Europa erlebt das Ergebnis einer falsch verstandenen Toleranz

Der heutige Begriff „Terrorismus“ ist ganz wesentlich von dem damaligen Begriff „terreur“ abgeleitet.