aktualisiert am 22.03.2021 (siehe für genaue INFO Kommentare unten)
Über den Rückgang von sexueller und häuslicher Gewalt hatte ich bereits einen
Blogbeitrag geschrieben. Kürzlich wurde in den deutschen Medien sehr viel über das Thema „Häusliche Gewalt“ berichtet. Insofern möchte ich das Thema erneut aufgreifen (zumal es hierbei ergänzend auch um das Wohlergehen von Kindern geht, denn das Miterleben von Gewalt zwischen Elternteilen stellt einen enormen Belastungsfaktor für Kinder dar).
Immer wieder stehen dabei zwei Zahlen groß im Raum: 25 % und 22 %. So viel Prozent der Frauen in Deutschland haben - zwei repräsentativen Studien nach - häusliche Gewalt erlitten.
Ich zweifle diese Zahlen nicht an, beide Studien sind mir bekannt. Allerdings fehlt mir Erstens ein differenzierter und auch sachlicher Blick auf die Detailergebnisse und Zweitens fehlt mir die Frage, wie sich dieses Gewaltfeld ggf. verändert hat oder anders gefragt: Hat häusliche Gewalt abgenommen, nimmt sie zu oder bleibt sie gleich? Außerdem fehlt noch die Frage, ob diesen 22 bis 25 % Gewaltbetroffenen auch 22 bis 25 % männlichen Tätern gegenüberstehen oder ob der Anteil an männlichen Tätern nicht evtl. deutlich niedriger (auf Grund von Mehrfachtäterschaft) ausfällt?
Die 2004 veröffentlichte repräsentative Studie
Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland kommt zu dem Ergebnis, dass
25 % der Frauen in Deutschland im Alter von 16 bis 85 Jahren mindestens einmal in ihrem Leben körperliche und/oder sexuelle Partnerschaftsgewalt erlebt haben. (BMFSFJ - Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2004):
Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, S. 220)
Zu einem vergleichbaren Ergebnis für Deutschland kommt auch eine im März 2014 veröffentlichte repräsentative Studie der Europäischen Grundrechteagentur:
22 % der Frauen im Alter zwischen 18 und 74 Jahren haben demnach seit dem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch eine/n derzeitige/n und/oder frühere/n PartnerIn erfahren. (FRA - European Union Agency for Fundamental Rights (2014):
Gewalt gegen Frauen: eine EU-weite Erhebung. Ergebnisse auf einen Blick. Luxemburg, S. 19)
Letztere Studie wurde in Gesamteuropa durchgeführt. In der Auswertung ist es daher schwierig, bzgl. Deutschland Einsicht in die Details zu bekommen. Eine Detailansicht bietet allerdings die vorgenannte Studie des BMFSFJ (2004), die ich nachfolgend besprechen werde. Nur 1 % der Partnergewalt ging von weiblichen Partnern aus. Insofern konzentrieren wir uns vor allem auf männliche Täter.
Zur Häufigkeit von körperlicher und/oder sexueller Partnergewalt im gesamten Leben:
28,1 % der gewaltbetroffenen Frauen haben in ihrem gesamten Leben
nur ein einziges Mal Partnergewalt erlitten; 17,5 %
zwei bis drei Mal. Wir können also festhalten, dass fast die Hälfte (45,6 %) der gewaltbetroffenen Frauen in ihrem gesamten Leben sehr selten Partnergewalt erlitten haben. 5,8 % der gewaltbetroffenen Frauen haben 20 bis 40 Mal Partnergewalt in ihrem Leben erlitten und 12,1 % häufiger als 40 Mal. (BMFSFJ 2004, S. 235)
Wenn wir die genannten 45,6 % auf die 25 % Gesamtbetroffenenrate beziehen, dann lässt sich differenziert sagen, dass 11,4 % aller Befragten Frauen einmalig oder sehr selten Formen von Partnergewalt und 13,6 % aller befragten Frauen häufiger als selten Formen von Partnergewalt erlitten haben.
Ausmaß und Häufigkeit von rein körperlicher Gewalt in der aktuellen Partnerschaft:
91,6 % haben noch nie Gewalt in der aktuellen Partnerschaft erlitten ( 2,1 % machten keine Angaben)
3,8 % haben nur ein einzige Mal Gewalt erlebt.
1,5 % selten
0,7 % gelegentlich
0,4 % häufig
(BMFSFJ 2004, S. 224)
Ausmaß von körperlicher und/oder sexueller Gewalt in der aktuellen Partnerschaft:
13 % der Frauen haben mindestens einmal in der aktuellen Partnerschaft körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt.
87 % der Frauen haben demnach in der aktuellen Partnerschaft weder körperliche noch sexuelle Gewalt erlebt.
(BMFSFJ 2004, S. 225)
Etwa 40% der Frauen, die körperliche oder sexuelle Übergriffe in der aktuellen Paarbeziehung erlebt haben, haben ausschließlich „wütendes Wegschubsen“
und keine andere körperliche Gewalthandlung erlebt. (Bei Gewalt durch Ex-Partner fallen im Vergleich mehr schwere Gewaltformen ins Auge. So gaben
von den Frauen, die Gewalthandlungen durch frühere Beziehungspartner genannt
haben, nur 11% an, ausschließlich wütendes Wegschubsen erlebt zu haben.)
Schweregrade:
Auf die Frage „Hatten Sie bei einer oder mehrerer dieser Situationen schon einmal Angst, ernsthaft oder lebensgefährlich verletzt zu werden?“, antworteten 38% der von Gewalt betroffenen Frauen mit ja, 56% verneinten dies und 6% machten dazu keine Angaben. 64% der gewaltbetroffenen Frauen berichteten über Verletzungsfolgen aufgrund von Gewalt in Paarbeziehungen. (BMFSFJ 2004, S. 235) Die häufigste Verletzungsfolge waren blaue Flecken/Prellungen.
Psychische Gewalt:
42 % der Befragten gaben an, jemals psychische Gewalt erlitten zu haben. Ca. 30% der Frauen, die psychische Gewalt erlebt hatten, benannten als Täter den Partner (Partnerinnen) oder Ehemann. (BMFSFJ 2004, S. 105f) Wenn ich richtig gerechnet habe müssten demnach 12,6 % aller Befragten mindestens einmal in ihrem Leben psychische Gewalt durch den Partner oder Ehemann erlebt haben.
Gewaltinitiative durch die Frauen:
83,1 % der von Partnergewalt betroffenen Frauen gaben an, nie mit Gewalt angefangen zu haben. 10,4 % hatten einmal mit der körperlichen Gewalt angefangen und 3,8 % mehrmals.
(BMFSFJ 2004, S. 237) Die AutorInnen der Studie vermuten auf Grund der ergänzenden mündlichen Interviews, dass der Anteil der Frauen, die mit Gewalt angefangen haben, real niedriger liegt, als die zuvor genannten Daten aus dem schriftlichen Fragebogen. Trotzdem muss hier angemerkt werden, dass wohl ein gewisser Teil der von Frauen erlittenen Partnergewalt (ca. 3,8 % oder etwas weniger?) entweder innerhalb eines allgemeinen und beidseitigen Gewaltverhältnis stattfand oder selbst erlittene Gewalt der Frauen aus Abwehrreaktionen (z.B. "wütendes Wegschubsten)" des zuvor angegriffenen männlichen Partners entstanden. Diese Frauen wären dann entweder sowohl Opfer als auch Täter oder zu einem Teil auch nur Täter.
Blick auf andere Studienergebnisse:
Was mich bei dem Thema immer wieder wundert ist, dass eine weitere große und repräsentative Studie oft ausgeklammert wird, sowohl in den Medien als auch manchmal von Fachseite. In der Expertise
Gewalt in Paarbeziehungen. Expertise für den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung von Monika Schröttle aus dem Jahr 2017 werden beispielsweise vier verfügbare Studien zum Dunkelfeld vorgestellt, darunter die oben besprochene Studie vom BMFSFJ (2004) und die ebenfalls oben kurz besprochene Studie der European Union Agency for Fundamental Rights (2014), plus zwei kleinere Studien (einmal bezogen auf Männer und einmal bezogen auf Menschen mit Behinderungen).
Ausgeklammert wurde hier von Frau Schröttle (die auch wesentlich an der Studie vom BMFSFJ mitgewirkt hat) die große Studie „Hellmann, D. F. (2014):
Repräsentativbefragung zu Viktimisierungserfahrungen in Deutschland. (Forschungsbericht Nr. 122). (KFN, Hannover)“ für die insgesamt 11.428 Männer und Frauen im Alter zwischen 16 und 40 Jahren repräsentativ über Gewalterfahrungen (und dabei auch über häusliche Gewalt durch Partner) befragt wurden. Die Items zum Erleben körperlicher Gewalt innerhalb von Haushalt und Familie wurden von denjenigen Befragten beantwortet, die zum Befragungszeitpunkt mit einer erwachsenen Person in einem Haushalt lebten (n = 8.467; davon 4.431 Frauen und 4036 Männer). Die Fragen reichten von leichteren Formen von Gewalt (z. B. „Mit mir zusammenlebende Familien- oder Haushaltsmitglieder haben bei Streit oder Auseinandersetzungen mit einem Gegenstand nach mir geworfen“) bis hin zu schweren Formen (z. B. „Mit mir zusammenlebende Familien- oder Haushaltsmitglieder haben mir absichtlich Verbrennungen oder Verbrühungen zugefügt“).
Die Lebenszeitprävalenz der häuslichen körperlichen Gewalt durch die Partnerin bzw. den Partner beträgt bezogen auf die Stichprobe von 8.467 Befragten 2,5 % (oder 3,8 % für Frauen und 1,3 % für Männer). Knapp die Hälfte der Gewaltbetroffenen berichteten von psychischen Folgen der Gewalt und ebenfalls knapp die Hälfte von körperlichen Folgen.
Anzumerken ist hier, dass auf Grund der Fragestellung Gewalt durch Partner, die nicht mit den Betroffenen zusammenlebten, ausgeklammert wurde (das ist zumindest der Schluss, den ich auf Grund der Fragestellungen ziehe). Insofern fallen Gewalterfahrungen in losen Partnerschaften sowie auch durch Ex-Partner raus, was vermutlich auch zu einem Teil erklärt, warum die Gewaltbetroffenrate deutlich niedriger ausfällt, als bei der Studie des BMFSFJ. Insofern sind die Ergebnisse nicht direkt mit den Ergebnissen des BMFSFJ (2004) vergleichbar.
Insgesamt berichteten außerdem in der Studie von Hellmann 4,9 % aller befragten Frauen, in ihrem Leben bereits sexuelle Gewalt („Hat Sie schon einmal jemand mit körperlicher Gewalt oder unter Androhung von Gewalt gegen Ihren Willen zum Beischlaf (Geschlechtsverkehr) oder beischlafähnlichen Handlungen gezwungen oder versucht, das zu tun?“) erlebt zu haben. Die meisten Übergriffe kamen dabei im Rückblick auf die letzten 5 Jahre von Ex-Partnern oder aktuellen Partnern, vermutlich gilt diese Tendenz auch für die Betroffenen mit Blick auf das Leben ab dem 16. Lebensjahr. Diese Zahl müsste jetzt noch mit der oben genannten Gewaltrate von 3,8 % bezogen auf körperliche Partnergewalt gekoppelt werden. Bei Hellmann wurden beide Gewaltformen allerdings nur getrennt dargestellt, so dass man nicht zu einer Aussage wie in der BMFSFJ-Studie kommen kann wie: „hat mindestens einmal in ihrem Leben körperliche und/oder sexuelle Partnerschaftsgewalt erlebt“.
Die Studie von Hellmann hat allerdings zwei große Vorteile im Vergleich zu der BMFSFJ-Studie:
Erstens: Die Befragungen fanden 2011 statt. Somit haben wir ein aktuelleres Bild über Partnergewalt, zumindest bezogen auf die Gruppe der damals 16 bis 40Jährigen.
Zweitens: Die Studie von Hellmann ist direkt vergleichbar mit einer großen Befragung aus dem Jahr 1992 und erlaubt somit als einzige Dunkelfeld-Studie zum Thema „Häusliche Gewalt“ eine Trendaussage. Leider wurde in der Vergleichsauswertung die Partnergewalt nicht gesondert dargestellt. Insofern beziehen sich die nachfolgenden Ergebnisse auf den Gesamtkomplex der Häuslichen Gewalt, was für diese Studie neben Gewalt durch Partner (was fast ein Drittel, nämlich 26,7 % der erfassten Fälle von Häuslicher Gewalt ausmacht) auch Gewalt zwischen Erwachsenen mit Tätern wie Eltern, erwachsenen Geschwistern oder anderen Haushaltsmitgliedern meint.
Betrachtet wurden Angaben zur häuslichen Gewalt bezogen auf die letzten 5 Jahre vor der Befragung einmal für das Befragungsjahr 1992 und für 2011. Ergebnis nur für die Frauen: Von 1992 bis 2011 hat sich die Prävalenz schwerer häuslicher Gewalt um 58 % und die Prävalenz leichtere Gewaltformen um 35 % für die Befragungsteilnehmerinnen reduziert. Beide Gewaltformen zusammen betrachtet hat sich das Risiko häuslicher Gewalt für Frauen in diesem Zeitraum um 42 % reduziert. (Hellmann 2014, S. 131, 178)
Trotz mancher Einschränkungen der Studie von Hellmann zeigt sich erneut, dass wir im Jahr 2018 sehr vorsichtig mit den Zahlen der BMFSFJ-Studie umgehen sollten, wenn es darum geht, die heutige Situation von Frauen in Partnerschaften zu beurteilen.
Was die aktuellere Situation betrifft, sind vielleicht auch nachfolgende Daten von Interesse:
Für eine Untersuchung (Landeskriminalamt Mecklenburg Vorpommern, Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes MV &Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald (2017):
Erste Untersuchung zum Dunkelfeld der Kriminalität in Mecklenburg-Vorpommern) zum Dunkelfeld der Kriminalität in Mecklenburg-Vorpommern wurde die Bevölkerung ab 16 bis über 80 Jahre zum Kriminalitäts-Erleben im Jahr 2014 befragt. In der Untersuchung wurde auch die Häusliche Gewalt in Partnerschaften abgefragt. Von den 3.170 Befragten gaben 1.746 Personen an, im vergangenen Jahr zumindest kurzfristig einen festen Partner gehabt zu haben. 36 von insgesamt 3.170 Befragten (1,2 %) gaben an, durch eine oder mehrere Straftaten der Häuslichen Gewalt geschädigt worden zu sein (körperliche, sexuelle und/oder psychische Gewalt). (S. 81) Obwohl hier also auch noch psychische Gewalt abgefragt wurde, ist der Wert auf relativ niedrigem Niveau. Wenn man die Gewalt nur auf die Menschen bezieht, die einen Partner hatten (36 von 1.746), dann kommt man auf eine Rate von rund 2 %. Hierbei muss nochmal hervorgehoben werden, dass auch psychische Gewalt mit einbezogen wurde.
98 % der Menschen in Partnerschaften in Mecklenburg Vorpommern erlebten im Jahr 2014 also eine durchgängig gewaltfreie Zeit.
Ein wenig Licht ins Dunkel bringen auch zwei große KFN-Studien aus Niedersachen, einmal aus dem Jahr 2013 (9512 befragte Schüler) und einmal aus 2015 (10638 befragte Schüler). 2013 berichteten 4,7 % aller Befragten, dass sie Gewalt zwischen ihren Eltern beobachtet hatten; 2015 waren es 4,6 %. Interessant sind auch Unterschiede je nach Herkunft: 2015 berichteten 2,9% der deutschen Schüler, dass sie Gewalt zwischen den Eltern miterlebt hatten; Schüler mit Migrationshintergrund berichteten dies zu 9,6 %, was dann den Durchschnittswert von 4,6 % für alle Schüler ergibt (Bergmann et al. (2017):
Jugendliche in Niedersachsen. Ergebnisse des Niedersachsensurveys 2013 und 2015. Forschungsbericht Nr. 131. Hannover. S. 120) Die große Mehrheit der Kinder und Jugendlichen erleben also eine gewaltlose Zeit, ebenso wie ihre Eltern.
Was sich mit Blick auf alle genannten Studien nicht klären ließ, ist der Anteil von männlichen Tätern. Ich gehe davon aus, dass viele Männer Mehrfachtäter sind, wenn es um Gewalt gegen die Partnerin geht. Sprich wenn sie grundsätzlich zu Gewalt neigen, werden sie mehr als ein Opfer hinterlassen. Den 25 % gewaltbetroffenen Frauen aus der BMFSFJ-Studie werden also nicht 25 % Männer in der Bevölkerung gegenüberstehen. Auf Grund der Datenlage lässt sich dieser Teil nicht abschließend klären. Dazu bräuchte es Täterbefragungen und dabei auch Fragen über die Anzahl der Opfer.
Zusammenfassende Bewertung und Kommentar:
In Medienberichten wird nach meinem Eindruck immer wieder recht leichtfertig mit Zahlen hantiert. Berichte über schwere Fälle von häuslicher Gewalt und in Frauenhäuser geflohenen Frauen werden die beiden Zahlen 25 % und/oder 22 % aus den beiden oben genannten Studien angehängt. Dadurch entsteht meiner Meinung nach ein verzerrtes Bild in der Öffentlichkeit und es werden Ängste geschürt, die nur teilweise begründet sind.
Meine aller erste Kritik an den Umgang mit diesen Zahlen ist, dass sie weitgehend ein Bild über die Vergangenheit aufzeigen. Bei gut einem Drittel der Frauen waren die Gewalthandlungen in der Partnerschaft innerhalb der letzten 5 Jahre (ca. 1998-2003) aufgetreten, bei einem weiteren Drittel vor 6-20 Jahren (ca. 1983-1997), bei 17% war dies länger als 20 Jahre (Jahre vor 1983) her und 13% machten hierzu keine Angaben. (BMFSFJ 2004, S. 239). Die Befragten bilden die weibliche Bevölkerung der Geburtsjahrgänge zwischen ca. 1918 und ca. 1987 ab. Außerdem wurden die Befragungen für die 2004 veröffentlichte BMFSFJ-Studie im Jahr 2003 durchgeführt. Was in den 15 Jahren seitdem passiert ist, wissen wir nicht. Wir können auf Grund dieser Angaben sagen, das mit Sicherheit nicht 25 % der Frauen in Deutschland relativ aktuell von häuslicher Gewalt betroffen sind. Die Daten der Studie erlauben auch keine Aussage dahingehend, ob Gewalt in Paarbeziehungen abgenommen oder zugenommen hat, weil es keine Vergleichsstudie gibt.
Die oben aufgezeigten Daten zeigen außerdem, dass die Gewalt von ca. der Hälfte der gewaltbetroffenen Frauen einmalig oder sehr selten erlebt wurde. Schwere Fälle von häufiger häuslicher Gewalt sind in der Minderheit. Entsprechend macht es überhaupt keinen Sinn, wenn medial schwere Fälle mit Prozentsätzen wie den 25 % untermauert werden.
Das Wortpaar „Häusliche Gewalt“ erzeugt in jedem Menschen Bilder und einen Deutungsrahmen. Ich vermute sehr stark, dass die meisten Menschen beim Lesen und Hören dieses Wortpaares im ersten Moment relativ heftige Bilder vor sich haben und diese dann mit den 25 % verknüpfen, wenn diese Zahl genannt wird. Das gedankliche Ergebnis wäre dann:
Die Welt in Deutschland ist sehr schlecht für Frauen und sehr viele Männer sind häusliche Gewalttäter. In diesen 25 % steckt allerdings eine große Bandbreite: im niedrigsten Bereich z.B. Frauen, die vielleicht vor über 30 Jahren einmal von ihrem Partner weggeschubst worden sind und ansonsten nie wieder Gewalt erlebt haben. Und im extremsten Bereich Frauen, die über 40 Mal Partnergewalt erlitten haben, dabei z.B. Verbrennungen, Drohungen mit Waffen und Schläge mit der Faust oder Gegenständen. Dazwischen gibt es etliche Abstufungen und Grautöne.
Ausgeklammert bleibt in der Berichterstattung auch der nachgewiesene Rückgang von häuslicher Gewalt. Dieser Rückgang passt zu einem allgemeinen langfristigen Trend des Gewaltrückgangs im häuslichen Bereich, dabei vor allem dem
Rückgang von Gewalt gegen Kinder.
Der Rückgang von Gewalt gegen Kinder beschleunigt seinerseits wiederum den Rückgang von Gewalt gegen Frauen in Partnerschaften (auch dies wird medial oft nicht besprochen), denn zwischen erlebter Gewalt in der Kindheit und später ausgeübter Gewalt gegen Partner finden sich starke Zusammenhänge (siehe dazu z.B. Whitfield, C. L.; Anda, R. F.; Dube, S. R. & Felitti, V. J. (2003): Violent childhood experiences and the risk of intimate partner violence in adults: assessment in a large health maintenance organization. In:
Journal of Interpersonal Violence. Vol. 18, Issue 2, S. 166–185.
und Temple, J. R. et al. (2018):
Childhood Corporal Punishment and Future Perpetration of Physical Dating Violence. In: The Journal of Pediatrics. Volume 194, S. 233–237.)
und McKinney, C. M., Caetano, R., Ramisetty-Mikler, S., & Nelson, S. (2009).
Childhood family violence and perpetration and victimization of intimate partner violence: findings from a national population-based study of couples.
Annals of epidemiology, 19(1), S. 25–32.)
Auch auf der Opferseite gibt es starke Zusammenhänge. Hellmann schreibt, dass eine "gewalttätige Sozialisation durch die Eltern bzw. sonstigen Erziehungspersonen das größte Risiko für eine spätere Reviktimisierung in Form von partnerschaftlicher Gewalt" darstellt (
Hellmann 2014, S. 113f). Das Beobachten von Gewalt zwischen den eigenen Eltern in der Kindheit (Faktor 1,7), selbst erlebte leichte körperliche Gewalt (Faktor 2,8) bzw. schwere körperliche Gewalt (Faktor 6,8) durch die Eltern bzw. weitere Erziehungspersonen ist mit einem erhöhten Risiko assoziiert, als Erwachsener von der Partnerin bzw. dem Partner misshandelt zu werden. Anders ausgedrückt: Frauen, die z.B. schwere körperliche Gewalt in der Kindheit erlitten haben, weisen ein fast siebenmal (Faktor 6,8) höheres Risiko auf, körperliche Gewalt durch ihre Partnerin bzw. ihren Partner zu erfahren, als Frauen, die nie körperliche Gewalt erlitten haben.
Ganz ähnliche Ergebnisse kommen aus den USA. Frauen, die als Kind körperlich misshandelt wurden oder Gewalt miterlebt haben, haben ein deutlich erhöhtes Risiko, später selbst häusliche Partnergewalt zu erleben (Bensley L, Van Eenwyk J, Wynkoop Simmons K. (2003): Childhood family violence history and women’s risk for intimate partner violence and poor health. American journal of preventive medicine. 25(1), S. 38–44.).
Man könnte auch zugespitzt formulieren, dass aus Opfern mit einer deutlich erhöhten Wahrscheinlichkeit erneut Opfer werden. Diese Feststellung soll Betroffenen keine Schuld zuschieben (die Verantwortung für sein Handeln trägt der Täter). Allerdings stützen diese Befunde die Vermutung, dass Menschen, die eine destruktive und gewalttätige Kindheit hatten, später Probleme damit haben, Menschen zu erkennen, die ihnen nicht gut tun, Grenzen (rechtzeitig) zu setzen oder sich zu wehren (z.B. durch Verlassen des destruktiven Partners). Ein Rückgang von elterlicher Gewalt gegen Kinder wirkt also in doppelter Hinsicht: die Tätergenese sowie auch die Opfergenese wird dadurch reduziert.
Ausgeklammert bleibt ebenfalls eine historische Einordnung. Das Züchtigungsrecht des Ehemannes gegenüber seiner Frau wurde im Deutschen Reich erst 1928 abgeschafft. Vorher gab es ein verbrieftes Recht dafür, die Ehefrau zu schlagen. Ich habe mich nicht in die Geschichte der häuslichen Gewalt gegen Frauen vertieft, aber es leuchtet ein, dass vor über 100 Jahren sicherlich nicht 75 % aller deutschen Frauen keinerlei körperliche und/oder sexuelle Gewalterfahrungen seitens des Partners erlitten haben, so wie dies die o.g.
BMFSFJ-Studie für einen Frauenbevölkerungsschnitt nachgewiesen hat.
Zu guter Letzt möchte ich schreiben, dass ich der Letzte bin, der die Augen vor Gewalt verschließt. Ich habe in meinem Blog bewiesen, dass ich hinsehen kann und will. Das grundsätzliche Ziel ist eine gewaltfreie Gesellschaft. Ich bin aber immer auch für einen unaufgeregten und sachlichen Umgang mit Zahlen und Daten. Ich persönlich möchte wissen, in was für einer Welt und in was für einem Land ich lebe. Dazu gehört der Blick in Abgründe (das vorhandene Ausmaß der Gewalt), aber auch auf Lichtblicke. Die große Mehrheit der Frauen in Deutschland lebt gewaltfrei in Partnerschaften und erfährt im gesamten Leben keine Gewalt durch ihren Partner. Aktuellere Studien als die des BMFSFJ zeigen ein deutlich geringeres Ausmaß der Gewalt und auch einen Rückgang mit Blick auf eine Vergleichsstudie (wie oben gezeigt). Auch darum sollte man und frau wissen.