Mittwoch, 10. April 2013

Neue UNICEF Vergleichsstudie - Gewalt gegen Kinder wurde ausgeblendet



Die neue vergleichende „UNICEF-Studie zur Lage der Kinder in Industrieländern“ ist veröffentlicht worden. Deutschland belegt insgesamt den Rang 6. Nicht weiter verwunderlich ist, dass die USA wieder sehr schlecht abgeschnitten haben, sie belegen Platz 26 von 29. 

Die Macher der Studie haben angemerkt, dass sie keine Daten zur Kindesmisshandlung- und –vernachlässigung aufnehmen konnten, weil es keine vergleichbaren Daten gibt. Außerdem sei es schwierig, eine einheitliche Definition zu finden, was denn alles unter Gewalt zu verstehen sei. (siehe Seite 15 im Bericht)
Interessant ist, dass UNICEF es in einer 2010 veröffentlichten Studie geschafft hat, das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder für diverse Schwellen- und Entwicklungsländer zu erfassen. Es wurden klare Definitionen aufgestellt und vergleichbare Daten gesammelt. Das selbe schaffte UNICEF auch in einer 2009 veröffentlichten Studie.
Warum gelingt dies außerhalb des eigenen Lebenszirkels (denn UNICEF wird ja weitgehend aus den Industrienationen heraus finanziert und organisiert) und nicht in dem eigenen?

Eine für Kinder sehr bedeutsame Lebenssituation wurde also erneut in der o.g. Vergleichsstudie ausgelassen. Dies stellt einen wesentlichen Mangel dar, der unbedingt bis zur nächsten Vergleichsstudie behoben werden sollte. Denn wie kann man die Lebenssituation und das gefühlte Glück von Kindern erfassen, wenn man sich nicht mit der Gewalt befasst, die immer noch eine Mehrheit auch in vielen Industrienationen in den Familien erlebt?

Samstag, 9. Februar 2013

Kindheit von Rudolf Heß

Rudolf Heß in einem Brief an seine Eltern vom 24.04.1925, in dem er sich und seine starke Anbindung an Hitler erklärte. „(…) Ich habe mich ja seinerzeit so gefreut,  als nach dem November 23 (Anmerkung: Gemeint ist der 23.11.1923, als die NSDAP reichsweit verboten wurde), da fast alle wankten, Ihr unerschüttert zum Tribunen (Anmerkung: Gemeint ist Adolf Hitler) standet … Und lieber Gott, im Grunde seid Ihr ja eigentlich selbst daran schuld, dass ich so geworden bin und also so handeln muss …“    (Pätzold und Weißbecker, 2007: S. 444)




Die Kindheit von Rudolf Hess ergänzt das Bild, dass ich bisher über einzelne NS-Täter gezeichnet habe.  Dazu im Text unten mehr. Allerdings ergänzt auch die Arbeit der Historiker Manfred Weißbecker (Jahrgang 1935) und Kurt Pätzold (Jahrgang 1930) das Bild, das ich immer wieder bei meinen Recherchen über die Kindheit diverser Diktatoren und ähnlicher Akteure fand. Die destruktive Kindheit wird zwar von den Historikern wahrgenommen und erwähnt, aber erstens nicht weitgehend ausgeführt und zweitens dementsprechend so kommentiert, dass ihr kaum Bedeutung beigemessen wird. Zunächst beginnen die Autoren ihre Schilderungen über die Familienatmosphäre so: Die Kinder „wuchsen in wohlhabenden Verhältnissen und sorglos auf; später wird Heß einmal den Eltern danken: »Wir haben eine freudenreiche und glänzende Jugend gehabt, wie man sie sich schöner und abwechslungsreicher nicht vorstellen kann.«“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S. 15) Diese Beschreibung einer „sorglosen“ Kindheit mag stimmen, wenn es um die finanziellen Verhältnisse und den Status der Familie ging, denn diese waren dank lukrativer Geschäfte in Ägypten (wo die Familie die ersten Lebensjahre von Rudolf ihren Hauptwohnsitz hatte) sehr gut. Die emotionale Situation war allerdings alles andere als sorglos, was auch die beiden Autoren kurz beschreiben.“Das Geschäft diktiert den Ablauf der Tage und wohl auch den Umgangston im Hause. Äußerste Pünktlichkeit, penible Ordnung und uneingeschränkte Disziplin galten als höchste Werte des patriarchalisch herrschenden Vaters, eines typischen Angehörigen stramm national gesinnter Schichten des deutschen Bürgertums.“ (ebd.: S. 17)
Aber gleich danach merken Sie an: „In der historischen Literatur ist immer wieder auf die Strenge des Vaters verwiesen worden. Spätere Entwicklungen und Verhaltensweisen des »Führer-Stellvertreters» sollen damit verstehbar werden. Psychoanalytische Deutungen dieser Art treffen gewiss zu, sie reichen jedoch keineswegs aus, alle Ursachen und die wesentlichsten Rahmenbedingungen der Sozialisation von Rudolf Heß zu erhellen. Mitunter verdecken sie andere, wichtigere Umstände und Faktoren.“ (ebd.: S. 17) Dann kritisieren sie auch noch die Quellenlage. Vieles sei aus den Erinnerungen von Rudolf Heß selbst überliefert, als er bereits an der Spitze der NSDAP stand oder aus seiner Zeit im Gefängnis. (wo ich mich frage, warum denn diese Erinnerungen keine Gültigkeit haben sollten?). Zudem kritisieren sie „manches, was von Autor zu Autor übernommen worden ist (…)“ (ebd.: S. 17), ohne zu erwähnen, welche Autoren sie meinen und was „manches“ bedeutet. Zumindest haben auch Pätzold und Weißbecker die Strenge des Vaters wahrgenommen, in dem sie oben die Werte des „patriarchalisch herrschenden Vaters“ beschreiben und etwas weiter im Text - nebenbei -von dem  „oft als tyrannisch geschilderten Vater“ (ebd.: S. 21) berichten.  Diesen Widerwillen gegenüber Kindheitseinflüssen auf politisches Verhalten und deren entsprechend geringer Gewichtung habe ich derart oft in Büchern von Historikern wahrgenommen, dass dies fast schon eine gesonderte, systematische Analyse Wert wäre.

Deutlichere Worte fand allerdings der Historiker  Rainer F. Schmidt (Jahrgang 1955). „Alle Psychiater, die sich in späteren Jahren mit dem Charakter und der Persönlichkeitsstruktur von Rudolf Heß, mit seiner Fixierung auf Hitler und die Kommandowelt des Totalitären beschäftigen, stimmen darin überein, dass der Schlüssel für diese Disposition in der Phase der primären Sozialisation, in der Jugend mit einem strengen und übermächtigen Vater zu suchen ist.“ (Schmidt, 1997: S. 37) Schmidt berichtet über die Familie Heß: „Zum prägenden Faktor seiner frühen Jahre wurde eben jener strenge, polternde und keinen Widerspruch duldende Vater, der nach Rudolfs eigenen Worten »bleichen Schrecken bei seiner Brut« verbreitete.“ (ebd.: S. 38) Der ganze Tagesablauf der Familie war auf die Ansprüche des Vaters abgestimmt. „(…) von den vollzählig versammelten Familienmitgliedern erdreistete sich niemand, ein Wort zu sprechen, solange der Vater nicht geruhte, das Gespräch zu eröffnen. Er war es, der das Lachen der spielenden Kinder zum Verstummen brachte, wenn er das Haus betrat (…)“ (ebd.: S. 38,39) Der Vater zwang seinen Sohn auch - trotz anderer Befähigungen und Interessen- in den Kaufmannsberuf. Schmidt zitiert Heß wörtlich im Rückblick auf eine Szene: „Als eines Tages der liebe Vater feierlich die ernste Frage an mich stellte, was ich werden wollte – in dem Ton, bei  dem allein uns schon das Blut zu gerinnen drohte …, da kam es mir gar nicht in den Sinn, etwas anderes zu stottern als «Kaufmann».“ (ebd.: S. 39)

Schmidt ergänzt danach, dass immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass viele führende Nationalsozialsten aus strengen Elternhäusern stammten und Hitler wiederum von den „Erziehungsschäden einer Epoche profitierte, die ihre pädagogischen Leitbilder von den Kasernenhöfen holte und ihre Söhne in den Härtekategorien von Kadetten aufzog“ (ebd..: S. 39; hier zitiert er Joachim Fest). Eine erstaunliche (weil relativ seltene) Aussage, deren Wahrheitsgehalt ich mich anschließe, sie trifft aber nicht meine Wahrnehmung bzgl. der Geschichtswissenschaft, dies diese Zusammenhänge oft unter den Tisch kehrt. (Zudem ist das Wort „streng“ wohl etwas verharmlosend, wenn man um die Realität der Kindheit im Deutschen Reich um 1900 weiß.) Rudolf Heß, so Schmidt weiter, „der unsäglich unter der tyrannischen Natur seines Vaters (…) litt, die immer wieder seinen Willen brach und die Basis schuf für die Anfälligkeit gegenüber und die Suche nach einem «Ersatzvater», entsprach exakt diesem Typus.“ (ebd.: S. 39)

Es bleibt unserer Vorstellungskraft überlassen, was sich alles an Gewalt, Gewaltformen und Gewaltandrohung im Hause Heß abgespielt hat. Wenn schon der Tonfall des Vaters das Blut des Sohnes gerinnen ließ, wie dieser es bildlich ausdrückte und der Vater „blanken Schrecken“ bei den Kindern verbreitete, was geschah dann eigentlich, wenn der Vater offen Strafen ausführte oder sich Launen hingab? Die Historiker lassen diese Frage offen. Ich halte es nach den o.g. Schilderungen für sehr sehr wahrscheinlich, dass Rudolfs Vater auch direkt körperliche Gewalt anwandte, sein Charakter und die Sitte der Zeit legen dies sehr nahe.

Es ist bezeichnend, dass man über die Mütter solcher historischen Persönlichkeiten meist weitaus weniger erfährt, als über die Väter. Dabei sind es ja vor allem die Mütter, die historisch die wesentlichen Erziehungsaufgaben übernahmen. Man kann sich auf Grund von zwei Zeugnissen und etwas Vorstellungskraft ausmalen, dass Rudolfs Mutter keine besonders mitfühlende  Person/Mutter war. Von der Mutter erfuhr Rudolf während seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg direkten Zuspruch. Sie schrieb. „Wäre ich ein Mann in der Blüte der Jahre, ich würde auch mit Begeisterung für mein Vaterland kämpfen. Ich will versuchen, wenn auch nicht als Soldat, so doch für das Wohl der Zurückgebliebenen meine Kraft mit zu verwenden.“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S.22) Mit dieser Einstellung entsprach sie sicherlich den meisten Müttern der Zeit. Doch waren das herzliche, mitfühlende Mütter, die derart kriegsbegeistert waren? Noch deutlicher wird es an anderer Stelle. Bei beiden Heß Eltern kam Unmut auf, weil ihr Sohn im Ersten Weltkrieg anfänglich Reservist war und nicht sofort auf eines der umkämpften Schlachtfelder kam. „Klara Heß zeigte sich sechs Wochen nach Kriegsbeginn furchtbar enttäuscht, dass ihr Sohn immer noch «zurückgehalten» werde, seine «junge Kraft für die Freiheit des teuren Vaterlandes einzusetzen»“ (ebd.: S. 23) Und sie beteuerte: „Wir geben Dich dem Vaterland, kommst Du uns lebend zurück, so sehen wir dieses Glück als ein Geschenk Gottes an.“ (ebd.: S. 23) Was ist das für eine Mutter (und wie sah ihr Umgang früher ihren Kindern gegenüber aus), die derart bereitwillig ihren Sohn in den wahrscheinlichen Tod laufen lässt; die ihren Sohn geradezu zu opfern bereit ist?

Arno Gruen hat unter dem Zwischen-Titel „Der reduzierte Mensch“ (Gruen, 2002: S. 164) u.a. Rudolf Heß als Paradebeispiel für einen Menschen ausgewählt, der innerlich leer ist, „eines Ich ohne eigenes Selbst (…); eines Menschen, der keine eigene Identität entwickeln konnte und deshalb jemanden sucht, dem er sich bedingungslos unterwerfen kann. (…) Ein solcher Mensch ist völlig gefangen und völlig beherrscht von dem Diktat des Gehorsams, der ihm auferlegt wurde.“ (ebd.: S. 177,178) Diese innere „Fremdsein“ brachte Heß auch selbst deutlich zum Ausdruck. „Wenige Tage vor dem ersten Putsch der deutschen Faschisten bekante er, wie es um seine Gemütsverfassung stand. Er kenne sich nicht mehr aus in sich, so klagte er im Oktober 1923. Er meinte, sich als eine «eigentümliche Mischung» sehen zu müssen, woraus Spannungen entstünden, die ihm das Leben zeitweise so schwer machten. (…) «ich kenn` mich nicht aus mit mir. Sind`s moderne Kulturnerven in ihren Extremen, ist´s etwas Ungehobenes, das vorerst vergeblich nach einem Ausweg sucht, ich weiß es nicht»“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S.13,14)

Mir ist bzgl. Heß ergänzen aufgefallen, dass dieser grundsätzlich sehr selbstmordgefährdet war. Alleine schon sein begeisterter freiwilliger Kriegseintritt im Ersten Weltkrieg ist ein Zeichen dafür. Freudig zog er in die Todeszone, wie so viele Deutsche dieser Zeit. In einem Gedicht, in dem Heß seine Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg beschreibt, findet sich folgende erhellende und im Grunde alles sagende Stelle.
„(…) He, Franzmann, das ist böser Morgengruß!
Ihr dort müsst sterben, dass wir leben können,
wir selbst und unser ganzes armes Volk (…).“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S. 437)
Oder auch ein anderer Ausschnitt aus dieser Zeit: „Die Landschaft weiß von Schnee, Sternhimmel funkelt. … Brennende Ortschaften! Packend schön, Krieg!“ (Schmidt, 1997: S. 40)
Diese „Leben suchen“ im Tod (sowohl des Eigenen als auch des Anderen) ist etwas, das Arno Gruen in seinen Bücher oft beschrieben hat. Es ist die Suche des innerlich nicht Lebendigen, identitätslosen Menschen nach Leben und Fühlen, in einer pervertierten Form. Dies ist auch etwas, dass Mörder/Serienmörder beschrieben haben. (siehe hier und hier)
Nach dem Waffenstillstand und der Niederlage des Deutschen Reiches fühlte sich Heß im „schwersten Augenblicke“ seines Lebens. „An den Frieden darf man nicht denken.“ schrieb er nach Hause.„ (Schmidt, 1997: S. 42,43) Rachefantasien hielten ihn aufrecht, so scheint es. Denn zunächst dachte er nach dem Friedensschluss an Selbstmord. „Und das Leiden der Mehrheit der Guten der Heimat soll umsonst gewesen sein? … Nein, wär´s umsonst gewesen, bereute ich heute noch, dass ich am Tag, da die ungeheuerlichen Waffenstillstandsbedingungen und ihre Annahme bekannt wurden, ich mir nicht eine Kugel durchs Hirn jagte. Ich tat es damals nicht in der einzigen Hoffnung: Du kannst noch irgendwie dein Teilchen beitragen zur Wendung des Schicksals.“ (ebd.: S. 43)

Am 15. Oktober 1941 begeht Heß in britischer Haft einen Selbstmordversuch. Er leidet in der Folgezeit an Nervenkrankheiten. Am 17. August 1987 begeht Heß am Ende seiner Tage im Gefängnis in Spandau Selbstmord (Deutsches Historisches Museum, 2009) Auf Wikipedia sind weitere drei Selbstmordversuche beschrieben, die Quellen dafür kann ich allerdings hier nicht weiter nachverfolgen.
 Heß, der keine eigene Identität besaß und der in der Folge von (Selbst-)Hass  durchzogen war, suchte den Tod, den eigenen, wie auch den von Millionen anderer Menschen.

Zum Abschluss noch eine persönliche Anmerkung. Wenn ich mir Fotos von Heß anschaue, dann springt mich die „innere Leblosigkeit“ dieses Mannes geradezu an. Tief verborgene, schattige Augenpartie, ungemein gerade und nichts-sagende Gesichtszüge, ein flacher Mund, leere Augen und Kälte. Der Gefängnis-Psychiater James Gilligan hat die von ihm untersuchten Mörder als „Untote“ bezeichnet, innerlich tot, körperlich am Leben. Rudolf Heß passt genau in diese Kategorie Mensch.



Quellen:

Deutsches Historisches Museum (2009): Biographie: Rudolf Heß. 1894-1987.
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Gruen, Arno (2002): Der Fremde in uns. München. Deutscher Taschenbuch Verlag.

Pätzold, Kurt und Weißbecker, Manfred (2007): Rudolf Heß. Der Mann an Hitlers Seite. Leibzig. Militzke Verlag.

Schmidt, Rainer F. (1997): Rudolf Heß. "Botengang eines Toren"?, Der Flug nach Großbritannien vom 10.  Mai 1941. Düsseldorf. ECON Verlag.

Donnerstag, 31. Januar 2013

Ägypten. Die Ursachen der gescheiterten Revolution liegen im Verborgenen






 (Bild: Graffiti in Ägypten. Präsident Mursi als Krake. Ein Anzeichen dafür, dass auch beim aktuellen Handeln der Opposition emotionale Prozesse im Hintergrund wirken. Mehr zu der Bedeutung derartiger Bilder siehe hier)


Am 01.02.2011 zitierte ich eine Studie aus dem Jahr 1998, die ergab, dass in Ägypten  26 % der Kinder auf Grund von Misshandlungen über Knochenbrüche, Bewusstlosigkeit oder eine bleibende Behinderung berichteten. Ich fragte, ob eine Nation, die zu einem erheblichen Anteil aus einst schwer misshandelten Kindern besteht, eine friedliche Revolution schaffen  und eine echte Demokratie aufbauen kann. Grundsätzlich ist vieles möglich. Aber: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Wege einer derart in der Tiefe traumatisierten Nation friedlich verlaufen, sind nicht wirklich hoch. Dies möchte ich jetzt weitgehender kommentieren. Aber vorher noch ein paar ergänzende Zahlen:

Laut UNICEF (2009 – „Progress for Children. A Report Card on Child Protection“) erlebten in Prozent der ägyptischen Kinder (2- bis 14-Jährige) psychische und/oder körperliche Gewalt (wobei die Mehrheit beides erlebte) 92 %. 68 % erlebten körperliche und psychische Gewalt, 22 % nur psychische Gewalt und 2 % nur körperliche Gewalt. (S. 8) 40 % der Kinder erlebten besondes schwere Formen der körperlichen Gewalt. Dazu zählten Schläge ins Gesicht, an den Kopf oder auf die Ohren, wiederholt oder besonders hart ausgeführt. (S. 29)

Weitaus mehr in die Tiefe ging die Studie „International Variations in Harsh Child Disciplin“, veröffentlicht 2010 in dem Journal Pediatrics. Diese zeigt, das Kinder in Ägypten häufig u.a.  besonders brutale/schwere Formen  körperliche Gewalt erleben, nämlich insgesamt 28 % (darunter fielen: Schütteln von Kindern unter 2 Jahren = 12 %, Verbrennungen zufügen = 2,2 %, zusammenschlagen/durchprügeln = 24 %, würgen = 0,8 %, Luft zum Atmen nehmen = 0,6 %, Tritte = 5,4 %) Werden Schläge mit einem Gegenstand mit eingerechnet (was – so die Forscher - auch als schwere Gewalt bezeichnet werden kann) dann erleben sogar insgesamt 46 % der Kinder schwere körperliche  Gewalt. Leichtere Formen von körperlicher Gewalt erleben 81 % der Kinder. Besonders schwere Formen von psychischer Gewalt erleben 64 % aller Kinder, leichtere Formen 77 %.
Schaut man gesondert auf die Datenauswertung bzgl. der verschiedenen Altersgruppen, ergibt sich zusätzlich ein ergänzend erschreckendes Bild. Die besonders sensible Gruppe der unter 2 Jahre alten Kinder erlebt bereits zu 14 % schwere Formen Körperlicher Gewalt (diese Zahl gilt sowohl ohne die Verwendung von Gegenständen laut o.g. Definition wie auch mit Gegenständen), also ca. jedes 7. Kind! Ebenfalls 14 % dieser Gruppe erlebt besonders schwere Formen psychischer Gewalt.

Die o.g. Zahl von 46 % (inkl. Körperstrafen mit einem Gegenstand) ist ein Durchschnittswert, der sich u.a. daraus ergibt, dass die unter 2 Jahre alten Kinder weniger schwere Formen erleben. Um so erschreckender ist es, dass zwei Altersgruppen deutlich über 46 % schwere körperliche Gewalt erleben; die 2-6 Jahre alten Kinder zu 50 % und die 7-11 Jährigen zu sogar 58 %. Die 12-17 Jährigen zu 45 %. Wenn man also die gesamte Lebensspanne der Kinder betrachtet, wird weit aus häufiger schwere Gewalt erlebt, als der Durchschnittswert von 46 % ausweist.

Für die Studie wurden Mütter zu dem Bestrafungsverhalten beider Elternteile innerhalb eines Jahres vor der Befragung befragt. D.h. das erstens evtl. manche Mütter das reale Ausmaß der Gewalt nicht genau angegeben haben und dass zweitens Gewalterfahrungen, die vor über einem Jahr stattgefunden haben (z.B. bei befragten Müttern, die ältere Kinder hatten, bei denen erfahrungsgemäß die Gewalt etwas abnimmt, da vor allem jüngere bis mittlere Kinder Gewalt erfahren), nicht erfasst wurden. Insofern ist davon auszugehen, das rückblickende Befragungen von Erwachsenen zu eigenen Opfererfahrungen sogar noch einmal höhere Raten ergeben würden, als die oben ermittelten.

Eine andere Studie (die ich hier ausführlich besprochen habe), hat auch die Häufigkeit des Gewalthandelns von Müttern abgefragt. Insgesamt werden dieser Studie folgend 76,3 % der ägyptischen Kinder durch Mütter körperlich bestraft. 2,8 % der Kinder werden mehr als einmal pro Tag körperlich bestraft, 3,5% einmal täglich und 39 % ein oder zweimal die Woche. Insgesamt werden also fast die Hälfte der Kinder (45,5 %) regelmäßig und oft geschlagen!

Eine große Studie (ausführlich hier von mir besprochen), die in Kairo und Alexandria durchgeführt wurde, ergab falgendes Bild:  Ca. 81 % der Kinder wurden zu Hause und 91 % in der Schule geschlagen. 27 % der Kinder, die arbeiten mussten, berichteten auch dort geschlagen worden zu sein. 90 % der Kinder erlebten emotionale Bestrafungen/Gewalt zu Hause und 70 % in der Schule, ebenso 50 % der arbeitenden Kinder an ihrem Arbeitsplatz. 40 % der Schulkinder zeigten Anzeichen für eine Entfremdung von ihren Familien.
51 % der Pflegepersonen (Haushaltsbefragung) berichteten, dass die Kinder in der Woche vor der Befragung geschlagen worden sind, 76 % berichteten von Schlägen innerhalb eines Monats vor der Befragung und 81 % von Schlägen innerhalb eines Jahres.
Schaut man gesondert auf die Altersstufe der 5-8Jährigen, dann werden ganze 94,7 % in irgendeiner Form körperlich bestraft/geschlagen (also deutlich mehr als der Durchschnittswert von 81 %).
51 % dieser Altersgruppe wird mit einem harten Gegenstand wie Gürtel oder Stock geschlagen. 46,5 % wird ins Gesicht geschlagen, 21,3 % werden niedergeschlagen. 7,2 % mit einem Messer verletzt, 5,9 % verbrannt u.a.

Außerdem sind Kinder auch in der Schule nicht sicher (was auch die vorgenannte Studie zeigte). In Ägypten werden 80 % der Jungen und 67 % der Mädchen in der Schule von Lehrern geschlagen. (Prohibiting all corporal punishment in schools: Global Report 2011, S. 7)

Für eine Studie zum Gewaltaufkommen gegen Frauen in Ägypten wurde vorhandene Literatur ausgewertet. Beispielsweise ergab eine Studie aus dem Jahr 1995, für die 6.566 Frauen befragt worden sind, dass 35 % körperliche Gewalt durch ihren Ehemann erlebt haben. Eine andere Studie aus dem Jahr 2005 (mit 5.613 Frauen) ergab, dass 36 % emotionale, körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch ihren Ehemann erlebt haben. 34 % berichten über körperliche und/oder sexuelle Gewalterfahrungen  (emotionale Gewalt weggelassen). (Somach, Susan D. & AbouZeid, Gihan (2009): EGYPT VIOLENCE AGAINST WOMEN STUDY. LITERATURE REVIEW OF VIOLENCE AGAINST WOMEN. S. 9+10) Sofern Kinder diese Gewalt miterleben, hat auch dies psychische Folgen für die Kinder.

Dies alles sind zudem wohlgemerkt relativ aktuelle Zahlen. Die älteren Generationen (die heute u.a. Machtpositionen in Ägypten inne halten) werden sehr wahrscheinlich sogar noch mehr Gewalt erfahren haben, als die Jüngere.

Dazu kommen erschütternde Daten über die Genitalienverstümmelung. 91 % der ägyptischen 15-49 jahre alten Frauen haben diese traumatische Prozedur als Kind erlitten. (UNICEF, Jan 2013)

Die Mehrheit der Ägypter ist - den genannten Zahlen folgend - als Kind im Elternhaus traumatisiert worden, eine enorm große Zahl auch besonders schwer.

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Leider bestätigen aktuelle Berichte, dass Ägypten heute sogar weit aus schlechter aufgestellt zu sein scheint, als vor der Revolution. Wenn die Entwicklungen so weiter gehen, besteht sogar die Gefahr eines Bürgerkrieges. Solche Entwicklungen sind vorhersehbar, wenn man sich mit den Kindheiten vor Ort befasst. Statt planlos den Sturz von Diktatoren zu stützen, wie der Westen dies tat, teils sogar militärisch wie in Libyen, muss man sich vorher die Frage stellen, ob die Bevölkerung vor Ort emotional überhaupt reif für echte demokratische Prozesse ist.
Schwer misshandelte Menschen klammern sich oftmals an äußere Strukturen, Rahmen und Rollenmodelle, die ihnen Sicherheit und Stabilität geben. Arno Gruen hat sehr viel dazu geschrieben (Stichwort „Nicht-Identität“). Er schrieb auch in seinem Buch „Verratene Liebe – Falsche Götter“ (2003):  „Solange der gesellschaftliche Rahmen hält – das heißt, solange man seine eigene Identität, seine Bedeutung, durch äußere Strukturen aufrechtzuerhalten in der Lage ist -, kann die innere Malaise des nicht-autonomen Selbst gezügelt werden. Da diese Menschen aber keine komplexe Sicht ihrer Lage ertragen, sind sie auch die ersten, die die Strukturen gefährden, wenn diese ins Wanken geraten, wenn zum Beispiel die Gesellschaft von Arbeitslosigkeit und dem Verfall ihrer Regeln bedroht ist. Solche Menschen haben nicht die inneren Kräfte, etwas Neues aufzubauen, weil ihnen ein empathischer Kern fehlt.“ (S. 57,58)

Bei Extremisten, so Gruen, dreht sich immer alles um Symbole der Identität wie Rasse, Nationalismus, Religion und Freiheit. „Nie geht es um die aktuelle Analyse der Bedrohung. Wenn der gesellschaftliche Rahmen zerbricht, bleiben Menschen, die für ihren Selbstwert und ihre Bedeutung davon abhängig sind, ohne Halt. Sie sind jetzt dem inneren Hass ausgeliefert. Dieser Hass richtet sich auf alles, was an die eigene verschmähte Lebendigkeit erinnert.“ (S. 59) Und ganz besonders wichtig und erhellend: „Das Bedürfnis nach Strukturen ist kennzeichnend für Menschen, die kein eigenes Selbst haben. Autoritäre Strukturen verleihen ihnen das Gefühl einer Identität, und daher gibt ihnen, solange die Autorität autoritär bleibt, solch ein Gefüge persönliche Bedeutung und Sicherheit. Es ist das Auseinanderbrechen dieser Strukturen, das die angestaute Wut zum Ausbruch bringt. Die Rebellion, die dadurch ausgelöst wird, hat nicht Freiheit zum Ziel, sondern sie will sich neuen Autoritäten/Strukturen ergeben. Diese erneute Unterwerfung, getrieben von der Angst vor Identitätsauflösung und innerem Hass, ist Erlösung. Die neue Unterwerfung ist eigentlich die alte Unterwerfung (…).  Die Ketten der früheren Anpassung an das Schlechte, das man für gut hielt, weil seine Autorität einem ein Sicherheitsgefühl gab, können gesprengt werden. Aber für den Erfolg jeder Revolution, Reform und Erneuerung muss die menschliche Abspaltung vom seelischen Inneren berücksichtigt werden.  “ (S. 65,66)

Diese Abspaltung erfolgt im Kern in der Kindheit, indem Eltern ihre Kinder angreifen, ihre Bedürfnisse nicht sehen und ihnen nicht ermöglichen, ein eigenes Selbst aufzubauen. In einer Atmosphäre der familiären Gewalt und Kälte bleibt Kindern nichts anderes übrig, als sich von sich selbst zu entfremden, als ihre Gefühle und ihre Lebendigkeit zu begraben, da es unerträglich wäre, der realen Situation offen und fühlend ins Auge zu schauen. Auch später ist die eigene Wahrnehmung oftmals getrübt, da die Eltern idealisiert bleiben. Helfen würde – bestenfalls in einem therapeutischen Prozess- eine Aufarbeitung des Erlebten, ein Trauern um das Verpasste, ein realer Blick des Erwachsenen auf das Kind, das er einst war und auf die Eltern, die ihm gegenüberstanden und natürlich ein Zurückerobern von Gefühlen. Doch gerade in der arabischen Welt gelten sehr strenge Familienregeln. Die Ehre der Eltern darf nicht angekratzt werden. Dies wird es den Menschen vor Ort doppelt erschweren, ihre Eltern anzuklagen bzw. sie zu kritisieren und sich der Realität der eigenen Kindheit zu stellen.

Wer die Entwicklungen in der arabischen Welt verfolgt, sollte sich aktuell auch noch einmal mit dem auseinandersetzen, was Lloyd deMause „Wachstumspanik“ nennt. (Ich habe das hier  – etwas weiter unten im Text – etwas ausgeführt)  Denn in der Tat hatten die diversen Revolutionen – so mein Eindruck aus den Berichten der Tagespresse – bisher nur negative Folgen für die Menschen und die sozialen und ökonomischen Entwicklungen bzw. für das Wachstum und den Fortschritt.

Um Ägypten (und auch anderen Ländern dieser Region) echte Freiheit zu ermöglichen, muss in dem Land ein gut durchdachtes Kinderschutzprogramm ins Leben gerufen werden, das die ganze Gesellschaft durchdringt. Da derzeit islamistische Kräfte die Wege zu dominieren scheinen, ist Ägypten wohl weiter davon entfernt, als vor der Revolution. Denn die Islamisten setzten i.d.R. auf alte Werte (die ihnen Sicherheit und Halt geben), was vor allem die Unterdrückung von Frauen (und somit den Müttern) und Kindern bedeutet.

Nachtrag: Im Kapitel „Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie“ des Buches „Deutschland misshandelt seine Kinder“  (2014 erschienen) beschreiben die beiden Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Guddat folgende Begebenheit:
"Am Institut für Rechtsmedizin der Charité werden häufig ägyptische Gastärzte geschult. Wenn sie unsere Vorträge über Kindesmisshandlung hören, zeigen sich viele von ihnen verwundert, dass Körperstrafen in Deutschland als Mittel der Kindererziehung verboten sind.  «Bei uns darf man seine Kinder ja auch nicht totschlagen», sagte einmal ein ägyptischer junger Arzt zu uns. «Aber wie erzieht ihr eure Kinder denn, wenn ihr sie nicht schlagt?» und ein Kollege von ihm fügt hinzu: «Das ist doch schließlich mein Kind, das ich schlage, nicht das Kind meines Nachbar.» "


Siehe ergänzend: "Das Fundament des Bürgerkrieges in Syrien"

Freitag, 25. Januar 2013

Kindheit und mögliche Lebenswege: Willi Voss

Willi Voss arbeitete einst eng mit der PLO zusammen; er war "Komplize palästinischer Terroristen", wie der SPIEGEL schreibt. In die Enge getrieben wechselte er zur CIA und verriet wichtige Informationen u.a. über geplante Anschläge der PLO. Heute schreibt der 68jährige u.a. Bücher, früher auch Drehbücher u.a. für den „Tatort“ und  auch ein Buch über sein Leben, was der Auslöser für den SPIEGEL Bericht war.  Daher der SPIEGEL (31.12.2012; Nr. 1/2013) Artikel-Titel: „Ein Mann, drei Leben“ . Genauer gesagt waren es wohl eher vier Leben, denn vor seiner PLO Zeit war er ein Kleinkrimineller, Mitglied einer „Halbstarken-Clique“ im Ruhgebiet, worauf ein Jahr Jugendstrafe ohne Bewährung folgte. Durch Begegnungen kam er über Umwege zur PLO.

Ich war ein verlorener Hund. Einer, der so oft getreten worden war, dass er zurückbeißen wollte, egal wie.“, wird Voss zitiert. „Hätte ich damals Andreas Baader getroffen, wäre ich vermutlich bei der Roten Armee Fraktion gelandet.“ Seine Kindheit sei von Gewalt, sexuellem Missbrauch und anderen Demütigungen geprägt gewesen, schreibt der SPIEGEL weiter. „Ich habe als Kind immer wieder Zustände absoluter Ohnmacht kennengelernt. Etwas, dass blanke Mordlust in mir ausgelöst hat, tiefste Scham und ein Gefühl, als sei ich das Wertloseste, dass es auf dieser Welt gibt.“, sagte Voss.

Ein interessantes Interview mit Voss kann mensch hier lesen, darin beschreibt er u.a., was ihn an der PLO fasziniert hat. Voss hat sich längst vom Terrorismus distanziert. Über ihn als Person weiß ich zu wenig, als dass ich mir hier weitere Anmerkungen erlauben könnte. Ich denke, dass er selbst im SPIEGEL Interview genug darüber gesagt hat, was in der Tiefe seinen Lebensweg bestimmt hat. 

Mittwoch, 23. Januar 2013

Medien, Adam Lanza und sexuelle Gewalt in Indien

Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht in den Medien Dinge lese, die ich hier im Blog kommentieren könnte, weil sie überdeutlich die Zusammenhänge zwischen hasserfüllter Kindheit und Hass/Gewalt aufzeigen. Dies ist mir heute in einem Bericht aus Indien besonders aufgefallen (siehe unten). Auf der anderen Seite fällt allerdings auch immer wieder auf, dass ein Zusammenhang zwischen Kindheit und Gewaltverhalten ausgeschlossen wird, was der jüngste Amoklauf in den USA von Adam Lanza und entsprechende Kommentare zeigten. Sehr viele Medien zitierten sogleich eine Tante des Täters, die auf die liebevolle Erziehung der Mutter hingewiesen hatte. Kaum einer zog dies in Zweifel. In einem Artikel wurde die Familiensituation von Lanza besprochen. Am Ende hieß es: "Doch trotz aller Geschichten zieht niemand in Zweifel, dass sie ihren Sohn Adam innig geliebt hat. Warum er zuerst sie und dann die Kinder und Lehrerinnen an der Grundschule hinrichtete, das ist dagegen noch immer ein Rätsel."
Der Satz an sich ist schon verdreht. Denn in der Tat ist die eigentliche Frage, warum ein wirklich geliebtes Kind seine Mutter kaltblütig hinrichten sollte und danach Kinder in einer Grundschule erschießt? Es ist für mich immer wieder erstaunlich, dass nicht wenige Menschen wirklich glauben, dass geliebte Kinder zu solchen Taten fähig wären. Die Medien sollten da zumindest vorsichtig formulieren und nicht davon schreiben, dass Lanzas Mutter auf jeden Fall voller Liebe zu ihren Kindern war.

Das Thema sexuelle Gewalt in Indien ist ja derzeit sehr in den Medien präsent. Ein indischer Junge hat versucht, ein Mädchen zu missbrauchen. Diese konnte aber entkommen. Daraufhin zündete er sie an. "Zu Hilfe kamen ihm dabei seine Eltern. Der Grund: Die Familie des Täters wollte verhindern, dass das Opfer Anzeige erstattet. Nun ist die junge Frau an den Folgen ihrer schweren Verletzungen gestorben." (Welt-Online, 22.01.2013)
Diese Tragödie muss natürlich aufrütteln. Und es ist gut, dass die Medien berichten. Der beste Opferschutz ist allerdings, sich mit der Tätergenese zu befassen, ohne die Täter zu entschuldigen. Was sind das für Menschen/Eltern, die sofort bereit sind, einen Menschen anzuzünden, um ihren Sohn - den Täter - zu schützen? Sind das Eltern, die ihrem Sohn wirklich Liebe und Geborgenheit geben konnten? Die Antwort ergibt sich bereits aus ihrer Tat. Natürlich konnten sie dies nicht. Es müssen eiskalte Eltern ohne Mitgefühl gewesen sein, die vermutlich auch Gewalt gegen ihren Sohn ausgeübt haben. Der genannte Artikel enthält also bereits die Antwort auf die Frage, warum dieser Junge zum Täter werden konnte.

In der indischen Gesellschaft an sich ist Gewalt gegen Kinder sehr weit verbreitet. Dies wird allerdings kaum bis gar nicht erwähnt, wenn es darum geht, dortige Problemlagen, Konflikte und Gewaltverhältnisse zu analysieren.

Freitag, 21. Dezember 2012

Arbeitspapier über die Ursachen von Krieg.

Ich freue mich sehr, zum Ende diesen Jahres auf einen neuen Text von mir hinzuweisen, der als Arbeitspapier am Lehrstuhl für Internationale Politik der Universität zu Köln  online und auch als Papier veröffentlich worden ist: Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an: Plädoyer für einen offenen Blick auf die Kindheitsursprünge von Kriegen.

Der Weg hin zu dieser Veröffentlichung ist interessant. Er begann mit meiner Kritik an dem Handbuch Kriegstheorien, in dem die Psychohistorie bzw. Zusammenhänge zwischen gewaltvollen Kindheiten und Krieg nicht besprochen wurden. Nachdem ich die beiden Herausgeber Thomas Jäger und Rasmus Beckmann angeschrieben hatte, bekam ich eine Einladung, doch einen Text zum Thema zu verfassen und einzureichen. Ich finde diese Reaktion auf meine Kritik wirklich eindrucksvoll. Eindrucksvoll, weil auf Kritik mit Entgegenkommen und Einladung reagiert wurde, weil ich kein Akademiker bin, sondern nur „Beinahe Akademiker“ und vor allem auch, weil die Erfahrung zeigt, dass auf das Thema häufig und in vielfältiger Weise mit Abwehr reagiert wird.

Mein Text fasst viele Dinge zusammen, die ich in den letzten Jahren hier im Blog besprochen habe. Wer zudem den (zentralen) Literaturangaben folgt und diese durcharbeitet, wird einen umfassenden Eindruck von dem gesamten Themenkomplex bekommen.  Der Text ist somit auch eine Art Wegweiser hin zu ausführlicher Literatur. 

Ich bin sehr gespannt, wie der Text aufgenommen wird und ob ich Rückmeldungen bekomme. Manch einer wird sicherlich das erste Mal durch die o.g. Veröffentlichung mit dieser Art von Ursachenverständnis von Krieg konfrontiert werden. Ich selbst bin derzeit etwas müde. Für mich ist dieses Papier kein Anfang, sondern ein Stück weit eher ein Ende. Drum herum kann man die Details ausbauen, man kann noch mehr Kindheiten von Diktatoren und Kriegsverbrechern untersuchen, noch mehr Zahlen sammeln usw., aber die Grundaussage bleibt die gleiche. Auch die Psyche der Menschen ändert sich nicht, der Einfluss von Gewalt gegen Kinder auf deren späteres Leben ändert sich nicht. Die psychischen Abläufe sind wie sie sind.

Für mich stellt sich am Ende diesen Jahres, nach der Veröffentlichung dieses Papiers und nach über 10 Jahren Beschäftigung mit dem Thema Kindesmisshandlung die Frage:  Wie geht es weiter?

In der Tat habe ich noch etwas im Hinterkopf und in Planung für das kommende Jahr. Ich möchte noch die Kindheiten einiger NS-Verbrecher besprechen, Himmler, Goebbels, Hess u.a. Außerdem möchte ich noch einmal etwas dazu schreiben, warum Männer das gewalttätigere Geschlecht sind.

Wenn ich diese Texte geschrieben habe, dann plane ich, mich von dem Thema deutlich zurückzuziehen. Ich habe nicht vor, wie Alice Miller, Arno Gruen und andere dieses Thema mein Leben lang zu bearbeiten. Denn es gibt in der Tat viele andere Themen auf der Welt, die mit weit aus weniger emotionaler Anstrengung verbunden sind.  Ich selbst finde, dass ich immer sicherer und immer informierter bzgl. des Themas geworden bin. Ich finde aber auch, dass ich persönlich wirklich sehr viel investiert habe in den letzten Jahren; zeitlich, emotional und teils auch finanziell. Um es deutlich zu sagen: Mir tut es gut, dies so getan zu haben. Fast 100.000 Besucher hatte dieser Blog bisher und ich denke, dass ich somit einiges bewegen und anregen konnte. Nach all den Jahren stehe ich heute allerdings an einem anderen Punkt. Mir und meiner Familie wird es gut tun, wenn ich mich ab jetzt aus dem Thema ein ganzes Stück zurückziehe.  Keine Angst, der blog bleibt so erhalten, wie er ist. Die Kraft, die ich bisher aufgebracht habe, werde ich allerdings nicht mehr aufbringen. Mir wird es weiterhin gut tun, darum zu wissen, dass interessierte Menschen täglich durch diesen Blog über das bekannte Thema aufgeklärt werden können und darüberhinaus ab sofort auch noch durch ein wissenschaftliches Arbeitspapier an der UNI Köln.

Montag, 26. November 2012

Kindergesundheitsstudie: Die meisten Kinder fühlen sich glücklich.

Für eine repräsentative Studie ("Elefanten-Kindergesundheitsstudie 2011 - Große Ohren für kleine Leute") hat das PROSOZ-Institut für Sozialforschung in Kooperation mit dem Deutschen Kinderschutzbund im Jahr 2011 fast 5.000 Kinder zwischen 7 und 9 Jahren befragt. Die Ergebnisse wurden kürzlich veröffentlicht. Für mich war vor allem folgender Teil von Interesse:

"Das subjektive, allgemeine Wohlbefinden der Kinder wurde anhand einer fünfstufigen Skala von 1=„sehr schlecht“ bis 5=„sehr gut“ abgefragt und ist, insgesamt betrachtet, gut (M=4,1). 79 % der Kinder geben an, sich meistens „gut“ oder „sehr gut“ zu fühlen, 86 % der Kinder sind „oft“ oder „sehr oft“ glücklich. Dennoch gibt es einen, wenn auch geringen, Anteil von Kindern (5 %), die sich meistens „schlecht“ oder sogar „sehr schlecht“ fühlen, 6 % der Kinder sind nach eigener Aussage „nie“ oder „selten“ glücklich. Es zeigt sich, dass die verschiedenen Angaben zum seelischen und körperlichen Wohlbefinden in engem Zusammenhang miteinander stehen: Kinder, die sich meistens gut fühlen, fühlen sich zudem eher ganz gesund (r=.39), sind häufiger glücklich (r=.29) und zeichnen sich durch ein höheres körperliches Wohlbefinden11 aus (r=.16)." /S. 27) Ergänzend noch das Mittelfeld: 16 % der Kinder fühlen sich meisten "mittelmäßig". 9 % fühlen sich "manchmal" glücklich.

3 % der Kinder fühlen sich durch Gewalterfahrungen "gestresst". Wobei hier nicht weiter ins Detail gegangen wurde und auch kein großes Augenmerk auf Gewalt bestand. Spezialisierte Gewaltstudien werden erfahrungsgemäß höhere Werte nachweisen.

Alles in allem zeigen diese ausgewählten Daten, dass es den meisten Kindern in Deutschland aktuell gut geht. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden die 5-6 % der Kinder, denen es besonders schlecht geht, zu Hause erheblichen Belastungen (vermutlich auch Misshandlungen und schweren Gewaltformen) ausgesetzt sein. Das Mittelfeld wird entsprechend ebenfalls belastet sein, wenn auch weniger, als die Kinder, denen es besonders schlecht geht.

Ergänzend siehe auch:

- "Geboren 2012 = weitgehend gewaltfreies Aufwachsen, zumindest in Deutschland"

- neue KFN-Gewaltstudie

Donnerstag, 15. November 2012

Breivik. Als Kleinkind von der Mutter geschlagen.

Der norwegische Autor Aage Storm Borchgrevink hat wie bereits in einem Beitrag erwähnt ein Buch („En norsk tragedie“) veröffentlicht, dass Breiviks Leben und seine Kindheit nachzeichnet. Bisher ist das Buch leider nur in norwegischer Sprache erschienen, es wurde aber in den Medien besprochen. „The Telegraph“ (07.10.2012) schildert, dass Breiviks Mutter ihren Sohn bereits im Alter von vier Jahren „sexualisierte“ (vor allem in ihrer Sprache dem Kind gegenüber; Nachbarn berichteten allerdings auch, dass sie sexuelle Handlungen mitbekamen, obwohl  die Kinder anwesend waren.). Außerdem schlug sie ihren kleinen Sohn und äußerte ihm vielfach gegenüber, dass sie seinen Tod wünsche.  (Nebenbei bemerkt befassen sich vor allem englisch sprachige und norwegische Medien mit dem Buch von Borchgrevink und der Kindheit von Breivik. Hierzulande hat bisher nach meinem Wissen nur bild.de von dem Buch berichtet. Dies verwundert insofern wenig, da bisher nach meinen Recherchen Breiviks Kindheit in den deutschen Medien so gut wie keine Rolle gespielt hat. )

Die Info, dass Breivik auch körperliche Gewalt erfahren hat, ist für mich neu (obwohl ich dies von Anfang an vermutet habe). Laut dem Telegraph reagierte der vierjährige Breivik auf die Schläge mit der neckischen Bemerkung, dass ihm diese nicht weh täten. Dabei lächelte er. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass Breivik schon in sehr frühen Jahren seine Gefühle und sein Schmerzempfinden abspalten musste.

Der Fall Breivik bestätigt in vielerlei Hinsicht meine hier oft geäußerten und auch belegten Gedanken und Thesen. Die Tat eines Menschen verrät bereits etwas über die Kindheit, die der Täter durchlitten hat. Je grausamer die Tat, desto grausamer die Kindheit. Klassisch für einen Massenmörder ist auch, dass er mehrere Formen von Gewalt erlebte (Vernachlässigung, sexuellen Missbrauch, psychische Gewalt und körperliche Gewalt + Trennung von einem Elternteil) und dass dies bereits ab der frühen Kindheit erlebt wurde.

Übrigens möchte ich noch auf etwas hinweisen, das für mich eigentlich selbstverständlich ist. Sich mit der Kindheit von Breivik zu befassen, bedeutet nicht, dass ich ihn aus seiner Verantwortung und Schuld entlasten möchte. Der erwachsene Mann und Täter Breivik ist ein gefährlicher und eiskalter Mensch, vor dem die Gesellschaft geschützt werden muss. Ich begrüße das Urteil gegen ihn, in dem klar gemacht wurde, dass man seine psychischen Auffälligkeiten sehr wohl wahrgenommen hat, ihn aber für voll zurechnungsfähig und schuldfähig hält. Nur das Kind, das dieser Mann einst war, verdient unser Mitgefühl. Seine Kindheit erklärt seinen Hass. Entschuldigen tut sie gar nichts.

- siehe ergänzend: Attentäter Breivik: Natural born Killer?

Freitag, 9. November 2012

Kindheit von Hermann Göring


Hermann Wilhelm Göring (ein führender NS-Täter) wurde am 12.01.1893 geboren. Seine Mutter war für die Geburt extra aus der Karibik angereist, wo sich ihr Mann und ihre weiteren Kinder aufhielten. Sechs Wochen nach der Geburt überließ sie den Säugling einer Freundin (über deren Umgang mit dem Säugling man nichts in der Quelle erfährt) und reiste zurück zu Mann und Kindern.
 In den folgenden drei ersten Jahren seines Lebens bekam Hermann weder sie noch seine Geschwister, noch seinen Vater zu Gesicht. Als die Eltern ihn nach der Rückkehr zu sich holten und die Mutter sich zum ersten Mal zu ihm hinabbeugte, schlug der Dreijährige ihr mit den kleinen Fäusten ins Gesicht. Es sei dies seine erste Kindheitserinnerung, erklärte Göring später im Gefängnis dem amerikanischen Gerichtspsychologen Gustave Gilbert.“ (Knopp 2007: 13) Knopp zitiert den erwachsenen Göring mit den Worten: „Das Grausamste, was einem Kind passieren kann, ist die Trennung von der Mutter in den ersten Lebensjahren.“ (ebd.) 

Hermann Göring wuchs ab seinem dritten Lebensjahr im Kreis von neun Geschwistern und Halbgeschwistern auf. Man kann sich vorstellen, dass bei einer solchen Geschwisterzahl nicht viel Zeit und Aufmerksamkeit für das einzelne Kind da war. Sein Vater war bei seiner Rückkehr nach Deutschland bereits 58 Jahre alt und nicht bei gutem Gesundheitszustand. Ab 1898 lebten die Görings in einer mittelalterlichen Burg, die ihnen von Hermanns Patenonkel Epenstein (reicher Sohn einer zum evangelischen Glauben konvertierten jüdischen Familie) kostenlos zur Verfügung gestellt wurde. Das Ganze nicht ohne Hintergedanken.
Mehr oder minder offiziell lebte Franziska Göring in den nächsten anderthalb Jahrzehnten als Geliebte Epensteins – unter stillschweigender Duldung ihres Ehemanns. Von dem tatkräftigen Kolonialbeamten, der Deutsch-Südwestafrika mit aufgebaut hatte, war wenig geblieben. Kränkelnd und vorzeitig gealtert, fand Hermanns Vater sich mit einem Schattendasein als gehörnter Ehemann an der Seite seiner jüngeren Gemahlin ab. Erst als die Liebe zwischen dem »Ritter« und dem »Burgfräulein« verebbte, kam es nach Zwistigkeiten zum schroffen Bruch. Im Streit mit dem einstigen Wohltäter verließ das Ehepaar Göring gemeinsam Burg Veldenstein und siedelte 1912 nach München über.“ (S. 18) Ein Jahr darauf starb Heinrich Göring – Hermanns Vater. Knopp schreibt, dass der kränkelnde Vater für Hermann kein Leitbild war, sondern der “prunksüchtige Lebemann Epenstein, der die ihm durch Reichtum verliehene Macht in vollen Zügen genoss“ und mit dem er bis zu dessen Tod 1934 im Kontakt blieb. (S. 18)

Hermann Göring wurde ab seinem elften Lebensjahr von seinem Vater auf ein Internat geschickt und somit erneut von seiner Familie getrennt (er verbrachte also insgesamt nur ca. acht Jahre bei seiner Familie!!), worauf er rebellisch reagierte. Nach einem Jahr mussten ihn die Eltern von der Schule nehmen und er wurde in einer Kadettenanstalt  in Karlsruhe untergebracht.  Hier war er noch weiter von Veldenstein entfernt, die Erziehung noch strenger, aber es ging dabei militärisch zu. Ziel der Anstalt war, zukünftige Berufsoffiziere heranzubilden.“ (S. 19) Hermann scheint sich dort wohl gefühlt zu haben, denn er liebte alles Militärische, schreibt Knopp.  Robust und selbstbewusst, wie er war, scheinen ihn die üblichen Rohheiten des Kadettenlebens, mit denen ältere Schülerdie ihnen anvertrauten jüngeren »Schützlinge« abzurichten und nicht selten zu quälen pflegten, wenig angetan zu haben. Offenbar ohne Widerwillen ertrug er die strenge Schuldisziplin.“ (S. 20) Und in der Tat wurde Hermann zum Musterkadetten und später zum überzeugten Soldaten, der bei Kampfeinsätzen u.a. als Pilot und Fliegerass im Ersten Weltkrieg mitwirkte. 

Ich teile Knopps Ansicht allerdings nicht, dass sich Hermann als Kadett wohl fühlte. Für mich ergibt sich eher das Bild eines Kindes/Jugendlichen, das/der gelernt hat, Schmerzen, Entbehrungen und Demütigungen auszuhalten, zu funktionieren und entsprechende Gefühle beiseitezuschieben (abzuspalten). Schon sechs Wochen nach seiner Geburt musste er aushalten und drei Jahre auf seine Familie warten, die er dann mit Aggressionen begrüßte. Hermann Göring wurde früh klar gemacht, dass er nichts zählte, dass seine Bedürfnisse nicht zählten. Auch die merkwürdige (offene) Dreiecksbeziehung seiner Eltern wird Spuren bei ihm hinterlassen haben. Für mich ergibt sich das Bild einer Kindheit, die von Trennungen und Schmerzen geprägt war. Hermann fantasierte sich – darüber berichtete auch Knopp - in eine Welt, die Macht, Heldentum und Ritterlichkeit (auch unter Einfluss seines Patenonkels) zum Ideal hatte. 

Über den alltäglichen Umgang der Eltern, ihren Erziehungsstil, offener Gewalt als Disziplinierungsmaßnahme usw. erfährt man nichts in der Quelle (und auch nicht im Internet). Aber: Wer etwas Fantasie hat und sich einfühlen kann, wird an Hand o.g. Darstellungen schnell zu dem Schluss kommen, dass Görings Eltern emotional kalte Personen waren. Was sind das für Eltern, die ihr Neugeborenes drei Jahre bei einer Freundin unterbringen, obwohl sie alle Möglichkeiten dazu hatten, das Kind bei sich aufzunehmen? Es sind grausame Eltern, die sich nicht darum scheren, wie es dem Kind ergeht. Solche Eltern sind nicht auf der einen Seite zu solchen Handlungen fähig und dann auf der anderen Seite später herzlich und emotional zu ihren Kindern. Solche Eltern werden auch im Erziehungsalltag die Bedürfnisse ihrer Kinder übersehen und überhören, solche Eltern werden ihre Kälte auch im Alltag an allen möglichen Stellen und in allen möglichen Situationen unter Beweis gestellt haben, von denen wir nie etwas erfahren werden, weil es keine Zeugnisse davon gibt.

Verwendete Quelle:

Knopp, Guido (2007:): Göring. Eine Karriere. Goldmann Verlag, München.

Samstag, 3. November 2012

Dany Levys: "Mein Führer - Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler"

Durch einen Kommentar bin ich auf den Film „Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler von Dany Levy (mit Helge Schneider als Hitler) aufmerksam geworden, der mich vorher nicht wirklich interessiert hatte. Der Kommentator hat einige Passagen/Dialoge aus dem Film aufgeschrieben (was
ich hier übernehme) und diese im Kommentarbereich (29.10.12) der Homepage „Die geprügelte
Generation“ gepostet.


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Adolf Grünbaum zu Adolf Hitler: „Gehen Sie noch einmal in das Glückgefühl, das Sie gestern gefunden hatten. Sie denken erneut an ihren Vater, der Ihnen die Steinschleuder gab. Ihr geliebter Vater legt seine Hand auf ihre Schulter…“
Adolf Hitler: „Nein! Fassen sie mich nicht an, Herr Vater! Er darf mich nicht anfassen, sagen Sie ihm das! Er soll damit aufhören! Sagen Sie es ihm! Sagen Sie es ihm!“
A.G.: „Bitte fassen sie ihren Sohn nicht an!“
A.H.: „Wissen Sie, wie oft er mich geschlagen hat, mein Vater?“
A.G.: „Nein, das weiss ich nicht.“
A.H.: „Täglich!“
A.H. (mit der Stimme seines Vaters): „Adolf komm!“
A.H. (mit der Stimme des kleinen Adolf): „Ich habe nichts getan, Herr Vater!“
A.H. (mit der Stimme seines Vaters): „35!… und zählen, los!“
A.H. (mit der Stimme des kleinen Adolf): „Eins, zwei…
…(er beginnt zu schluchzen, zu weinen..), drei, vier, fünf, sechs…, dann fasst er sich wieder und meint: Was gibt’s?“
A.G.: „Das tut mir so leid, Herr Hitler.“
A.H.: „Ihr Mitleid können Sie sich am Arsch abwischen! Mein Vater Adolf hat mich versucht zu brechen, aber es ist ihm nicht gelungen! Seine Prügel, seine Ungerechtigkeit, seine Willkür, haben mich nur gestählt, haben mich zu dem gemacht, der ich heute bin!
A.G.: „Dann hat Sie Ihr Vater geliebt!“
A.H.: „Mein Vater…, der war eine kümmerliche Natur, ein armseliger Wurm, der nichts Anderes konnte, als ein wehrloses Kind zu schlagen! Die Gene, mein lieber, ihre Gene…
A.G.: „Meine Gene?“
A.H.: „Das Jüdische! Der Vater meines Vaters soll Jude gewesen sein! Das Heimtückische, Jüdische, Verkommene sprang von meinem Großvater auf meinen Vater über! Aber, Grünbaum, nehmen Sie das nicht persönlich, ich habe nichts gegen die Juden, wenn sie mich in Ruhe lassen.“


Später im Film…
A.H.: „Mein Wut gegen das Kranke, Minderwertige, gegen diese lächerlichen Kreaturen… Mein Vater schlug mich nicht nur, wenn ich etwas Verbrochen hatte, – und ich war ein frecher Lausbub -, nein, er schlug mich völlig unberechenbar und willkürlich, jederzeit, auch mitten in der Nacht konnte das passieren! Einmal hörte ich Vater die Treppe herauf poltern, ich floh aus dem Fenster, wollte aus dem kleinen Fenster fliehen…, doch das Fenster war so eng sodass ich mich meiner Kleider entledigen musste, um nackt hindurch zu kriechen, doch ich blieb stecken, Als mein Vater kam, bedeckte ich meine Blöße mit einem kleinen Tuch…, und mein Vater lachte mich laut aus und rief meine Mutter! Das Gefühl dieser Lächerlichkeit war schlimmer als tausend Schläge.
A.G.: „Das Kind ist nie lächerlich, Herr Hitler. Der Vater ist es! Ein wehrloses Kind zu schlagen ist immer feige und lächerlich!
A.H.: „Sie haben recht! Mein Vater ist der Lächerliche! Wehrlose Menschen hinterrücks zu überfallen ist charakterlos!“
A.G.: „Mein Volk wurde hinterrücks überfallen und wehrlos in die Lager getrieben! Ist das die deutsche Charakterstärke? Oder spielen sie da nicht die Rolle ihres Vaters nach?“
A.H. steht regungslos da und schweigt nachdenklich…


In der Schlussrede sagt Adolf Hitler (die Rede hält, versteckt unter dem Rednerpult, Adolf Grünbaum!).:
„Ich danke Euch für Euer blindes Vertrauen in mich, treu und deutsch seid ihr mir gefolgt, um die Welt zu Sauerkraut zu machen! Heute liegt unser geliebtes Vaterland in Schutt und Asche! Ihr seid alle arisch blond und blauäugig, ausser mir, und trotzdem jubelt ihr mir zu?! … Heil mir selbst!
Warum tut ihr das? Ich bin Bettnässer, drogenabhängig, ich kriege keine Erektion, ich wurde vom Vater so oft geprügelt, bis meine Gefühle verstummt waren, und so quäle ich das Wehrlose, wie ich einst wehrlos gequält wurde! Ich räche mich an den Juden, den Schwulen und den Kranken in ganz Europa für die Qualen und Demütigungen in meinem Kinderzimmer! Jedes ungeliebte, hasserfüllte Würstchen kann die Welt erobern, wenn Millionen ihn…. Schüsse fallen, A.G., der für A.H. spricht, wird von einem treuen Nazi erschossen… doch er sagt zum Schluss noch… „Heilt Euch selbst!“
Das Volk ruft wiederholt: „Heil dich selbst! Heil dich selbst!“


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Ich habe den Film kürzlich gesehen. Wirklich angesprochen hat er mich nicht. Ich finde es aber interessant und auch mutig, dass der Regisseur Levy im Grunde eine Botschaft (die wirklich wahrste Wahrheit) unters Volk bringen wollte: Einer wie Hitler konnte nur ein misshandeltes, gedemütigtes Kind sein. Einer wie Hitler war eigentlich schwach, krank und hilflos, tarnte sich aber und setzte eine hoch wirksame Maske auf.

Im Kino soll der Film von 780.000 Zuschauern gesehen worden sein und kam zudem noch als DVD raus. Ich glaube nicht, dass die meisten Zuschauer den realen Hintergrund und die Botschaft wirklich verstanden haben. Der Film ist sehr satirisch. Die Geschichte über Hitlers Kindheit wirkt im Film entsprechend ebenfalls ausgedacht, obwohl sie ganz offensichtlich auf historische Quellen zurückgreift. (da hätte man vielleicht im Abspann Alice Miller zitieren können) In Interviews (z.B. SPIEGEL, FAZ, Stern) war Levy nachträglich bemüht, diesen realistischen Hintergrund deutlich zu machen. Das Buch „Am Anfang war Erziehung“ von Alice Miller hatte ihn u.a. sehr inspiriert, diesen Film in dieser Art und Weise zu drehen.

Levy hat auf Kritik u.a. in einen Brief reagiert. Ein Auszug, der für mich sehr bedeutsam ist:
Es war für mich sehr erhellend zu lesen, mit welcher Rigorosität und Vehemenz der Ansatz der Psychoanalytikerin Alice Miller vom Tisch gefegt wird. Wie eine Litanei wird in auffällig vielen Kritiken runtergebetet, man könne doch Hitler „nicht mit seiner schweren Kindheit entschuldigen“. Dieser Satz steckt ungebrochen in den deutschen Köpfen. Ich glaube, damit verweigern Sie sich einem ziemlich substanziellen Ursachenverständnis von Faschismus. Die „Schwarze Pädagogik“, mit der Millionen Deutsche zu gehorsamen, gewaltbereiten und unempathischen Befehlsempfängern zurechtgeprügelt wurden, hat den Nationalsozialismus entscheidend mitgeschaffen. Wollen wir nicht lieber darüber streiten, anstatt es einfach zuignorieren?"

Hitler wurde von Levy in der Tat vom Sockel des „Dämon“ und „absoluten Bösen“ heruntergeholt und zum Menschen gemacht. Ob dies nun besonders gut gelungen ist, darüber lässt sich streiten. Aber dass er es tat, dafür zolle ich ihm Respekt. Erst wenn man Hitler zum Menschen macht, sich auf seine psychische Situation einlässt, sich mit dem Kind befasst, das er einst war, dann kann man dadurch auch etwas erklären.  

Die deutsche Öffentlichkeit war dazu im Jahr 2007 wohl noch nicht bereit. Es wird irgendwann eine neue Gelegenheit kommen, ein neuer Film, eine Medientitelstory und ähnliches, wo das Thema erneut aufgreifen wird. Und irgendwann werden die Menschen verstehen, dass geliebte Kinder nicht zu NS-Mördern hätten werden können.

Donnerstag, 25. Oktober 2012

James Gilligan: Gewalt. (und die tieferen Ursachen)



Der (Gefängnis-)Psychiater James Gilligan hat jahrelang – über 25, um genau zu sein – mit diversen Mördern in US-Hochsicherheitsgefängnissen gearbeitet und seine Erkenntnisse daraus u.a. in dem Buch „Violence. Reflections on Our Deadliest Epidemic“ (meine Ausgabe 2000, Jessica Kingsley Publishers, London, UK; Erstausgabe 1996 in den USA) veröffentlicht. 

Er stellt ähnlich wie der Neurologe Pincus besonders schwere Gewalterfahrungen fest:
The degree of violence and cruelty to which these men have been subjected in childhood is so extreme and unusual that it gives a whole new meaning to the term “child abuse”. (…) The violent criminals I have known have been objects of violence from early childhood. They have seen their closest relatives – their father and mothers and sisters and brothers – murdered in front of their eyes, often by other family members. As children, these men were shot, axed, scaled, beaten, strangled, tortured, drugged, starved, suffocated, set on fire, thrown out of windows, raped, or prostituted by mothers who were their “pimps”; their bones have been broken; they have been locked in closets or attics for extended periods, and one man I know was deliberately locked by his parents in an empty icebox until he suffered brain damages from oxygen deprivation before he was let out.
“ (Gilligan, 2000: 43-46) Gilligan schreibt, dass ihm  hunderte Männer erzählt haben, wie sie als Kind beinahe todgeprügelt wurden. (S.  47) 
Gilligan spannt in seinem Buch den Bogen auch weiter, geht u.a. auf die Biologie ein, soziologische Thesen, strukturelle Gewalt und auf Armut und Verelendung. Ich gebe hier nur den Anfang wieder, den Anfang von Gewaltkarrieren und von Hass, dieser liegt in der Kindheit der Täter, was der Autor vor allem im ersten Teil seines Buches beschreibt.

Er bezeichnet die von ihm untersuchten Mörder als Untote („living dead“), was deren Selbstdefinition wiederspiegelt. (vgl. S. 31-39) Diese Männer erlebten derart brutale Misshandlungen und absolute Lieblosigkeit in ihrer Kindheit, dass sie sich leer, innerlich tot, wie „Zombies“, „Steine“ oder „Vampire“ fühlten. (Er ergänzt an anderer Stelle – vgl. S. 49 –, dass auch psychische Folter in der Kindheit alleine innerlich tote Menschen hinterlassen kann.) Sie fühlten nichts mehr, außer, wenn sie sich selbst oder jemanden anderen Gewalt antaten. Ihre Identität existierte nicht. Manche freuten sich auf den körperlichen Tod, der durch die Verurteilung zum Tode bevorstand. Er käme einer Erlösung gleich. Gilligan zitiert z.B. einen Mörder, der die Reaktion seiner Mutter im Gerichtssaal, nachdem er zum Tode verurteilt worden war, kommentiert: (von mir frei übersetzt) „Als sie im Gerichtssaal anfing zu weinen … weinte Sie über etwas, das bereits tot war. … Ich war bereits tot oder etwas ähnliches wie tot.“ An einer anderen Stelle sagte dieser Mann: „Ich weiß nicht, was Leben ist.“ (S.  37) 
Man sollte an dieser Stelle nicht vergessen, dass diese Mörder ganz normal wirken konnten, wie Du und Ich.
These men do not look like „zombies“ or „vampires“, nor do they necessarily behave differently from anyone else in the course of an ordinary conversation. In fact, the most extraordinary thing about these violent men is how ordinary they often appear on the surface. No matter how many violent people I have worked with, I still find myself amazed by these ordinary-looking men, who have actually committed extraordinarily brutal, violent crimes. “(S 33+34)

Eine gängige These lautet, dass Männer selbst erlebte Gewalt überwiegend dahingehend verarbeiten, dass sie Gewalt gegen Andere anwenden, ihren Hass außen ausleben, Frauen richten – der These folgend -  ihren Hass gegen sich selbst. Gilligan beschreibt dagegen, dass die (vorwiegend männlichen) Mörder – neben ihrem mörderischen Verhalten – ihren Hass auch gegen sich richteten, sie verletzten sich selbst, fügten sich Wunden zu usw., um dadurch „irgendetwas“ zu fühlen, zu merken, dass sie noch am Leben waren. (Anmerkung: Und wenn man sich genau ihren Lebensverlauf ansehen würde, würde man wahrscheinlich unzählige Verhaltensweisen feststellen, die selbstzerstörerisch wirkten, im beruflichen, sozialen wie auch im privaten Bereich) Wenn diese Männer an den Punkt kamen, dass die Selbstverletzungen und die Gewalt gegen Andere keinerlei Gefühle mehr bei Ihnen auslösten, brachten sich sehr viele selbst um. Gilligan schreibt, dass in den USA mehr Mörder durch Selbstmord umkommen, als durch die verhängte Todesstrafe. Die Selbstmordrate unter Mördern wäre einige hundert Mal höher, als unter normalen Menschen ähnlichen Alters, Geschlechts usw. (S. 41; Anmerkung: Nachdem er in Massachusetts als Gefängnispsychiater angefangen hatte, ging die Selbstmordrate vor Ort fast auf Null zurück.)

Gilligan beschreibt in seinem Buch weiter die emotionale Logik hinter der Gewalt, vor allem auch hinter extremer Gewalt. Jedes Gewaltverhalten ist demnach emotional zu verstehen, wenn man sich mit der Psyche der Mörder und Gewalttäter befasst. Was auf den ersten Blick unlogisch und sinnlos erscheint, z.B. extreme Gewaltausbrüche auf Grund von „Nichtigkeiten“, wird emotional verstehbar, wenn man um die Hintergründe des Täters weiß. So verstehe ich Gilligan.
Der Autor spricht auch von der „logic of shame“ (Logik von Schamgefühlen) (S.  
65). Das Wort “shame” spielt in dem Buch eine zentrale Rolle. Gilligan meint damit die totale Abwesenheit jeglicher Fähigkeit, sich selbst zu lieben (bedingt durch die Abwesenheit von Liebe und Gewalterfahrungen in der Kindheit; vgl. S. 47), was eine von grundauf mit chronischen Schamgefühlen und Unsicherheiten durchzogene (und auch innerlich „tote“) Persönlichkeit hinterlässt. Nach der Besprechung eines Fallbeispiels schreibt er: „(…) the most dangerous men on earth are those who are afraid that they are wimps.” (S.  66)  (Frei übersetzt: Die gefährlichsten Menschen der Welt sind die, die Angst davor haben, als “Warmduscher” angesehen zu werden.) Die Angst vor Beleidigungen, Beschämung, Demütigungen, abfälligen Blicken, Respektlosigkeit, das „Gesicht zu verlieren“ usw. (oder sich so zu fühlen), provozierte die Mörder dazu, zu töten. Diese Angst vor „Beschämung“ hing eindeutig mit den real erlebten „Beschämungen/Demütigungen“ in der Kindheit zusammen (Anmerkung: und den „bösen Augen, Blicken“ der Eltern). 

Die meisten Mörder verbergen diese Gefühle (Männer vor allem hinter einer extrem maskulin betonten Fassade), fühlen sich aber tief beschämt. Sie fühlen sich zugleich beschämt darüber, sich beschämt zu fühlen. (S. 111) „Behind the mask of „cool“ or selfassurance that many violent men clamp onto their faces (…) is a person who feels vulnerable not just to “loss of face” but to the total loss of honor, prestige, respect, and status – the disintegration of identity, especially their adult, masculine, heterosexual identity; their selfhood, personhood, rationality, and sanity.” (S. 112) Daher, so Gilligan, werden Kriminelle (und auch Kinder, was er in Klammern einfügt) um so gewalttätiger, je mehr sie bestraft werden. Die Strafen bringen erneute Beschämung/Demütigungen mit sich. (S. 113) 

Ähnlich wie Pincus überträgt Gilligan seine Arbeit mit Einzelpersonen auch auf kollektive Prozesse und nennt als Beispiel Nazi-Deutschland und die Angst der Deutschen vor der „Schande von Versailles“, den „bösen Augen und Blicken“ der Juden usw. (S. 66ff) Er beschreibt den symbolischen Gedanken, der seiner Auffassung nach hinter dem kollektiven Morden Anfang des 20. Jahrhunderts stand: „If we destroy the Jews, we will destroy the evil eye (because they are the bearers of the evil eye)”; or in other words, “If we destroy the Jews, we will destroy shame - we cannot be shamed.(S. 69) 

Mich erinnern diese Ausführungen an zwei Erlebnisse während meiner Zivizeit in einer Drogentherapieeinrichtung. Der eine „Klient“ war ein muskelbepackter Mann, der es liebte, sich mit Ketten und Indianerschmuck zu behängen. Ich war mit ihm, einem anderen Klienten und einer Therapeutin in unserem Dienstwagen unterwegs. Neben uns hielten zwei junge Männer, die neugierig zu uns herübersahen. Daraufhin rastete der erst genannte Mann aus, fing an zu toben und wollte aussteigen, um die zwei zu verprügeln. Die Therapeutin konnte ihn irgendwie davon abhalten. Er beruhigte sich dann, fügte aber noch hinzu, dass er, wenn er draußen alleine gewesen wäre, die beiden fertig gemacht hätte.
Ein anderer Mann, der vor seinem Entzug Zuhälter war und sehr viel wert auf sein „Zuhälteräußeres“ legte, verbrannte sich einmal mit einer Zigarette seine Jacke. Daraufhin rastete er ebenfalls aus, schlug gegen Tür und Wand und ich konnte ihn kaum beruhigen.
Sofern ich etwas über die Hintergründe der Drogenabhängigen erfuhr (teils besuchte ich im Rahmen meiner Tätigkeiten auch deren Familien und bekam Einblicke, die die Therapeuten nicht hatten) , durch Gespräche oder Berichte, stellte sich bei vielen eine sehr traumatischer Hintergrund in der Kindheit heraus. Die beiden o.g. Männer waren zu „cool“, als dass sie mir etwas über sich erzählt hätten (beide brachen auch die Therapie ab, bzw. ersterer wurde durch die Polizei mitgenommen, nachdem er bei einem Anfall das Büro der Therapeuten verwüstet hatte…) . Aber auch sie werden schwere, gewaltvolle Kindheiten gehabt haben. Ihr Selbstbewusstsein, ihre Identität hingen an einem seidenen Faden. Ein falscher Blick (und sich dadurch verletzt und nicht respektiert fühlen.) oder eine kaputte Jacke reichten aus, um eine vorher entspannte Situation in eine gefährliche Situation zu verwandeln. (bei anderen Klienten reichten solche „Beschämungen“ aus, um erneut rückfällig zu werden und wieder Drogen zu nehmen.) Solche „Beschämungen“ lösen, so meine ich, quasi Flashbacks aus, Erinnerungen an die Gewalt und Demütigungen in der Kindheit. Diese unerträglichen Gefühle sollen und wollen aber nicht erneut erlebt werden. Der Ausweg der Klienten: Gewalt oder Selbstvernichtung durch Drogen (und dabei auch kurzfristiger, guter Gefühle, sich geliebt und geborgen fühlen, durch die Einnahme von Substanzen). 

Ähnliches sieht man auch auf der politischen Bühne. Die Sprache von politischen Führern verrät, um was es eigentlich geht, wenn sie davon sprechen, dass man sich von einer anderen Nation „beleidigt“ oder „gedemütigt“ fühle, dass man nicht  „das Gesicht verlieren“ dürfe usw. Wie zerbrechlich das „Selbstbewusstsein von Nationen“ sein kann, sahen wir zu letzt am Deutlichsten nach dem 11. September. Statt die Ereignisse zu betrauern und rechtsstaatliche/friedliche Wege zu gehen, reagierte die USA wie ein „gewaltbereiter Drogenabhängiger“, man schlug einfach los, auf Nationen, von denen man sich bedroht und nicht-respektiert sah, man wollte nicht als „Warmduscher“ und „Weichei“ oder als "Opfer" dastehen, man wollte die starke und mächtige Fassade wiederherstellen, ganz egal wie die eigentlichen Realitäten aussahen. 

Ich erinnere mich an dieser Stelle an die Doku „Familienkrieg“, die ich vor mehreren Jahren einmal gesehen habe und die ich nie vergessen habe. Für die Doku wurde ein Neonazi und seine Familie filmisch begleitet. An einer Stelle sagte er etwas in der Art (meiner Erinnerung nach): „Jemand, der mich beleidigt und nicht respektiert, den mach ich platt.“ Das war im Prinzip sein wesentliches Lebenskonzept: Hass und die Angst, nicht respektiert zu werden.
In einem Filmausschnitt kann man den jungen Mann und seinen Hass sehen. In der Mitte schreit er seine Mutter an: (in einem Dialekt, so dass ich das schreibe, was ich verstehe):
Du hast mir vielleicht auf den Arsch oder an die Ohren hauen können, wie ich noch ein kleiner Junge war, aber jetzt bin ich ein bisschen größer wie Du und es kann sein, dass wenn Du mich jetzt noch einmal unterbrichst, dass ich Dir eins aufs Maul haue!“ Der Vater war zudem abwesend und ist – meiner Erinnerung nach – früh verstorben und blieb vom Sohn idealisiert. Die Gewalt der Mutter gegen den Sohn wird nicht unerheblich gewesen sein, wenn man sich anschaut, wie hasserfüllt und wie unsicher in seiner Identität dieser junge Mann geworden ist.