Lenin (eigentlich Wladimir Iljitsch Uljanow, im Text bleibe ich aber bei "Lenin") wird von verschiedenen Autoren als Diktator bezeichnet, teils auch als Massenmörder und natürlich als Wegbereiter zur stalinistischen Diktatur und Schreckensherrschaft. Vor allem seine Beteiligung am sogenannten „Roten Terror“ sprechen Bände. Ebenso gilt das – von Lenin befohlene - Massaker an der Zarenfamilie im Jahr 1918 „als Symbol für die Grausamkeit des bolschewistischen Regimes“. (von Flocken 2015)
Ich hatte schon vor einiger Zeit vier Biografien über Lenin durchgearbeitet. Dabei sind mir vor allem Widersprüche bzgl. der Schilderungen über seine Kindheit aufgefallen. Die Autoren zeichnen oberflächlich ein scheinbar normales Bild einer „sorglosen Kindheit“ (Ruge 2010, S. 25) Doch stimmt dies so? Meine Grundthese lautet bekanntlich, dass als Kind geliebte Menschen keine Massenmörder und/oder Diktatoren werden. Bei der jetzt erneuten Durchsicht der vier Arbeiten zeigt sich mir, dass es auch in Lenis Kindheit nicht wirklich heiter zuging.
Der Biograf David Shub (1958) beschreibt wenig Erhellendes über Lenis Kindheit. Allerdings erwähnt der Autor beiläufig einiges, was mich aufhorchen ließ. Lenis Vater wird dem Urteil eines Freundes nach als „starker, charakterfester Mensch, der sehr streng gegen seine Untergebenen war“ beschrieben. (Shub 1958, S. 29) In einem Empfehlungsschreiben für die Universität schrieb der Direktor des Gymnasiums und (nach dem Tod des Vaters per Testament bestimmten) Vormund Lenins – Fedor Kerenskij – u.a. „Sowohl in geistiger wie in sittlicher Beziehung wurde er aus sorgfältigste erzogen (…) zuerst von beiden Eltern und nach dem Tod des Vaters von der Mutter, die ihre ganze Fürsorge und Aufmerksamkeit der Erziehung ihrer Kinder widmete. Religion und strenge Zucht bildeten die Grundpfeiler dieser Erziehung, ihnen verdankt Uljanow sein vorbildliches Betragen.“ (ebd., S. 32) Der Biograf Stefan T. Possony beschreibt Lenins Vater allgemein als einen „auf strenge Zucht bedachten Mann“. (Possony 1965, S. 19) Ein paar Seiten weiter schreibt der gleiche Autor widersprüchlicher Weise, Lenis Vater schien gegenüber den Kindern „nicht streng gewesen“ zu sein, „wenn er auch, was keinem Zweifel unterliegt, zurückhaltend und ohne Wärme war.“ (ebd., S. 25)
Was bedeutet in diesen Zitaten das Wort „streng“ oder „Zucht“? Der Vater war streng, die Mutter war streng, gut, aber was für ein Verhalten gegenüber den Kindern und was für Strafen beinhaltete dies? Diese Frage bleibt im Raum, gibt aber begründeten Anlass für Spekulationen (zumal Lenin im Jahr 1870 geboren wurde und wir heute wissen, was sich hinter Worten wie „streng“ und „Zucht“ bzgl. der damaligen Kindererziehung oftmals verbarg.)
Wolfgang Ruge schreibt, dass wenig über das Verhältnis Lenins zu seinem Vater bekannt sei, zu seiner Mutter habe Lenin allerdings stets ein gutes Verhältnis gehabt. (Ruge 2010, S. 26+27) Ebenfalls beschreibt Possony Lenis Mutter als „allen ihren Kindern eine zärtliche Mutter“. (Possony 1965, S. 19) Ob dieses Bild der Mutter der Realität entspricht, werden wir im Textverlauf vielleicht noch klären.
Eindeutig war das eheliche Verhältnis von Lenis Eltern sehr belastet. Lenins Mutter – Maria – bereute bald nach der Eheschließung ihre Wahl, da ihr Mann „außer seiner Arbeit im Institut für Adlige noch mehrere andere Ämter innehatte und nur selten zu Hause war. Er hatte Schwierigkeiten mit einigen seiner Schüler, war übellaunig und fühlte sich von seiner Frau gelangweilt. Die Schwester Anna ging auf Marias Klagen ein und tadelte Ilja wegen der Vernachlässigung seiner Frau und wegen seines mangelnden Interesses an einem Familienleben; aber Maria erkannte, dass es das Los vieler Ehefrauen wäre, einsam zu sein.“ (Possony 1965, S. 21) In der Folge scheint es erhebliche Spannungen in der Familie gegeben zu haben. „Maria war eine Zeitlang ohne Grund eifersüchtig und wurde immer reizbarer und launischer. Sie gab die Musik auf, stand spät auf und vernachlässigte ihren Haushalt. Seit ihrem Umzug nach Nishni-Nowgorod teilte das Ehepaar Uljanow nicht mehr das Schlafzimmer. Ilja schlief in seinem Arbeitszimmer und Maria im Schlafzimmer mit ihrem Kind.“ (Possony 1965, S. 22) In der Folge war Maria zukünftig froh, wenn ihr Mann das Haus verließ, schreibt Possony weiter. Wie mag sich diese Atmosphäre zwischen den Eheleuten auf die Kinder ausgewirkt haben?
Nichts desto trotz bekam das Paar acht Kinder, wovon allerdings zwei im Säuglingsalter verstarben. (Service 2000, S. 49) Da der Vater oft abwesend war und die Mutter so viele Kinder zu versorgen hatte, ist zu vermuten, dass die Kinder auch alleine auf Grund der Rahmenbedingungen vernachlässigt wurden.
Dass die Mutter sehr gefordert war zeigt auch ein weiterer Sachverhalt. Um die Zeit der Geburt Lenins nahm die Familie eine Bäuerin bei sich auf und in ihre Dienste. Sie zog den kleinen Lenin auf, schreibt Passony. (Possony 1965, S. 25) Über die Art und Weise des Umgangs mit dem Kind erfährt man leider nichts von dem Biografen, obwohl der Einfluss dieser Frau sicher bedeutsam war. Sie blieb bis zu ihrem Tod im Jahr 1890 in der Familie.
Über den Stand des Vaters in der Familie gibt es eine weitere, sehr aufschlussreiche Textstelle. Am 12.01.1886 starb Lenis Vater unerwartet während des Mittagsessens; Lenin war zu der Zeit 16 Jahre alt. „Die Hinterbliebenen waren nur wenig betroffen, da Iljas Tod keine bedeutenden Veränderungen im Leben seiner Familie zur Folge hatte.“ (Passony 1965, S. 26)
Auch der Biograf Robert Service berichtet widersprüchliches: „Die warme Geborgenheit in der Familie hielt Vladimir nicht davon ab, sich asozial gegen seine Geschwister zu verhalten. Es gab immer eine Spur von Bosheit in seinem Charakter.“ (Service 2000, S. 62) Ebenso passt nicht wirklich zu einer „warmen Geborgenheit“, dass die Erfolgserwartungen der Eltern „gewaltig waren“, wie Service schreibt. (ebd., S. 63) Der junge Lenin wurde einige Jahre lang von diversen Privatlehrern auf die Schule vorbereitet. (ebd., S. 64) Die Zeit auf dem Gymnasium wird für Lenin prägend gewesen sein. „Disziplin wurde rigoros durchgesetzt. Wie andere Schuldirektoren jener Zeit arbeitete Kerenskij mit Prügel, Arrest, Strafaufgaben und vielen Moralpredigten, auch wurden die Schüler am Simbirsker Gymnasium – wie an allen übrigen zaristischen Schulen – von den Lehrern zur Denunziation ihrer straffällig gewordenen Kameraden angehalten. Eine solche Schule war für die meisten Schüler unerfreulich. Die Disziplin war lästig, mitunter brutal, die Arbeitsbelastung enorm, der Stoff ohne jeden Bezug zum täglichen Leben. Zwar blieben Vladimir die schlimmsten disziplinarischen Maßnahmen erspart, doch ist kaum anzunehmen, dass das Schulerlebnis keine negativen Spuren in seinem Bewusstsein hinterlassen haben sollte.“ (Service 2000, S. 66)
Wie ich oben im Text beschrieben habe, wurde dieser strenge Schuldirektor später - nach dem Tod des Vaters – der Vormund von Lenin. Lenins Eltern hielten offensichtlich sehr viel von diesem Mann und seinen Methoden. Vielleicht erzählt dieser Sachverhalt auch ein wenig davon, was im Hause Lenin unter „Strenge“ und „Zucht“ verstanden wurde. Dies bleibt natürlich Spekulation. Anders als bei anderen Diktatoren und Massenmördern finden sich keine genauen Informationen über elterliche (körperliche) Gewalt gegen die Kinder. Aber es finden sich auch – trotz mancher Deutungsausbrüche der Biografen - keine Hinweise darauf, dass in Lenins Familie liebevoll und gewaltfrei erzogen wurde. Die oben zusammengetragenen Informationen sind eindeutige Indizien für eine wenig freiheitliche und emotional eng verbundene Familie.
Eine Textstelle ist für mich ganz besonders zentral! Sie beginnt erneut mit einem Widerspruch seitens des Biografen. Service schreibt zunächst bzgl. der Erziehung in Lenis Familie: „Strafen wurden selten für nötig erachtet.“ (ebd., S. 60) Um dann anzuschließen, Lenis Vater hatte „ein aufbrausendes Temperament, und seine Kinder fürchteten seine Missbilligung auch dann, wenn sein Beruf ihn zu langen Reisen durch das Gouvernement Simbirsk entführte. In solchen Zeiten bestrafte Maria Alexandrovna ein unartiges Kind damit, dass sie es auf einen Stuhl im Arbeitszimmer des Vaters verbannte, wo es mucksmäuschenstill sitzen musste. Dieser Stuhl hieß ´der schwarze Stuhl`. In Erinnerung blieb der Familie die Episode, wie Volodja (Anmerkung: Rufname für den kleinen Lenin), nachdem er irgend etwas angestellt hatte, auf den schwarzen Stuhl geschickt wurde, wo ihn die Mutter dann stundenlang vergaß. Bei allem Mutwillen wagte er nicht, aufzustehen oder sich zu rühren, bis die Mutter ihn wiederholte.“ (Service 2000, S. 60)
Ein Kind, das so viel Angst davor hat, sich vom angewiesen Platz stundenlang nicht zu rühren, muss vorher „etwas“ erlebt haben. Es muss Strafen, Drohungen oder anderes in der Familie erlebt haben, ansonsten ist diese enorme Angst nicht erklärbar. Das vorgenannte Zitat zeigt auch, dass Lenins Mutter eine für das Kind bedrohliche Rolle eingenommen hat und psychische Gewalt ausübte, entgegen den idealisierenden Schilderungen der Biografen.
Außer den oben genannten Kernereignissen ist ein weiteres Ereignis in Lenins Jugend von Bedeutung. Nachdem Lenis Bruder Alexander ein Attentat auf den Zaren geplant hatte, wurde er am 08.05.1887 hingerichtet. Dies traf den jungen Lenin nachhaltig und er schwur Rache. Nachdem Lenin die Nachricht vom Tod seines Bruders erhalten hatte, schrie er: „Das sollen sie büßen, das schwöre ich.“ (Shub 1958, S. 10) Später sollte er – wie oben bereits erwähnt – die Ermordung von Zar Nikolai II. und dessen Familie befehlen. Dieser war der Sohn von Alexander III., auf den Lenins Bruder Alexander ein Attentat geplant hatte. Nachdem ihr Sohn hingerichtet worden war, dachte Lenins Mutter zunächst an Selbstmord. (Service 2000, S. 90) Für die Familie war dies Ereignis offensichtlich traumatisch.
Die Kindheit und Jugend von Lenin ist nicht so gut beleuchtet wie die anderer Diktatoren. Ich denke allerdings, dass ich oben herausstellen konnte, dass der junge Lenin schwer belastet war, in mehrfacher Hinsicht. Am Ende dieses Textes stelle ich dies noch mal zusammenfassend dar:
- Strenge Eltern, die hohe Ziele für ihre Kinder hatten und entsprechenden Leistungsdruck ausübten
- Ein emotional enorm gespanntes Verhältnis zwischen beiden Eltern
- Ein abwesender und desinteressierter Vater, der zudem früh verstarb. (Wobei unklar ist, ob und wie sein Tod Lenin belastete)
- Eine Art Weggabe des Säuglings Lenin an eine Bäuerin, die im Haus wohnte und ihn großzog.
- Psychische Gewalt und Strafen
- Miterleben einer kalten und strafenden Schule
- Traumatisches Ereignis: Hinrichtung des Bruders
Dazu kommt, dass ich persönlich vermute, dass es auch Körperstrafen gab (vor allem seitens des Vaters, der als streng und aufbrausend beschrieben wurde, ggf. auch durch die Bäuerin, die Lenin aufzog) und dass psychische Drohungen und Gewalt keine Seltenheit in der Familie waren, ansonsten wäre die starke Verängstigung des jungen Lenin wie oben beschrieben auf dem „schwarzen Stuhl“ nicht zu erklären. Auch spricht das grausame Verhalten von dem erwachsenen Lenin dafür, dass die Belastungen als Kind enorm waren und entsprechend folgenreich.
Quellen:
Possony, Stefan T. (1965). Lenin. Eine Biographie. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik.
Ruge, Wolfgang (2010). Lenin. Vorgänger Stalins. Berlin: Matthes & Seitz Verlag.
Service, Robert (2000). Lenin. Eine Biographie. München: Deutscher Taschenbuchverlag.
Shub, David (1958). Lenin. Wiesbaden: Limes Verlag.
von Flocken, Jan (2015, 17.07.). Grausamkeit trieb Lenin zur Ermordung des Zaren. welt.de
Montag, 23. Mai 2016
Freitag, 29. April 2016
Neues Buch über Anders Breivik mit ausführlichen Infos über seine Kindheit
Ganz aktuell erschien das Buch "Einer von uns. Die Geschichte eines Massenmörders" von Åsne Seierstad (von mir als eBook Kindle Version gelesen, Kein & Aber Verlag)
Das Buch enthält bzgl. der Kindheit von Anders Breivik für mich nicht viel Neues. Etwas ausführlicher als mir bereits bekannt wird in dem Buch auf die Vernachlässigung von Anders und seiner Schwester eingegangen, ebenso auf den oft offen geistig verwirrten Zustand der Mutter (Wenche). Eine Information schlug mir besonders ins Auge. Während des Aufenthaltes zusammen mit ihrem Sohn Anders zur Begutachtung in einer psychiatrischen Klinik (ich hatte bereits darüber berichtet) hörten die Ärzte Wenche ihren Sohn anschreien: „Ich wünschte, du wärst tot!“ (Position 386) Dass sie ihrem Sohn gegenüber solche Sätze gesagt hatte und ihn zweitweise auch abschieben bzw. zur Adoption freigeben wollte, war mir bereits bekannt. Dass sie diesen Satz auch innerhalb der Klink hörbar für Andere geschrien hatte, ist mir allerdings neu. Dadurch wird noch einmal deutlich, wie selbstverständlich ihre Ablehnung gegenüber ihrem Sohn war. Man mag sich gar nicht vorstellen, was alles zu Hause - in ihrem unbeobachteten Rahmen - passierte, wenn Wenche sich bereits so krass in dem Umfeld der Psychiatrie verhielt…
Die Autorin Seierstad geht sehr ausführlich auf die Mutter von Anders ein, was für mich neue Information bedeutet. Dass Wenche als Kind schwer belastet war, hatte ich bereits an anderer Stelle (siehe Link oben) kurz erwähnt. Das Bild wird durch „Einer von uns“ nun komplexer:
Wenche wurde gleich nach der Geburt in ein Kinderheim gegeben und blieb dort 5 Jahre. Dann schloss das Heim und sie kam zurück zu ihrer Familie, innerhalb der sie sich selbst überlassen blieb. Der Vater war oft abwesend, die Mutter ließ ihren Frust an der Tochter aus, schrie sie an, sie tauge zu nichts. Ein Bruder quälte und misshandelte sie ständig so sehr, dass Wenche es oft vorzog, außerhalb des Hauses zu bleiben oder sich versteckte. Auch die Kinder ihrer Umgebung grenzten Wenche aus, sie hatte keine Freunde. Mit 12 Jahren hatte sie ernste Suizidabsichten, nahm aber von dem Plan Abstand. Mit 17 Jahren verließ sie die Familie fluchtartig. Erst Jahre später besuchte sie erstmals wieder ihre Mutter, die mittlerweile ernsthaft psychisch krank geworden war und unter paranoiden Wahnvorstellungen und Halluzinationen litt. Das Pflegeheim sollte die Mutter nicht mehr verlassen, als sie starb, besuchte ihre Tochter die Beerdigung nicht. (Position 172-200)
Hier zeigt sich für mich noch einmal deutlich, dass der Fall Breivik viel mehr Kapitel aufschlägt, als nur die Geschichte eines misshandelten Jungen, der zum Massenmörder wurde. Auch seine Mutter hatte eine extrem schwere Kindheit. Die Verhaltensweisen und psychischen Zustände der Eltern von Wenche – die Großeltern von Anders – lassen wiederum die Vermutung zu, dass auch diese als Kind schwer belastet waren. Insofern kann man den Fall Breivik nicht isoliert betrachten. Der Fall ist auch ein Lehrstück über die Geschichte der Kindheit; über Eltern, die als Kind geschädigt wurden und wiederum ihre eigenen Kinder schädigen. Eines dieser schwer geschädigten Kinder wurde zum Massenmörder.
Ich habe das Buch „Einer von uns“ nicht durchgelesen, sondern nur gezielt nach Informationen gesucht. Mein Eindruck ist aber, dass die Autorin Wert darauf lag, die Ereignisse ohne eine Bewertung oder eigene Kommentare chronologisch in einer gut lesbaren Form wiederzugeben. Aage Borchgrevink (Link oben) ging da in seinem Buch anders vor und hat überdeutlich darauf hingewiesen, dass der Fall Breivik für ihn ein Lehrstück über Kindesmisshandlung und Prävention in Form von Kinderschutz ist.
Das Buch von Åsne Seierstad ist eine Chance. Erstmals wurde in deutscher Sprache ausführlich über die Kindheit von Anders Breivik geschrieben (bzw. das Buch wurde übersetzt). In der aktuellen Ausgabe der EMMA (Nr. 3, Mai/Juni 2016, S. 60+61) wurde das Buch ausführlich besprochen, ebenfalls die Kindheit von Breivik. Wer weiß, vielleicht führt das Buch endlich dazu, dass hierzulande der Kindheitsalptraum dieses Massenmörders bekannt wird, was 1. hilft, seine Taten zu erklären (nicht zu entschuldigen) und 2. die richtigen Ansätze für nachhaltige Terrorprävention aufzeigt: Mehr Kinderschutz.
Dienstag, 19. April 2016
Kindheit von Recep Tayyip Erdoğan
Ich habe nur kurz recherchiert, vielleicht gerade einmal 15 Minuten. Und schon habe ich einige Details über die Kindheit Erdoğans gefunden, die im Grunde bereits alles sagen:
"Erdoğan wuchs in kleinen Verhältnissen auf, in einem Hafenviertel, auf dessen Straßen das Gesetz des Stärkeren galt: Wer Schwäche zeigt, hat schon verloren. Wer beleidigt wird, muss zurückschlagen." (Focus.de, 14.04.2016, "So wurde der türkische Staatspräsident zu dem, was er ist")
Unter Verweis auf Recherchen des SPIEGEL wird in dem Artikel geschrieben, dass er nie einer Schlägerei aus dem Weg ging.
In einem FAZ Artikel wird Erdoğans Vater kurz und knapp in einem Satz beschrieben: "Er war fromm, streng, autoritär." (FAZ, 05.08.2008, "Der Realo aus dem Hafenviertel")
"Erdoğans Erziehung war streng. Vor einigen Jahren berichtete er, wie er einmal von einer Nachbarin den Hintern versohlt bekam und darauf ein paar Flüche ausstieß – mit der Folge, dass er von seinem Vater zur Bestrafung an den Füßen mit dem Kopf nach unten aufgehängt wurde. Ein Onkel habe sich schließlich seiner erbarmt und ihn aus der misslichen Lage gerettet." (Die Presse, 10.08.2014, "Erdoğan, der Staatsmann aus dem Schlägerviertel")
Man kann sich vorstellen, dass weitere destruktive Erziehungsmaßnahmen im Hause Erdoğan keine Ausnahme gewesen sein werden. (Nachträglicher Hinweis: Noch mehr Details über seine Kindheit habe ich in dem Beitrag Opferrituale. Ereignisse in der Türkei bestätigen psychohistorische Annahmen zusammengetragen.)
Für mich sind diese Informationen keine Überraschung, da das Verhalten des türkischen Präsidenten bereits eine deutliche Sprache spricht. Ein autoritärer Charakter fällt bekanntlich nicht vom Himmel. Allerdings beunruhigen mich die Informationen, da es unwahrscheinlich ist, dass jemand, der derart als Kind geprägt wurde, von dem einmal eingeschlagenen Weg ablässt. Die Macht, die er inne hat und die er immer weiter auszubauen scheint, wird einem Menschen, der einst als Kind misshandelt wurde, weiter zu Kopf steigen. Im Hinterkopf wirkt die alte Ohnmacht und die verträgt sich nun mal nicht mit großer realer Macht.
"Erdoğan wuchs in kleinen Verhältnissen auf, in einem Hafenviertel, auf dessen Straßen das Gesetz des Stärkeren galt: Wer Schwäche zeigt, hat schon verloren. Wer beleidigt wird, muss zurückschlagen." (Focus.de, 14.04.2016, "So wurde der türkische Staatspräsident zu dem, was er ist")
Unter Verweis auf Recherchen des SPIEGEL wird in dem Artikel geschrieben, dass er nie einer Schlägerei aus dem Weg ging.
In einem FAZ Artikel wird Erdoğans Vater kurz und knapp in einem Satz beschrieben: "Er war fromm, streng, autoritär." (FAZ, 05.08.2008, "Der Realo aus dem Hafenviertel")
"Erdoğans Erziehung war streng. Vor einigen Jahren berichtete er, wie er einmal von einer Nachbarin den Hintern versohlt bekam und darauf ein paar Flüche ausstieß – mit der Folge, dass er von seinem Vater zur Bestrafung an den Füßen mit dem Kopf nach unten aufgehängt wurde. Ein Onkel habe sich schließlich seiner erbarmt und ihn aus der misslichen Lage gerettet." (Die Presse, 10.08.2014, "Erdoğan, der Staatsmann aus dem Schlägerviertel")
Man kann sich vorstellen, dass weitere destruktive Erziehungsmaßnahmen im Hause Erdoğan keine Ausnahme gewesen sein werden. (Nachträglicher Hinweis: Noch mehr Details über seine Kindheit habe ich in dem Beitrag Opferrituale. Ereignisse in der Türkei bestätigen psychohistorische Annahmen zusammengetragen.)
Für mich sind diese Informationen keine Überraschung, da das Verhalten des türkischen Präsidenten bereits eine deutliche Sprache spricht. Ein autoritärer Charakter fällt bekanntlich nicht vom Himmel. Allerdings beunruhigen mich die Informationen, da es unwahrscheinlich ist, dass jemand, der derart als Kind geprägt wurde, von dem einmal eingeschlagenen Weg ablässt. Die Macht, die er inne hat und die er immer weiter auszubauen scheint, wird einem Menschen, der einst als Kind misshandelt wurde, weiter zu Kopf steigen. Im Hinterkopf wirkt die alte Ohnmacht und die verträgt sich nun mal nicht mit großer realer Macht.
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Nachtrag 01.12.2023:
In meinem Buch habe ich die Kindheit von Erdoğan vor allem auf Grundlage der Quelle Akyol, C. (2016). Erdoğan: Die Biografie. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau. (Kindle E-Book Version) besprochen. Die entsprechende Passage füge ich hier nachträglich ein:
Nach eigenen Aussagen habe sein Vater „von Zeit zu Zeit“ mit ihm und seinen Geschwistern „abgerechnet“. „Wir respektierten die Autorität. Wir hätten sonst auch gewusst, dass unser Vater uns andernfalls schwer dafür würde büßen lassen“ (Akyol 2016, Kapitel „Ein strenges Elternhaus“).
Einmal habe er als Kind eine Nachbarin beschimpft. „Da hat sie sich mir vorgenommen. Je mehr ich fluchte, desto mehr gefiel ihr das, und sie schlug mich auf den Po. Sie schlug mich, und ich fluchte. Sobald mein Vater kam, der im Stadtteil sehr beliebt war, hat sie sich über mich beschwert. Davon wusste ich natürlich nichts. Mein Vater kam herein. (...) Er packte mich und hängte mich unter die Decke. Ob er mich dafür an den Händen oder unter den Achseln gefesselt hat, weiß ich nicht mehr. Ich blieb fünfzehn oder zwanzig Minuten hängen, bis mein Onkel kam und mich rettete. Danach war die Zeit des Fluchens für mich vorbei“ (Akyol 2016, Kapitel „Ein strenges Elternhaus“).
Solche Maßnahmen, sagte Erdoğan der Biografin Çiğdem Akyol nach lächelnd, seien auch sinnvoll gewesen. Was neben seiner bis heute andauernden Verehrung für seine Eltern, über die er laut Akyol nie ein schlechtes Wort sagte, für eine starke Identifikation mit dem Aggressor spricht.
Einmal habe er als Kind eine Nachbarin beschimpft. „Da hat sie sich mir vorgenommen. Je mehr ich fluchte, desto mehr gefiel ihr das, und sie schlug mich auf den Po. Sie schlug mich, und ich fluchte. Sobald mein Vater kam, der im Stadtteil sehr beliebt war, hat sie sich über mich beschwert. Davon wusste ich natürlich nichts. Mein Vater kam herein. (...) Er packte mich und hängte mich unter die Decke. Ob er mich dafür an den Händen oder unter den Achseln gefesselt hat, weiß ich nicht mehr. Ich blieb fünfzehn oder zwanzig Minuten hängen, bis mein Onkel kam und mich rettete. Danach war die Zeit des Fluchens für mich vorbei“ (Akyol 2016, Kapitel „Ein strenges Elternhaus“).
Solche Maßnahmen, sagte Erdoğan der Biografin Çiğdem Akyol nach lächelnd, seien auch sinnvoll gewesen. Was neben seiner bis heute andauernden Verehrung für seine Eltern, über die er laut Akyol nie ein schlechtes Wort sagte, für eine starke Identifikation mit dem Aggressor spricht.
Donnerstag, 14. April 2016
Kindheit von Kurt Cobain - Sein Leben als eine mögliche Ausdrucksform von Selbsthass
Der vierzehnjährige Kurt Cobain zu einem Jugendfreund: „Ich werde ein Rocksuperstar, bringe mich um und mache einen flammenden Abgang.“ (Cross 2013, Position 780)
Ich selbst war ein Teenager, als die Band Nirvana mit ihrem Hit „Smells Like Teen Spirit“ ihren Durchbruch feierte und ein Stück weit die Mainstream Musiklinie veränderte. Ich hörte damals alles Mögliche an Musik. Ich war nie ein vergötternder, abgehobener Fan irgendeiner Band, aber ich war Fan einiger Bands, dazu gehörte eine Zeit lang Nirvana. 1994 hatte ich eine Karte für das geplante Konzert in Hamburg, was mein erster Livebesuch dieser Gruppe gewesen wäre. Der Auftritt fiel aus, Kurt Cobain hatte sich erschossen...
Wenn ich die Musik von Nirvana heute zufällig im Radio höre, dann höre ich die Musik mit großer Distanz. Gut, ich bin kein Teenager mehr, der Musikgeschmack verändert sich. Aber es ist auch dieses offen Destruktive, das die Musik und vor allem die Texte/den Gesang durchzieht, das mich stört. Manche Melodien finde ich dagegen bis heute gut. Die Beschäftigung mit dem Sänger der Band, Kurt Cobain, ist somit ein Stück weit persönlicher, so man will, als wenn ich die Kindheit von Stalin & Co. bespreche.
Als Student kaufte ich mir einmal ein Exemplar der „Tagebücher 1988 -1994“ von Kurt Cobain. Irgendwie hatte ich wohl immer noch Fragen offen. Warum hat Kurt Cobain so enorm destruktiv gelebt? Warum hat er sich erschossen? Wie war seine Kindheit? Wer war er überhaupt? Damals machte ich einige Notizen in den Tagebüchern, da kleine Details etwas zur Kindheit andeuteten. Aber an sich fand ich die Texte und Bilder einfach nur wirr, deshalb auch schwer zu lesen und wenig erkenntnisreich. Für diesen Text werde ich trotzdem kurz daraus zitieren.
Vor einigen Tagen sah ich in der ARD die Dokumentation „All Apologies - Kurt Cobain“ (06.04.2016, ARD) Diese Doku hat mich noch einmal motiviert, etwas genauer zu recherchieren. Man erfährt darin, dass Kurt Cobain in der trostlose Holzfällerstadt Aberdeen aufgewachsen ist, die durch den Niedergang der Holzindustrie fast zur Geisterstadt wurde. Ein destruktives Lebensgefühl lag also über der Stadt.
„Kurt hatte eine relativ glückliche Kindheit, bis seine Eltern sich scheiden ließen.“, sagte eine Jugendfreundin von Kurt in der Doku. Nach der Scheidung lebte er bei seinem Vater und seiner Stiefmutter. „Von seinen Eltern fühlte er sich nicht akzeptiert“, hängt die Jugendfreundin noch an. Zeitweise war der wohl bereits ältere Kurt obdachlos, schlief unter Brücken oder im Krankenhausvorraum. Nachdem ich diese Informationen herausgefiltert hatte, wurde das Bild für mich bereits etwas klarer. Ich fragte mich aber immer noch: Reicht das aus? Kurt Cobain hatte eine derart destruktive, selbsthassende, „alles-egal“ Ausstrahlung, er war drogensüchtig und da war auch noch sein Selbstmord. Erklärt ein trostloses Umfeld, eine Scheidung, nicht akzeptiert werden und spätere kurzzeitige Obdachlosigkeit eine solchen Lebensweg – gepaart mit einer (angeblich) relativ glücklichen Kindheit in den ersten Lebensjahren?
Für die Recherche besorgte ich mir das Buch „Der Himmel über Nirvana. Kurt Cobains Leben und Sterben“ von Charles R. Cross, der auch in der o.g. Doku oft zu Wort kam. Ich muss sagen, dass mich die Details über Kurt Cobains Kindheit geradezu umgehauen haben. Es ist erstaunlich, dass mich nach den langen Jahren der Recherche über Kindheit und Folgen von Kindesmisshandlung immer noch etwas umhaut. Mich haben die Informationen in dem Buch aus zwei Gründen umgehauen.
Erstens: Seine Kindheit war ein reiner Alptraum. Ich möchte in meinem Blog möglichst seriös arbeiten und habe auch einen gewissen wissenschaftlichen Anspruch. Mutmaßungen über Kindheitsgründe bleiben Mutmaßungen, solange man keine Belege vorlegen kann. Nach allem, was ich in den letzten Jahren gelesen und recherchiert habe, ist im Angesicht von extrem destruktiv agierenden Menschen allerdings eine gewisse Grundannahme nötig. Wer glaubt ernsthaft, dass Menschen wie Kurt Cobain oder andere Hasser und Zerstörer nur „hier und da“ Destruktivität als Kind erlebten? „Hier und da“ erklärt gar nichts! Das Verhalten von Menschen spricht bereits Bände über das, was sie selbst einst erlebten. Es war doch einfach nur logisch, dass jemand wie Kurt Cobain einen reinen Kindheitsalptraum erlebte. Wie hätte es anders sein können?
Zweites haben mich die Informationen umgehauen, weil ich sie bisher nirgends wahrgenommen habe. Auf Wikipedia stehen nur Oberflächeninfos über die Kindheit, selbst in der o.g. Fernsehdoku wurden enorm wichtige Details über seine Kindheit ausgespart, obwohl man ja mit dem besagten Biografen zusammengearbeitet hatte. Wie können so wichtige Details, wie ich sie gleich besprechen werde, öffentlich so wenig Beachtung finden? Unfassbar.
Fangen wir gleich mit einer wesentlichen Information an: Kurt wurde als Kind von seinem Vater Don misshandelt. „Don war kein Mann vieler Worte und er hatte nie gelernt, Gefühle auszudrücken.“ (Cross 2013, Position 602) und „Wie einst sein Vater mit ihm war auch Don streng mit seinen Kindern. Einer von Wendys Vorwürfen an ihren Mann war der, dass er von den Kindern ständig Tadelloses Betragen verlangte – ein unmöglicher Standard – und von Kurt erwartete, er solle sich wie ein `kleiner Erwachsener` benehmen.“ (ebd., Position 439) Entsprechend gab es für alltägliche Vergehen „öfter mal eine Tracht Prügel“. (ebd.) Und ergänzend gab es Drohungen: „(…) Dons übliche – und beinahe täglich angewandte – Methode der körperlichen Züchtigung bestand darin, Kurt mit zwei gestreckten Fingern vor die Brust oder gegen die Schläfe zu stoßen. Das tat zwar nicht besonders weh, der psychologische Schaden jedoch war enorm: Die Stöße erinnerten seinen Sohn ständig daran, dass ihm jederzeit Schlimmeres blühen konnte, und verstärkten Dons Dominanz. Kurt begann sich immer öfter in den begehbaren Wandschrank seines Zimmers zurückzuziehen.“ (ebd.) Spott und Sarkasmus beherrschten den Familienalltag ebenso wie Geldsorgen und Streitigkeiten zwischen den Eltern.
Schließlich trennten sich die Eltern als Kurt neun Jahre alt war. Die Scheidung bezeichnet der Biograf als Krieg, „der mit all dem Hass, der Bosheit und den Rachegelüsten einer Blutfehde geführt wurde. Für Kurt kam das alles einem emotionalen Super-GAU gleich – kein anderes Erlebnis in seinem Leben hatte mehr Einfluss auf die Prägung seiner Persönlichkeit.“ (Cross 2013, Position 547) Im Juni des Scheidungsjahres schrieb Kurt an die Wand seines Schlafzimmers: „Ich hasse Mom, ich hasse Dad. Dad hasst Mom, Mom hasst Dad. Man möchte einfach nur noch ganz traurig sein.“ (ebd.)
Kurz nach der Scheidung wollte Kurt zu seinem Vater (der bei seinen eigenen Eltern lebte) ziehen und tat dies auch. Dies bedeutete auch, dass Kurt unter den Einfluss seiner Großeltern – Leland und Iris - kam (Wir erinnern uns: Kurts Großvater Leland war sehr streng mit seinem Sohn, Kurts Vater, umgegangen. Außerdem hatte Leland selbst eine schwere Kindheit in bitterer Armut verbracht, sein Vater war zudem früh gestorben). Sein Vater heiratet wenig später erneut, gegen den Willen von Kurt, was neue Konflikte hervorbrachte. Es ist schon aufschlussreich, dass Kurt unbedingt bei seinem Vater leben wollte, obwohl dieser ihn doch misshandelt und gedemütigt hatte.
Über Kurts Mutter Wendy erfährt man einiges, was ich gleich noch ausführen werde, allerdings wenig über ihren Erziehungsstil. Ihr Verhältnis zu ihrem Sohn muss entsprechend miserabel gewesen sein, wenn dieser lieber zu seinem gewalttätigen Vater zieht. In seinem Tagebuch blickt Kurt Cobain auf seine Highschool-Zeit zurück und wie er erstmal Pot rauchte. Beiläufig schreibt er: „Zufällig erreichte die seelische Misshandlung durch meine Mutter in diesem Monat ihren Höhepunkt. Es stellte sich heraus, dass mir Pot nicht mehr so gut half, meinen Sorgen zu entkommen. Mir machte es richtig Spaß rebellische Dinge zu tun, wie Alkohol zu klauen, Schaufenster einzuwerfen und Schlägereien anzufangen etc. Mir war sowieso alles egal. Im Monat darauf beschloss ich, nicht bloß auf meinem Dach zu sitzen und darüber nachzudenken runterzuspringen, sondern mich wirklich umzubringen, aber ich wollte nicht aus dieser Welt gehen, ohne zu wissen, wie es ist zu bumsen.“ (Drechsler & Hellmann 2002, S. 31) Eine Seite weiter erfährt man, dass er einem Selbstmordversuch nur entging, weil der heranfahrende Zug ein Gleis weiter vorbeifuhr, statt auf dem, wo er sich hingelegt hatte. Wie konkret die „seelischen Misshandlungen“ durch seine Mutter aussahen, erfährt man nicht. Diese im Zusammenhang mit Suizidgedanken zu benennen, spricht wohl für sich.
Seine Mutter Wendy neigte zu Zornesausbrüchen, heißt es in der Biografie, allerdings auch ohne konkret zu werden. (Cross 2013, Position 515) Kurz nach der Trennung kam sie mit einem neuen Mann zusammen, der ebenfalls zu Jähzorn und Gewaltausbrüchen neigte. (ebd., Position 539) Später, ca. 1978, brach er Wendy im Streit sogar den Arm. Wendy neigte ab dieser Zeit dazu, sich heftig zu betrinken. (Cross 2013, Position 641) Für den Freund seiner Mutter, hatte Kurt nur blanke Wut übrig. „Er konnte seine Mutter nicht vor ihm beschützen, und der Stress, die Auseinandersetzungen der beiden miterleben zu müssen, ließ ihn um ihr Leben fürchten, womöglich auch um seins. Er bedauerte seine Mutter und hasste sie sogleich dafür, sie bedauern zu müssen.“ (Cross 2013, Position 649) Kurt wurde in der Folge schwierig im Umgang mit Erwachsenen an sich, quälte und mobbte aber auch einen Mitschüler so sehr, dass dieser nicht mehr in die Schule gehen wollte. Sein Vater brachte ihn darauf einige Zeit zu einem Therapeuten.
Der mittlerweile vierzehnjährige Kurt isolierte sich immer mehr von seiner Familie; zeigte aber auch deutlich, wie es in seinem Inneren aussah. Eines Tages „warf er die lebendige Katze (Anmerkung: eines Nachbarn) in den Kamin des elterlichen Hauses und lachte, als sie starb und es im ganzen Haus zu stinken begann.“ (Cross 2013, Position 829) Experimente mit Drogen begannen bereits in der 8. Klasse, ebenfalls häufiges Schule schwänzen. (Cross 2013, Position 803) Auf seinen eigenen Wunsch hin verließ Kurt im März 1982 – im Alter von fünfzehn Jahren – seinen Vater und seine Stiefmutter um „die nächsten paar Jahre in der ´Wildnis` von Grays Harbor herumzutreiben. Obwohl er zwei längere Stopps von je knapp einem Jahr einlegte, lebte er während der nächsten vier Jahre in zehn verschiedenen Häusern, bei zehn verschiedenen Familien.“ (Cross 2013, Position 875) Eine Station davon war sein Großvater väterlicherseits, ansonsten diverse Onkel und Tanten.
In einem Brief an seinen Vater schrieb Kurt einen im Grunde alles zusammenfassenden Satz: „Ich habe nie Partei für Dich oder meine Mutter ergriffen, denn während ich aufwuchs, empfand ich für Euch beide die gleiche Verachtung.“ (Drechsler & Hellmann 2002, S. 243)
Dies sind die wesentlichen Grundzüge seiner Kindheit und Jugend. Darüber hinaus gab es Suizide in seiner Familie oder Kurt sah als Jugendlicher auch einen Jungen, der sich an einem Baum erhängt hatte. All dies wird dieses Kind schwer traumatisiert haben.
In seiner Einleitung schreibt sein Biograf: „Er war einer, der anderen seinen Willen aufzwang, gleichzeitig aber von einem schier übermächtigen Selbsthass zerfressen war. Sogar die, die ihn am besten kannten, hatten das Gefühl, ihn im Grunde überhaupt nicht zu kennen (…).“ (Cross 2013,Position 167)
In seinem Tagebuch schrieb Kurt Cobain an einer Stelle über sich: „Ich benutze Versatzstücke anderer Persönlichkeiten, um meine eigene zu formen.“ (Drechsler & Hellmann 2002, S. 91)
Jemand, der solche massive Verletzungen als Kind erlitten hat, kann keine eigene Persönlichkeit aufbauen und ist daraufhin von Selbsthass durchzogen. Arno Gruen hat viel darüber geschrieben.
Für mich ist das Rätsel um Kurt Cobain aufgeklärt. Ein Teil seines Erfolges beruht meiner Meinung nach auch darauf, dass Menschen in eine Nicht-Persönlichkeit (oder ein „falsches Selbst“) alles Mögliche hineinprojizieren können. Kurt Cobain gab ein absurdes Statement in einem Interview ab oder schrieb einen bizarren Songtext, schon spekulierten alle wie er das gemeint haben könnte und was das über die Rebellion der Jugend aussagt usw. Aber vielleicht war es einfach so, wie er es sagte: Ohne Leben, ohne Gefühl, leer und ohne Sinn.
Um diesen Beitrag abzurunden und zum Bloggrundthema zurückzukommen. Jemand wie Kurt Cobain hatte musikalisches Talent. Dies leitete ihn auf einen bestimmten Weg. Auch ohne dieses Talent wäre sein Weg selbstdestruktiv gewesen. Wäre das gleiche Kind mit dem gleichen Kindheitsrahmen im Irak aufgewachsen, wäre er ein idealer Selbstmordattentäter. In Berlin wäre er vielleicht Linksextremist geworden. Als Kind reicher Eltern wäre er vielleicht jemand, der durch Geld und Macht andere Menschen niedermacht. Die Möglichkeiten sind so vielseitig, wie es Menschen gibt. Sein Weg wäre in allen erdenklichen Kontexten bei diesen extremen Kindheitshintergründen aber auf jeden Fall destruktiv und zerstörerische geworden. Zumindest ohne Hilfe und Therapie. Das ist der Punkt.
Die meisten als Kind misshandelten Menschen werden keine Terroristen und Kriegstreiber. Dieser Fakt heißt aber nicht, dass sie nicht auch auf ihre eigene Art und je nach ihren Möglichkeiten ihre „Vergiftung“, ihren Hass ausdrücken. Kurt Cobain ist ein Beispiel dafür.
Quellen:
ARD Dokumentation „All Apologies - Kurt Cobain“ (06.04.2016, ARD)
Cross, Charles R. (2013). Der Himmel über Nirvana. Kurt Cobains Leben und Sterben. Koch International / Hannibal Verlag. Kindle Edition.
Drechsler & Hellmann (2002). Kurt Cobain. Tagebücher. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Kindheit von Extremisten vor einem Millionenpublikum diskutiert, aber nicht genug
Unter dem Titel „Terror im Namen Gottes - hat der Islam ein Gewaltproblem?“ wurde am 11.04.2016 die ARD Sendung „Hart aber Fair“ ausgestrahlt. Ab ca. Minute 49 wurde ich hellhörig. Der Moderator Frank Plasberg leitete einen kurzen Infofilm folgendermaßen ein: „Wie passiert das eigentlich? Wann entscheidet sich ein Mensch, der hier mitten in der Gesellschaft geboren worden ist, sich zu radikalisieren? Was macht ihn so anfällig? (…) Das BKA hat dazu eine interessante Studie gemacht.“
Bei dem Satz „Was macht ihn anfällig?“ hatte ich diesmal bereits ein komisches Gefühl. "Kommt da jetzt etwa was?", dachte ich. Normalerweise kommt nach solchen Sätzen nichts, was in meinen Augen die wirklichen Ursachen beleuchtet. Ich hielt kurz den Atem an und tatsächlich kam danach der Satz mit dem BKA. Dann sah ich die Zahl bzgl. 39 befragter Extremisten (die BKA Studie habe ich im Blog hier besprochen) und mir war klar, was jetzt kommt.
Es wurden dann in der Tat die Gemeinsamkeiten zwischen Rechtsextremisten, Linksextremisten und Islamisten herausgestellt: Eine kaputte, schwierige Familien (Trennung/Todesfälle, Alkohol/Drogen und/oder Gewalt).
Das Fazit der Studie wurde bei „Hart aber Fair“ wie folgt zitiert: „In welchem Extremismus diese Personen (…) landen, ist letztlich reiner Zufall.“ und „Überspitzt gesagt: Ein Islamist aus Dinslaken hätte in Sachsen genauso gut ein Rechtsradikaler oder in bestimmten Stadtteilen Berlins oder Hamburgs ein Linksradikaler werden können.“
Daraufhin bekam der anwesende Präsident des BKA - Holger Münch - das Wort: „Die Studie ist klein. Aber schon nach 30 Interviews gab es eigentlich keine neuen Informationen mehr. Diese Muster waren immer identisch.“, sagte er u.a.
Der Historiker Michael Wolffsohn fügte dann gleich kritisch an, dass der Muslim aus Dinslaken nicht zu den Linksradikalen und nicht zu den Rechtsradikalen gehen wird. „Das ist keine wissenschaftliche Studie!“, sagte er. Immerhin versuchte Grünenfraktionschefin Katrin Göring-Eckhardt noch einmal zu erklären, dass die Ergebnisse der Studie schon hilfreich und der Prozesse der Radikalisierung identisch seien.
Für mich war diese Sendung ein kleiner Erfolg. Immerhin wurde vor einem Millionenpublikum das Thema Kindheit von Extremisten aufgemacht. Dies kommt immer noch so selten bzw. fast gar nicht vor, dass ich dieses Ereignis hier mit diesem Blog-Beitrag hervorheben möchte. Irgendwann wird das Thema zu einer Selbstverständlichkeit werden, wenn es um Gewaltursachen geht.
Was mich störte: Die Diskussion um die BKA Studie wurde
1. von dem Einwand des Herren Wolffsohn gestört. Komisch, irgendwie gibt es bei solchen Diskussionen - auch im kleineren Rahmen oder in Onlineforen etc. - immer mindestens eine Person, die sofort dazwischenfeuert und der Sache die Luft rauben möchte, bevor sie überhaupt richtig vordergründig diskutiert und auch emotional verstanden wird. Ich habe noch nie erlebt, dass das Thema mal einfach angenommen oder auch mal kurz inne gehalten wurde. Danach findet man selten zur Spur zurück, weil man sich mit dem „Störfeuer“ befassen muss.
2. Das Thema Kindheit wurde zwar eröffnet, aber nicht wirklich in den Vordergrund gestellt! Mir fehlten ein paar emotional kräftige Sätze was die Kindheitserlebnisse angeht. Worte wie „Probleme im Elternhaus“ sind da zu schwach, berühren nicht, werden der Realität auch nicht gerecht. Über den Hass als Ausdruck des aufgestauten Hasses in der Kindheit wurde kein Wort verloren. Auch das Wort Kinderschutz als ein wesentlicher Zweig für Prävention von Extremismus fiel nicht. Ebenfalls stand nicht die Frage im Raum, ob als Kind geliebte Menschen überhaupt Extremisten werden könnten. Solche Diskussionen sind ein Fortschritt, das erwähnte ich zuvor. Aber sie helfen in dieser Form nicht, den Nebel zu lichten. Die Menschen müssen verbal innerhalb solcher Diskussionen mit dem Kopf auf das Thema gestoßen werden, sonst drehen sie sich wieder weg.
Bei dem Satz „Was macht ihn anfällig?“ hatte ich diesmal bereits ein komisches Gefühl. "Kommt da jetzt etwa was?", dachte ich. Normalerweise kommt nach solchen Sätzen nichts, was in meinen Augen die wirklichen Ursachen beleuchtet. Ich hielt kurz den Atem an und tatsächlich kam danach der Satz mit dem BKA. Dann sah ich die Zahl bzgl. 39 befragter Extremisten (die BKA Studie habe ich im Blog hier besprochen) und mir war klar, was jetzt kommt.
Es wurden dann in der Tat die Gemeinsamkeiten zwischen Rechtsextremisten, Linksextremisten und Islamisten herausgestellt: Eine kaputte, schwierige Familien (Trennung/Todesfälle, Alkohol/Drogen und/oder Gewalt).
Das Fazit der Studie wurde bei „Hart aber Fair“ wie folgt zitiert: „In welchem Extremismus diese Personen (…) landen, ist letztlich reiner Zufall.“ und „Überspitzt gesagt: Ein Islamist aus Dinslaken hätte in Sachsen genauso gut ein Rechtsradikaler oder in bestimmten Stadtteilen Berlins oder Hamburgs ein Linksradikaler werden können.“
Daraufhin bekam der anwesende Präsident des BKA - Holger Münch - das Wort: „Die Studie ist klein. Aber schon nach 30 Interviews gab es eigentlich keine neuen Informationen mehr. Diese Muster waren immer identisch.“, sagte er u.a.
Der Historiker Michael Wolffsohn fügte dann gleich kritisch an, dass der Muslim aus Dinslaken nicht zu den Linksradikalen und nicht zu den Rechtsradikalen gehen wird. „Das ist keine wissenschaftliche Studie!“, sagte er. Immerhin versuchte Grünenfraktionschefin Katrin Göring-Eckhardt noch einmal zu erklären, dass die Ergebnisse der Studie schon hilfreich und der Prozesse der Radikalisierung identisch seien.
Für mich war diese Sendung ein kleiner Erfolg. Immerhin wurde vor einem Millionenpublikum das Thema Kindheit von Extremisten aufgemacht. Dies kommt immer noch so selten bzw. fast gar nicht vor, dass ich dieses Ereignis hier mit diesem Blog-Beitrag hervorheben möchte. Irgendwann wird das Thema zu einer Selbstverständlichkeit werden, wenn es um Gewaltursachen geht.
Was mich störte: Die Diskussion um die BKA Studie wurde
1. von dem Einwand des Herren Wolffsohn gestört. Komisch, irgendwie gibt es bei solchen Diskussionen - auch im kleineren Rahmen oder in Onlineforen etc. - immer mindestens eine Person, die sofort dazwischenfeuert und der Sache die Luft rauben möchte, bevor sie überhaupt richtig vordergründig diskutiert und auch emotional verstanden wird. Ich habe noch nie erlebt, dass das Thema mal einfach angenommen oder auch mal kurz inne gehalten wurde. Danach findet man selten zur Spur zurück, weil man sich mit dem „Störfeuer“ befassen muss.
2. Das Thema Kindheit wurde zwar eröffnet, aber nicht wirklich in den Vordergrund gestellt! Mir fehlten ein paar emotional kräftige Sätze was die Kindheitserlebnisse angeht. Worte wie „Probleme im Elternhaus“ sind da zu schwach, berühren nicht, werden der Realität auch nicht gerecht. Über den Hass als Ausdruck des aufgestauten Hasses in der Kindheit wurde kein Wort verloren. Auch das Wort Kinderschutz als ein wesentlicher Zweig für Prävention von Extremismus fiel nicht. Ebenfalls stand nicht die Frage im Raum, ob als Kind geliebte Menschen überhaupt Extremisten werden könnten. Solche Diskussionen sind ein Fortschritt, das erwähnte ich zuvor. Aber sie helfen in dieser Form nicht, den Nebel zu lichten. Die Menschen müssen verbal innerhalb solcher Diskussionen mit dem Kopf auf das Thema gestoßen werden, sonst drehen sie sich wieder weg.
Dienstag, 5. April 2016
Internationale Statistiken des Gewaltrückgangs
Dank des psychohistorischen Newsletters der GPPP bin ich auf eine Datensammlung aufmerksam geworden, die es wirklich in sich hat! Bzgl. diverser Themen findet mensch auf der entsprechenden Homepage übersichtliche Zahlen und Daten.
Steven Pinkers Arbeit habe ich hier im Blog mehrfach erwähnt, habe aber seine Tabellen nicht kopiert oder ausführlich zitiert. In folgendem Text über Mordraten im historischen Vergleich sind auch Statistiken von Pinker aufgeführt, aber auch die anderer Forschender: http://ourworldindata.org/data/violence-rights/homicides/
Dazu kommen Daten über Kriege:
http://ourworldindata.org/data/war-peace/war-and-peace-before-1945/
http://ourworldindata.org/data/war-peace/war-and-peace-after-1945/
Daten über Terror
http://ourworldindata.org/data/war-peace/terrorism/
Und noch einmal besonders interessant (das Thema hatte ich auch gerade in einem Beitrag besprochen): Gewaltraten in Stammesgesellschaften im Vergleich mit Gewaltraten in moderneren Staaten: http://ourworldindata.org/data/violence-rights/ethnographic-and-archaeological-evidence-on-violent-deaths/
In der Datensammlung gibt es auch einige Daten, die sich auf Kinder beziehen. Es gibt zwar keine Daten über Gewalt und Vernachlässigung gegenüber Kindern, aber Tabellen, die einen stetigen Rückgang der Kindersterblichkeit zeigen http://ourworldindata.org/data/population-growth-vital-statistics/child-mortality/, einen stetigen Rückgang der Raten von Kinderarbeit http://ourworldindata.org/data/economic-development-work-standard-of-living/child-labor/ und einer Zunahme von der Beschäftigung mit Kinderrechten (vor allem ab 1970) http://ourworldindata.org/data/violence-rights/cascade-of-rights/.
Die Verbesserung der Situation von Kindern steht - nach der psychohistorischen Theorie - in einem direkten starken Zusammenhang mit dem Gewaltrückgang in der Welt insgesamt, wie auch mit der zivilisatorischen Entwicklung und dem Fortschritt an sich (der wiederum auf die Kinderfürsorge zurückwirkt).
Steven Pinkers Arbeit habe ich hier im Blog mehrfach erwähnt, habe aber seine Tabellen nicht kopiert oder ausführlich zitiert. In folgendem Text über Mordraten im historischen Vergleich sind auch Statistiken von Pinker aufgeführt, aber auch die anderer Forschender: http://ourworldindata.org/data/violence-rights/homicides/
Dazu kommen Daten über Kriege:
http://ourworldindata.org/data/war-peace/war-and-peace-before-1945/
http://ourworldindata.org/data/war-peace/war-and-peace-after-1945/
Daten über Terror
http://ourworldindata.org/data/war-peace/terrorism/
Und noch einmal besonders interessant (das Thema hatte ich auch gerade in einem Beitrag besprochen): Gewaltraten in Stammesgesellschaften im Vergleich mit Gewaltraten in moderneren Staaten: http://ourworldindata.org/data/violence-rights/ethnographic-and-archaeological-evidence-on-violent-deaths/
In der Datensammlung gibt es auch einige Daten, die sich auf Kinder beziehen. Es gibt zwar keine Daten über Gewalt und Vernachlässigung gegenüber Kindern, aber Tabellen, die einen stetigen Rückgang der Kindersterblichkeit zeigen http://ourworldindata.org/data/population-growth-vital-statistics/child-mortality/, einen stetigen Rückgang der Raten von Kinderarbeit http://ourworldindata.org/data/economic-development-work-standard-of-living/child-labor/ und einer Zunahme von der Beschäftigung mit Kinderrechten (vor allem ab 1970) http://ourworldindata.org/data/violence-rights/cascade-of-rights/.
Die Verbesserung der Situation von Kindern steht - nach der psychohistorischen Theorie - in einem direkten starken Zusammenhang mit dem Gewaltrückgang in der Welt insgesamt, wie auch mit der zivilisatorischen Entwicklung und dem Fortschritt an sich (der wiederum auf die Kinderfürsorge zurückwirkt).
Montag, 4. April 2016
Europäische Dschihadisten. Extremismus als eine von vielen destruktiven "Farbauswahlen"
Der Politologe Rik Coolsaet hat bzgl. europäischer Islamisten und Kämpfer in einem Text auf etwas hingewiesen, das mir hervorzuheben, besonders wichtig ist. In meinem Blog habe ich z.B. in Texten wie "Die Farben der Gewaltfolgen: Kinderbuchautor Janosch", "Die Farben der Gewalt: Ideologie ist niemals selbst Motivation für das Morden.", "Krieg als kurzfristige Transformation der Gewalt, die eh schon da ist?" oder auch "Kindheit und mögliche Lebenswege: Willi Voss" bereits versucht deutlich zu machen, um was es mir geht.
Für mich sind mörderische Extremisten letztlich nur ein (besonders auffälliger) Teil des Gesamtpaketes an Folgeerscheinungen von Kindesmisshandlung. Man muss - darauf habe ich hier und da bereits hingewiesen - Kindesmisshandlung (in all ihren Varianten und Formen) als eine Art von "Vergiftung" betrachten. Sie vergiftet die betroffenen Kinder und somit auch die später Erwachsenen. Ab einem bestimmten Grad der Gewalt und einer bestimmten Häufigkeit wirkt dieses "Gift" immer und nachhaltig. Wie sich die "Vergiftung" ausdrückt, hängt wiederum von unzähligen Faktoren (Geschlecht, Alter, sozialer Status und sozialer Rahmen, Intelligenz, Gene, Kultur, Religion, Besonderheiten der Zeit, technische Möglichkeiten, zufälligen Begegnungen usw. usf.) ab, die wir wahrscheinlich nie wirklich zu 100 % in ihrem Wirkungszusammenspiel werden erfassen können.
Diese Faktoren lenken bildlich gesprochen das Gift in diese und jene Ausdrucksform oder - was wohl häufiger ist - auch in mehrere verschiedene Ausdrucksformen. Die wichtige Schlussfolgerung daraus: Wenn sich ein Mensch, der als Kind misshandelt wurde, in einer Menge von Touristen in die Luft sprengt, dann bedeutet dies natürlich nach unserem empirischem Wissen nicht, dass sich alle als Kind misshandelten Menschen in die Luft sprengen würden. Ganz im Gegenteil. Solche Ausdrucksformen von Misshandlungserfahrungen und entsprechendem (Selbst-)Hass sind selten. Würden alle als Kind (schwer) misshandelten Menschen so agieren, wäre die Welt die reine Hölle.
Die anderen als Kind misshandelten Menschen laufen aber trotzdem mit ihrer inneren "Vergiftung" durch das Leben. So manche schaffen es auch, diese nach langer Therapie ein ganzes Stück weit los zu werden oder zu isolieren. Viele erleben aber im Alltag und ihrem Leben destruktive Folgen auf die eine oder andere Art. Und viele haben, sofern sie in ähnliche Gruppen und Dynamiken geraten würden, wie die Extremisten, durchaus ein inneres extremistisches Potential. Sie sind verführbar. In komplexen Situationen und außergewöhnlichen gesellschaftlichen Dynamiken wie z.B. der NS-Zeit zeigt sich deutlich, dass sich diese destruktiven Potentiale der Einzelnen zu einem Massenphänomen entwickeln können. Wäre die Mehrheit der Kinder um 1900 liebevoll und ohne Gewalt erzogen worden, wäre das NS-System nicht denkbar. Genauso sieht es heute bzgl. der extremistischen Gruppen aus. Könnten sie nicht auf "beschädigte, vergiftetet Seelen" zurückgreifen, sie fänden einfach keine Anhänger.
Nun, in dem Text Rik Coolsaet geht es nicht um die Kindheit der Extremisten. Er erwähnt diese gar nicht, aber das kennen wir ja schon... Trotzdem bringt er in einigen Sätzen die Dinge auf den Punkt.
Hier zunächst die Quelle: Coolsaet, Rik (2015). WHAT DRIVES EUROPEANS TO SYRIA, AND TO IS? INSIGHTS FROM THE BELGIAN CASE. EGMONT Paper 75. Gent: Academia Press.
Mir geht es um diese Textauszüge:
„For a significant number of them, drugs, petty crime and street violence have been part of their former life. From the sources mentioned, one gets the impression of solitary individuals, sometimes also estranged from family and friends, who at a certain point became angry as a result of their estrangement. Going to Syria is one of a number of possible outlets for their anger. ‘Anger with an Islamic dressing,’ the Dutch Middle East expert Paul Aarts opined.“ (S. 11)
"But more often than not, today’s foreign fighters are not fundamentalists in the real sense of the word: their knowledge of Islam is generally extremely superficial." (S. 11)
„Escape to Syria is one of a series of possible outlets, next to drugs and delinquency (not unexceptional for many Syria fighters), membership of street gangs, suicide or other deviant behaviour.“ (S. 18)
Religion spielt für die meisten heutigen europäischen Dschihadisten im Grunde keine Rolle. Ihr Extremismus ist nur ein möglicher destruktiver und oft auch selbst-destruktiver Weg von vielen möglichen, von denen viele Extremisten bereits einige gegangen sind: Drogen, Suizidgedanken, kriminelles Verhalten u.a. "Anger with an Islamic Dressing", das ist für mich der Kernsatz! Islamistischer Terror ist derzeit einfach die "Farbe" (oder Ausdrucksform der "Vergiftung"), mit der sich manch einer identifiziert, der 1914 vielleicht für den Kaiser in den Krieg gezogen wäre, der 1933 Hitler zugejubelt hätte oder der sich einfach in einem Waldstück umgebracht hätte. Hass bleibt Hass. Die Farben der Gewalt täuschen manch einem bzgl. der tieferen Ursachen. Wir müssen aber Auslöser, Gelegenheit, Gruppendynamiken und Ursachen trennen. (Auslöser, Gelegenheit, Gruppendynamiken werden von Forschenden und Experten oft zusammen als Ursachen betrachtet, was den Blick auf emotionale Faktoren verbaut.) Die eigentlichen Ursachen liegen in der Kindheit. Der Rest ist ein Rahmen, der zur Analyse gehört, sicher, aber der nicht die inneren Motivationen, den Selbsthass und die Bereitschaft zum Morden erklären kann.
Nebenbei bemerkt wissen wir heute dank vieler Studien so einiges über die destruktive Kindheit von Kriminellen. Diese Schablone können wir also auch auf diejenigen anwenden, die eine kriminelle Vorgeschichte haben und heute "geläuterte" Extremisten sind, was auf nicht wenige zuzutreffen scheint. Wir verfügen somit - neben den Fallbeispielen, die ich hier immer wieder im Blog besprochen habe - über eine empirische Grundlage und nicht nur über Mutmaßungen.
Für mich sind mörderische Extremisten letztlich nur ein (besonders auffälliger) Teil des Gesamtpaketes an Folgeerscheinungen von Kindesmisshandlung. Man muss - darauf habe ich hier und da bereits hingewiesen - Kindesmisshandlung (in all ihren Varianten und Formen) als eine Art von "Vergiftung" betrachten. Sie vergiftet die betroffenen Kinder und somit auch die später Erwachsenen. Ab einem bestimmten Grad der Gewalt und einer bestimmten Häufigkeit wirkt dieses "Gift" immer und nachhaltig. Wie sich die "Vergiftung" ausdrückt, hängt wiederum von unzähligen Faktoren (Geschlecht, Alter, sozialer Status und sozialer Rahmen, Intelligenz, Gene, Kultur, Religion, Besonderheiten der Zeit, technische Möglichkeiten, zufälligen Begegnungen usw. usf.) ab, die wir wahrscheinlich nie wirklich zu 100 % in ihrem Wirkungszusammenspiel werden erfassen können.
Diese Faktoren lenken bildlich gesprochen das Gift in diese und jene Ausdrucksform oder - was wohl häufiger ist - auch in mehrere verschiedene Ausdrucksformen. Die wichtige Schlussfolgerung daraus: Wenn sich ein Mensch, der als Kind misshandelt wurde, in einer Menge von Touristen in die Luft sprengt, dann bedeutet dies natürlich nach unserem empirischem Wissen nicht, dass sich alle als Kind misshandelten Menschen in die Luft sprengen würden. Ganz im Gegenteil. Solche Ausdrucksformen von Misshandlungserfahrungen und entsprechendem (Selbst-)Hass sind selten. Würden alle als Kind (schwer) misshandelten Menschen so agieren, wäre die Welt die reine Hölle.
Die anderen als Kind misshandelten Menschen laufen aber trotzdem mit ihrer inneren "Vergiftung" durch das Leben. So manche schaffen es auch, diese nach langer Therapie ein ganzes Stück weit los zu werden oder zu isolieren. Viele erleben aber im Alltag und ihrem Leben destruktive Folgen auf die eine oder andere Art. Und viele haben, sofern sie in ähnliche Gruppen und Dynamiken geraten würden, wie die Extremisten, durchaus ein inneres extremistisches Potential. Sie sind verführbar. In komplexen Situationen und außergewöhnlichen gesellschaftlichen Dynamiken wie z.B. der NS-Zeit zeigt sich deutlich, dass sich diese destruktiven Potentiale der Einzelnen zu einem Massenphänomen entwickeln können. Wäre die Mehrheit der Kinder um 1900 liebevoll und ohne Gewalt erzogen worden, wäre das NS-System nicht denkbar. Genauso sieht es heute bzgl. der extremistischen Gruppen aus. Könnten sie nicht auf "beschädigte, vergiftetet Seelen" zurückgreifen, sie fänden einfach keine Anhänger.
Nun, in dem Text Rik Coolsaet geht es nicht um die Kindheit der Extremisten. Er erwähnt diese gar nicht, aber das kennen wir ja schon... Trotzdem bringt er in einigen Sätzen die Dinge auf den Punkt.
Hier zunächst die Quelle: Coolsaet, Rik (2015). WHAT DRIVES EUROPEANS TO SYRIA, AND TO IS? INSIGHTS FROM THE BELGIAN CASE. EGMONT Paper 75. Gent: Academia Press.
Mir geht es um diese Textauszüge:
„For a significant number of them, drugs, petty crime and street violence have been part of their former life. From the sources mentioned, one gets the impression of solitary individuals, sometimes also estranged from family and friends, who at a certain point became angry as a result of their estrangement. Going to Syria is one of a number of possible outlets for their anger. ‘Anger with an Islamic dressing,’ the Dutch Middle East expert Paul Aarts opined.“ (S. 11)
"But more often than not, today’s foreign fighters are not fundamentalists in the real sense of the word: their knowledge of Islam is generally extremely superficial." (S. 11)
„Escape to Syria is one of a series of possible outlets, next to drugs and delinquency (not unexceptional for many Syria fighters), membership of street gangs, suicide or other deviant behaviour.“ (S. 18)
Religion spielt für die meisten heutigen europäischen Dschihadisten im Grunde keine Rolle. Ihr Extremismus ist nur ein möglicher destruktiver und oft auch selbst-destruktiver Weg von vielen möglichen, von denen viele Extremisten bereits einige gegangen sind: Drogen, Suizidgedanken, kriminelles Verhalten u.a. "Anger with an Islamic Dressing", das ist für mich der Kernsatz! Islamistischer Terror ist derzeit einfach die "Farbe" (oder Ausdrucksform der "Vergiftung"), mit der sich manch einer identifiziert, der 1914 vielleicht für den Kaiser in den Krieg gezogen wäre, der 1933 Hitler zugejubelt hätte oder der sich einfach in einem Waldstück umgebracht hätte. Hass bleibt Hass. Die Farben der Gewalt täuschen manch einem bzgl. der tieferen Ursachen. Wir müssen aber Auslöser, Gelegenheit, Gruppendynamiken und Ursachen trennen. (Auslöser, Gelegenheit, Gruppendynamiken werden von Forschenden und Experten oft zusammen als Ursachen betrachtet, was den Blick auf emotionale Faktoren verbaut.) Die eigentlichen Ursachen liegen in der Kindheit. Der Rest ist ein Rahmen, der zur Analyse gehört, sicher, aber der nicht die inneren Motivationen, den Selbsthass und die Bereitschaft zum Morden erklären kann.
Nebenbei bemerkt wissen wir heute dank vieler Studien so einiges über die destruktive Kindheit von Kriminellen. Diese Schablone können wir also auch auf diejenigen anwenden, die eine kriminelle Vorgeschichte haben und heute "geläuterte" Extremisten sind, was auf nicht wenige zuzutreffen scheint. Wir verfügen somit - neben den Fallbeispielen, die ich hier immer wieder im Blog besprochen habe - über eine empirische Grundlage und nicht nur über Mutmaßungen.
Dienstag, 29. März 2016
Islamistischer Terror. Weitere "Einzelfallbiografien" und der gesellschaftliche Unwille, die Ursachen klar zu benennen
Kürzlich hatte ich von der Kindheit von Kerim Marc B. berichtet, dessen Kindheitsgeschichte für mich nach meinen Recherchen hier im Blog kein Einzelfall darstellt. Ergänzend fand ich aktuell zwei weitere Fälle.
Der Münchner Harun P. (mit afghanischen Wurzeln) ist ca. Mitte 2015 wegen seiner Beteiligung am Terror in Syrien zu elf Jahren Haft verurteilt worden. Der Mann war der erste Syrien-Rückkehrer, der wegen Mordes vor einem deutschen Gericht stand. (Bayrischer Rundfunk, 15.07.2015, „Elf Jahre Haft für Münchner Islamisten“)
Im Prozessverlauf kamen auch Details über seine Kindheit an die Öffentlichkeit. Das Verhältnis zu seinem Vater beschreibt er so: „Ich konnte es ihm nie Recht machen. Er war keine Bezugsperson für mich und machte alles schlecht, was ich tat.“ (tz, 20.01.2015, Terror-Prozess: "Ich wollte Teil des Heiligen Krieges sein" - von Andreas Thieme) Als Kind sei er von seinem Vater so lange geschlagen worden, "bis meine Mutter dazwischen ging". (focus.de, 20.01.2015, "Dann explodiere ich einfach": Harun P. erklärt den Terror in sich) Aber auch die Mutter war offenkundig - nach dem o.g. tz Artikel - alles andere als friedfertig: „Meine Mutter hat einige Stöcke auf mir zerbrochen. Ich habe als Kind auch gut eingesteckt.“
Als Jugendlicher begann Harun nach eigenen Angaben sich zu ritzen, sprich sich die Unterarme aufzuschneiden. Er bezeichnet sich selbst als depressiv. Später erlebte er weitere Brüche. Das gemeinsame Kind mit seiner Freundin stirbt kurz nach der Geburt, die Beziehung scheitert danach. Er verliert seinen Job und offensichtlich jeden Halt.
In der FAZ wurden die Schilderungen über Haruns Kindheit folgendermaßen kommentiert:
„Es war eine Schilderung von großer Offenheit, aber ohne Selbstmitleid, die aber letztlich nicht erklärte, wie es zu seiner Radikalisierung und Unterordnung unter eine islamistische Ideologie kam.“
(faz.net, 20.01.2015, „Die Wut des Harun P. - von Albert Schäffer)
Ich finde solche Anmerkungen immer wieder erstaunlich! Beide Elternteile misshandelten ihn als Kind und trotzdem bleiben dem Journalisten Fragezeichen, wie es zu einer solchen Radikalisierung kommen konnte? Bzgl. dem weit verbreiteten Wegsehen oder eher Augenschließen vor den tieferen Ursachen der Gewalt habe ich am Ende des Textes noch weitere Anmerkungen.
Nebenbei bin ich auf einen weiteren "Einzelfall" gestoßene: Oliver N.
Der minderjährige IS-Heimkehrer (und Konvertit) ist in Österreich zu 2 1/2 Jahren Haft verurteilt worden.
Die Gerichtspsychiaterin Gabriele Wörgötter skizzierte in diesem Zusammenhang die Kindheit und frühe Jugend des 17-Jährigen, "der in "äußerst desolaten" Verhältnissen aufgewachsen sei und nie die Geborgenheit einer Familie erfahren habe. Dieses Aufwachsen habe eine Persönlichkeitsentwicklungsstörung zur Folge gehabt. Der Jugendliche suche nach Halt und Bindung, die ihm die Familie verwehrt habe. Er sehne sich nach emotionalen Beziehungen. Seine Ohnmachts- und Minderwertigkeitsgefühle kompensiere er mit Gewalt und Aggressionen. "Das war die Grundlage für seine Radikalisierung", betonte Wörgötter. Die radikalislamistische Ideologie habe dem "massiv entwurzelten" Burschen Halt und Anerkennung versprochen." (diepresse.com, 15.07.2015, "Wien: Zweieinhalb Jahre Haft für 17-jährigen IS-Heimkehrer") Die Prognose nach der Haft sieht die Gutachterin kritisch, eine Läuterung halte sie für ausgeschlossen. "Ein Einfühlungsvermögen in die Schmerzen anderer hat er nicht." (ebd.) Was auch immer hinter den Worten "desolate Verhältnisse" in der Kindheit steckt, man kann sich vorstellen, dass es eine Menge destruktiver Erfahrungen braucht, damit ein Mensch sein Einfühlungsvermögen verliert.
Abschließend noch eine Anmerkung zu der ZDF-Sendung von Markus Lanz vom 22.03.2016.
Darin kam auch der Extremismusexperte Asiem El Difraoui zu Wort. Interessant wird es ab ca. Minute 39 und vor allem ab Minute 40 in der Sendung. Die europäischen Dschihadisten hätten von Religion oft gar keine Ahnung, sagt El Difraoui. "Das sind Leute, die haben persönliche Traumas, die fühlen sich persönlich ausgeschlossen, waren kleinkriminell, zumeist haben die auch riesen Probleme im Elternhaus." Rainer Wendt (Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft) fällt dem Experten dabei ins Wort. "Jetzt sind wir wieder bei der typischen Gerichtverhandlung, wo der Therapeut aufsteht und erklärt, warum der Täter das gemacht hat und man doch bitte auch einen Hauch von Verständnis aufbringen solle." El Difraoui reagiert auf diesen Einwand sehr gut, wie ich finde, indem er darauf hinweist, dass es nicht um Verständnis für brutale Mörder ginge, sondern um die Frage, warum diese jungen Leute zu Mördern wurden, um dies zukünftig präventiv zu verhindern.
Klassisch war in dieser Sendung (man höre genau hin ! - siehe den Beitrag in der Mediathek), dass die Anmerkung über "Probleme im Elternhaus" bereits von dem Einwand des Polizeigewerkschaftes übertönt wurde, man hört die drei Worte kaum noch. Fast in symbolischer Reinform zeigte sich in dieser Sendung ganz beiläufig, dass die Gesellschaft diese Dinge nicht wissen will. Ich bin mir aber auch ziemlich sicher, dass selbst wenn der Experte nicht übertönt worden wäre, es keine konkreten Nachfragen bzgl. dessen, was er den mit "Problemen im Elternhaus" meint, gegeben hätte. An sich ist es schon eine Verniedlichung von "Problemen" in diesem Kontext zu sprechen. Meine Recherchen zum Thema Extremismus zeigen viel mehr, dass man die Dinge ganz deutlich und ganz konkret ansprechen muss: Es geht häufig um schwere Misshandlungen, ständige Demütigungen und schwere Fälle von Vernachlässigung/Verlassenwerden. Oft auch Gewalt durch beide Elternteile, Heimaufenthalte usw.
Der Münchner Harun P. (mit afghanischen Wurzeln) ist ca. Mitte 2015 wegen seiner Beteiligung am Terror in Syrien zu elf Jahren Haft verurteilt worden. Der Mann war der erste Syrien-Rückkehrer, der wegen Mordes vor einem deutschen Gericht stand. (Bayrischer Rundfunk, 15.07.2015, „Elf Jahre Haft für Münchner Islamisten“)
Im Prozessverlauf kamen auch Details über seine Kindheit an die Öffentlichkeit. Das Verhältnis zu seinem Vater beschreibt er so: „Ich konnte es ihm nie Recht machen. Er war keine Bezugsperson für mich und machte alles schlecht, was ich tat.“ (tz, 20.01.2015, Terror-Prozess: "Ich wollte Teil des Heiligen Krieges sein" - von Andreas Thieme) Als Kind sei er von seinem Vater so lange geschlagen worden, "bis meine Mutter dazwischen ging". (focus.de, 20.01.2015, "Dann explodiere ich einfach": Harun P. erklärt den Terror in sich) Aber auch die Mutter war offenkundig - nach dem o.g. tz Artikel - alles andere als friedfertig: „Meine Mutter hat einige Stöcke auf mir zerbrochen. Ich habe als Kind auch gut eingesteckt.“
Als Jugendlicher begann Harun nach eigenen Angaben sich zu ritzen, sprich sich die Unterarme aufzuschneiden. Er bezeichnet sich selbst als depressiv. Später erlebte er weitere Brüche. Das gemeinsame Kind mit seiner Freundin stirbt kurz nach der Geburt, die Beziehung scheitert danach. Er verliert seinen Job und offensichtlich jeden Halt.
In der FAZ wurden die Schilderungen über Haruns Kindheit folgendermaßen kommentiert:
„Es war eine Schilderung von großer Offenheit, aber ohne Selbstmitleid, die aber letztlich nicht erklärte, wie es zu seiner Radikalisierung und Unterordnung unter eine islamistische Ideologie kam.“
(faz.net, 20.01.2015, „Die Wut des Harun P. - von Albert Schäffer)
Ich finde solche Anmerkungen immer wieder erstaunlich! Beide Elternteile misshandelten ihn als Kind und trotzdem bleiben dem Journalisten Fragezeichen, wie es zu einer solchen Radikalisierung kommen konnte? Bzgl. dem weit verbreiteten Wegsehen oder eher Augenschließen vor den tieferen Ursachen der Gewalt habe ich am Ende des Textes noch weitere Anmerkungen.
Nebenbei bin ich auf einen weiteren "Einzelfall" gestoßene: Oliver N.
Der minderjährige IS-Heimkehrer (und Konvertit) ist in Österreich zu 2 1/2 Jahren Haft verurteilt worden.
Die Gerichtspsychiaterin Gabriele Wörgötter skizzierte in diesem Zusammenhang die Kindheit und frühe Jugend des 17-Jährigen, "der in "äußerst desolaten" Verhältnissen aufgewachsen sei und nie die Geborgenheit einer Familie erfahren habe. Dieses Aufwachsen habe eine Persönlichkeitsentwicklungsstörung zur Folge gehabt. Der Jugendliche suche nach Halt und Bindung, die ihm die Familie verwehrt habe. Er sehne sich nach emotionalen Beziehungen. Seine Ohnmachts- und Minderwertigkeitsgefühle kompensiere er mit Gewalt und Aggressionen. "Das war die Grundlage für seine Radikalisierung", betonte Wörgötter. Die radikalislamistische Ideologie habe dem "massiv entwurzelten" Burschen Halt und Anerkennung versprochen." (diepresse.com, 15.07.2015, "Wien: Zweieinhalb Jahre Haft für 17-jährigen IS-Heimkehrer") Die Prognose nach der Haft sieht die Gutachterin kritisch, eine Läuterung halte sie für ausgeschlossen. "Ein Einfühlungsvermögen in die Schmerzen anderer hat er nicht." (ebd.) Was auch immer hinter den Worten "desolate Verhältnisse" in der Kindheit steckt, man kann sich vorstellen, dass es eine Menge destruktiver Erfahrungen braucht, damit ein Mensch sein Einfühlungsvermögen verliert.
Abschließend noch eine Anmerkung zu der ZDF-Sendung von Markus Lanz vom 22.03.2016.
Darin kam auch der Extremismusexperte Asiem El Difraoui zu Wort. Interessant wird es ab ca. Minute 39 und vor allem ab Minute 40 in der Sendung. Die europäischen Dschihadisten hätten von Religion oft gar keine Ahnung, sagt El Difraoui. "Das sind Leute, die haben persönliche Traumas, die fühlen sich persönlich ausgeschlossen, waren kleinkriminell, zumeist haben die auch riesen Probleme im Elternhaus." Rainer Wendt (Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft) fällt dem Experten dabei ins Wort. "Jetzt sind wir wieder bei der typischen Gerichtverhandlung, wo der Therapeut aufsteht und erklärt, warum der Täter das gemacht hat und man doch bitte auch einen Hauch von Verständnis aufbringen solle." El Difraoui reagiert auf diesen Einwand sehr gut, wie ich finde, indem er darauf hinweist, dass es nicht um Verständnis für brutale Mörder ginge, sondern um die Frage, warum diese jungen Leute zu Mördern wurden, um dies zukünftig präventiv zu verhindern.
Klassisch war in dieser Sendung (man höre genau hin ! - siehe den Beitrag in der Mediathek), dass die Anmerkung über "Probleme im Elternhaus" bereits von dem Einwand des Polizeigewerkschaftes übertönt wurde, man hört die drei Worte kaum noch. Fast in symbolischer Reinform zeigte sich in dieser Sendung ganz beiläufig, dass die Gesellschaft diese Dinge nicht wissen will. Ich bin mir aber auch ziemlich sicher, dass selbst wenn der Experte nicht übertönt worden wäre, es keine konkreten Nachfragen bzgl. dessen, was er den mit "Problemen im Elternhaus" meint, gegeben hätte. An sich ist es schon eine Verniedlichung von "Problemen" in diesem Kontext zu sprechen. Meine Recherchen zum Thema Extremismus zeigen viel mehr, dass man die Dinge ganz deutlich und ganz konkret ansprechen muss: Es geht häufig um schwere Misshandlungen, ständige Demütigungen und schwere Fälle von Vernachlässigung/Verlassenwerden. Oft auch Gewalt durch beide Elternteile, Heimaufenthalte usw.
Samstag, 19. März 2016
Das Märchen von den friedlichen Stammesgesellschaften
Auf Grund eines Artikels in der ZEIT und meiner kürzlichen erneuten Beschäftigung mit dem Buch „Schmerzgrenze“ von Joachim Bauer möchte ich auf ein Thema zu sprechen kommen, das ich bisher im Blog nur nebenbei etwas behandelt habe:
Gewaltbereitschaft und Kindheit in Stammeskulturen bzw. vorzivilisatorischen Zeiten.
In dem ZEIT Artikel wurde vordergründig der Kampf der Tenharim-Indianer (Amazonasgebiet) gegen die Zerstörung ihres Lebensraumes beschrieben. In dem Text steht aber auch folgende Passage, die mich sehr hellhörig machte:
„Dass es so viele Untergruppen der Kagwahiva gibt, mag ihrer ausgeprägten Streitlust geschuldet sein. Jahrhundertelang lieferten sie sich brutale Kriege mit Nachbarstämmen wie den Munduruku, mit denen sie eine kulturelle Präferenz für das Abschlagen und Sammeln von Köpfen teilen. Und immer wieder sagten sich einzelne Häuptlinge mit ihren Dörfern und Stämmen vom Rest des Volkes los. So kämpften bald verschiedene Splittergruppen der Kagwahiva gegeneinander. Den eng verwandten Nachbarstamm der Jirahui etwa dezimierten die Tenharim noch in den fünfziger Jahren so gründlich, dass nur fünf Männer übrig blieben, die anschließend mit Tenharim-Frauen verheiratet wurden. Nach erfolgreichen Schlachten haben Krieger traditionell einige Teile der Körper ihrer Feinde gegessen. Die Menschenfresserei gilt bis in das 20. Jahrhundert hinein als wissenschaftlich bestätigt. Einige der Ältesten sagen, dass sie sich an solche Mahlzeiten noch erinnern.“
(ZEIT, 06.03.2016, „Gesetz des Dschungels“, von Thomas Fischermann)
Ein Stamm, der kriegerisch von einem Nachbarstamm fast ausgelöscht wurde? Ein Genozid im Dschungel? Und dann fiel mir beim Lesen dieses Artikels die Schilderungen von Joachim Bauer ein, der sich intensiv mit menschlicher Gewalt in seinem Buch „Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt“ (2011) befasst hat.
In eine Fußnote Nr. 279 schreibt Bauer: „Die meisten heutigen vorzivilisatorischen Kulturen lebten bzw. leben ausgesprochen friedlich. (…) Einzelne kriegerische Jäger und Sammler sind die Ausnahme. Sie befinden sich vor allem in Mittel- und Südamerika.“ (Bauer 2011, S. 239)
Sind die im vorgenannten ZEIT Artikel erwähnten extrem kriegerische Stämme also Teile dieser „Ausnahme“, die Bauer meint? Dazu im Textverlauf mehr.
Bauer meint, dass sich beginnenden um ca. 9000 v.u.Z. Neid, Eifersucht und Aggression mit einer ganz neuen Dynamik entwickelte, nachdem ökonomische Prinzipien Stück für Stück immer mehr das Leben der Menschen bestimmten. (ebd., S. 153) Auf den Punkt gebracht formuliert er:
„Die Kombination von Ressourcenmangel und Erfindung des Eigentums brachte erhebliche soziale Ungleichheit mit sich. Der Abschied vom egalitären Prinzip konnte sich nicht nur durch ungleiche Verteilung von Ressourcen, Besitz oder Vermögen bemerkbar machen, sondern auch durch unterschiedlich Grade der sozialen Anerkennung. Wer in einem der beiden Bereiche größere Nachteile erlitt, erlebte seine Situation als soziale Ausgrenzung und machte Bekanntschaft mit dem Gesetz der Schmerzgrenze: Ausgrenzungserfahrungen stimulieren den Aggressionsapparat und erhöhen die Wahrscheinlickeit von Aggression.“ (ebd. S. 155) Und noch einmal deutlich unter dem Kapiteltitel „Gewalt als Folge des zivilisatorischen Prozesses“: „Der mit der neolithischen Revolution einsetzende zivilisatorische Prozess war der Beginn eines bis heute andauernden Zeitalters der Gewalt.“ (ebd. S. 160)
Man möchte Bauer zunächst fragen, wie er denn die „Ausnahmefälle“ in Mittel- und Südamerika erklärt? Denn auch diese Stämme leben egalitär und als Jäger und Sammler. Durch welche Prozesse sollte also bei ihnen die Schmerzgrenze des Gehirns gereizt werden?
Ich möchte aber eigentlich gleich anführen, dass Bauer sich nachweisbar irrt. Gewalt ist bei Jägern und Sammlern weit verbreitet und keine Ausnahme. Der Evolutionspsychologe Steven Pinker hat eine bahnbrechende Arbeit abgeliefert: „Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit“ (2011 erschienen im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main) Darin weist er eindrücklich nach, dass Gewalt seit Menschengedenken rückläufig ist und wir uns derzeit in der friedlichsten Phase der Menschheitsgeschichte befinden. Pinker arbeitet vordergründig nicht mit absoluten Opferzahlen, sondern mit Gewalttaten pro 100.000 Einwohnern, was durchaus Sinn macht und auch in der Kriminologie üblich ist. Er befasst sich auch intensiv mit Gewaltraten unter Jägern und Sammlern.
Auf Seite 93 hat Pinker eine vergleichende Tabelle erstellt (!! online siehe Daten von Pinker und anderer Forschender dazu hier: http://ourworldindata.org/data/violence-rights/ethnographic-and-archaeological-evidence-on-violent-deaths/ !!) Darin wurden archöologische Fundstätten (Auswertung von Skeletten usw.), Untersuchungen bestehender Stammeskulturen, sowie Staaten ab ca. dem Jahr 1500 bzgl. Todesfällen durch Krieg/Gewalt verglichen. Die höchsten Todesraten finden sich bei Stammesgesellschaften (im Maximum bei 60 % bzgl. der Crow Cree Indianer in Süd-Dakota), die niedrigsten in der modernen Zeit. Die durchschnittlichen gewaltvollen Todesraten lagen bei Jägern und Sammlern bzw. diversen Stammesgesellschaften der Tabelle folgend bei ca. 14 bis 25 %. In der Welt des Jahres 2005 kann man den Balken in der Tabelle gar nicht mehr sehen, er liegt also tendenziell bei annähernd 0.
Pinker ergänzt die Datenlage um eine weitere Tabelle auf Seite 98. Darin vergleicht er jährliche kriegsbedingte Todesfälle bezogen auf 100.000 Einwohner. Auch hier liegen die Stammesgesellschaften weit weit über den Zahlen, die für Staaten erstellt wurden. Die Koto führen die Tabelle an mit fast 1.500 Todesfällen pro Jahr auf 100.000
Einwohner. Der Durchschnitt für die 27 erfassten Stämme beträgt 524 kriegsbedingte Todesfälle im Jahr pro 100.000 Einwohner. Das ist eine Todesquote, an die kein moderner Staat auch nur annähernd in Kriegszeiten heranreicht. Pinker schreibt an einer Stelle: „Zwei ethnographische Übersichtsuntersuchungen zufolge führen etwa 65-70 Prozent aller Gruppen von Jägern und Sammlern mindestens alle zwei Jahre einmal Krieg, 90 Prozent beteiligen sich mindestens einmal in jeder Generation an gewalttätigen Konflikten, und praktisch alle übrigen berichten über kulturelle Überlieferungen, die von früheren Kriegen erzählen.“ (Pinker 2011, S. 99)
Ebenfalls hat der Psychohistoriker Lloyd deMause nachgewiesen, dass Gewalt in Stammesgesellschaften am Häufigsten vorkam/vorkommt, in modernen Demokratien am Wenigsten. (deMause 2005, S. 162-165) Allerdings hat er - das hat Pinker nicht getan - diesen Gewaltrückgang ursächlich mit der stetigen Weiterentwicklung und Verbesserung der Kindererziehungspraktiken verknüpft. Demnach waren auch in Stammesgesellschaften die Kindheiten die denkbar schlimmsten, was deMause ebefalls nachweist, mit einem besonderen Augenmerk auf die Region Neuguinea. (ebd., S. 194-210; siehe das Kapitel online auch hier http://psychohistory.com/books/the-emotional-life-of-nations/chapter-7-childhood-and-cultural-evolution/)
Er schreibt: „Als ich vor vier Jahrzehnten das erste Mal im Rahmen eines Kurses mit Margaret Mead an der Columbia Universität entdeckte, dass Anthropologen einheitlich der Meinung wären, Kindererziehung hätte sich von einer fördernden und liebevollen zu einer vernachlässigenden und missbrauchenden Art und Weise entwickelt, während der Grad der Zivilisation anstieg, war ich verblüfft darüber, wie irgendjemand gleichzeitig annehmen konnte, Kindheit hätte überhaupt Auswirkungen auf die Erwachsenenpersönlichkeit, da dies bedeutete, dass die Kannibalen, Kopfjäger und Krieger, die ich untersuchte, wahrscheinlich liebende, pflegende Kindheiten hatten.“ (deMause 2005, S. 192)
Aus meiner Sicht und auch Beschäftigung mit der Fachliteratur würde es emotional „unlogisch“ sein, wenn Menschen ursprünglich als Regel eine besonders liebevolle Kindererziehung praktizierten und dann plötzlich, nur weil das Eigentum erfunden wurde, anfangen würden, ihre Kinder zu foltern, zu töten, zu verstümmeln und zu misshandeln. Warum sollten Erwachsene, die als Kind geborgen, gewaltfrei und liebevoll aufgewachsen sind, emotional plötzlich dazu Willens und in der Lage sein, ihren Kindern all die Formen grober Gewalt anzutun, die in Studien über die Geschichte der Kindheit belegt wurden? Nein, ich bin nach meinen Recherchen fest davon überzeugt, dass eine liebevolle und gewaltfreie Erziehung eine ziemlich junge „Erfindung“ der Menschheit ist. Etwas ganz Neues, was unsere Spezies bisher nicht kannte. Diese langsame stetige Entwicklung von Kindheit nahm vor allem in den letzten Jahrzehnten besonders stark an Fahrt auf. Die Beschäftigung mit der stetigen Evolution von Kindheit löst letztlich auch die Frage, die Steven Pinker in seinem Werk nicht beantwortet hat: Warum menschliche Gewalt in der Geschichte stetig abnahm und weiter abnimmt.
Ergänzend zum Thema verweise ich auf meine Beiträge
- „Aborigines. Gewalt und Missbrauch. Entzauberung eines Urvolkes?„ und
- "Die Geisterwelt der Simatalu als Folge von Kindesmisshandlung?"
Und noch ein Linkhinweis:
Die Archäologin Angelika Franz hat zu dem Thema einen interessanten Artikel geschrieben: SPIEGEL-Online, 20.01.2016, "Knochenfund in Kenia: Gemetzel am See - vor 10.000 Jahren"
Darin beschreibt sie einen ca. 10.000 Jahre alten Fund, der ein Massaker unter Jägern und Sammlern belegt. Und sie schreibt: "Der älteste nachgewiesene Mordfall der Menschheit fand schon vor 430.000 Jahren im heutigen Spanien statt. Dort entdeckten Forscher in der Sima de los Huesos in der Sierra de Atapuerca den Schädel eines jungen Erwachsenen mit zwei nebeneinanderliegenden nahezu rechteckigen Löchern über der linken Augenhöhle. (...)´Während des Mittelpaläolithikums (300.000 bis 40.000 Jahre vor unserer Zeit) änderte sich offenbar wenig an der Austragung von Konflikten. Sowohl Neandertaler als auch anatomisch moderne Menschen starben immer wieder gezeichnet von schweren Verletzungen, die ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit von Mitgliedern ihrer oder fremder Gruppen zugefügt wurden. Auch im Jungpaläolithikum (40.000 bis 12.000 Jahre vor unserer Zeit) sah es kaum anders aus."
Gewaltbereitschaft und Kindheit in Stammeskulturen bzw. vorzivilisatorischen Zeiten.
In dem ZEIT Artikel wurde vordergründig der Kampf der Tenharim-Indianer (Amazonasgebiet) gegen die Zerstörung ihres Lebensraumes beschrieben. In dem Text steht aber auch folgende Passage, die mich sehr hellhörig machte:
„Dass es so viele Untergruppen der Kagwahiva gibt, mag ihrer ausgeprägten Streitlust geschuldet sein. Jahrhundertelang lieferten sie sich brutale Kriege mit Nachbarstämmen wie den Munduruku, mit denen sie eine kulturelle Präferenz für das Abschlagen und Sammeln von Köpfen teilen. Und immer wieder sagten sich einzelne Häuptlinge mit ihren Dörfern und Stämmen vom Rest des Volkes los. So kämpften bald verschiedene Splittergruppen der Kagwahiva gegeneinander. Den eng verwandten Nachbarstamm der Jirahui etwa dezimierten die Tenharim noch in den fünfziger Jahren so gründlich, dass nur fünf Männer übrig blieben, die anschließend mit Tenharim-Frauen verheiratet wurden. Nach erfolgreichen Schlachten haben Krieger traditionell einige Teile der Körper ihrer Feinde gegessen. Die Menschenfresserei gilt bis in das 20. Jahrhundert hinein als wissenschaftlich bestätigt. Einige der Ältesten sagen, dass sie sich an solche Mahlzeiten noch erinnern.“
(ZEIT, 06.03.2016, „Gesetz des Dschungels“, von Thomas Fischermann)
Ein Stamm, der kriegerisch von einem Nachbarstamm fast ausgelöscht wurde? Ein Genozid im Dschungel? Und dann fiel mir beim Lesen dieses Artikels die Schilderungen von Joachim Bauer ein, der sich intensiv mit menschlicher Gewalt in seinem Buch „Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt“ (2011) befasst hat.
In eine Fußnote Nr. 279 schreibt Bauer: „Die meisten heutigen vorzivilisatorischen Kulturen lebten bzw. leben ausgesprochen friedlich. (…) Einzelne kriegerische Jäger und Sammler sind die Ausnahme. Sie befinden sich vor allem in Mittel- und Südamerika.“ (Bauer 2011, S. 239)
Sind die im vorgenannten ZEIT Artikel erwähnten extrem kriegerische Stämme also Teile dieser „Ausnahme“, die Bauer meint? Dazu im Textverlauf mehr.
Bauer meint, dass sich beginnenden um ca. 9000 v.u.Z. Neid, Eifersucht und Aggression mit einer ganz neuen Dynamik entwickelte, nachdem ökonomische Prinzipien Stück für Stück immer mehr das Leben der Menschen bestimmten. (ebd., S. 153) Auf den Punkt gebracht formuliert er:
„Die Kombination von Ressourcenmangel und Erfindung des Eigentums brachte erhebliche soziale Ungleichheit mit sich. Der Abschied vom egalitären Prinzip konnte sich nicht nur durch ungleiche Verteilung von Ressourcen, Besitz oder Vermögen bemerkbar machen, sondern auch durch unterschiedlich Grade der sozialen Anerkennung. Wer in einem der beiden Bereiche größere Nachteile erlitt, erlebte seine Situation als soziale Ausgrenzung und machte Bekanntschaft mit dem Gesetz der Schmerzgrenze: Ausgrenzungserfahrungen stimulieren den Aggressionsapparat und erhöhen die Wahrscheinlickeit von Aggression.“ (ebd. S. 155) Und noch einmal deutlich unter dem Kapiteltitel „Gewalt als Folge des zivilisatorischen Prozesses“: „Der mit der neolithischen Revolution einsetzende zivilisatorische Prozess war der Beginn eines bis heute andauernden Zeitalters der Gewalt.“ (ebd. S. 160)
Man möchte Bauer zunächst fragen, wie er denn die „Ausnahmefälle“ in Mittel- und Südamerika erklärt? Denn auch diese Stämme leben egalitär und als Jäger und Sammler. Durch welche Prozesse sollte also bei ihnen die Schmerzgrenze des Gehirns gereizt werden?
Ich möchte aber eigentlich gleich anführen, dass Bauer sich nachweisbar irrt. Gewalt ist bei Jägern und Sammlern weit verbreitet und keine Ausnahme. Der Evolutionspsychologe Steven Pinker hat eine bahnbrechende Arbeit abgeliefert: „Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit“ (2011 erschienen im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main) Darin weist er eindrücklich nach, dass Gewalt seit Menschengedenken rückläufig ist und wir uns derzeit in der friedlichsten Phase der Menschheitsgeschichte befinden. Pinker arbeitet vordergründig nicht mit absoluten Opferzahlen, sondern mit Gewalttaten pro 100.000 Einwohnern, was durchaus Sinn macht und auch in der Kriminologie üblich ist. Er befasst sich auch intensiv mit Gewaltraten unter Jägern und Sammlern.
Auf Seite 93 hat Pinker eine vergleichende Tabelle erstellt (!! online siehe Daten von Pinker und anderer Forschender dazu hier: http://ourworldindata.org/data/violence-rights/ethnographic-and-archaeological-evidence-on-violent-deaths/ !!) Darin wurden archöologische Fundstätten (Auswertung von Skeletten usw.), Untersuchungen bestehender Stammeskulturen, sowie Staaten ab ca. dem Jahr 1500 bzgl. Todesfällen durch Krieg/Gewalt verglichen. Die höchsten Todesraten finden sich bei Stammesgesellschaften (im Maximum bei 60 % bzgl. der Crow Cree Indianer in Süd-Dakota), die niedrigsten in der modernen Zeit. Die durchschnittlichen gewaltvollen Todesraten lagen bei Jägern und Sammlern bzw. diversen Stammesgesellschaften der Tabelle folgend bei ca. 14 bis 25 %. In der Welt des Jahres 2005 kann man den Balken in der Tabelle gar nicht mehr sehen, er liegt also tendenziell bei annähernd 0.
Pinker ergänzt die Datenlage um eine weitere Tabelle auf Seite 98. Darin vergleicht er jährliche kriegsbedingte Todesfälle bezogen auf 100.000 Einwohner. Auch hier liegen die Stammesgesellschaften weit weit über den Zahlen, die für Staaten erstellt wurden. Die Koto führen die Tabelle an mit fast 1.500 Todesfällen pro Jahr auf 100.000
Einwohner. Der Durchschnitt für die 27 erfassten Stämme beträgt 524 kriegsbedingte Todesfälle im Jahr pro 100.000 Einwohner. Das ist eine Todesquote, an die kein moderner Staat auch nur annähernd in Kriegszeiten heranreicht. Pinker schreibt an einer Stelle: „Zwei ethnographische Übersichtsuntersuchungen zufolge führen etwa 65-70 Prozent aller Gruppen von Jägern und Sammlern mindestens alle zwei Jahre einmal Krieg, 90 Prozent beteiligen sich mindestens einmal in jeder Generation an gewalttätigen Konflikten, und praktisch alle übrigen berichten über kulturelle Überlieferungen, die von früheren Kriegen erzählen.“ (Pinker 2011, S. 99)
Ebenfalls hat der Psychohistoriker Lloyd deMause nachgewiesen, dass Gewalt in Stammesgesellschaften am Häufigsten vorkam/vorkommt, in modernen Demokratien am Wenigsten. (deMause 2005, S. 162-165) Allerdings hat er - das hat Pinker nicht getan - diesen Gewaltrückgang ursächlich mit der stetigen Weiterentwicklung und Verbesserung der Kindererziehungspraktiken verknüpft. Demnach waren auch in Stammesgesellschaften die Kindheiten die denkbar schlimmsten, was deMause ebefalls nachweist, mit einem besonderen Augenmerk auf die Region Neuguinea. (ebd., S. 194-210; siehe das Kapitel online auch hier http://psychohistory.com/books/the-emotional-life-of-nations/chapter-7-childhood-and-cultural-evolution/)
Er schreibt: „Als ich vor vier Jahrzehnten das erste Mal im Rahmen eines Kurses mit Margaret Mead an der Columbia Universität entdeckte, dass Anthropologen einheitlich der Meinung wären, Kindererziehung hätte sich von einer fördernden und liebevollen zu einer vernachlässigenden und missbrauchenden Art und Weise entwickelt, während der Grad der Zivilisation anstieg, war ich verblüfft darüber, wie irgendjemand gleichzeitig annehmen konnte, Kindheit hätte überhaupt Auswirkungen auf die Erwachsenenpersönlichkeit, da dies bedeutete, dass die Kannibalen, Kopfjäger und Krieger, die ich untersuchte, wahrscheinlich liebende, pflegende Kindheiten hatten.“ (deMause 2005, S. 192)
Aus meiner Sicht und auch Beschäftigung mit der Fachliteratur würde es emotional „unlogisch“ sein, wenn Menschen ursprünglich als Regel eine besonders liebevolle Kindererziehung praktizierten und dann plötzlich, nur weil das Eigentum erfunden wurde, anfangen würden, ihre Kinder zu foltern, zu töten, zu verstümmeln und zu misshandeln. Warum sollten Erwachsene, die als Kind geborgen, gewaltfrei und liebevoll aufgewachsen sind, emotional plötzlich dazu Willens und in der Lage sein, ihren Kindern all die Formen grober Gewalt anzutun, die in Studien über die Geschichte der Kindheit belegt wurden? Nein, ich bin nach meinen Recherchen fest davon überzeugt, dass eine liebevolle und gewaltfreie Erziehung eine ziemlich junge „Erfindung“ der Menschheit ist. Etwas ganz Neues, was unsere Spezies bisher nicht kannte. Diese langsame stetige Entwicklung von Kindheit nahm vor allem in den letzten Jahrzehnten besonders stark an Fahrt auf. Die Beschäftigung mit der stetigen Evolution von Kindheit löst letztlich auch die Frage, die Steven Pinker in seinem Werk nicht beantwortet hat: Warum menschliche Gewalt in der Geschichte stetig abnahm und weiter abnimmt.
Ergänzend zum Thema verweise ich auf meine Beiträge
- „Aborigines. Gewalt und Missbrauch. Entzauberung eines Urvolkes?„ und
- "Die Geisterwelt der Simatalu als Folge von Kindesmisshandlung?"
Und noch ein Linkhinweis:
Die Archäologin Angelika Franz hat zu dem Thema einen interessanten Artikel geschrieben: SPIEGEL-Online, 20.01.2016, "Knochenfund in Kenia: Gemetzel am See - vor 10.000 Jahren"
Darin beschreibt sie einen ca. 10.000 Jahre alten Fund, der ein Massaker unter Jägern und Sammlern belegt. Und sie schreibt: "Der älteste nachgewiesene Mordfall der Menschheit fand schon vor 430.000 Jahren im heutigen Spanien statt. Dort entdeckten Forscher in der Sima de los Huesos in der Sierra de Atapuerca den Schädel eines jungen Erwachsenen mit zwei nebeneinanderliegenden nahezu rechteckigen Löchern über der linken Augenhöhle. (...)´Während des Mittelpaläolithikums (300.000 bis 40.000 Jahre vor unserer Zeit) änderte sich offenbar wenig an der Austragung von Konflikten. Sowohl Neandertaler als auch anatomisch moderne Menschen starben immer wieder gezeichnet von schweren Verletzungen, die ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit von Mitgliedern ihrer oder fremder Gruppen zugefügt wurden. Auch im Jungpaläolithikum (40.000 bis 12.000 Jahre vor unserer Zeit) sah es kaum anders aus."
Dienstag, 15. März 2016
Kindheit von Kerim Marc B. Nur ein Einzelfall?
Der als IS-Terrorist angeklagte Kerim Marc B. hat vor Gericht über seine Kindheit gesprochen (danke an Ute für den Hinweis!). Es sind nur kurze Details, die derzeit in den Medien (z.B. welt.de, 14.03.2016, "Mutmaßlicher IS-Terrorist spricht von schwerer Kindheit") besprochen wurde. Aber sie zeigen deutlich, dass dies nicht nur einfach eine "schwere Kindheit" war, sondern ein Alptraum. Bereits als Kind habe er mehrfach kurz davor gestanden, Selbstmord zu begehen (wie verzweifelt muss ein Kind dafür sein?). Sein Vater habe ihn oft geprügelt. Aber auch die Mutter scheint den Andeutungen nach ein eher kaltes Verhältnis zu ihrem Sohn gehabt zu haben.
Nun ist dies ein Einzelfall. Wenn man ihn aber in das einordnet, was ich hier im Blog bereits recherchiert habe (siehe z.B. "Islamistischer Terror und Gewalt. Die notwendige Modernisierung der muslimischen Familie."), dann ist jeder neue "Einzelfall" ein Teil des Ganzen. Ich warte immer noch auf den Moment, ab dem diese "Einzelfälle" endlich zu einer größeren Diskussion um die Kindheitshintergründe von Terroristen und Kriegstreibern führen. Und ich warte immer noch auf den Moment, ab dem endlich die Ergebnisse der UNICEF Studie "Hidden in Plain Sight" politisch eingeordnet werden und dem Nahen Osten wie auch Afrika ein großes Kinderschutzprogramm auferlegt wird, um Krieg und Terror den Nährboden zu entziehen.
Nun ist dies ein Einzelfall. Wenn man ihn aber in das einordnet, was ich hier im Blog bereits recherchiert habe (siehe z.B. "Islamistischer Terror und Gewalt. Die notwendige Modernisierung der muslimischen Familie."), dann ist jeder neue "Einzelfall" ein Teil des Ganzen. Ich warte immer noch auf den Moment, ab dem diese "Einzelfälle" endlich zu einer größeren Diskussion um die Kindheitshintergründe von Terroristen und Kriegstreibern führen. Und ich warte immer noch auf den Moment, ab dem endlich die Ergebnisse der UNICEF Studie "Hidden in Plain Sight" politisch eingeordnet werden und dem Nahen Osten wie auch Afrika ein großes Kinderschutzprogramm auferlegt wird, um Krieg und Terror den Nährboden zu entziehen.
Donnerstag, 10. März 2016
Studie aus der Kriminalpsychologie: Vom Opfer zum Täter.
Ich habe kürzlich eine relativ interessante Studie in die Hände bekommen:
Fischer, Gottfried; Klein, Annika; Orth, Alice (2012). Vom Opfer zum Täter. Traumafokussiertes Profiling in der Kriminalpsychologie. Kröning: Asanger Verlag
Zunächst einmal fand ich interessant, dass in der Einleitung einige Studien kurz aufgeführt wurden und - wissenschaftlich sachlich - kommentiert wurde: „Betrachtet man die Prävalenzraten körperlicher und sexuell gewaltvoller Kindheitstraumata unter inhaftierten Gewaltstraftätern im Vergleich zur Normalbevölkerung, findet man – wenngleich die Zahlen in den Untersuchungen aufgrund unterschiedlicher methodischer Herangehensweisen oder Stichprobenbeschaffenheit z.T. stark variieren – gehäuft höhere Raten von Kindheitstraumaopfern unter inhaftierten Gewaltverbrechern.“ (S. 12)
Für die o.g. Studie wurden 27 männliche Inhaftierte und 19 Frauen aus dem geschlossenen und offenen Vollzug befragt. Die Studie geht im ersten Teil auf viele interessante Erkenntnisse aus der Traumatologie ein. Die Darstellung der Ergebnisse fand ich allerdings wenig gelungen und teils undurchsichtig. Einzig auf Seite 69 werden Ergebnisse bzgl. Kindheitserfahrungen in Zahlen dargestellt:
Männliche Befragte (N = 27)
Körperliche Misshandlung = 4
Sexuelle Gewalt = 3
Misshandlung + sexuelle Gewalt = 10
Keine Gewalt = 10
Weibliche Befragte (N = 19)
Körperliche Misshandlung = 1
Sexuelle Gewalt = 6
Misshandlung + sexuelle Gewalt = 4
Keine Gewalt = 8
Etwa 60 % der Befragten haben also mindestens eine Form der o.g. Gewalt als Kind erlebt. (was deutlich über dem Bevölkerungsdurchschnitt liegt.)
Jetzt kommt gleich meine Kritik.
- Die Studie hat die Definition von „Misshandlung“ und „sexueller Gewalt“ nicht dargestellt sondern nur auf das Messinstrument verwiesen.
- Es wurde keine Häufigkeiten angegeben wie oft die Gewalt erlebt wurde (dabei ist dies der mit wichtigste Punkt)
- Im Textverlauf der Studie erfährt man von diversen weiteren Belastungen (Sucht der Eltern, frühes Verlassenwerden in der Kindheit/keine feste Bezugsperson, gestörte Verhältnisse zu Eltern, Inhaftierung eines Elternteils usw.) für 20 gesonderte Befragte. Diese wurden nicht tabellarisch aufgeführt. Es gibt keinen Überblick über diese weiteren und auch bedeutenden Belastungsfaktoren. Ich kann nicht verstehen, warum dies nicht deutlich aufgeführt wurde, da es offensichtlich abgefragt wurde…
- Mir persönlich fehlten einige ausführliche Fallbeispiele (wie dies in anderen ähnlichen Arbeiten üblich ist). Die Kategorie "Täter wurde als Kind misshandelt" ist letztlich nur eine oberflächliche Information. Erst ein umfassenderes Bild ermöglicht dem Leser auch ein emotionales Verstehen.
In der zweiten Untersuchungsphase wurden jeweils 10 Männer und 10 Frauen gesondert analysiert und in persönlichen Interviews befragt. Nach dem, was ich herausgelesen habe, sind diese 20 Personen eher die, die nach der vorgenannten Tabelle Gewalt in der Kindheit erlebt haben. Beispielsweise sind 7 der 10 männlichen Befragten als Kind Opfer von Gewalt geworden. (S. 72)
Ihre Traumageschichte wurde dann in ein Verhältnis zu ihrem Tatverhalten gebracht.
Dabei kam folgendes zentrale Ergebnis heraus:
- Je früher die Traumatisierung und je komplexer die Traumatisierung, desto höher die Tatdetailüberschneidungen (sprich Wiederholungen des Täterverhaltens dessen Opfer man selbst als Kind war).
Handlunge, Gesten, verbale Ausdrücke, Ort der Taten und der Gebrauch von Waffen, in all diesen Gebieten finden sich deutliche Wiederholungen der eigenen Opfererfahrungen. Eine Stelle möchte ich hier zitieren. „Ein frühkindliches Beziehungstrauma führt zu einer wesentlich höheren und genaueren Detailübereinstimmung als ein lebensgeschichtlich später datiertes Trauma. Probanden, die in der frühen Kindheit eine Traumatisierung durch fortgesetzte körperliche Gewalt erlitten, reinszenieren Details dieser Misshandlung. Liegt eine Traumatisierung durch fortgesetzte körperliche Gewalt und sexuelle Gewalt vor, so werden Details beider Traumatisierungen im Tatgeschehen reinszeniert. Auch mit der traumatischen Situation verknüpfte Erlebnisqualitäten (wie bspw. Dissoziatives Erleben) werden in der Tatsituation reaktiviert.“ (S. 158+159)
Ziel der Studie war letztlich, Ermittlern Hilfestellungen zu geben. Tatmerkmale lassen demnach Rückschlüsse auf das Traumaprofil des Täters zu. Für mich ist die Studie nur begrenzt nützlich, da sie nicht deutlich ermittelt bzw. dargestellt hat, wie viele der Täter welche Arten von Belastungen in der Kindheit, in welchen Schweregraden und wie häufig erlitten haben.
Fischer, Gottfried; Klein, Annika; Orth, Alice (2012). Vom Opfer zum Täter. Traumafokussiertes Profiling in der Kriminalpsychologie. Kröning: Asanger Verlag
Zunächst einmal fand ich interessant, dass in der Einleitung einige Studien kurz aufgeführt wurden und - wissenschaftlich sachlich - kommentiert wurde: „Betrachtet man die Prävalenzraten körperlicher und sexuell gewaltvoller Kindheitstraumata unter inhaftierten Gewaltstraftätern im Vergleich zur Normalbevölkerung, findet man – wenngleich die Zahlen in den Untersuchungen aufgrund unterschiedlicher methodischer Herangehensweisen oder Stichprobenbeschaffenheit z.T. stark variieren – gehäuft höhere Raten von Kindheitstraumaopfern unter inhaftierten Gewaltverbrechern.“ (S. 12)
Für die o.g. Studie wurden 27 männliche Inhaftierte und 19 Frauen aus dem geschlossenen und offenen Vollzug befragt. Die Studie geht im ersten Teil auf viele interessante Erkenntnisse aus der Traumatologie ein. Die Darstellung der Ergebnisse fand ich allerdings wenig gelungen und teils undurchsichtig. Einzig auf Seite 69 werden Ergebnisse bzgl. Kindheitserfahrungen in Zahlen dargestellt:
Männliche Befragte (N = 27)
Körperliche Misshandlung = 4
Sexuelle Gewalt = 3
Misshandlung + sexuelle Gewalt = 10
Keine Gewalt = 10
Weibliche Befragte (N = 19)
Körperliche Misshandlung = 1
Sexuelle Gewalt = 6
Misshandlung + sexuelle Gewalt = 4
Keine Gewalt = 8
Etwa 60 % der Befragten haben also mindestens eine Form der o.g. Gewalt als Kind erlebt. (was deutlich über dem Bevölkerungsdurchschnitt liegt.)
Jetzt kommt gleich meine Kritik.
- Die Studie hat die Definition von „Misshandlung“ und „sexueller Gewalt“ nicht dargestellt sondern nur auf das Messinstrument verwiesen.
- Es wurde keine Häufigkeiten angegeben wie oft die Gewalt erlebt wurde (dabei ist dies der mit wichtigste Punkt)
- Im Textverlauf der Studie erfährt man von diversen weiteren Belastungen (Sucht der Eltern, frühes Verlassenwerden in der Kindheit/keine feste Bezugsperson, gestörte Verhältnisse zu Eltern, Inhaftierung eines Elternteils usw.) für 20 gesonderte Befragte. Diese wurden nicht tabellarisch aufgeführt. Es gibt keinen Überblick über diese weiteren und auch bedeutenden Belastungsfaktoren. Ich kann nicht verstehen, warum dies nicht deutlich aufgeführt wurde, da es offensichtlich abgefragt wurde…
- Mir persönlich fehlten einige ausführliche Fallbeispiele (wie dies in anderen ähnlichen Arbeiten üblich ist). Die Kategorie "Täter wurde als Kind misshandelt" ist letztlich nur eine oberflächliche Information. Erst ein umfassenderes Bild ermöglicht dem Leser auch ein emotionales Verstehen.
In der zweiten Untersuchungsphase wurden jeweils 10 Männer und 10 Frauen gesondert analysiert und in persönlichen Interviews befragt. Nach dem, was ich herausgelesen habe, sind diese 20 Personen eher die, die nach der vorgenannten Tabelle Gewalt in der Kindheit erlebt haben. Beispielsweise sind 7 der 10 männlichen Befragten als Kind Opfer von Gewalt geworden. (S. 72)
Ihre Traumageschichte wurde dann in ein Verhältnis zu ihrem Tatverhalten gebracht.
Dabei kam folgendes zentrale Ergebnis heraus:
- Je früher die Traumatisierung und je komplexer die Traumatisierung, desto höher die Tatdetailüberschneidungen (sprich Wiederholungen des Täterverhaltens dessen Opfer man selbst als Kind war).
Handlunge, Gesten, verbale Ausdrücke, Ort der Taten und der Gebrauch von Waffen, in all diesen Gebieten finden sich deutliche Wiederholungen der eigenen Opfererfahrungen. Eine Stelle möchte ich hier zitieren. „Ein frühkindliches Beziehungstrauma führt zu einer wesentlich höheren und genaueren Detailübereinstimmung als ein lebensgeschichtlich später datiertes Trauma. Probanden, die in der frühen Kindheit eine Traumatisierung durch fortgesetzte körperliche Gewalt erlitten, reinszenieren Details dieser Misshandlung. Liegt eine Traumatisierung durch fortgesetzte körperliche Gewalt und sexuelle Gewalt vor, so werden Details beider Traumatisierungen im Tatgeschehen reinszeniert. Auch mit der traumatischen Situation verknüpfte Erlebnisqualitäten (wie bspw. Dissoziatives Erleben) werden in der Tatsituation reaktiviert.“ (S. 158+159)
Ziel der Studie war letztlich, Ermittlern Hilfestellungen zu geben. Tatmerkmale lassen demnach Rückschlüsse auf das Traumaprofil des Täters zu. Für mich ist die Studie nur begrenzt nützlich, da sie nicht deutlich ermittelt bzw. dargestellt hat, wie viele der Täter welche Arten von Belastungen in der Kindheit, in welchen Schweregraden und wie häufig erlitten haben.
Montag, 29. Februar 2016
Die Farben der Gewaltfolgen: Kinderbuchautor Janosch.
SPIEGEL-Online (26.02.2016, Janosch-Biografie: "Lieblingsuhrzeit? Nachts, bis vier" - von Kristin Haug) berichtete kürzlich von dem Kinderbuchautor "Janosch". Dieser hatte eine grauenvolle Kindheit. Sein Vater war Alkoholiker und verprügelte seinen Sohn und auch seine Ehefrau u.a. mit einer Lederpeitsche. Aber auch die Mutter schlägt wiederum ihren Sohn. „Daheim schlägt nicht nur der Vater den Sohn, sondern auch die Mutter, die immer grimmig aussieht, weil sie keine Zähne mehr hat. Sie ist ständig gereizt und prügelt so lange auf den Jungen ein, bis er keine Luft mehr bekommt und bewusstlos zusammensackt.“ (ebd.) Die Mutter habe er lange „wie ein Welt-Unheil“ gehasst, berichtet Janosch.
In einem Interview mit Janosch (welt.de, 24.02.2016, „Kein Gott und kein Schnaps, alles vorbei“ - von Angela Bajorek) las ich folgendes:
„Ein Großteil in meinem Gehirn wurde in dieser Kindheit durch den Suff meine Vaters, die Quälerei in der Hitlerjugend und in der Kirche so zerstört, dass es wie ein Ballast tot ist. Mit grenzenloser Furcht zerstört und in diesem Teil immer noch tot. Wie ein Holzbein. Wenn man lange auf seine Hand schlägt, wird sie taub. Und tot. Und stört nur. Ich glaube, das ist eine Notwehr der Natur, damit man den Schmerz nicht mehr fühlt. Furcht vor dem Gott und seiner Hölle. Vor dem Suff des Vaters, der meistens brüllte oder lallte: ´Ich schlag Euch alle tot.`“
Ich habe selten eine solch krasse und offene Aussage von jemandem gelesen, der auf sich selbst und seine Kindheit schaut...
Dominierend ist ja eher dieses klassische „es hat mir nicht geschadet“ oder das komplette Ausblenden der eigenen Kindheit und deren Folgen. Janosch hat, nach dem was ich las, von beiden Elternteilen (und ergänzend auch in anderen Kontexten) derart massive Gewalt erfahren , dass er auch locker ein Massenmörder hätte werden können. Die meisten als Kind misshandelten Menschen werden allerdings nicht zu Massenmördern. Ich möchte erneut noch einmal deutlich darauf hinweisen, dass ich ganz und gar hinter diesem letzten Satz stehe! Denn mir wurde schon so einige Male vorgeworfen, ich würde durch meine Gedanken der Annahme anhängen, alle misshandelten Kinder würden später zu Gewalttätern. Dem ist aber nicht so.
- Massenmord ist nur eine von vielen möglichen Folgen von Kindesmisshandlung.
- Kindesmisshandlung ist aber die grundlegende Voraussetzung für Massenmord.
- Und Massenmord an sich ist auch innerhalb eines Menschen nur eine Facette seines Hasses. Ich glaube nicht, dass es Massenmörder gibt, die nicht auch in manch anderer Hinsicht destruktiv gegen sich und andere agieren.
An Janoschs Biografie lässt sich bereits ablesen, dass auch seine Misshandlungsgeschichte nicht ohne Folgen blieb. Er sagte z.B. in dem o.g. welt.de Interview „Ich konnte 40 Jahre lang keinen Tag ohne Alkohol leben.“ Dazu kommen andere Details, die ich hier nicht weiter bewerten möchte. Der zitierte Satz reicht, denke ich, schon aus. Ergänzend half dem Autor vielleicht auch das Schreiben dabei, etwas aus der realen Welt auszusteigen.
Bei der Besprechung der Folgen von Kindesmisshandlung muss man immer komplex sehen und denken. Menschen sind komplex und verschieden. Die Folgen von Kindesmisshandlung sind komplex und verschieden. Ich finde es mittlerweile fast lächerlich oder auch unaufgeklärt oder sogar naiv, wenn Kritik geübt wird gegenüber der Analyse der Kindheiten von Mördern oder Terroristen. Denn ihre Taten sind nur eine mögliche Farbe der Folgen der Gewalt gegenüber Kindern. Man muss das ganze Bild im Auge haben. Der Autor Janosch ist eines von vielen Beispielen dafür, wie Menschen mit so einer Kindheitsgeschichte umgehen können.
Mittwoch, 24. Februar 2016
Rezension. Joachim Bauer: Schmerzgrenze. Vom Urspung alltäglicher und globaler Gewalt
Am 15.08.2011 hatte ich das genannte Buch von Joachim Bauer bereits besprochen. Meinen damaligen Beitrag lösche ich hiermit und ersetze ihn durch eine aktualisierte Fassung. Grund dafür ist auch, dass meine etwas überarbeitete Buchbesprechung im aktuellen Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 16 veröffentlicht wurde. Nebenbei bemerkt bin ich seit Kurzem auch Mitglied der Gesellschaft für Psychohistorie und Politische Psychologie e.V. (GPPP), was letztlich erst einmal nicht mehr bedeutet, als dass ich den Mitgliedsbeitrag bezahle :-). Mal sehen, was die Zukunft bringt.
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Rezension
Joachim Bauer: Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. Karl Lessing Verlag, München 2011, 285 S., Preis 18,95 €
Zunächst einmal fand ich es schön, dass der Autor die immer noch weit verbreitete Grundannahme, der Mensch verfüge über einen natürlichen Aggressionstrieb (einer natürlichen „Lust an der Gewalt“), als ein durch heutige Forschungen belegtes unhaltbares Konzept beschreibt. Unser Gehirn sei vielmehr auf Kooperation eingestellt und auf das Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit. Aggressionen gar Gewalt sind – so die Hirnforschung – zunächst einmal keine zentralen menschlichen Handlungsoptionen. Aggressionen sind allerdings etwas Lebenswichtiges. Sie versetzen Lebewesen in die Lage, Schmerz abzuwehren und ihre körperliche Unversehrtheit zu bewahren. Das ist ihre natürliche Aufgabe. Wer sich der Schmerzgrenze eines Lebewesens nähert oder diese überschreitet, wird Aggression ernten.
Das Zentrale an Bauers Buch wird durch folgende zwei Zitate deutlich: „Die Schmerzgrenze wird »aus Sicht des Gehirns« keineswegs nur dann überschritten, wenn Menschen physischer, also körperlicher Schmerz zugefügt wird. Die Schmerzzentren des Gehirns reagieren auch dann, wenn Menschen sozial ausgegrenzt oder gedemütigt werden.“ (S. 58+59) und
„Die Beobachtung, dass soziale Zurückweisung, Ausgrenzung und Verachtung »aus Sicht des Gehirns« wie körperlicher Schmerz wahrgenommen werden, bedeutet einen Durchbruch im Verständnis der menschlichen Aggression. Mit einem Male wird verständlich, warum nicht nur körperlicher Schmerz, sondern auch Ausgrenzung und soziale Demütigungen potente Reize darstellen, die den neurobiologischen Aggressionsapparat aktivieren und Gewalt hervorrufen können.“ (S. 59)
Erfolgreich kommunizierte Aggression ist konstruktiv, so Bauer. Sprich die Menschen, die Verachtung und Ausgrenzung erfahren, müssen dies ausdrücken können und bestenfalls auch eine konstruktive Reaktion bekommen. Aggression, die ihre kommunikative Funktion verloren hat, ist destruktiv. Wichtig fand ich dabei die folgende beiläufige Information im Buch: „Hemmungen und andere Schwierigkeiten, legitime Aggression zu kommunizieren, entstehen vor allem dann, wenn in den Jahren der Kindheit keine sicheren Bindungen zu Bezugspersonen vorhanden waren oder wenn Gewalt erlebt wurde.“ (S. 64) Bauer geht an dieser Stelle, wie auch an anderen Stellen des Buches (siehe unten) immer mal wieder auf die Kindheit ein. Trotzdem hat das Buch die Tendenz, eher soziale Ausgrenzung anzukreiden. Der Autor schreibt: „Armut bedeutet – vor allem für diejenigen, die ihr nicht durch eigenes Verschulden ausgeliefert sind – nicht nur existenzielle Not, sondern ist vor allem eine Ausgrenzungserfahrung. Aus diesem Grunde ist sie auch ein besonders ergiebiger Nährboden der Gewalt.“ (S. 66) und „Gerechtigkeit ist für eine Gesellschaft die beste Gewaltprävention. (…) Zu den wichtigsten Reizen für Gewalt und kriegerische Auseinandersetzungen auf der internationalen Bühne zählen Armut und der Kampf um knappe Ressourcen.“ (S. 198+199)
Die zentrale These von Bauer ist, dass sich die aus erlittenen Demütigungen und Ausgrenzung erzeugte Aggression oftmals nicht direkt verbal ausdrückt, sondern sich in ein inneres „Aggressionsgedächtnis“ verschiebt (S. 76-79). Gewalt richtet sich dann nicht direkt an die Personen oder Institutionen, die ausgegrenzt haben, sondern an unbeteiligte Dritte. Bauer will so auch brutalste Angriffe und auch Amokläufe erklären. Bzgl. dieses Phänomens geht er auch auf Kindheitserfahrungen ein. „Wer aufgrund früherer, meist in den Kinderjahren erlittener Verletzungen keine tiefe Verbundenheit mit anderen Menschen fühlen kann, hat als Erwachsener bei schwierigen Alltagssituationen schneller als andere das Gefühl, abgelehnt oder verachtet zu werden. Er (oder sie) wird häufiger als andere Menschen eine »gefühlte Zurückweisung« erleben. Entsprechend schneller ist bei solchen Personen die Schmerzgrenze erreicht, und entsprechend steigt das Risiko einer aggressiven Reaktion.“ (S. 70) und „Vernachlässigte oder an Gewalterfahrungen gewöhnte Kinder erleben die Welt als einen gefährlichen Ort. Sie interpretieren, wie Studien zeigen, ihre Umwelt – insbesondere die ihnen begegnenden Menschen - auch dann eher als feindselig, wenn tatsächlich keine Gefahr zu erwarten wäre. Da aggressive Erfahrungen im Gehirn ein Wahrnehmungsschema hinterlassen, gehen von Gewalt betroffene Kinder davon aus, dass auch ihnen unbekannte Menschen feindselige Absichten haben. Die Folge ist eine eingeengte, veränderte Wahrnehmung der Welt.„ (S 83) und „Kinder und Jugendliche, die keine erzieherische Zuwendung erhalten, die vernachlässigt oder mit Gewalt traumatisiert wurden, bleiben hinter dem Entwicklungszeitplan ihres Gehirns in gefährlicher Weise zurück und entwickeln bleibende Hirnreifungsstörungen, die vor allem den Präfrontalen Cortex betreffen und derart schwerwiegend sein können, dass auch spätere Therapien oder andere Korrekturversuche nicht mehr greifen.“ (S. 109)
Der Autor sieht deutlich, wie wichtig Geborgenheit, Anerkennung und Liebe für Kinder ist. Wo diese fehlt, bleiben quasi gespeicherte Aggressionen zurück , die sich zeitlich verschoben destruktiv ausdrücken können. Trotz dieser seiner Erkenntnis nimmt diese gewichtige Grundlage nicht wirklich viel Raum in seinem Buch ein, was verwundert. Armut und soziale Ausgrenzung stehen im Vordergrund. Diesem Themengebiet hat er sogar gleich ein ganzes Kapitel gewidmet: „4. Armut, Ungleichheit und Gewalt“ (S.113-124).
Der Autor geht z.B. auf die Korrelation zwischen Armut bzw. großen Einkommensunterschieden innerhalb von Gesellschaften und Mord-/Todschlagraten ein, um seine These von der Schmerzgrenze zu untermauern. (S. 114-116) Kolumbien belegt einen Spitzenrang, was Mordraten angeht. Die Erniedrigung durch Armut würde das Aggressionspotential steigern, da die psychische Schmerzgrenze überschritten würde. Bauer fragt sich nicht, wie denn eigentlich die dominante Kindererziehungspraxis in Kolumbien aussieht. Der Bericht „Familiäre Gewalt und Kindesmissbrauch in Kolumbien“ (Karnofsky 2005) zeigt auf, dass die Ursachen der Gewalt in den gewaltvollen Kindheiten vor Ort liegen. Ich würde dabei sogar noch weitergehen und die Fragen stellen:
- In wie weit bewirkt eine weite Verbreitung von (schwerer) Gewalt gegen Kinder innerhalb einer Gesellschaft wie Kolumbien, dass sich diese Gesellschaft auch sozial, politisch und ökonomisch nicht wirklich weiterentwickelt und zurück bleibt?
- In wie weit bedingen die gewaltvollen Kindheiten in Kolumbien, dass entsprechend geprägte Menschen, die an Macht kommen, diese nutzen, um andere zu unterdrücken und auszugrenzen und gleichzeitig die Unterdrückten, die einst als Kind gequälten, sich weitgehend in die Opferrolle einfügen, weil sie noch nie anderes erlebt haben?
Aktuell hat auch die weltweit bisher größte Studie (UNICEF 2014) zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder festgehalten, dass in Entwicklungsregionen wie Afrika oder im Nahen Osten das weltweit verglichen höchste Ausmaß von elterlicher Gewalt, dabei auch besonders schwere Formen, gefunden wird. Die Republik Jemen – beispielsweise - ist eines der ärmsten Länder der Welt und das ärmste Land im Nahen Osten. Laut vorgenannter Studie ist es weltweit auf dem ersten Platz bzgl. elterlicher Gewalt gegen Kinder: Innerhalb von 4 Wochen erleben die dortigen Kinder zwischen 2 und 14 Jahren körperliche und/oder psychische Gewalt zu 95 %, nur körperliche Gewalt zu 86 % , besonders schwere körperliche Gewalt zu ca. 43 % und nur psychische Gewalt zu 92 %. (UNICEF 2014, S. 97 + 199) Solche und ähnliche Daten aus älteren Studien, die Bauer hätte verwenden können, fehlen in dem Buch „Schmerzgrenze“.
In seinen Schlussfolgerungen schreibt der Joachim Bauer noch einen wichtigen Satz: „Viele Familien sind, ohne sich dessen bewusst zu sein und ohne dies zu wollen, Brutstätten für eine spätere Gewaltbereitschaft der in ihnen lebenden Kinder. Kinder, die keine zuverlässigen Bindungen zu ihren Bezugspersonen haben, um die sich kaum jemand kümmert und für die niemand Zeit hat, leben im Zustand der Ausgrenzung.“ (S. 194) Trotz dieser Erkenntnis widmet der Autor kein eigenes Kapitel der Kindheit.
Eine enorm wichtige Frage hat sich Joachim Bauer nicht gestellt: Wie gehen Menschen, die als Kind Geborgenheit und Liebe durch mindestens eine elterliche Bezugsperson erlebt haben und bestenfalls keine elterliche Gewalt erlebt haben, später mit erlebter sozialer Ausgrenzung um? Wird die Schmerzgrenze dieser Menschen auch soweit gereizt werden können, dass sie darauf mit Gewalt, Folter, Vergewaltigungen, Krieg und Terror reagieren?
Ich glaube, dass Menschen, die als Kind Geborgenheit und Liebe erfahren haben, nicht gewalttätig auf spätere Konflikte und Ausgrenzungen reagieren werden. Wenn ich damit Recht habe, dann ist Armut und soziale Ausgrenzung nicht der zentrale Punkt, wenn es um die Ursachen von Gewalt geht. Ich glaube allerdings auch, dass Menschen, die als Kind Gewalt, Demütigungen und Missbrauch erlebt haben, wenn sie in ihrem späteren Leben erneute Demütigungen und soziale Ausgrenzungen erleben, ganz besonders reizbar sind und mit enormer Wut und Hass auf diese Dinge reagieren, die sie ja auch schon früh als Kinder erlebten. Sie erleben dann quasi einen Trigger. Kleinste Verletzungen im Alltag können dann zum Auslöser für brutalste Gewalt und Angriffe oder auch eigene Selbstverletzungen werden. Etwas ähnlich hat Bauer es vielleicht auch gesehen. Schade nur, dass er nicht mit aller Deutlichkeit den Ausgangspunkt destruktive Kindheit benannt hat. Entsprechend wurde sein Buch dann auch besprochen. In zwei Beispielen befassen sich die Autoren nicht (Lange, Michael 18.04.2011) oder so gut wie nicht (Lenzen, Manuela 13.04.2011) mit der Kindheit, sondern greifen rein Bauers Konzept von der überschrittenen Schmerzgrenze auf Grund sozialer Ausgrenzungen auf.
Schließlich bleibt mir noch anzumerken, dass Gewalt und Terror in der Geschichte oftmals von Menschen ausging, die alles andere als unterprivilegiert, ausgegrenzt oder arm waren. Der Terrorchef Osama Bin Laden stammte aus einer wohlhabenden saudischen Unternehmerfamilie. Diktatoren im Nahen Osten verfügen oft über ein Milliardenvermögen. Präsidentenfamilie Bush aus den USA war reich, ebenso wie all die kriegerischen Könige und Kaiser in der Geschichte die Reichsten der Reichen, die Mächtigsten der Mächtigen waren. Das Konzept „Schmerzgrenze überschritten auf Grund soziale Ausgrenzung“ greift zu kurz, wenn es um die ursächliche Erklärung von Gewalt geht.
Trotzdem halte ich das Buch für lesenswert und gedanklich anregend. Es stützt zudem in manchen Punkten psychohistorische Annahmen. Letztlich sind es doch insbesondere Kinder, denen es fast unmöglich ist, ihren Schmerz über erlittene elterliche Gewalt und Demütigungen auszudrücken, weil sie existenziell von ihren Eltern abhängig sind. Und das hat Folgen, auch politisch. Joachim Bauer hat den Zusammenhang von destruktiven Kindheitserlebnissen und Gewaltverhalten wissenschaftlich gut belegt, aber, das bleibt meine Grundkritik, nicht angemessen gewichtet.
Literaturangaben:
Karnofsky, Eva (2005): Familiäre Gewalt und Kindesmissbrauch in Kolumbien. In: Brennpunkt Lateinamerika 4, Hamburg. S. 34-44
Lenzen, Manuela 13.04.2011: Diesseits der Schmerzgrenze. Faz.net
Lange, Michael 18.04.2011: Angst macht böse, Deutschlandradio Kultur.
UNICEF - United Nations Children’s Fund (2014): Hidden in Plain Sight: A statistical analysis of violence against children. New York. .
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Rezension
Joachim Bauer: Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. Karl Lessing Verlag, München 2011, 285 S., Preis 18,95 €
Zunächst einmal fand ich es schön, dass der Autor die immer noch weit verbreitete Grundannahme, der Mensch verfüge über einen natürlichen Aggressionstrieb (einer natürlichen „Lust an der Gewalt“), als ein durch heutige Forschungen belegtes unhaltbares Konzept beschreibt. Unser Gehirn sei vielmehr auf Kooperation eingestellt und auf das Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit. Aggressionen gar Gewalt sind – so die Hirnforschung – zunächst einmal keine zentralen menschlichen Handlungsoptionen. Aggressionen sind allerdings etwas Lebenswichtiges. Sie versetzen Lebewesen in die Lage, Schmerz abzuwehren und ihre körperliche Unversehrtheit zu bewahren. Das ist ihre natürliche Aufgabe. Wer sich der Schmerzgrenze eines Lebewesens nähert oder diese überschreitet, wird Aggression ernten.
Das Zentrale an Bauers Buch wird durch folgende zwei Zitate deutlich: „Die Schmerzgrenze wird »aus Sicht des Gehirns« keineswegs nur dann überschritten, wenn Menschen physischer, also körperlicher Schmerz zugefügt wird. Die Schmerzzentren des Gehirns reagieren auch dann, wenn Menschen sozial ausgegrenzt oder gedemütigt werden.“ (S. 58+59) und
„Die Beobachtung, dass soziale Zurückweisung, Ausgrenzung und Verachtung »aus Sicht des Gehirns« wie körperlicher Schmerz wahrgenommen werden, bedeutet einen Durchbruch im Verständnis der menschlichen Aggression. Mit einem Male wird verständlich, warum nicht nur körperlicher Schmerz, sondern auch Ausgrenzung und soziale Demütigungen potente Reize darstellen, die den neurobiologischen Aggressionsapparat aktivieren und Gewalt hervorrufen können.“ (S. 59)
Erfolgreich kommunizierte Aggression ist konstruktiv, so Bauer. Sprich die Menschen, die Verachtung und Ausgrenzung erfahren, müssen dies ausdrücken können und bestenfalls auch eine konstruktive Reaktion bekommen. Aggression, die ihre kommunikative Funktion verloren hat, ist destruktiv. Wichtig fand ich dabei die folgende beiläufige Information im Buch: „Hemmungen und andere Schwierigkeiten, legitime Aggression zu kommunizieren, entstehen vor allem dann, wenn in den Jahren der Kindheit keine sicheren Bindungen zu Bezugspersonen vorhanden waren oder wenn Gewalt erlebt wurde.“ (S. 64) Bauer geht an dieser Stelle, wie auch an anderen Stellen des Buches (siehe unten) immer mal wieder auf die Kindheit ein. Trotzdem hat das Buch die Tendenz, eher soziale Ausgrenzung anzukreiden. Der Autor schreibt: „Armut bedeutet – vor allem für diejenigen, die ihr nicht durch eigenes Verschulden ausgeliefert sind – nicht nur existenzielle Not, sondern ist vor allem eine Ausgrenzungserfahrung. Aus diesem Grunde ist sie auch ein besonders ergiebiger Nährboden der Gewalt.“ (S. 66) und „Gerechtigkeit ist für eine Gesellschaft die beste Gewaltprävention. (…) Zu den wichtigsten Reizen für Gewalt und kriegerische Auseinandersetzungen auf der internationalen Bühne zählen Armut und der Kampf um knappe Ressourcen.“ (S. 198+199)
Die zentrale These von Bauer ist, dass sich die aus erlittenen Demütigungen und Ausgrenzung erzeugte Aggression oftmals nicht direkt verbal ausdrückt, sondern sich in ein inneres „Aggressionsgedächtnis“ verschiebt (S. 76-79). Gewalt richtet sich dann nicht direkt an die Personen oder Institutionen, die ausgegrenzt haben, sondern an unbeteiligte Dritte. Bauer will so auch brutalste Angriffe und auch Amokläufe erklären. Bzgl. dieses Phänomens geht er auch auf Kindheitserfahrungen ein. „Wer aufgrund früherer, meist in den Kinderjahren erlittener Verletzungen keine tiefe Verbundenheit mit anderen Menschen fühlen kann, hat als Erwachsener bei schwierigen Alltagssituationen schneller als andere das Gefühl, abgelehnt oder verachtet zu werden. Er (oder sie) wird häufiger als andere Menschen eine »gefühlte Zurückweisung« erleben. Entsprechend schneller ist bei solchen Personen die Schmerzgrenze erreicht, und entsprechend steigt das Risiko einer aggressiven Reaktion.“ (S. 70) und „Vernachlässigte oder an Gewalterfahrungen gewöhnte Kinder erleben die Welt als einen gefährlichen Ort. Sie interpretieren, wie Studien zeigen, ihre Umwelt – insbesondere die ihnen begegnenden Menschen - auch dann eher als feindselig, wenn tatsächlich keine Gefahr zu erwarten wäre. Da aggressive Erfahrungen im Gehirn ein Wahrnehmungsschema hinterlassen, gehen von Gewalt betroffene Kinder davon aus, dass auch ihnen unbekannte Menschen feindselige Absichten haben. Die Folge ist eine eingeengte, veränderte Wahrnehmung der Welt.„ (S 83) und „Kinder und Jugendliche, die keine erzieherische Zuwendung erhalten, die vernachlässigt oder mit Gewalt traumatisiert wurden, bleiben hinter dem Entwicklungszeitplan ihres Gehirns in gefährlicher Weise zurück und entwickeln bleibende Hirnreifungsstörungen, die vor allem den Präfrontalen Cortex betreffen und derart schwerwiegend sein können, dass auch spätere Therapien oder andere Korrekturversuche nicht mehr greifen.“ (S. 109)
Der Autor sieht deutlich, wie wichtig Geborgenheit, Anerkennung und Liebe für Kinder ist. Wo diese fehlt, bleiben quasi gespeicherte Aggressionen zurück , die sich zeitlich verschoben destruktiv ausdrücken können. Trotz dieser seiner Erkenntnis nimmt diese gewichtige Grundlage nicht wirklich viel Raum in seinem Buch ein, was verwundert. Armut und soziale Ausgrenzung stehen im Vordergrund. Diesem Themengebiet hat er sogar gleich ein ganzes Kapitel gewidmet: „4. Armut, Ungleichheit und Gewalt“ (S.113-124).
Der Autor geht z.B. auf die Korrelation zwischen Armut bzw. großen Einkommensunterschieden innerhalb von Gesellschaften und Mord-/Todschlagraten ein, um seine These von der Schmerzgrenze zu untermauern. (S. 114-116) Kolumbien belegt einen Spitzenrang, was Mordraten angeht. Die Erniedrigung durch Armut würde das Aggressionspotential steigern, da die psychische Schmerzgrenze überschritten würde. Bauer fragt sich nicht, wie denn eigentlich die dominante Kindererziehungspraxis in Kolumbien aussieht. Der Bericht „Familiäre Gewalt und Kindesmissbrauch in Kolumbien“ (Karnofsky 2005) zeigt auf, dass die Ursachen der Gewalt in den gewaltvollen Kindheiten vor Ort liegen. Ich würde dabei sogar noch weitergehen und die Fragen stellen:
- In wie weit bewirkt eine weite Verbreitung von (schwerer) Gewalt gegen Kinder innerhalb einer Gesellschaft wie Kolumbien, dass sich diese Gesellschaft auch sozial, politisch und ökonomisch nicht wirklich weiterentwickelt und zurück bleibt?
- In wie weit bedingen die gewaltvollen Kindheiten in Kolumbien, dass entsprechend geprägte Menschen, die an Macht kommen, diese nutzen, um andere zu unterdrücken und auszugrenzen und gleichzeitig die Unterdrückten, die einst als Kind gequälten, sich weitgehend in die Opferrolle einfügen, weil sie noch nie anderes erlebt haben?
Aktuell hat auch die weltweit bisher größte Studie (UNICEF 2014) zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder festgehalten, dass in Entwicklungsregionen wie Afrika oder im Nahen Osten das weltweit verglichen höchste Ausmaß von elterlicher Gewalt, dabei auch besonders schwere Formen, gefunden wird. Die Republik Jemen – beispielsweise - ist eines der ärmsten Länder der Welt und das ärmste Land im Nahen Osten. Laut vorgenannter Studie ist es weltweit auf dem ersten Platz bzgl. elterlicher Gewalt gegen Kinder: Innerhalb von 4 Wochen erleben die dortigen Kinder zwischen 2 und 14 Jahren körperliche und/oder psychische Gewalt zu 95 %, nur körperliche Gewalt zu 86 % , besonders schwere körperliche Gewalt zu ca. 43 % und nur psychische Gewalt zu 92 %. (UNICEF 2014, S. 97 + 199) Solche und ähnliche Daten aus älteren Studien, die Bauer hätte verwenden können, fehlen in dem Buch „Schmerzgrenze“.
In seinen Schlussfolgerungen schreibt der Joachim Bauer noch einen wichtigen Satz: „Viele Familien sind, ohne sich dessen bewusst zu sein und ohne dies zu wollen, Brutstätten für eine spätere Gewaltbereitschaft der in ihnen lebenden Kinder. Kinder, die keine zuverlässigen Bindungen zu ihren Bezugspersonen haben, um die sich kaum jemand kümmert und für die niemand Zeit hat, leben im Zustand der Ausgrenzung.“ (S. 194) Trotz dieser Erkenntnis widmet der Autor kein eigenes Kapitel der Kindheit.
Eine enorm wichtige Frage hat sich Joachim Bauer nicht gestellt: Wie gehen Menschen, die als Kind Geborgenheit und Liebe durch mindestens eine elterliche Bezugsperson erlebt haben und bestenfalls keine elterliche Gewalt erlebt haben, später mit erlebter sozialer Ausgrenzung um? Wird die Schmerzgrenze dieser Menschen auch soweit gereizt werden können, dass sie darauf mit Gewalt, Folter, Vergewaltigungen, Krieg und Terror reagieren?
Ich glaube, dass Menschen, die als Kind Geborgenheit und Liebe erfahren haben, nicht gewalttätig auf spätere Konflikte und Ausgrenzungen reagieren werden. Wenn ich damit Recht habe, dann ist Armut und soziale Ausgrenzung nicht der zentrale Punkt, wenn es um die Ursachen von Gewalt geht. Ich glaube allerdings auch, dass Menschen, die als Kind Gewalt, Demütigungen und Missbrauch erlebt haben, wenn sie in ihrem späteren Leben erneute Demütigungen und soziale Ausgrenzungen erleben, ganz besonders reizbar sind und mit enormer Wut und Hass auf diese Dinge reagieren, die sie ja auch schon früh als Kinder erlebten. Sie erleben dann quasi einen Trigger. Kleinste Verletzungen im Alltag können dann zum Auslöser für brutalste Gewalt und Angriffe oder auch eigene Selbstverletzungen werden. Etwas ähnlich hat Bauer es vielleicht auch gesehen. Schade nur, dass er nicht mit aller Deutlichkeit den Ausgangspunkt destruktive Kindheit benannt hat. Entsprechend wurde sein Buch dann auch besprochen. In zwei Beispielen befassen sich die Autoren nicht (Lange, Michael 18.04.2011) oder so gut wie nicht (Lenzen, Manuela 13.04.2011) mit der Kindheit, sondern greifen rein Bauers Konzept von der überschrittenen Schmerzgrenze auf Grund sozialer Ausgrenzungen auf.
Schließlich bleibt mir noch anzumerken, dass Gewalt und Terror in der Geschichte oftmals von Menschen ausging, die alles andere als unterprivilegiert, ausgegrenzt oder arm waren. Der Terrorchef Osama Bin Laden stammte aus einer wohlhabenden saudischen Unternehmerfamilie. Diktatoren im Nahen Osten verfügen oft über ein Milliardenvermögen. Präsidentenfamilie Bush aus den USA war reich, ebenso wie all die kriegerischen Könige und Kaiser in der Geschichte die Reichsten der Reichen, die Mächtigsten der Mächtigen waren. Das Konzept „Schmerzgrenze überschritten auf Grund soziale Ausgrenzung“ greift zu kurz, wenn es um die ursächliche Erklärung von Gewalt geht.
Trotzdem halte ich das Buch für lesenswert und gedanklich anregend. Es stützt zudem in manchen Punkten psychohistorische Annahmen. Letztlich sind es doch insbesondere Kinder, denen es fast unmöglich ist, ihren Schmerz über erlittene elterliche Gewalt und Demütigungen auszudrücken, weil sie existenziell von ihren Eltern abhängig sind. Und das hat Folgen, auch politisch. Joachim Bauer hat den Zusammenhang von destruktiven Kindheitserlebnissen und Gewaltverhalten wissenschaftlich gut belegt, aber, das bleibt meine Grundkritik, nicht angemessen gewichtet.
Literaturangaben:
Karnofsky, Eva (2005): Familiäre Gewalt und Kindesmissbrauch in Kolumbien. In: Brennpunkt Lateinamerika 4, Hamburg. S. 34-44
Lenzen, Manuela 13.04.2011: Diesseits der Schmerzgrenze. Faz.net
Lange, Michael 18.04.2011: Angst macht böse, Deutschlandradio Kultur.
UNICEF - United Nations Children’s Fund (2014): Hidden in Plain Sight: A statistical analysis of violence against children. New York. .
Donnerstag, 18. Februar 2016
Wandel der Kindererziehung: Das selbstständige Kind
Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat kürzlich ein interessantes Papier veröffentlicht:
Henry-Huthmacher, Christine & Hoffmann, Elisabeth (Hrsg.) (2016). Das selbstständige Kind. Das Kinderbild in Erziehung und Bildung. Sankt Augustin/Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.
Die aussagekräftige Inhaltsangabe übernehme ich hier:
„Das Bild vom Kind und die Kindererziehung wurden über Jahrhunderte angepasst an gesellschaftliche Entwicklungen: Das Leitbild des angepassten und braven Kindes ist heute aus der Mode gekommen. Die heutige partnerschaftliche Erziehung berücksichtigt die Interessen und Bedürfnisse des Kindes. Das aktuelle Kinderbild spiegelt sich nicht nur in der Kindererziehung und im Wandel der Kindheit wider. Die Publikation spannt den Bogen über die Bildungspläne in den Kitas, die unterschiedlichen Ausprägungen in den unterschiedlichen Kulturen und Schichten bis hin zum Kindeswohl und den Medien.“
Hierbei muss ich gleich anmerken, dass ich den ersten Satz so nicht stehen lassen kann. Ich gehe eher davon aus, dass beides wirkt. Also zum Einen führen neue Anforderungen und Veränderungen von Gesellschaften sicherlich dazu, dass sich auch „Kindheit“ verändert. (Wenn man ein Negativbeispiel nimmt, passte z.B. der NS-Staat die Erziehung der Kinder seinen Bedürfnissen an.)
Was der o.g. Satz außen vor lässt ist, dass sich positiv entwickelnde Kindererziehungspraktiken ihrerseits die Gesellschaft verändern (dies ist eine zentrale These der Psychohistorie) und diese veränderte Gesellschaft wiederum rück auf „Kindheit“ wirkt.
Das o.g. Papier ist übersichtlich und verständlich geschrieben. Die Beiträge durchzieht die Grundbeobachtung, dass Kindheit seit Ende der 1960er Jahre stark im Wandel ist und Kinder heute in Deutschland so sicher und „kindgerecht“ aufwachsen, wie noch nie zuvor. Christine Henry-Huthmacher schreibt beispielsweise am Ende ihres Beitrages „Das selbstständige Kind – zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ auf Seite 6: „Kindern geht es heute so gut wie kaum zuvor. Noch nie wachsen Kinder und Jugendliche so sicher umsorgt, gesund, zufrieden, gebildet und wohlhabend auf wie heute.“ Jürgen Oelkers schreibt an einer Stelle in seinem Beitrag „Das öffentliche Kinderbild in modernen Medien“: „Die Stellung der Kinder in der Gesellschaft hat sich grundlegend geändert, Kinder erleben keinen militärischen Drill mehr, die Kinderarbeit ist abgeschafft worden, der typische Schulmeister ist verschwunden und die Lehrerinnen haben die Schulen erobert. Bildquellen können das gut illustrieren, der Abstand zur Vergangenheit wächst mit jeder neuen Kindergeneration und einen Weg zurück gibt es nicht, auch wenn die „gute, alte Zeit” der Erziehung noch so sehr beschworen wird.“ (Oelkers 2016, S. 19)
Das gehorsame Kind, das sich in ein hierarchisches (Familien-)System einfügen muss und notfalls durch Strafen dazu gezwungen wird, ist nicht mehr Leitbild der Gesellschaft (dies trifft vor allem auf die Mittelschicht zu). In Teilen der unteren sozialen Schichten, wie auch in Teilen von Migrantenfamilien herrscht allerdings immer noch ein anderes Bild von Kindheit.
In dem Band hat Heidi Keller unter dem Titel „Multikulturelle Kinderbilder in Deutschland“ auf diese Gegensätzlichkeit hingewiesen. Bzgl. Teilen von Migrantenfamilien schreibt sie:
„Familie wird hier definiert durch ein hierarchisches System von Rollen und Verpflichtungen, das die Beziehungen festlegt. Beziehungen sind verpflichtend, verbindlich und lebenslang. Entsprechend ist das Bild vom Kind das eines Lehrlings, der schnell lernen muss, seinen Platz in dem hierarchischen Sozialsystem einzunehmen und seinen Beitrag zu leisten. (…) Hierarchische Verbundenheit erfordert Anpassung mit Gehorsam und Respekt. Damit wird Bescheidenheit als soziale Haltung erforderlich. Einfügen und nicht Auffallen sind das Leitprinzip, das emotionale Zurückhaltung und Neutralität impliziert und die Gesprächsbeiträge von Kindern an Unterhaltungen auf ein Minimum, meist als Bestätigung dessen, was Ältere sagen, reduziert. Dabei wird viel non verbale, scheinbar bei-läufige Regulation ausgeübt.“ (Keller 2016, S. 16)
Demgegenüber stehen Kinderbilder der deutschen Mittelschicht, die unter dem Oberbegriff Psychologische Autonomie auf folgenden drei Säulen stünden: Individualität, Selbstbestimmung und Selbstreflexion. (Keller 2016, S. 15) Das Konzept von psychologischer Autonomie würde auch pädagogische Institutionen bestimmen, was wiederum zu Konflikten mit Migrantenfamilien führen würde. Teile der Migrantenfamilien „befürchten schädliche Einflüsse auf Entwicklung und Wohlbefinden ihrer Kinder. Entsprechend nehmen sie die Möglichkeiten der Tagesbetreuung und die damit verbundenen Angebote wie das Erlernen der deutschen Sprache nicht in dem Umfang in Anspruch, wie das gesellschaftlich erwünscht und erforderlich wäre, um allen Kindern die gleichen Bildungschancen zu ermöglichen. Umgekehrt wird das kulturelle Modell der hierarchischen Relationalität aus der Perspektive der psychologischen Autonomie häufig als rückständig und defizitär bewertet, was Erziehungspartnerschaften zwischen Familie und Institution zusätzlich belastet.“ (Keller 2016, S. 17)
Und sie fügt weiter an: „Wichtig für multikulturelle Gesellschaften ist es, unterschiedliche Bilder vom Kind als gleichberechtigt und gleichwertig zu betrachten. Jedes Modell hat Vorzüge und Nachteile, der Vergleich der Vorzüge des einen Modells mit den Nachteilen des anderen Modells ist jedoch keine seriöse Option. Um Kindern faire Chancen in der Gesellschaft zu ermöglichen, muss es möglich sein, unterschiedliche Bilder vom Kind in einer Institution zu leben.“ (ebd.)
Ich glaube, dass die Autorin hier ein Kernproblem beschrieben hat, das uns – gerade auf Grund des Zustroms hundertausender Flüchtlinge – in den nächsten Jahrzehnten stark beschäftigen wird. Ich sehe es nicht so wertneutral wie die Autorin. Ich glaube, dass die Zukunft der Menschheit nur durch ein modernes Familienleben, wie auch besonderer Fürsorge gegenüber Kindern (was natürlich auch Gewaltfreiheit beinhaltet) gesichert werden kann. Hierarchische Familiensysteme, die den Gehorsm von Kindern voraussetzen und auch erzwingen müssen langfristig abgeschafft werden. Das moderne Familiensystem hat nebenbei den Effekt, dass die Anzahl der Kinder begrenzt werden, weil der Aufwand der psychologischen Autonomie einfach so groß ist, dass mehrere Kinder gar nicht machbar wären. Weniger Kinder würden unserem Planeten gut tun, denn eine weitere Bevölkerungsexplosion ist langfristig nicht verkraftbar.
Um auf den vorgenannten zitierten Teil zurückzukommen: Langfristig muss das Ziel sein, dass Migranten in Deutschland ihre Erziehungsstile anpassen, natürlich mit Unterstützung wie auch mit Druck. (siehe zu dem Thema auch meinen Beitrag "Islamistischer Terror und Gewalt. Die notwendige Modernisierung der muslimischen Familie") Es ist unrealistisch zu glauben, Institutionen wie Kita und Schule könnten sich hierzulande so flexibel anpassen, dass Kinder, die zu Hause auf Gehorsam getrimmt werden, sich in ihnen gut und konfliktfrei zurechtfinden. Ebenso strukturiert sich der Arbeitsmarkt in Deutschland derartig um, dass freies und flexibles Denken immer wichtiger wird. Hierarchische Systeme sind langfristig auch in der Berufswelt "out". Nun, das Ganze ist sicher noch mal ein Thema für sich.
Der o.g. Band unterstreicht den massiven Wandel der Kindererziehung in Deutschland. Deswegen finde ich ihn auch besonders wertvoll. Dieser Wandel wird nicht ohne Folgen bleiben, ebenfalls wird auch nicht ohne Folgen bleiben, dass veraltete Erziehungsmethoden und entsprechende Persönlichkeitstypen immer mehr unter Druck geraten. Die Zukunft bleibt spannend.
- siehe ergänzend auch zum Thema bahnbrechende Abnahme von körperlicher Elterngewalt gegen Kinder in Deutschland: "Gewalt gegen Kinder in Deutschland in Zahlen. 1910 bis heute"
Henry-Huthmacher, Christine & Hoffmann, Elisabeth (Hrsg.) (2016). Das selbstständige Kind. Das Kinderbild in Erziehung und Bildung. Sankt Augustin/Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.
Die aussagekräftige Inhaltsangabe übernehme ich hier:
„Das Bild vom Kind und die Kindererziehung wurden über Jahrhunderte angepasst an gesellschaftliche Entwicklungen: Das Leitbild des angepassten und braven Kindes ist heute aus der Mode gekommen. Die heutige partnerschaftliche Erziehung berücksichtigt die Interessen und Bedürfnisse des Kindes. Das aktuelle Kinderbild spiegelt sich nicht nur in der Kindererziehung und im Wandel der Kindheit wider. Die Publikation spannt den Bogen über die Bildungspläne in den Kitas, die unterschiedlichen Ausprägungen in den unterschiedlichen Kulturen und Schichten bis hin zum Kindeswohl und den Medien.“
Hierbei muss ich gleich anmerken, dass ich den ersten Satz so nicht stehen lassen kann. Ich gehe eher davon aus, dass beides wirkt. Also zum Einen führen neue Anforderungen und Veränderungen von Gesellschaften sicherlich dazu, dass sich auch „Kindheit“ verändert. (Wenn man ein Negativbeispiel nimmt, passte z.B. der NS-Staat die Erziehung der Kinder seinen Bedürfnissen an.)
Was der o.g. Satz außen vor lässt ist, dass sich positiv entwickelnde Kindererziehungspraktiken ihrerseits die Gesellschaft verändern (dies ist eine zentrale These der Psychohistorie) und diese veränderte Gesellschaft wiederum rück auf „Kindheit“ wirkt.
Das o.g. Papier ist übersichtlich und verständlich geschrieben. Die Beiträge durchzieht die Grundbeobachtung, dass Kindheit seit Ende der 1960er Jahre stark im Wandel ist und Kinder heute in Deutschland so sicher und „kindgerecht“ aufwachsen, wie noch nie zuvor. Christine Henry-Huthmacher schreibt beispielsweise am Ende ihres Beitrages „Das selbstständige Kind – zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ auf Seite 6: „Kindern geht es heute so gut wie kaum zuvor. Noch nie wachsen Kinder und Jugendliche so sicher umsorgt, gesund, zufrieden, gebildet und wohlhabend auf wie heute.“ Jürgen Oelkers schreibt an einer Stelle in seinem Beitrag „Das öffentliche Kinderbild in modernen Medien“: „Die Stellung der Kinder in der Gesellschaft hat sich grundlegend geändert, Kinder erleben keinen militärischen Drill mehr, die Kinderarbeit ist abgeschafft worden, der typische Schulmeister ist verschwunden und die Lehrerinnen haben die Schulen erobert. Bildquellen können das gut illustrieren, der Abstand zur Vergangenheit wächst mit jeder neuen Kindergeneration und einen Weg zurück gibt es nicht, auch wenn die „gute, alte Zeit” der Erziehung noch so sehr beschworen wird.“ (Oelkers 2016, S. 19)
Das gehorsame Kind, das sich in ein hierarchisches (Familien-)System einfügen muss und notfalls durch Strafen dazu gezwungen wird, ist nicht mehr Leitbild der Gesellschaft (dies trifft vor allem auf die Mittelschicht zu). In Teilen der unteren sozialen Schichten, wie auch in Teilen von Migrantenfamilien herrscht allerdings immer noch ein anderes Bild von Kindheit.
In dem Band hat Heidi Keller unter dem Titel „Multikulturelle Kinderbilder in Deutschland“ auf diese Gegensätzlichkeit hingewiesen. Bzgl. Teilen von Migrantenfamilien schreibt sie:
„Familie wird hier definiert durch ein hierarchisches System von Rollen und Verpflichtungen, das die Beziehungen festlegt. Beziehungen sind verpflichtend, verbindlich und lebenslang. Entsprechend ist das Bild vom Kind das eines Lehrlings, der schnell lernen muss, seinen Platz in dem hierarchischen Sozialsystem einzunehmen und seinen Beitrag zu leisten. (…) Hierarchische Verbundenheit erfordert Anpassung mit Gehorsam und Respekt. Damit wird Bescheidenheit als soziale Haltung erforderlich. Einfügen und nicht Auffallen sind das Leitprinzip, das emotionale Zurückhaltung und Neutralität impliziert und die Gesprächsbeiträge von Kindern an Unterhaltungen auf ein Minimum, meist als Bestätigung dessen, was Ältere sagen, reduziert. Dabei wird viel non verbale, scheinbar bei-läufige Regulation ausgeübt.“ (Keller 2016, S. 16)
Demgegenüber stehen Kinderbilder der deutschen Mittelschicht, die unter dem Oberbegriff Psychologische Autonomie auf folgenden drei Säulen stünden: Individualität, Selbstbestimmung und Selbstreflexion. (Keller 2016, S. 15) Das Konzept von psychologischer Autonomie würde auch pädagogische Institutionen bestimmen, was wiederum zu Konflikten mit Migrantenfamilien führen würde. Teile der Migrantenfamilien „befürchten schädliche Einflüsse auf Entwicklung und Wohlbefinden ihrer Kinder. Entsprechend nehmen sie die Möglichkeiten der Tagesbetreuung und die damit verbundenen Angebote wie das Erlernen der deutschen Sprache nicht in dem Umfang in Anspruch, wie das gesellschaftlich erwünscht und erforderlich wäre, um allen Kindern die gleichen Bildungschancen zu ermöglichen. Umgekehrt wird das kulturelle Modell der hierarchischen Relationalität aus der Perspektive der psychologischen Autonomie häufig als rückständig und defizitär bewertet, was Erziehungspartnerschaften zwischen Familie und Institution zusätzlich belastet.“ (Keller 2016, S. 17)
Und sie fügt weiter an: „Wichtig für multikulturelle Gesellschaften ist es, unterschiedliche Bilder vom Kind als gleichberechtigt und gleichwertig zu betrachten. Jedes Modell hat Vorzüge und Nachteile, der Vergleich der Vorzüge des einen Modells mit den Nachteilen des anderen Modells ist jedoch keine seriöse Option. Um Kindern faire Chancen in der Gesellschaft zu ermöglichen, muss es möglich sein, unterschiedliche Bilder vom Kind in einer Institution zu leben.“ (ebd.)
Ich glaube, dass die Autorin hier ein Kernproblem beschrieben hat, das uns – gerade auf Grund des Zustroms hundertausender Flüchtlinge – in den nächsten Jahrzehnten stark beschäftigen wird. Ich sehe es nicht so wertneutral wie die Autorin. Ich glaube, dass die Zukunft der Menschheit nur durch ein modernes Familienleben, wie auch besonderer Fürsorge gegenüber Kindern (was natürlich auch Gewaltfreiheit beinhaltet) gesichert werden kann. Hierarchische Familiensysteme, die den Gehorsm von Kindern voraussetzen und auch erzwingen müssen langfristig abgeschafft werden. Das moderne Familiensystem hat nebenbei den Effekt, dass die Anzahl der Kinder begrenzt werden, weil der Aufwand der psychologischen Autonomie einfach so groß ist, dass mehrere Kinder gar nicht machbar wären. Weniger Kinder würden unserem Planeten gut tun, denn eine weitere Bevölkerungsexplosion ist langfristig nicht verkraftbar.
Um auf den vorgenannten zitierten Teil zurückzukommen: Langfristig muss das Ziel sein, dass Migranten in Deutschland ihre Erziehungsstile anpassen, natürlich mit Unterstützung wie auch mit Druck. (siehe zu dem Thema auch meinen Beitrag "Islamistischer Terror und Gewalt. Die notwendige Modernisierung der muslimischen Familie") Es ist unrealistisch zu glauben, Institutionen wie Kita und Schule könnten sich hierzulande so flexibel anpassen, dass Kinder, die zu Hause auf Gehorsam getrimmt werden, sich in ihnen gut und konfliktfrei zurechtfinden. Ebenso strukturiert sich der Arbeitsmarkt in Deutschland derartig um, dass freies und flexibles Denken immer wichtiger wird. Hierarchische Systeme sind langfristig auch in der Berufswelt "out". Nun, das Ganze ist sicher noch mal ein Thema für sich.
Der o.g. Band unterstreicht den massiven Wandel der Kindererziehung in Deutschland. Deswegen finde ich ihn auch besonders wertvoll. Dieser Wandel wird nicht ohne Folgen bleiben, ebenfalls wird auch nicht ohne Folgen bleiben, dass veraltete Erziehungsmethoden und entsprechende Persönlichkeitstypen immer mehr unter Druck geraten. Die Zukunft bleibt spannend.
- siehe ergänzend auch zum Thema bahnbrechende Abnahme von körperlicher Elterngewalt gegen Kinder in Deutschland: "Gewalt gegen Kinder in Deutschland in Zahlen. 1910 bis heute"
Freitag, 12. Februar 2016
Krieg als ein selbstmörderischer Akt
Ich habe in diesem Blog ansatzweise schon hier und da über die selbstzerstörrerische Seite von Kriegen geschrieben, aber diesem Thema bisher noch keinen eigenen Beitrag gewidmet. Das möchte ich hiermit ändern.
Für viele junge kurdische Kämpferinnen sei Arin Mirkan ein Vorbild, sagt Sprecher Ashwin Ramander in der erschütternden ARD-Dokumention „Im Nebel des Krieges“ vom 01.02.2016.
(Die junge Frau und Mutter von zwei Kindern hatte sich 2014 in die Luft gesprengt und mehrere IS-Kämpfer mit in den Tod gerissen. Siehe z.B. einen Bericht von SPIEGEL Online)
Eine junge Kämpferin sagt in der Doku ab ca. Minute 41:30: „Arin Mirkan ist eine Heldin. Auch ich bin bereit mein Leben für unser Land zu opfern. Wir warten alle darauf. Wir haben keine Angst.“. (Hinweis: Hervorhebung durch mich) Und der Sprecher fügt an:„Den Wunsch zu sterben, für die Heimat, für die Freiheit, wie oft habe ich ihn schon auf dieser Reise gehört.“
Der Kriegsreporter Ashwin Raman hat im Sommer 2015 verschiedene Fronten im Nahen Osten aufgesucht und blickt mit diesem Satz zurück auf ein Kapitel des Krieges, das in der Forschung – außerhalb der Psychohistorie – weitgehend ausgeblendet wird: Den selbstzerstörerischen Aspekt oder geradezu die Suizidalität des Krieges.
Kaum ein Forschender fragt sich, ob nicht die furchtbaren Folgen des Krieges die eigentlichen Ziele sind. Man geht davon aus, es gehe vor allem um Gewinn, um einen Sieg, um ein Sich-Durchsetzen, um rationale Entscheidungen.
Ergänzend möchte ich erneut auf einen Artikel in der ZEIT hinweisen. (03.12.2015, „Aus Sicht der Täter“ 03.12.2015). Zwei ehemalige IS-Kämpfer kamen in dem Artikel direkt zu Wort. Einer sagte wörtlich: „Der IS ist ein gottloser Geheimdienststaat unter dem Deckmantel der Religion. Die Ideologen haben uns unseren Krieg gestohlen. Sie sind radikal. Sie kommen, um zu sterben. Sie wollen nicht siegen, sie wollen zu Gott.“ Forschende sollten genau solchen und ähnlichen Aussagen einmal systematisch nachgehen.
Eine der für mich eindrucksvollsten Thesen von Lloyd deMause ist genau die, das Kriege eine Art Opferritual oder ein Akt von Selbstmord darstellen (neben den mörderischen Aspekten, die natürlich auch gelten.). DeMause hat in einem Kurzbeitrag auf youtube die Dinge auf den Punkt gebracht. Der Beitrag steht seit Ende 2007 online und ist bisher gerade einmal 6.350 mal angeklickt worden. Dabei ist sein Inhalt brisant. Er nennt das Beispiel Hitler-Deutschland. Glaubt ernsthaft jemand, Hitler habe den größten und mächtigsten Länder der Welt den Krieg erklärt, um etwas zu bekommen?, fragt deMause. Seine Antwort: Nein, er war suizidal, ebenfalls war Deutschland zu der Zeit suizidal.
Das Offensichtliche scheint hier die Antwort zu sein. Das kleine Deutschland hätte niemals die Welt beherrschen können. Ebenfalls wird der IS in absehbarer Zeit in sich zusammenfallen. Übrig bleibt Leid und Zerstörung, die eigentlichen Ziele von Kriegen.
Für viele junge kurdische Kämpferinnen sei Arin Mirkan ein Vorbild, sagt Sprecher Ashwin Ramander in der erschütternden ARD-Dokumention „Im Nebel des Krieges“ vom 01.02.2016.
(Die junge Frau und Mutter von zwei Kindern hatte sich 2014 in die Luft gesprengt und mehrere IS-Kämpfer mit in den Tod gerissen. Siehe z.B. einen Bericht von SPIEGEL Online)
Eine junge Kämpferin sagt in der Doku ab ca. Minute 41:30: „Arin Mirkan ist eine Heldin. Auch ich bin bereit mein Leben für unser Land zu opfern. Wir warten alle darauf. Wir haben keine Angst.“. (Hinweis: Hervorhebung durch mich) Und der Sprecher fügt an:„Den Wunsch zu sterben, für die Heimat, für die Freiheit, wie oft habe ich ihn schon auf dieser Reise gehört.“
Der Kriegsreporter Ashwin Raman hat im Sommer 2015 verschiedene Fronten im Nahen Osten aufgesucht und blickt mit diesem Satz zurück auf ein Kapitel des Krieges, das in der Forschung – außerhalb der Psychohistorie – weitgehend ausgeblendet wird: Den selbstzerstörerischen Aspekt oder geradezu die Suizidalität des Krieges.
Kaum ein Forschender fragt sich, ob nicht die furchtbaren Folgen des Krieges die eigentlichen Ziele sind. Man geht davon aus, es gehe vor allem um Gewinn, um einen Sieg, um ein Sich-Durchsetzen, um rationale Entscheidungen.
Ergänzend möchte ich erneut auf einen Artikel in der ZEIT hinweisen. (03.12.2015, „Aus Sicht der Täter“ 03.12.2015). Zwei ehemalige IS-Kämpfer kamen in dem Artikel direkt zu Wort. Einer sagte wörtlich: „Der IS ist ein gottloser Geheimdienststaat unter dem Deckmantel der Religion. Die Ideologen haben uns unseren Krieg gestohlen. Sie sind radikal. Sie kommen, um zu sterben. Sie wollen nicht siegen, sie wollen zu Gott.“ Forschende sollten genau solchen und ähnlichen Aussagen einmal systematisch nachgehen.
Eine der für mich eindrucksvollsten Thesen von Lloyd deMause ist genau die, das Kriege eine Art Opferritual oder ein Akt von Selbstmord darstellen (neben den mörderischen Aspekten, die natürlich auch gelten.). DeMause hat in einem Kurzbeitrag auf youtube die Dinge auf den Punkt gebracht. Der Beitrag steht seit Ende 2007 online und ist bisher gerade einmal 6.350 mal angeklickt worden. Dabei ist sein Inhalt brisant. Er nennt das Beispiel Hitler-Deutschland. Glaubt ernsthaft jemand, Hitler habe den größten und mächtigsten Länder der Welt den Krieg erklärt, um etwas zu bekommen?, fragt deMause. Seine Antwort: Nein, er war suizidal, ebenfalls war Deutschland zu der Zeit suizidal.
Das Offensichtliche scheint hier die Antwort zu sein. Das kleine Deutschland hätte niemals die Welt beherrschen können. Ebenfalls wird der IS in absehbarer Zeit in sich zusammenfallen. Übrig bleibt Leid und Zerstörung, die eigentlichen Ziele von Kriegen.
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