Sonntag, 29. Januar 2023

Das Schwarze da unten (von Jens Söring)

Jens Söring hat mir einen weiteren Text aus seinem früheren Blog geschickt, in dem es vertiefend um das Verstecken, Verdrängen und Vergessen von Kindheitstraumata von Inhaftierten geht. Der Text ergänzt sehr gut seinen Beitrag "Das Geheimnis, das niemand wissen will"! 

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Das Schwarze da unten (von Jens Söring)

Ein Mitglied meines Freundeskreises hat mich gebeten, einen Blogeintrag über die verschiedenen „Typen“ von Gefangenen zu schreiben. Ein mir persönlich nicht bekannter Leser meines Blogeintrags über meinen Freund Lumpen schrieb einen Kommentar, dass ich Lumpen zu menschlich darstelle und mich nicht ausreichend mit den Opfern befasse. Eine Bekannte aus meiner Zeit an der University of Virginia vor sechsundzwanzig Jahren schrieb mir zum selben Blogeintrag, sie freue sich, dass ich nun einen Freund hätte, mit dem ich mich verstehen könnte, jetzt sei ich nicht mehr so einsam.

Ach, liebe Leute, manchmal macht Ihr es mir wirklich schwer. Sieben Bücher, rund fünfzig Artikel und 59 Blogeinträge habe ich mittlerweile veröffentlicht, aber wenn ich Kommentare wie die drei obigen lese, habe ich das Gefühl, dass Euch mein Leben und die Gefängniswelt immer noch vollkommen fremd sind. Vielleicht bin ich einfach nur ein schlechter Schriftsteller.

Möglicherweise ist das Problem auch, dass ich zurzeit die Einsamkeit meines Lebens besonders schmerzhaft spüre. Ende Juli wurde meine Entlassung auf Bewährung („parole“) abgelehnt und nur vier Tage, nachdem ich darüber informiert wurde, erhielt ich Besuch von drei Mitgliedern meines Freundeskreises aus Deutschland, siehe B55 -  Besuch bei Jens im Sommer 2011. Mir wurde also die Tür wieder einmal ins Gesicht geschlagen – und dann gleichzeitig vor Augen geführt, was ich nun nicht  bekommen werde.

Richtige menschliche Beziehungen nämlich. Mit Menschen, die ich umarmen kann, ohne dass dabei immer gleich der Komplex „Vergewaltigung in der Knastdusche“ mitschwingt. Mit Menschen, die nicht innerlich auf irgendeine Weise so vollkommen zerstört worden sind, dass sie mir letztlich ewig fremd bleiben müssen. 

Mit ... ach, in meinen Gedanken nenne ich alle meine Besucher aus der Außenwelt immer „drei-dimensionale Wesen“. Weil sie echt sind, während meine Mithäftlinge alle, ausnahmslos, irgendwie unecht sind, zwei-dimensional wie eine Zeichnung in einem Comic-Buch. Das Leben, die Welt, hat so unglaublich hart auf sie eingeprügelt, dass sie plattgeschlagen worden sind, flach wie ein Blatt Papier, zwei-dimensional eben. Ihnen fehlt etwas, diese dritte Dimension, die Menschen erst zu Menschen macht.

Was ist dieses gewisse Etwas, was meine Besucher aus der Außenwelt haben, aber meinen Mitgefangenen fehlt, und was deshalb mein Leben so entsetzlich einsam macht? Sie werden lachen: Es ist die Liebe. Oder, um es etwas genauer auszudrücken. Es ist das Vertrauen, welches ja die Voraussetzung zur Liebe ist. Der Mut, sich auf einen anderen Menschen einzulassen – also ihn oder sie zu umarmen.

Aus diesem Grund habe ich die Umarmung zu meiner Lebensphilosophie gemacht – denn ich kann und will umarmen. Sie können diese Lebensphilosophie schon in meinem ersten Buch finden, das ich 2001 schrieb, und Sie werden es in meinem achten Buch finden, welches ich im Frühling dieses Jahres schrieb und das im Frühling 2012 veröffentlicht wird.

Der Clou: Man muss den spezifischen Mut haben, ausgerechnet seine Feinde zu umarmen, und zwar die inneren Feinde wie die äußeren. Die eigenen Schwächen und Ängste muss man umarmen, und die schwierigen Menschen und gefährlichen Situation im täglichen Leben auch.

Das erfordert Courage und eben vor allem Vertrauen – in sich selbst, in den Feind, ins Leben, in die Welt. Man muss Hoffnung haben: den Glauben, dass das jeweilige Wagnis, sich zu öffnen, ein gutes Ende haben könnte.

Genau das haben meine Besucher aus der Außenwelt, und meine Mitgefangenen haben es nicht. Ohne den Mut und das Vertrauen, sich selbst gegenüber und mit anderen Menschen offen zu sein, kann man aber letztlich keine richtigen, menschlichen Beziehungen haben. Und deshalb bin ich so schrecklich einsam hier, als Drei-dimensionaler im Land der Zwei-dimensionalen.

Wieso sind meine Mithäftlinge zwei-dimensional? Den Grund nannte ich in meinem Blogeintrag B26 - Das Geheimnis, das niemand wissen will: Alle, aber wirklich alle Gefangenen sind als Kinder körperlich und/oder sexuell misshandelt worden. Nur eben ich nicht, was mich hier so fremd macht.

Natürlich hatte auch ich ein paar schwierige Phasen und Umstände in meiner Kindheit und Jugend, genau wie die Leser dieses Blogs und meine Besucher aus der Außenwelt auch. Der Unterschied ist jedoch, dass unsere Kindheitstraumata nicht so schrecklich waren, dass wir uns innerlich davor verbergen mussten. Unser Schmerz war nicht so entsetzlich, dass wir ihn in ein kleines seelisches Kästchen einschließen mussten, um uns davor zu schützen.

Zum Beispiel habe ich einen amerikanischen Freund und Besucher, dessen Eltern Schauspieler waren. Sie können sich vorstellen: Das war eine ziemlich neurotische, schwierige Familie. Aber dann ist er selber Schauspieler geworden, und zwar ohne selber ein großer Neurotiker zu werden, und nun verarbeitet er den ganzen seelischen Mist aus seiner Kindheit künstlerisch auf der Bühne. Genau dies meine ich, wenn ich sage, man muss die inneren Feinde, die eigenen Schwächen und Ängste, letztlich umarmen und lieben lernen.

Ich mache fast genau dasselbe schriftstellerisch, und zwar seit Jahrzehnten. Eine meiner Brieffreundinnen meint, es sei manchmal geradezu schockierend, wie ich mich entblöße, aber ich meine, das einzig Ungewöhnliche ist die Öffentlichkeit meiner Offenheit. Künstler teilen sich eben allen mit, doch jeder gesunde Mensch hat Bezugspersonen, denen er sich privat mitteilen kann.

Das ist einfach ein notwendiger Teil des Menschseins: Wir alle haben irgendeinen Freund, bei dem wir uns irgendwann ausgeweint haben, dass unsere Mamas uns nicht genug geliebt haben, unsere Papas immer so gemein zu uns waren, und wir zu Weihnachten auf unsere Geschwister neidisch wurden, weil sie schönere Geschenke bekamen. Und wir alle sind unseren Freunden solche Freunde gewesen, bei denen sie sich über den gleichen Kindheitsmist ausweinen konnten.

Der Unterschied zwischen uns und meinen Mitgefangenen ist, dass deren „Kindheitsmist“ so grausam und entsetzlich war, dass sie selber sich nicht daran heranwagen und ihn deshalb auch nicht anderen mitteilen können. An dem normalen zwischenmenschlichen Bejammern familiären Beziehungsproblemen können die Häftlinge also nicht teilnehmen. Sie sind sich selbst fremd, weil sie einen riesigen Teil der Vergangenheit vor sich selbst verstecken, und deshalb bleiben sie auch anderen fremd.

Nun bin ich ja, wie oben erwähnt, der große Umarmer: Ich habe keine Scheu und keine Angst, ich gehe auf alle zu und tue so, als ob wir Freunde sind. Und siehe da, innerhalb kürzester Zeit sind wir dann auch zumindest freundschaftlich miteinander. 
Das mache ich mit großem Erfolg nun seit einem Vierteljahrhundert mit allen: Massenmördern, Serienvergewaltigern, echten Terroristen, sadistischen Wächtern, eiskalten Gefängnisleitern, und zynischen Journalisten. Wer meinen neuesten Newsletter gelesen hat, der weiß, dass es mir am 1. September sogar gelang, zwei erfahrene Kriminalpolizisten a. D. innerhalb von neunzig Minuten auf meine Seite zu ziehen, einfach, indem ich vollkommen offen war. Das Umarmen – also die mutige, vertrauensvolle Bereitschaft, sich ehrlich und offen auf andere einzulassen – ist wirklich praktisch!

Ganz am Anfang meiner Gefängniskarriere Ende der achtziger Jahre, als ich in London, England, in Auslieferungshaft war, habe ich damit angefangen. Damals wurde ich in einem besonderen Abteil gehalten für Terroristen und „organisierte Kriminalität“, davon schrieb ich in B6 - Terrorismusprozess in Stuttgart-Stammheim. 
In meinem ersten Buch schrieb ich, wie ich mich meinen Mitgefangenen anbot als eine Art freundlicher (und etwas junger!) Beichtvater, dem sie ihre Sorgen mitteilen konnten. Es war das Einzige, was ich tun konnte, um ihnen zu helfen. Und für mich war es natürlich auch ganz interessant, denn meine damaligen Mithäftlinge waren so ungefähr die schwersten und gefährlichsten Jungs, die es gab.

Letztendlich ging es bei diesen Gesprächen aber fast immer um aktuelle Probleme und Sorgen. Zwar erzählte mir ein irischer Terrorist, mit dem ich gut befreundet war, ein bisschen von seiner Kindheit und den Problemen mit seinem Vater, aber er war die Ausnahme. Damals, vor fünfundzwanzig Jahren, fiel es mir gar nicht so sehr auf, dass meine Mitgefangenen kaum über ihre Herkunft und Erziehung sprachen. Heute meine ich, dass dies bezeichnend war, gewissermaßen symptomatisch. Diese Menschen konnten mir nicht von ihren Vergangenheiten erzählen, weil sie selbst keinen inneren Zugang dazu hatten.

Heutzutage bohre ich etwas nach und erfahre zumindest ein wenig mehr. Zum Beispiel erzählte mir ein Häftling in meinem jetzigen Abteil, dass seine Mutter starb, als er noch sehr klein war. Sein Vater war schwer alkoholkrank, oft gab es abends einfach nichts zu essen, dann lag er nachts im dunklen, kalten Schlafzimmer und weinte vor Hunger.

Jahrelang „erzogen“ ihn seine vier älteren Schwestern, die selber noch Kinder waren. Sie zogen ihrem Bruder die eigenen, zu klein gewordenen Kleider an und flochten ihm Rüschen  ins Haar, wie einer lebenden (weiblichen) Spielpuppe eben. Erst als er zehn oder elf war, kam eine Tante, die sich zumindest gelegentlich (wenn auch nicht regelmäßig) um die verwahrlosten und vernachlässigten Kinder kümmerte.

Mit dreizehn fing er an, regelmäßig zu koksen: „Selbstmedikation“ nennt man so etwas, zumindest in Amerika; er betäubte sich selber, um den Schmerz und die gefährlichen Emotionen nicht fühlen zu müssen. Er schloss seine Vergangenheit mit Hilfe der Drogen weg, er versteckte sich vor sich selbst. Das lief so lange gut, bis er seinen Drogendealer tötete. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt.

Ein anderer Mitgefangener wurde von seiner allein stehenden Mutter erzogen, die drogenabhängig, analphabetisch und vollkommen überfordert war. Also peitschte sie ihren Sohn regelmäßig mit einem ausgefransten Elektrokabel aus, an den Beinen, bis er blutete. Er zeigte  mir die Narben. Um den Schmerz auszuhalten, stellte er sich innerlich einfach ab, wie mit einem Schalter waren die Gefühle weg.

Jahre später fand seine Mutter dann zu Jesus, der sie von ihrer Drogenabhängigkeit heilte, und sie nahm sogar Nachtkurse, um das Lesen und Schreiben zu lernen. Ein neuer Mensch! Eines Tages, als sie mit ihrem mittlerweile erwachsenen Sohn in dessen Auto saß, bekam sie einen Weinanfall und bat ihn um Verzeihung. Er umarmte sie und sagte ihr, er wisse doch, dass sie es nur gut gemeint habe. Was hätte es genützt, fragte er mich, wenn er mit seiner Mutter offen über seine Gefühle gesprochen hätte?

Kurz danach schlug er seine Ehefrau dermaßen brutal zusammen, dass er dafür zwanzig Jahre Haft ohne Bewährung bekam. Auch ihn hatte die Vergangenheit eingeholt.

Noch ein weiterer Mithäftling wurde vom Freund seiner geschiedenen Mutter geschlagen und mit dem Stil einer Klobürste als Bestrafung anal vergewaltigt. Jedes Mal, als der Freund abends vorbeikam, um die Mutter ein bisschen zu bumsen, versteckte das Kind sich im Kleiderschrank. Und jedes Mal fand ihn der Freund seiner Mutter dort und bestrafte ihn – nicht immer mit der Klobürste, aber oft genug.

Doch er konnte der Mutter ja nichts davon sagen, denn der Freund gab der Mutter Geld, und sie waren so arm, dass sie dieses zusätzliche Einkommen dringend brauchten. Also schwieg der gute Sohn der Mutter und des Geldes zuliebe. 

Jahre später, in seiner dritten Ehe, entdeckte er, dass die eigene Ehefrau sich einen Freund zugelegt hatte. Also erschoss er den Freund und vergewaltigte seine untreue Ehefrau mit dem Lauf seiner Pistole. Da war sie wieder, die Vergangenheit – bloß mit Pistole statt Klobürste.

Man würde meinen, diese Menschen könnten zumindest jetzt im Gefängnis über ihre bisher weggekokste, verdrängte oder verschwiegene Vergangenheit sprechen. Doch das können sie nicht, immer noch nicht.

Der ehemalige Kokser hat Drogen mit Süßigkeiten ersetzt, heutzutage frisst und frisst und frisst er, völlig haltlos, genau wie früher mit dem Kokain. Er verschuldet sich beim Kredithai, arbeitet Überstunden in seinem jämmerlichen Knastjob – alles nur für ein paar extra Kekse und Schokoladentafeln.

Der ehemalige Frauenverprügler hat eine ganz heiße briefliche Romanze mit der Schwester seiner ehemaligen Ehefrau, nur ist diese Schwester leider verheiratet. Er sucht also immer noch die große Liebe, die er nie hatte, selbst im Knast. Mit der Mutter, die ihn als Kind auspeitschte, hat er weiterhin wenig Kontakt.

Der betrogene Ehemann, Mörder und Vergewaltiger hat natürlich Jesus gefunden, in der erzkonservativen Variante. Das bedeutet anscheinend: Montags bis Samstags bestaunt er die Pornohefte, die die Wächter einschmuggeln, aber am Sonntag sieht er sich die Fersehprediger im TV an und wird richtig aggressiv, wenn man das Thema „Sex“ auch nur erwähnt.

Um sie dazu zu bringen, überhaupt nur ein bisschen über ihre Kindheit zu erzählen, musste ich ganz, ganz sanft mit ihnen sein, ihnen viel Zeit geben, und den richtigen Augenblick abwarten. Dann habe ich von meinem eigenen Trauma erzählt, die schreckliche Geschichte von Elizabeth Haysom – ich habe mich also als Erster offenbart. Das gab ihnen dann den Mut, ein wenig zu sprechen.

Nur war ich ja schon achtzehn Jahre alt, als Elizabeth in mein Leben kam; zwar war ich sehr unreif, aber ich war kein Kind mehr, ich war zumindest etwas innerlich gefestigt. Deshalb konnte ich das Trauma mit Elizabeth letztlich auch verarbeiten, ich musste es weder in mir verschließen noch mich davon innerlich verbergen, ich konnte darüber sprechen und natürlich viel schreiben.

Doch die psychischen Schocks, die diese Männer erlitten, fanden in ihrer Kindheit statt, als sie noch ungeformt und ungefestigt waren. Wenn sie sich an diese Erinnerungen heranwagen, dann kommen die Gefühle eines Achtjährigen hoch, und diese Emotionen sind so stark und unkontrolliert, dass sie sofort wieder versteckt, verdrängt und vergessen werden müssen. Das Schwarze da unten, in den Tiefen der Seele, ist einfach zu gefährlich.

Vermutlich könnte man einige dieser Männer heilen – mit viel Geld und langjähriger, individueller Therapie. Aber warum? Sie alle werden Jahrzehnte, beziehungsweise den Rest ihrer Leben hinter Gittern verbringen. Und sie haben alle ganz schreckliche Verbrechen begangen. Sie sind hier, um bestraft zu werden; denn Strafe muss sein.

Ich finde es verständlich und richtig, dass sich die Gesellschaft und das Justizsystem zuerst um die Opfer dieser Männer kümmert: Keines der Opfer hat es „verdient“, getötet, verprügelt oder vergewaltigt zu werden (selbst der Drogendealer nicht). Auch finde ich es verständlich, dass die Gesellschaft nicht sonderlich an den Kindheitstraumas dieser Männer interessiert ist: Es gibt wahrlich sympathischere Objekte des Mitleids, von Somalia über Bangladesch bis Haiti. 

Aber wir sollten auch ehrlich sein: Genau wie diese Männer ihre Traumas innerlich verstecken, verdrängen und vergessen, so versteckt, verdrängt und vergisst die Gesellschaft diese Männer im Gefängnis. Man spricht nicht über Gefangene und ihre Leiden, genau wie Häftlinge selber nicht über ihre Kindheitstraumas sprechen.

Wenn das Thema dann doch mal erwähnt wird, dann gibt es oft eine aggressive Gegenreaktion – so wie Leser dieses Blogs mich in der Kommentarspalte angreifen, oder so wie der dritte Gefangene oben sehr grantig wird, wenn irgendwer das Thema „Sex“ am heiligen Sonntag erwähnt.

Viel öfter ist die Reaktion jedoch Nichtbeachtung: Meine Bücher verkaufen sich äußerst schlecht, weil niemand wirklich Häftlinge als Menschen sehen will. Und die Gefangenen, denen ich ein paar Details über ihre entsetzlichen Vergangenheiten entlocke, wechseln so schnell wie möglich das Gesprächsthema und reden dann nie wieder darüber.

Weil ich jedoch seit einem Vierteljahrhundert mit diesen Menschen zusammen lebe, kann ich sie und ihre Kindheitstraumas eben nicht verstecken, verdrängen und vergessen. Im Gegenteil, ich sehe es sogar als meine Aufgabe, das Schwarze da unten, in den Tiefen der Seele und in den tiefsten Gefängnissen der Gesellschaft, ans Tageslicht zu bringen. Ich glaube nämlich an die reinigende und heilende Kraft des Lichts und der Liebe.

Ich habe das Schwarze da unten umarmt und mich mit ihr angefreundet. Und ich schreibe von dieser Umarmung, weil die Schriftstellerei eben meine kleine halbneurotische, künstlerische Sublimierungsmasche ist.

Ich werde mit meinen eigenen Problemchen durch das Schreiben fertig und wähne mich glücklich, dass ich in meiner Kindheit nur ein bisschen Stress mit meinen Eltern hatte – nichts im Vergleich zu Hunger und Mädchenkleider, nichts im Vergleich zu Peitschen mit Elektrokabeln, nichts im Vergleich zur analen Vergewaltigung mit Klobürste. Ich hatte es leicht, so leicht, und ich bin dankbar dafür.

Und ich verneige mich beschämt vor meinen Mitgefangenen, deren Kindheiten so viel schrecklicher waren – so entsetzlich, dass ich es letztlich gar nicht nachempfinden kann. Würde ich behaupten, ich hätte Mitgefühl, wäre das eine Lüge:

Die Qualen dieser Männer, als sie noch Kinder waren, stehen einfach zu weit außerhalb der weitesten Grenzen meiner eigenen Erfahrungen. Ich kann sie letzten Endes nicht verstehen.

Deshalb kann ich diese Mithäftlinge auch nicht einfach so verdammen für die schlimmen Verbrechen, die sie begangen haben. Ich wiederhole: Die Opfer dieser Verbrechen haben es nicht „verdient“, getötet, verprügelt und vergewaltigt zu werden! Aber ich schaffe es einfach nicht, die Täter dafür zu verachten. Ich weiß einfach nicht, ob sie wirklich eine „Wahl“ hatten, diese Verbrechen zu begehen.

Was ich aber sehr wohl weiß, ist, dass das Verstecken, Verdrängen und Vergessen ihrer Vergangenheiten zumindest zu den Taten beigetragen haben. Und genau da habe ich meinen Angriffspunkt: Ich kann das Verstecken, Verdrängen und Vergessen mit meinen Büchern und diesem Blog bekämpfen.

Aber das ist einsame Arbeit. Denn diese Menschen, meine Mitgefangenen, sind mir so fremd. Ich verstehe, dass sie sich weiter vor ihrem Kindheitstrauma schützen müssen, sie können nicht einfach so darüber reden. Aber das trennt uns letzten Endes voneinander.

Am Anfang dieses Blogeintrags schrieb ich, dass Menschen wie die Leser dieses Blogs, meine Besucher aus der Außenwelt und ich „drei-dimensional“ sind, während meine Mithäftlinge „zwei-dimensional“ bleiben – ihnen fehlt etwas. Was ihnen fehlt, ist der Zugang zur eigenen Vergangenheit und deshalb zu sich selbst. Sie können es nicht wagen, sich auf andere einzulassen, weil sie sich nicht auf sich selber einlassen können. Ihnen fehlt also die Voraussetzung zur Liebe: die Offenheit und das Vertrauen, das man braucht, um andere umarmen zu können. Und um sich selbst, das eigene Leben, zu umarmen.

Es ist verdammt kalt und einsam, das Schwarze da unten.

Mittwoch, 25. Januar 2023

Das Geheimnis, das niemand wissen will (von Jens Söring)

Bereits 2016 habe ich auszugsweise den großartigen Blogbeitrag "Das Geheimnis, das niemand wissen will"  aus dem Jahr 2011 von Jens Söring besprochen. Ich habe nun den Autor darum gebeten, seinen Text in meinem Blog veröffentlichen zu dürfen und er hat heute zugesagt! 

Da Jens Söring seinen Blog schon länger eingestellt hat, wäre sein Text ansonsten dauerhaft verloren. Der Inhalt stellt seine persönlichen Erfahrungen dar. Allerdings zeigen diverse Studien, dass StraftäterInnen sehr häufig in der Kindheit belastetet waren. Sein Erfahrungsbericht ergänzt diese Studienlage auf ganz besondere, ja wohl einmalige Weise. Außerdem wird in dem Text auch überdeutlich, wie schwierig es für die Wissenschaft sein kann, die ganze Wahrheit des Kindheitsleids von Tätern zu ergründen. 


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 B26 - Das Geheimnis, das niemand wissen will (mit freundlicher Genehmigung von Jens Söring)

 (Hinweis: Der Originaltext wurde ursprünglich am 23. Februar 2011 von Jens Söring online veröffentlicht)

In meinem letzten Blogeintrag ("Ein Kuss") habe ich über die Parallelen  zwischen meiner Beziehung zu meiner Komplizin Elizabeth Haysom und der sexuellen Misshandlung von Minderjährigen geschrieben. Dort habe ich ganz ausdrücklich gesagt, dass es sich dabei natürlich nicht um tatsächliche Kinderschänderei gedreht hat, sondern eben nur um Parallelen. Im heutigen Blogeintrag möchte ich aber über die echte, wirkliche Misshandlung von Kindern schreiben. 

Ich werde Ihnen ein Geheimnis verraten. Sie können dieses Geheimnis ruhig anderen weiter sagen – ich bitte Sie sogar darum – aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass sich fast niemand für dieses Geheimnis interessieren wird. Niemand will wissen, was ich Ihnen gleich sagen werde. Deshalb ist es ja ein Geheimnis: Keiner will es wissen, also ist es unbekannt. 

Vielleicht wollen Sie es auch nicht wissen. Wenn dem so sein sollte, dann können Sie das Geheimnis gleich nach dem Lesen dieses Blogeintrags wieder vergessen. Vermutlich ist das sowieso besser. 

Hier ist das Geheimnis: Alle Gefangenen – alle, ohne Ausnahme (na, vielleicht mit einer Ausnahme) – sind als Kinder Opfer sexueller oder körperlicher Misshandlung gewesen. Alle. 

Hm, also, vielleicht doch nur fast alle – denn ich wurde als Kind nicht misshandelt. Aber ich bin ja auch unschuldig, ich habe das Verbrechen, für das ich verurteilt wurde, nicht begangen. Doch die ganz überwältigende Mehrheit meiner Mitgefangenen, die "ihre" Verbrechen sehr wohl begingen und zurecht verurteilt wurden – die sind alle Opfer ganz entsetzlicher Gewaltverbrechen gewesen, als sie Kinder waren. Übrigens in den allermeisten Fällen über Jahre oder Jahrzehnte hinweg, bis sie von zuhause wegliefen oder straffällig wurden. 

Das ist keine Behauptung meinerseits. Vor einigen Jahren habe ich ein sehr interessantes Buch über die Psychologie des Strafvollzugs gelesen, von einem renommierten Experten der (mit Philip Zimbardo) das berühmte "Stanford Prison Experiment" unternahm und – im Gegensatz zu Zimbardo – dann seine gesamte Karriere uns Knackis widmete: Dr. Craig Haney. Sein Buch heißt: "Reforming Punishment", und es wurde 2005 von der nationalen Dachorganisation American Psychological Association veröffentlicht.
Nebenbei: Auf der Prozess bzw. Trial Seite dieser Website ist ein Interview mit Dr. Haney über die psychologischen Probleme von Justizopfern, die sich nach ihrer Befreiung durch DNS-Tests in der freien Welt nicht mehr zurechtfinden können. 

Dr. Haneys Buch bespricht mehrere Studien, die belegen, dass ein hoher Prozentsatz der befragten Gefangenen zugab, als Kinder sexuell und/oder körperlich misshandelt geworden zu sein. An die genaue Zahl kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich glaube es waren etwa zwei Drittel. Schon damals, als ich das Buch las, war ich davon beeindruckt, dass so viele Häftlinge das zugegeben hatten. 

Denn gerade für Gefangene ist es besonders schwer, irgendeine Schwäche zuzugeben – vor allem gegenüber Außenseitern wie Psychologen, die plötzlich in den Knast hereinrauschen, Fragebögen verteilen und äußerst persönliche Informationen wissen wollen. Grundsätzlich werden solche Typen erst einmal belogen, denn man kann ja nie wissen, wem sie die Fragebögen dann geben! Knastpsychologen haben sowieso einen besonders schlechten Ruf unter Häftlingen, selbst ich würde denen nichts wirklich Wichtiges anvertrauen.

Und trotzdem hatte ein überraschend hoher Prozentsatz - der befragten Gefangenen - so etwas zugegeben. Selbst unter besten Umständen ist das sehr, sehr schwer, denn – das habe ich ja versucht, in meinem letzten Blogeintrag zu erklären – als Opfer schämt man sich so schrecklich. Man will es doch gar nicht zugeben. 

Dazu kommt noch etwas anderes, was für Nichtopfer vielleicht besonders schwer zu verstehen ist: Zumindest einige der Opfer wissen gar nicht, dass sie Opfer sind. Damit meine ich nicht, dass die Erinnerung an die Misshandlung verdrängt wurde; es ist ziemlich zweifelhaft, ob es überhaupt möglich ist, so etwas zu verdrängen. (Die Expertin auf diesem Gebiet ist übrigens Dr. Elizabeth Loftus; ich habe mich, wie gesagt, ziemlich tief in diese Thematik eingelesen.) Nein, was ich meine ist nicht die Verdrängung, sondern die Unfähigkeit, Misshandlung als solche überhaupt zu erkennen. 

Lassen sie mich ein Beispiel geben: Seit Jahrzehnten sitze ich nun in verschiedenen Gefängnissen im Gemeinschafts- oder TV-Raum herum. Manchmal kommen dann abends um 18 Uhr die örtlichen Fernsehnachrichten, meist mit irgendeiner schrecklichen Geschichte über einen 14-jährigen Burschen, der eine 72 Jahre alte Oma vergewaltigt und verprügelt hat. Über so etwas regen sich auch Häftlinge auf, selbst Sexualverbrecher, denn wir haben ja alle unsere eigenen Omas. Und dann besprechen die Gefangenen miteinander, was sie dem 14-jährigen Täter alles antun würden, bzw. wie der Junge von der Tat abgehalten hätte werden können. 

Diese Gespräche laufen immer nach dem gleichen Schema. Wie gesagt, ich höre dabei seit fast 25 Jahren zu! Ich würde schätzen, dass ich an solchen Unterhaltungen mehrere hundert Mal teilgenommen habe. Und sie sind alle ganz genau gleich. 

Die Häftlinge prahlen zuerst einmal damit, wie sie von ihren Erziehern gezüchtigt wurden, wenn sie als Kinder etwas falsch machten. Oft waren es übrigens nicht die Eltern, sondern die Stiefeltern oder Großeltern, die die Kinder folterten – vielleicht erklärt das die Quälerei... Wie dem auch sei: Das Auspeitschen mit dicken Ledergürteln ist noch das Mindeste. Absichtliches Verbrennen mit Bügeleisen oder kochendem Wasser kommen überraschend häufig vor. Auch das stundenlange Knien auf scharfen Steinen. Und Stöcke – nun ja, genug davon! 

Was dabei für mich zumindest anfänglich überraschend war: dass die Gefangenen diese körperliche Misshandlung für gut und richtig hielten. "Genau so würde ich es mit meinen eigenen Kindern tun, wenn ich nicht im Knast wäre!" So etwas hat ihnen selber ja auch nie geschadet, sie sind doch prächtige Kerle geworden. (Dabei übersehen sie ausnahmslos, dass sie – die "prächtigen Kerle" – hinter Gittern sitzen.) Und solch ein ordentliches Auspeitschen mit Ledergürteln, genau das habe dem 14-jährigen Täter in den Fernsehnachrichten gefehlt! 

Aus der Sicht der Häftlinge war das, was ihnen angetan wurde, also keine Misshandlung. Anfänglich versuchte ich gelegentlich, diese Männer zu fragen, ob sie denn nicht den Zusammenhang zwischen den eigenen Straftaten und dieser schrecklichen Tortur durch ihre Erzieher sehen. "Nein, natürlich nicht, völliger Quatsch – ich hatte das verdient!" Genau dies sagen natürlich die meisten Kinder, die Opfer von Misshandlung sind. 

In den Studien der Fragebögen verteilenden Knastpsychologen würde diese sehr große Gruppe von ehemaligen Opfern also gar nicht erfasst werden. Auch gibt es andere Formen der Misshandlung, die von den allermeisten Gefangenen nicht als solche erkannt wird. Zum Beispiel wurde ein ziemlich guter Freund von mir – der übrigens vor einigen Jahren Selbstmord beging – als 8-jähriges Kind von seiner älteren Schwester zum wiederholten Drogenkonsum verleitet; anfänglich gegen seinen Willen. Natürlich wurde er abhängig, und natürlich landete er letztlich im geschlossenen Vollzug für besonders junge Straftäter, wegen Beschaffungskriminalität. Dort wurde er von den anderen Jugendlichen sexuell und körperlich gefoltert (das Wort "misshandelt" reicht einfach nicht – es hatte mit Besenstielen zu tun), und natürlich von den Wächtern auch. Dann wurde er etwas älter, etwas stärker, und stieg in der Hierarchie auf – bis er selber jüngere Kinder foltern konnte. Aber aus seiner Sicht war das selbst 30 oder 40 Jahre später nicht als Misshandlung zu erkennen; das war einfach das "normale" Knastleben. 

Ein anderer Freund von mir wuchs ohne Eltern auf, er wurde vom Sozialamt von einer Pflege-Familie zur nächsten geschickt. Viele der Pflegeeltern waren anscheinend Sadisten, die besonders heißes Duschen als bevorzugtes Strafmittel einsetzten – weil das keine Wunden hinterlässt. Auch wurde regelmäßig zur Strafe das Essen gekürzt oder völlig vorenthalten. 

Als ganz kleines Kind lernte mein Freund also, welche Abfalleimer hinter welchen Restaurants am ergiebigsten sind, um zusätzliches Essen zu finden. Sein Geheimtipp: Man reserviert einen Tisch und bestellt eine besonders ungewöhnliche Mahlzeit per Telefon – geht aber nicht hin. Die Restaurantküche kocht die ungewöhnliche Mahlzeit, aber weil der Gast nicht erscheint, wird das Essen weggeworfen, weil es sonst niemand will. Wenn man gut aufpasst, kann man auf diese Weise eine fast-vollständige Mahlzeit aus dem Abfalleimer hinter dem Restaurant frühmorgens herausfischen! 

Misshandlung ist das alles natürlich nicht. Es ist einfach so, das Leben als Pflegekind. 

Abgesehen von Menschen wie diesen, die gar nicht erkennen (können), dass sie misshandelt wurden, gibt es noch eine weitere Gruppe, von denen die Knastpsychologen nicht wissen: jene, die sich nur mir, einem Mitgefangenen, offenbaren. Ich will gar nicht schätzen, wie viele Häftlinge mir gestanden haben, dass sie sexuell misshandelt wurden – und hinzuzufügten, dass ich der erste Mensch sei, dem sie das sagen. Solche Zwischenfälle hat es besonders in den letzten acht Jahren gegeben, nach der Veröffentlichung meines ersten Buches: "The Way of the Prisoner" (Lantern Books 2003). Seitdem bin ich immer mehr zur Anlaufstelle geworden für Häftlinge, die eine Vertrauensperson brauchen (und für Wächter, die mir irgendwelche pikanten Details über das Gefängnis verraten wollen – aber das ist ein Thema für einen zukünftigen Blogeintrag, vielleicht). Jedenfalls habe ich, als zufällige Vertrauensperson und als Mitgefangener, unzählige Male gehört: "Hör mal, mir ist da mal als Kind was passiert – das kannst Du aber niemandem sagen, o.k.? Also, es war so...." 

Mittlerweile gebe ich meinen Bekannten ganz absichtlich die Gelegenheit dazu, weil ich einfach gelernt habe, dass viele Menschen das brauchen. Ich muss gar nicht direkt fragen, ich warte einfach, bis das Thema in einem allgemeinen Zusammenhang auftaucht – was im Gefängnis oft geschieht, denn es gibt hier ja viele Kinderschänder. (Meiner Erfahrung nach sind übrigens auch fast alle Kinderschänder als Kind selber Opfer gewesen.) 

Ich kann Ihnen sagen: Ich war in den vergangenen (fast) 25 Jahren mit hunderten Häftlingen mehr oder weniger gut befreundet – gut genug, um gelegentlich ein ernsthaftes Gespräch zu führen. Und ich kann Ihnen sagen: Jeder Gefangene, mit dem ich etwas befreundet war, wurde als Kind sexuell oder körperlich misshandelt. Jeder, ohne Ausnahme, in (fast) 25 Jahren! Natürlich könnte das ein Zufall sein, aber das glaube ich nicht. 

Warum soll das wichtig sein, weshalb schreibe ich darüber einen Blogeintrag? Weil ich einen direkten Zusammenhang sehe zwischen der Misshandlung und der Kriminalität. 

Wenn man als Kind entsetzlichen Qualen ausgesetzt wird, dann führt dies zu psychologischen Schäden, und zwar in allen Fällen. Niemand würde dem Kind, dem Opfer, die Schuld dafür geben, dass es an den Folgen der Misshandlung leidet. Auch verstehen wohl die meisten Menschen, wozu solch ein psychologisches Trauma führen kann: Alkoholismus, Depressionen, "kleine" Neurosen und so weiter. All das wird akzeptiert von der Gesellschaft, weil es anderen Menschen nicht schadet – man kann sogar Mitleid dafür haben. 

Was gesellschaftlich nicht akzeptabel ist, das ist die Minderheit der Misshandlungsopfer, die mit ihrem psychologischen Trauma auf rechtswidrige Art fertig werden. Statt Alkohol benutzen sie Drogen; statt Depression (die psychodynamisch als Aggression, die auf einen selbst gerichtet ist, verstanden werden muss) richten sie ihre Aggression auf andere; statt "kleine" Neurosen entwickeln sie Persönlichkeitsstörungen, die bekanntlich öfters zu Verbrechen führen. Für all dies gibt es kein Mitleid, kein Verständnis. 

Natürlich muss die Gesellschaft sich vor Kriminalität schützen, das bezweifele ich hier überhaupt nicht. Im Grunde geht es mir sogar genau um den Schutz vor Verbrechen! Aber wie kann die Gesellschaft wirklich effektiv die Kriminalität bekämpfen, wenn sie sich nicht mit den Ursachen befasst? 
Nun gibt es ja alle möglichen kriminologischen Theorien, die versuchen zu erklären, warum manche Menschen Verbrechen begehen und andere nicht: Armut, Drogenabhängigkeit, schlechte Schulen, Geisteskrankheit, gewalttätige Videospiele, zum Beispiel. Bestimmt tragen alle diese Dinge auch dazu bei, dass es Kriminalität gibt. Was bei solchen Ursachenlisten jedoch immer fehlt, ist die Tatsache, dass alle Verbrecher als Kinder sexuell oder körperlich misshandelt wurden! Und wenn man sich mit diesem unbequemen Fakt nicht befasst, darf man sich nicht wundern, dass die Kriminalitätsbekämpfung nie so richtig erfolgreich ist. 

Ich weiß nicht, warum niemand darüber sprechen will, dass alle Verbrecher erst Opfer der Kindesmisshandlung waren, bevor sie zu Tätern wurden. Vielleicht ist es für die Gesellschaft bequemer und einfacher, die Bösewichter auszugrenzen und einzusperren, statt ihnen mit Mitleid zu begegnen. Vielleicht will man einfach nicht das Geld ausgeben um all die inhaftierten Verbrecher zu therapieren. Vielleicht glaubt man, dass solchen Menschen sowieso nicht zu helfen ist – und vielleicht stimmt das sogar. Eines ist sicher: Sie werden niemanden finden können, der sich mit diesem Thema befassen will. Und dann werden Sie es mit der Zeit auch selber vergessen. 

Dies ist das Geheimnis, das niemand wissen will.

Samstag, 31. Dezember 2022

Das Buch "Tyrannen" und die Kindheit des Sultans Ibrahim (1615-1648).

Das Buch „Tyrannen. Eine Geschichte von Caligula bis Putin“ (Krischer & Stollberg-Rilinger, Hrsg.), das 2022 bei C-H. Beck erschienen ist, brachte für mich nicht wirklich viele neue Erkenntnisse bzgl. Kindheits- und Traumahintergründen von Diktatoren und politischen Führern. 

Was haben diverse "Tyrannen" gemeinsam, wird im Klapptext gefragt. Nun, dass sie Tyrannen sind und sich ähnlich verhalten könnte - dem Buch folgend - die Antwort sein...

Der Blickwinkel im Buch ist stark klassisch historisch: Man erfährt schlicht, was war. 

Psychohistorisch wäre die Antwort auf die Frage nach Gemeinsamkeiten gewesen: "Destruktive Kindheiten". Bzgl. 11 der Akteure, die im Buch „Tyrannen“ besprochen wurden, habe ich bereits entsprechend deutliche Details recherchiert und zwar für: Nero, IvanIV., Napoleon, Franco, Mao, Pinochet, Mugabe, KimIlsung, Erdoğan, Trump und Putin. Für im Buch besprochene Akteure wie Idi Amin, Assad, und Kim Jong Un habe ich in der Vergangenheit Infos über die Kindheit gesucht, aber diese scheint fast gänzlich unbeleuchtet.

Neu für mich und interessant waren die Infos über die Kindheit des Sultans İbrahim (genannt "der Wahnsinnige"), der unter der ständigen Angst aufwuchs, so wie etliche seiner Brüder, umgebracht zu werden. Leider der einzige Akteur im Buch, dessen Kindheit etwas näher beleuchtet wurde. Es bestätigt sich erneut das Bild, dass klassische HistorikerInnen oftmals wenig Interesse für die Folgen von kindlichen Belastungen ihrer „Untersuchungsobjekte“ zeigen. 

Kommen wir aber zurück zur Kindheit von Sultan Ibrahim (1615-1648). Besprochen wird dieser Herrscher von Christine Vogel unter dem Titel „Ibrahim `der Wahnsinnige` - die osmanische Dynastie am Abgrund" (S. 106-120). 

Ibrahim hatte sein Dasein bis zu seinem 24. Lebensjahr im „Kafes, dem Prinzengefängnis, gefristet, einem abgeschlossenen und streng bewachten Bereich im Inneren des Topkapi-Palasts. (…). Im abgeschotteten Bereich des Kafes lebten die osmanischen Prinzen seit dem frühen 17. Jahrhundert (…) abseits von repräsentativem Prunk und weitgehend ohne Kontakte zur Außenwelt. Umgeben von Pagen, Eunuchen und Konkubinen, deren Schwangerschaften konsequent unterbunden wurden, um zu verhindern, dass die potentiellen Thronfolger Nachwuchs zeugten, blieben die Prinzen nahezu unsichtbar, fern von jeglicher politischen Funktion und Verantwortung“ (Vogel 2022, S. 109).

Ibrahim war der der jüngste von neun Söhnen Sultan Ahmeds I. Seit seiner frühsten Kindheit hatte er miterlebt, wie im Laufe der Jahre alle seine Brüder verschwanden. Anlass für das Verschwinden war in zwei Fällen die jeweilige Thronbesteigung. Beide Thronfolger ließen allerdings fünf ihrer Brüder erdrosseln, damit diese nicht den Thron besteigen konnten. Ein weiterer Bruder starb krankheitsbedingt. (Vogel 2022, S. 109). 

Dass im Palast potentielle Thronfolger von ihren jeweiligen Brüdern umgebracht wurden, hatte eine lange Tradition im Herrscherhaus. „Die als legale Maßnahme zur Herrschaftssicherung verstandene Praxis des Brudermords war gewissermaßen die blutige Kehrseite der durch Konkubinat verursachten `Überproduktion` männlicher Nachfahren“ (Vogel 2022, S. 110). Im historischen Verlauf setzte sich später durch, dass der jeweils Älteste Thronfolger wurde, wodurch der Brudermord schließlich obsolet wurde. 

Ibrahim wurde nur deshalb als Einziger am Leben gelassen, weil er als geistesschwach galt und daher nach allgemeiner Auffassung als Konkurrent um die Sultanswürde für Murad IV. keine ernstzunehmende Gefahr darstellte“ (Vogel 2022, S. 110). 

Nachdem Murad IV. gestorben war (und keine eigenen Nachkommen hinterlassen hatte) und die politischen Würdenträger seine Gemächer betraten, soll Ibrahim zunächst panisch reagiert haben. Er rechnete wohl damit, umgebracht zu werden und weigerte sich zunächst, das “Prinzengefängnis“ zu verlassen.
Dass die jahrzehntelange Haft unter ständiger Todesangst sich wohl negativ auf Ibrahims ohnehin labilen Geisteszustand ausgewirkt hatte, wird dabei von niemandem bezweifelt (…)“ (Vogel 2022, S. 112). 

Als Herrscher sicherte sich Ibrahim den Ruf eines grausamen Despoten, der zu irrationalen Entscheidungen neigte. Wenn wir auf seine potentiell traumatische Kindheit schauen, wird dies erklärbar. 


Dienstag, 13. Dezember 2022

Trotz viel Empirie: Kindheiten von Extremisten sind oft kein Thema in der Extremismusforschung

Für mich ist immer wieder erstaunlich, dass es kaum Übersichtsarbeiten bzw. fokussierte Fachbeiträge über den speziellen Bereich Kindheit & Extremismus gibt. Ganz im Gegenteil ist es oftmals so, dass entsprechende Handbücher und Sammlungen von Expertisen über Extremismus/Terrorismus keine Schwertpunktbeiträge über Kindheit/Trauma/Familie enthalten. Beispiele dafür sind:

  • Handbuch Extremismusprävention“ (Ben Slama & Kemmesies 2020)
  • Handbook of Terrorism Prevention and Preparedness“ (Schmid 2020)
  • "The Oxford Handbook of Terrorism" (Chenoweth et al. 2019)
  • Extremismusforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis“ (Jesse & Mannewitz 2018)
  • Handbuch Politische Gewalt: Formen - Ursachen - Legitimation – Begrenzung“ (Enzmann 2013
  • Terrorismusforschung in Deutschland“ (Spencer, Kocks & Harbrich 2011). 

Auch in titelstarken Einzelarbeiten wie z.B. „Extremismus und Radikalisierung - Kriminologisches Handbuch zur aktuellen Sicherheitslage“ (Dienstbühl 2019) findet sich – trotz umfassender und systematischer Struktur und Gliederung - kein eigenes Kapitel über Kindheit/Trauma/Familie und Extremismus. In dem genannten Band taucht nach meiner Suche (per E-Book Suchfunktion) sogar nicht ein einziges Mal das Wort „Kindheit“ auf. 

Im recht komplexen Handbuch über Rechtsextremismus von Armin Pfahl-Traughber (2019). „Rechtsextremismus in Deutschland - Eine kritische Bestandsaufnahme“ gibt es im Kapitel 24 "Erklärungsansätze" kurze Einlassung auf den Autoritarismus, aber Kindheit & Trauma ist wie so oft kein Thema, wenn es um Ursachen geht.

Der Extremismusforscher Matthias Quent (2020) hat eine Art populärwissenschaftliche Handreichung unter dem aussagekräftigen Titel „Rechtsextremismus: 33 Fragen - 33 Antworten“ abgeliefert. Nicht in einer einzigen Frage bzw. Antwort geht er auf Kindheitshintergründe der Extremisten ein, was auch für etliche andere Einzelarbeiten von entsprechend Forschenden gilt. 

Das aktuellste Beispiel (und Auslöser für diesen Blogbeitrag!) ist das Buch Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis“ (Rothenberger, Krause, Jost & Frankenthal 2022), das Mitte diesen Jahres erschienen ist. Im umfassenden Index taucht das Wort „Kindheit“ gar nicht auf, was an sich schon deutlich macht, wie wenig Bedeutung man diesem Bereich zukommen lässt. Dabei hätte der Index das Wort sogar aufnehmen können, denn an einer einzigen Stelle im Buch wird – innerhalb von zwei bis drei Sätzen - eine Verbindung hergestellt:
Eine entwicklungspsychologische Perspektive interessiert sich für die Auswirkungen ungünstiger früher Beziehungserfahrungen auf die spätere Identitätsentwicklung. Wenn in der Kindheit Vernachlässigung und Gewalt eine Rolle spielten, besteht ein erhöhtes Risiko für spätere psychosoziale Probleme (Schulabbrüche, Delinquenz, Substanz- und Alkoholmissbrauch, Risikoverhalten)“ (Sischka 2022, S. 360). Dass Kindheitseinflüsse nebenbei in kurzen Sätzen erwähnt werden und nicht als eine der zentralsten Ursachen hervorgehoben werden, erlebe ich immer wieder. 

Unter dem Begriff „Trauma“ finden sich im Index zwar sechs Stellen im Buch, aber keine von diesen bezieht sich auf mögliche Traumahintergründe der Terroristen/Extremisten.
Und wo wir gerade dabei sind: In dem Handbuch werden etliche Terroristen besprochen oder erwähnt, von Anders Breivik, Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Osama Bin Laden bis hin zu Timothy McVeigh. All diese genannten Akteure hatten nach meiner Recherche eine traumatische Kindheiten, nur scheint es keinen für das Handbuch gewonnenen Experten zu geben, der/die sich damit befasst hat. 

Ganz im Gegenteil findet sich an einer Stelle (Kapitel: „Prozesse und Faktoren von Radikalisierung: Ein Überblick“ von Daniela Pisoiu) sogar quasi die Negierung von Kindheitseinflüssen. Zunächst geht Pisoiu auf die psychische Situation von Anders Breivik ein und unterstreicht, dass dieser voll für seine Taten zur Rechenschaft gezogen bzw. als voll schuldfähig eingestuft wurde. Sie schließt dem an:
Die `Normalität` von Terroristen bezieht sich jedoch nicht nur auf den Aspekt der psychischen Gesundheit. Denn die Auffälligkeiten, die gegebenenfalls in ihren Lebensläufen auftauchen (z.B. problematische Kindheit, keine abgeschlossene Schulbildung) reichen nicht aus, um einen signifikanten Unterschied zur Gesamtbevölkerung aufzuzeigen und so eine bestimmte Teilmenge der Bevölkerung zu definieren, die für Terrorismus prädestiniert sein könnte – das sogenannte Spezifitätsproblem“ (Pisoiu 2022, S. 344). Einige Zeilen weiter zitiert sie dann noch eine Studie von Donatella della Porta über 29 ehemalige linke Militante, die die „Atmosphäre in ihrer Familie als gut oder sehr gut bezeichneten“ (ebd.).
Diese zitierte Quelle habe ich mir durchgesehen. Donatella della Porta schreibt kurz vor ihrem Hinweis auf die 29 Militanten sogar noch folgendes:  „(…) past research has found no sign of any typical pattern in the primary socialization of militants, no sign of particular family problems or of an authoritarian upbringing. (…)” (della Porta 2012, S. 233).  Die zitierte Studie über die 29 Militanten kann ich leider nicht bzgl. Methodik etc. überprüfen, da sie auf italienisch ist. Schaut man sich den Beitrag von della Porta aber genau an, dann greift sie rein auf Quellen zurück, die alle zwischen 1950 und 1990 veröffentlicht wurden. Für diesen Zeitraum stimmt ihr zuvor zitierter Satz, denn es gab noch viel zu wenig Material über Kindheitshintergründe von Extremisten. Heute sieht dies ganz anders aus und ich kritisiere erneut, dass dies in einem Handbuch aus dem Jahr 2022 über Terrorismus nicht deutlich aufgeführt wurde. Gleichzeitig wundere ich mich darüber, dass della Porta in dem Buch "Terrorism Studies. A Reader", das im Jahr 2012 erschienen ist, einen solchen Satz schreibt. Zwischen 1990 und 2012 liegen schließlich über 20 Jahre! Auch in diesem Zeitraum sind so einige Arbeiten erschienen, in denen es um Kindheiten von Extremisten geht.  

Merkwürdig ist auch - um wieder auf das Handbuch "Terrorismusforschung" zurückzukommen -, dass Pisoiu zusammen mit anderen AutorInnen (Srowig et al. 2018) in dem Heft „Radikalisierung von Individuen: Ein Überblick über mögliche Erklärungsansätze“ vor allem im Kapitel 4.2 Studien besprochen hat, die ein hohes Maß an Belastungen in der Kindheit von Extremisten aufzeigen. Auf diese Veröffentlichung wollte ich innerhalb meines Blogbeitrags hier sogar ursprünglich gesondert hinweisen: Als ein seltenes Positivbeispiel für das Hinsehen auf die Kindheitshintergründe von Extremisten! Erst dann entdeckte ich, dass Pisoiu ja sogar Mitautorin war. Vor diesem Hintergrund verwundert es umso mehr, dass sie nun gerade im Handbuch „Terrorismusforschung“ Kindheitseinflüsse quasi beiseiteschiebt.

Es bleibt Fakt, dass es auf der anderen Seite viele Einzelstudien und Arbeiten gibt, die zusammengetragen ein sehr aussagekräftiges Gesamtbild ergeben. Dies sieht man z.B. in meinem Beitrag „Kindheitsursprünge von Rechtsextremismus: DIE gesammelten Studien“ bzw. im Inhaltsverzeichnis meines Blogs.
Man kann auf der einen Seite also nicht sagen, dass sich DIE Extremismusforschung blind gegenüber Kindheitseinflüssen stellt. Sonst hätte ich ja nicht all die Daten und Fakten zusammentragen können, die ich fand. Auf der anderen Seite wird das Thema immer wieder ausgeblendet oder offensichtlich als zu "banal" zur Seite geschoben (was die Inhalte bzw. nicht vorhandenen Inhalte dazu in den kritisierten Übersichtsarbeiten zeigen). Das Missverhältnis zwischen auf der einen Seite viel empirischem Material (durch diverse Einzelarbeiten oder auf Grund von Biografieforschung wie von mir in meinem Blog vielfach gezeigt) und fehlender Zentriertheit vieler Forschender auf Kindheitseinflüsse ist also an sich erklärungsbedürftig. 

Die fehlende Zentriertheit der Extremismusforschung auf Kindheitserfahrungen findet ihren Widerhall auch bei der Bereitstellung von Mitteln für die Prävention. Die Bundesregierung hat beispielsweise am 25.11.2020 den „Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2020) veröffentlicht. Insgesamt werden 89 Maßnahmen aufgeführt, die wiederum verschiedenen Ministerien zugeordnet wurden. Eine Milliarde Euro wurde zur Verfügung gestellt, um die Maßnahmen umzusetzen. In dem Katalog gibt es keine einzige Maßnahme, die in Richtung Kinderschutz als Extremismusprävention geht. Würde Kinderschutz bzgl. der Maßnahmen der Regierung als Extremismusprävention verstanden, dann würde eine Milliarde Euro allerdings wohl kaum ausreichen. Große Investitionen würden sich hier allerdings lohnen und dies nicht nur im Kampf gegen Extremismus. Eine wirkliche und nachhaltige Zentriertheit der Gesellschaft auf den Schutz und die Unterstützung von Kindern hätte insgesamt viele positive Effekte, was der Gesellschaft am Ende eine Menge an Folgekosten für Gesundheit, Jugendhilfe, Sozialhilfe, Polizei, Verfassungsschutz und Justiz sparen würde.

Dass es in der Forschung auch anders gehen kann, zeigt der herausragende und wegweisende Beitrag „From Childhood Trauma to Violent Extremism: Implications for prevention“ von Lundesgaard & Krogh (2018) in dem Handbuch „Violent extremism in the 21st century: International perspectives“. Beiträge wie dieser sind eine Seltenheit. Offensichtlich gibt es kaum etablierte Fachleute, die sich auf den Bereich Kindheit und Extremismus fokussiert haben und überhaupt als BeitragsautorInnen für entsprechende Fachbücher infrage kommen. 

Insofern wünsche ich mir für die kommenden Jahre eine Öffnung der Extremismusforschung für Kindheitseinflüsse beim Thema Extremismus, eine Öffnung für Psychohistorie, Psychoanalyse, Traumaforschung und ganz besonders auch die Adverse Childhood Experiences Forschung. Nur dann werden wir die Ursachen umfassend verstehen und langfristig betrachtet nachhaltige Prävention möglich machen können. 


Quellen:

Ben Slama, B. & Kemmesies, U. (Hrsg.) (2020). Handbuch Extremismusprävention. Gesamtgesellschaftlich. Phänomenübergreifend. (Polizei + Forschung, Band-Nummer 54) Bundeskriminalamt Wiesbaden. 

Chenoweth, E., English, R., Gofas, A. & Kalyvas, S. (Hrsg.) (2019). The Oxford Handbook of Terrorism. Oxford University Press, Oxford.

Della Porta, D. (2012). On individual motivations in underground political organizations. In: Horgan, J. & Braddock, K. (Hrsg.). Terrorism Studies. A Reader. Routledge, London & New York.

Dienstbühl, D. (2019). Extremismus und Radikalisierung - Kriminologisches Handbuch zur aktuellen Sicherheitslage. Richard Boorberg Verlag, Stuttgart. Kindle E-Book Version.

Enzmann, B. (Hrsg.) (2013). Handbuch Politische Gewalt: Formen - Ursachen - Legitimation – Begrenzung. Springer VS, Wiesbaden. Kindle E-Book Version. 

Jesse, E. & Mannewitz, T. (Hrsg.) (2018). Extremismusforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden.

Lundesgaard, A. & Krogh, K. (2018). From Childhood Trauma to Violent Extremism: Implications for prevention. In: Overland, G., Andersen, A. J., Førde, K. E., Grødum, K. & Salomonsen, J. (Hrsg.). Violent extremism in the 21st century: International perspectives. Cambridge Scholars Publishing, Newcastle-upon-Tyne, S. 180-198.

Pfahl-Traughber, A. (2019). Rechtsextremismus in Deutschland - Eine kritische Bestandsaufnahme. Springer VS, Wiesbaden.

Pisoiu, D. (2022). Prozesse und Faktoren von Radikalisierung: Ein Überblick. In: Rothenberger, L., Krause, J., Jost, J. & Frankenthal, K. (Hrsg.). Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos, Baden-Baden. S. 343-350.

Presse und Informationsamt der Bundesregierung (2020, 25. Nov.). Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus

Quent, M. (2020). Rechtsextremismus: 33 Fragen - 33 Antworten. Piper Verlag, München. 

Rothenberger, L., Krause, J., Jost, J. & Frankenthal, K. (Hrsg.) (2022). Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos, Baden-Baden.

Schmid, A. P. (Hrsg.) (2020). Handbook of Terrorism Prevention and Preparedness. ICCT Press, Den Haag. (freie Onlineversion), https://icct.nl/handbook-of-terrorism-prevention-and-preparedness/.

Sischka, K. (2022). Identitätsprozesse und Radikalisierung. In: Rothenberger, L., Krause, J., Jost, J. & Frankenthal, K. (Hrsg.). Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos, Baden-Baden. S. 359-366.

Spencer, A., Kocks, A. & Harbrich, K. (Hrsg.) (2011). Terrorismusforschung in Deutschland. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Sonderheft 1.

Srowig, F., Roth, V., Pisoiu, D., Seewald, K. & Zick, A. (2018). Radikalisierung von Individuen: Ein Überblick über mögliche Erklärungsansätze. PRIF Report 6/2018. Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) & Peace Rresearch Institute Frankfurt (PRIF), Frankfurt am Main. https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK/hsfk_publikationen/prif0618.pdf

Wahl, K. & Wahl, M. R. (2013). Biotische, psychische und soziale Bedingungen für Aggression und Gewalt. In: Enzmann, B. (Hrsg.). Handbuch Politische Gewalt: Formen - Ursachen - Legitimation – Begrenzung. Springer VS, Wiesbaden. Kindle E-Book Version. 





Sonntag, 11. Dezember 2022

Fallstudie über den Nazi "Tom"

Ich habe erneut eine Fallstudie über einen Nazi gefunden:

Smith, A. F. & Sullivan, C. R. (2022). Exiting far-right extremism: a case study in applying the developmental core need framework. Behavioral Sciences of Terrorism and Political Aggression. Onlineveröffentlichung vom 13.06.2022. https://doi.org/10.1080/19434472.2022.2076718

Tom war fast 20 Jahre Teil einer sehr bekannten und gewalttätigen Neo-Nazi Organisation in den USA. Die Forschenden trafen ihn für ein langes Interview. Fragen waren vorbereitet, das Gespräch verlief aber auch offen. In dem Forschungsbericht werden auch einige Details aus seiner Kindheit erwähnt.

Tom traf im Alter von elf Jahren erstmals auf die rechtsextreme Gruppe, genau zu der Zeit, als sein Vater gestorben war. Was ihn an der Gruppe sofort beeindruckte, war der – wie er sagt – „Respekt“, den die Gruppe durch ihr Auftreten bekam. Man könnte auch einfach sagen: Die Leute hatten Angst vor ihnen. „I liked that people feared me … I liked it when people saw me coming, they crossed the street” (S. 8)

Tom wuchs in einer Nachbarschaft auf, wo er und seine Familie die einzigen „Weißen“ waren. Als Kind hatte er zunächst viele „Schwarze“ als Freunde. Mit den Jahren fühlte er sich aber als „Weißer“ nicht gleich und auch rassistisch behandelt. „In addition to his feelings of social and racial alienation, Tom’s home life was characterized by conflict. He described his biological father as hard-working but largely absent. Tom noted, ‘ … there wasn’t a lot of communication with him [his father], except for when we [Tom and his brother] got in trouble.’ Tom described his father as a former Navy-man, who was a physically abusive disciplinarian. (Tom described being given ‘twenty-five to thirty spanks with a big-ass leather belt’ by his father for relatively minor infractions and childhood pranks.)” (S. 9).
Er entschuldigte seinen Vater sogleich für dessen Gewalt und Verhalten, weil dieser ganz ähnlich aufgewachsen sei (sprich mit Gewalt).

Später trat noch ein Stiefvater in Toms Leben. Tom spricht bewundernd von seiner Mutter. Die Beziehung zu ihr oder ihr Erziehungsverhalten wird aber nicht deutlich. An einer Stelle wird erwähnt, dass seine Mutter Brustkrebs hatte und behandelt werden musste. Es wird leider nicht deutlich, ob diese Situation noch in Toms Kindheit eintraf (was eine weitere schwere Belastung für das Kind bedeuten würde, das ja bereits seinen Vater früh verloren hatte).

Als er der Nazi-Szene beitrat wurde er innerhalb seiner Familie zum Außenseiter. Da er bereits ab dem 11. Lebensjahr in Kontakt mit der Szene kam, wird es – so meine Vermutung - zu etlichen Konflikten mit Mutter und Stiefvater gekommen sein.

Schwere traumatische Erlebnisse (väterliche Misshandlungen, Tod des Vaters) sind deutlich belegt, weitere Belastungen sind nicht ausgeschlossen. 

Innerhalb der Nazi Gruppe machte Tom dann sowohl als Täter als auch als Opfer weitere traumatische Erfahrungen. 


Sonntag, 4. Dezember 2022

Childhood is political!

This text (slightly updated version) is the English translation of:

Fuchs, Sven (2021). Die Kindheit ist politisch! Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Interdisziplinäre Fachzeitschrift für Prävention und Intervention (DGfPI), Jahrgang 24, Heft 1, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S. 80-85.


Abstract: Do childhood experiences have consequences? If this question is put into relation to politics and society or even to collective things such as war, extremism, terrorism or social developments towards dictatorial regimes, then quite a few people would respond, “No, childhood has nothing to do with it!” People answer in this direct way quite promptly, but most of the time they don’t engage or really get involved to talk about these connections. I will use among other things biographies to show that childhood is indeed political and that childhood experiences itself can have political consequences.


Please imagine, dear reader, that you are a psychotherapist. In the following, I present five individual cases, anonymized at first. You will learn the real names of the “patients” afterwards. Patients come to your practice, we imagine, because of a range of mental and health conditions (addictions, mood disorders, sleep disorders, suicidal thoughts, self-loathing, etc.). In the course of anamnesis and therapy, their childhood backgrounds become clear, which I will present briefly: 

Case A: A was the first surviving child after two miscarriages; at the age of five he almost died of smallpox; after an accident suffered in childhood, his left arm was also injured and remained crippled; the father was a violent alcoholic who beat his wife and children; A’s father beat him almost every day (after one assault the child had blood in his urine for days); one day the father even tried to strangle A’s mother; when A was 11 or 12 years old, his parents separated; the father later became a vagrant; A’s mother also abused her son and she forced him into training to become a priest; A spent five years of his adolescence in a seminary which was characterized by rituals of submission to authority, humiliation by the clergy, powerlessness and punishment.

Case B: The mother had originally wanted to abort the fetus; during pregnancy, she already perceived the fetus as a difficult child who was restless and kicked her; for the infant, the mother did only what was necessary and was uncaring; early separation of parents; single mother was overwhelmed early on and asked the authorities for help; as a two-year-old, B was therefore accommodated in out-of-home care at the weekends for some time; the mother neglected and beat her son + emotional abuse; the mother behaved in a “sexualized” manner toward her son; the mother told her son she wished he were dead; the mother probably suffered from borderline personality disorder; three-week inpatient admission to a psychiatric facility as a four-year-old (along with his single mother); psychiatric team was extremely concerned after the assessment and demanded that the mother and son be separated; the father then attempted to gain custody, but failed. 

Case C and D: This is about two brothers; the father was physically violent towards the children and died early of cancer; the now single mother neglected the children, who also grew up in poverty and appeared neglected; finally, the mother became seriously ill, she asked the authorities for help, whereupon the two sons were placed in a children’s home; however, the home chosen by the authorities was very far away, which meant that neither the mother nor the other siblings could visit the brothers, they could only phone them; a few month after being placed in the home, the mother died, presumably of a drug overdose. 

Case E: E was rejected as a fetus, his mother tried to abort him, but this failed; E lost his father early and went to live with an uncle who regularly beat him and called him the “son of a cur”; the uncle was considered an argumentative and moody person and an obstinate admirer of Adolf Hitler; the uncle was eventually imprisoned for his veneration of the Nazis and E had to go back and live with his mother who had found a new husband in the meantime; he was not welcomed; the new stepfather was also brutal and beat E; in the family home there was neither running water nor electricity, and humans and animals lived together under one roof; at night, the family slept crowded together on the dirt floor to keep each other warm; since E was fatherless and an outsider, he was also teased mercilessly by the other children in the village and often beaten up.

Case F: War childhood (including escape from Jena from the Red Army), orphan: The father died when F was five, the mother died when she was 14, severe conflict and marital crisis in the parental home after mother's affair, then suicidal moods of the mother; abandonment by the mother on several occasions (children's home + relatives); the first time, F’s mother passed her to the children’s home at the age of six for about half a year (later, F wrote the screenplay for the German film “Bambule”, which depicted the hardship and attempted resistance of female adolescents in institutions); the mother had fallen in love with a fellow female student and seems to have devoted herself entirely to this relationship and her university education; after the mother's death, the whole world died for her, F later said; the mother's girlfriend became a foster mother but neglected the adolescent.  

Please remember that you are still imagining that you “are” a psychotherapist. Do you see a connection between these childhoods and the patients’ suffering and mental state, or do you rule it out? I can imagine that you recognize a connection and you are also quite right with regard to the general research situation.

Internationally, since the pioneering work of Dr. Vincent Felitti in the late 1990s, research into so-called Adverse Childhood Experiences (ACEs) has expanded tremendously. ACEs typically include stress factors such as sexual, physical and emotional abuse; neglect; parental separation; witnessing domestic violence; growing up with mentally ill or addicted family members; and witnessing the incarceration of family members. 789 professional articles that focused on various consequences of adverse childhood experiences (ACEs) were published between 1998 and 2018 (Struck et al. 2021). In addition, a full 38,411 English-language professional articles thematically related to child maltreatment emerged between the years 2000 and 2018 (Tran et al. 2018). The large meta-study by Gershoff & Grogan-Kaylor (2016) is worth highlighting: 111 studies were evaluated. The studies evaluated included data for a total of 160,927 children. 99 % of studies found harmful effects of physical violence against children and no positive effects. 17 negative effects were recorded, including, for example, aggression, antisocial behavior, mental health problems, low self-esteem, lower cognitive ability, lower internalized morals, alcohol and drug abuse, and approval of corporal punishment against children. 

Analysis of ACEs (review and meta-analysis; 253,719 respondents from 37 international studies) has found that adults who were exposed to four or more ACEs were seven to eight times more likely to be involved in interpersonal violence (violence victimization or perpetration), and 30 times more likely to attempt suicide than adults with no ACE exposure (Hughes et al. 2017). 

Adverse Childhood Experiences were also found to a strikingly high extent in the particular population of (violent) offenders (Baglivio et al. 2021, Cannon et al. 2016, Dermody et al. 2020, Graf et al. 2021, Messina & Grella 2006, Reavis et al. 2013). In one study, particularly young murderers (N = 25, mean age = 14.7) were also found to have clearly destructive childhood backgrounds: dysfunctional family (96 %), emotionally abused at home (83 %), physically abused (55 %), sexually abused (10 %); in addition, 52 % of these children/murderers had suicidal thoughts (Myers et al. 1995).

Meanwhile, the costs associated with adverse childhood experiences are also coming into focus. A 2019 study, funded by WHO, calculates the annual cost due to adverse childhood experiences (ACEs) to be US$ 581 billion in Europe and US$ 748 billion in North America (Bellis et al. 2019). “How Much More Data Do We Need? Making the Case for Investing in Our Children” is the title of a recent specialist article that makes the case that the consequences of child maltreatment are finally extensively researched and that it is time to invest heavily in children (Berger et al. 2021). 

I believe that you are a good “psychotherapist” if you recognize the connections and do long-term trauma therapy with your above-mentioned patients. However, my experience is that these relationships are often faded out or even denied when it comes to the political realm, when it comes to dictatorial/authoritarian forms of government, extremism, terrorism, war and hostile/destructive politics. All these things are most rarely associated with adverse childhood experiences. 

But now we come to the resolution (sources for each of the childhoods discussed above are in parentheses): Patient A is the mass murderer and dictator Josef Stalin (Fuchs 2019), patient B is the Norwegian right-wing terrorist and mass murderer Anders Breivik (Borchgrevink 2013, Fuchs 2019), patients C and D are the Islamist terrorists Chérif and Saïd Kouachi (Fuchs 2019, Smith 2019) who carried out the attack on the editorial office of the satirical magazine Charlie Hebdo on January 7, 2015. Patient E is the Iraqi mass murderer and dictator Saddam Hussein (Fuchs 2019) and patient F is Red Army Faction (RAF) founding member and German far-left terrorist Ulrike Meinhof (Fuchs 2019).  

I could imagine that your assessment of these personalities might now change somewhat. There is a danger, you may think, that the actions of these people would be excused if we relate them to correspondingly destructive childhoods. There is an equal danger of losing sight of the victims of the perpetrators when we focus on the victim that these perpetrators once were. An essential thought may also be that most people abused and traumatized as children do not become mass murderers and terrorists (however, I assume that you as a “psychotherapist” would not hold against your “patients” that, after all, many other people with similar childhood backgrounds do not have an addiction problem or suicidal thoughts, just a thought). The influences that must come together for a person to become a perpetrator, even a mass murderer, are undoubtedly always complex and not just dependent on childhood. And yes, certainly the step to commit the crime is also a decision of the respective perpetrator and these people have to answer for this, no matter what their childhood was like. We do not have to excuse their actions, but we should understand so that prevention can take effect. 

The much more essential and central question for me is: Would these personalities have become this kind of perpetrator if they had experienced a largely loving and violence-free childhood? Or also: with the horrors of childhood remaining the same, would they have become these perpetrators if they had received help, support, positive compensatory experiences and psychotherapy early on? 

In 2019, I published my book, “Die Kindheit ist politisch!“ (Childhood is Political!”) (Fuchs 2019; the book was reviewed in English by Peter Petschauer (2020) ). In it, I showed that the countries and regions (e.g. Iraq, Syria, Afghanistan, Egypt, Palestine, Cambodia, El Salvador, but also the USA) that strike us as “problem children” in terms of world politics (or that represent this in a shorter historical retrospect) and that represent severe political conflicts, social imbalances, war, terror and/or recruitment regions for terrorists, at the same time show an enormously high level of violence against children in various forms and, in addition, often other stress factors for children. I have conducted extensive studies and case analyses/biographies on extremists/terrorists (e.g. Andreas Baader, Zacarias Moussaoui, Osama Bin Laden), (violent) criminals, dictators (e.g. Adolf Hitler, Benito Mussolini, Francisco Franco, Nicolae Ceauşescu, Slobodan Milosevic, Josip Broz Tito, Mao Zedong, Augusto Pinochet, Manuel Noriega, Fidel Castro), belligerent politicians (e.g. Lyndon B. Johnson, Ronald Reagan, George W. Bush, Bill Clinton, Recep Tayyip Erdoğan, Wladimir Putin) NS perpetrators (including Rudolf Hess, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Rudolf Höß, Adolf Eichmann) and soldiers. The conclusions from all my research come to a head in the title of the book. What all of the named personalities have in common is that their childhoods were often anything but free of violence, loving and happy. In the overall picture, it becomes clear that the above-mentioned case studies are not isolated cases or outliers. 

After the book was published, I also compiled all the studies/individual papers I could find in which right-wing perpetrators of violence / right-wing extremists had been interviewed about their childhoods. To date, I have found a total of 37 papers for which a minimum of one and a maximum of 115 right-wing personalities were interviewed. It turns out that right-wing perpetrators of violence or right-wing extremists usually had a very destructive childhood. I refer here to my abstract, which can be viewed online (Fuchs 2021). In my opinion, the empirical data is almost overwhelming and it is surprising that child protection as an essential branch of prevention of extremism has not been / is not widely discussed. 

One of these works is presented here as an example. 91 (70 male, 21 female) former US extremists / racists (from Ku Klux Klan, Christian Identity, neo-Nazi, racist skinheads groups) were interviewed. Results regarding ACE values (experiences before the age of 18): 48 % experienced physical abuse in the home, 46 % experienced emotional neglect in the home, 46 % experienced emotional abuse in the home, 23 % experienced sexual abuse in the home, 15 % experienced physical neglect in the home; 68 % experienced parent abandonment, 66 % reported parental substance abuse, 47 % witnessed domestic violence, 47 % reported parent/caregiver mental illness, and 32 % reported parent incarceration (Windisch et al. 2020). 

I advocate that we look at the possible political consequences of childhood without blinkers and that the prevention of child abuse or ACEs is also communicated as the prevention of violence, terrorism and extremism.  If this view succeeds across society as a whole, then this would subsequently necessitate one thing above all: more worldwide child protection.  

I would like to add my favorite quote (from the former director of the Clinic for Child and Adolescent Psychiatry at the University Medical Center Hamburg-Eppendorf and expert in psychotraumatology Prof. Peter Riedesser): “The more children here and around the world are neglected, beaten, humiliated and slide into hopelessness and hatred, the higher the destructive potential in our own country and worldwide. Against this background, child protection has become a question of survival. Worldwide child protection is the ideal way to prevent not only mental suffering, but also crime, militarism and terrorism. It ensures democracy and peaceful cultural and economic exchange. It takes all of our creativity and determination to make this happen. If we all wanted this in a unique act of solidarity, we would also have the knowledge and the means” (Riedesser 2002, p. 32). 


Bibliography

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Windisch, S., W., Simi, P., Blee, K. & DeMichele, M. (2020). Measuring the Extent and Nature of Adverse Childhood Experiences (ACE) among Former White Supremacists. Terrorism and Political Violence. https://doi.org/10.1080/09546553.2020.1767604


Samstag, 26. November 2022

Kindheit in Russland - Teil 2

Die in Kiew geborenen Politikerin und Publizistin Marina Weisband (2022) hat mit Blick auf den aktuellen Krieg in der Ukraine auf ihrer Homepage folgendes geschrieben:
Eigentlich seit dem 13. Jahrhundert lebten sämtliche Generationen in Russland in Knechtschaft. Sie wurden in Knechtschaft geboren und starben in Knechtschaft. Sei es das zaristische Regime mit der Leibeigenschaft oder der Stalinismus. Persönliche Würde war einfach kein Ding. Meine Mutter erzählte mir gestern: „Ich habe, als ich nach Deutschland gekommen bin, fünf Jahre gebraucht, um zum ersten Mal sowas wie Selbstwert zu fühlen. Davor hatte ich keine Vorstellung, was das ist.“ Was bedeutet das? In der Sowjetunion war der Mensch staub. (…) Wo Menschen Staub waren, hielten sie sich schon immer an etwas, das größer war, als sie selbst. Die Idee Gottes. Die Idee des Imperiums. Die schiere Größe des Landes und seines Geistes, wo das eigene Leben klein und unbedeutend war.“

Geschichte ist nicht einfach nur Geschichte. Sie wirkt fort (Stichwort u.a.: transgenerationales Trauma). Das hat Weisband in ihrem eindrucksvollen Text „Russland verstehen“ im Grunde deutlich beschrieben. 

Wie sah also Kindheit in Russland aus? Dieser Frage bin ich bereits in dem Blogbeitrag "Kindheit in Russland" vom 03.04.2014 nachgegangen. Diesen Beitrag möchte ich heute ergänzen.
Meine neue Hauptquelle, die mich vor allem dazu veranlasste, ist das Buch „Children's World: Growing Up in Russia, 1890–1991“ von Catriona Kelly; eine wahre Fundgrube für Kindheit in Russland. Ergänzen werde ich diese neue Quelle um einzelne, kurze Informationen aus anderen Quellen, die ich hier verarbeiten werde. 

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Kindheit in Russland

Wenn beispielsweise um das Jahr 1900 herum Essen serviert wurde, kamen die Kinder zuletzt und bekamen die schlechtesten Stücke. Der Hausherr nahm sich zuerst. Am Ende mussten sich die Kinder beim Hausherren für das bedanken, was sie erhalten hatten (Kelly 2007, S. 366) "Family law still enshrined the patriarch as mini-tsar in his own household, with his wife and progeny perceived  as dependants" (Kelly 2007, S. 27). Im Kleinen wie im Großen herrschten zaristische Verhältnisse und sicherlich steht beides auf eine Art in einem Zusammenhang bzw. stützte sich gegenseitig.
Oder wie Lloyd deMause es drastischer formulierte: „Die politischen Alpträume des zaristischen und stalinistischen Russlands waren exakte Abbilder der Alpträume einer gewöhnlichen russischen Kindheit. Weitverbreiteter Kindesmord, heftige Schläge und andere Arten physischer Misshandlung waren Vorbilder für physische Gewalt des Kremls, das KGB und des Gulag" (deMause 2000, S. 455f.).

Im 17. Jahrhundert besaß die junge Frau in Russland keinerlei Vorrechte. Zu ihren Aufgaben gehörte es, sich um das Haus zu kümmern, Kinder zu gebären und für ihren Mann zu sorgen. „Wenn der Mann mit seiner Frau nicht zufrieden war, hatte er die Möglichkeit, sie zu züchtigen. Wenn nur eine leichte Strafe notwendig war, konnte er sie schlagen. Der Domostroi, der Kodex für die Haushaltsführung (…), diente den Oberhäuptern der russischen Familien als Leitfaden für die verschiedenen häuslichen Angelegenheiten, wie dem Konservieren von Pilzen bis hin zur Züchtigung von Ehefrauen. In Bezug auf letzteres empfahl er, 'ungehorsame Frauen streng, jedoch nicht zornerfüllt auszupeitschen'. Sogar eine gute Frau sollte von ihrem Mann belehrt werden, 'indem er von Zeit zu Zeit die Peitsche gebraucht, wobei er aber freundlich bleibt, niemanden anderen zusehen lässt, vorsichtig vorgeht und Fausthiebe vermeidet, welche blaue Flecken verursachen'. In den unteren Gesellschaftsschichten pflegten russische Männer ihre Frauen auch bei den geringsten Anlässen zu schlagen. 'Einige von diesen Barbaren hängen ihre Frauen an den Haaren auf und peitschen sie ganz nackt', schrieb Dr. Collins. Manchmal starben die Frauen an den Folgen der Züchtigungen; dann waren die Männer frei und konnten wieder heiraten“ (Massie 1982, S. 38).

Eine weitere Möglichkeit, sich seiner Ehefrau zu entledigen, war, sie in ein Kloster zu stecken. Für die Außenwelt galt sie dann als „tot“, der Mann durfte erneut heiraten. „Die gesellschaftliche Verachtung der Frauen hatte grausame Folgen für die russischen Männer des 17. Jahrhundert. Ein echtes Familienleben gab es nicht, das intellektuelle Leben stagnierte, die rohesten Sitten herrschten vor, und die Männer fanden nur Ablenkung im Alkohol.“ (Massie 1982, S. 39).
Noch viel mehr, das möchte ich hier diesem Zitat anmerken, hatten die Frauen zu leiden und mit ihnen die Kinder, die all diese Rohheiten von Beginn an miterleben mussten. Aus diesen Kindern wurden dann die Erwachsenen, die die "Traditionen" fortführten. Man kann auch nicht erwarten, dass sich aus furchtbar missbrauchten, unterworfenen und gedemütigten Mädchen/Frauen gute Mütter entwickeln. Als Mütter hatten und haben Frauen stets Macht über Kinder. Traumatisierte Mütter werden auf die eine oder andere Art mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auch zu einer Belastung oder sogar zu einer Gefahr für die eigenen Kinder, gerade auch in einer Zeit wie dem 17. Jahrhundert. 

Ein Bericht in der New York Times zeigt, dass diese "Geschichte der häuslichen Gewalt" bis heute fortwirkt: "A fifth of all Russian women have been physically abused by a partner, and an estimated 14,000 women in the country die as a result of domestic violence each year—more than nine times the number of deaths in the U.S., though Russia’s population is less than half the size. At least 155 countries have passed laws criminalizing domestic violence. But in Russia, there is no such law; the government has even made it easier for domestic violence to go unpunished" (Roache 2021). 

Nun ist es sicherlich so, dass z.B. im 17. Jahrhundert auch in (West-)Europa raue Sitten herrschten. Allerdings spricht einiges dafür, dass Russland allgemein rückständiger war und sich Fortschritt langsamer vollzog (u.a. zu sehen am Beispiel der Leibeigenschaft, Alphabetisierungsrate, Kindersterblichkeitsrate, Kleinkindbetreuung, Wickelpraxis). 

"Etwas mehr als die Hälfte der Bauern waren Leibeigene. Ihre Eigentümer, die Grundherren, gehörten gewöhnlich dem Adel an. Zu einer Zeit, da die Leibeigenschaft nahezu überall in Westeuropa verschwunden war, um die Mitte des 17. Jahrhunderts, hatte man sie in Russland gesetzlich festgeschrieben" (de Madariaga 2006, S. 25). Noch im Jahr 1858 lebten ca. 40 % der Russen als Leibeigene. Sie wurden erst am 19.02.1861 durch die Aufhebung der Leibeigenschaft in die Freiheit entlassen (d'Encausse 1998, S, 18).

Auch die Alphabetisierung vollzog sich langsamer. 1870 lag die Alphabetisierungsrate im russischen Reich bei gerade einmal bei 15 % (im Vergleich zur gleichen Zeit z.B.: Schweden = 80%, Vereinigtes Königreich = 76%, Frankreich 69%) (Roser & Ortiz-Ospina 2018).

Auch die Kindersterblichkeit war verhältnismäßig hoch. Im Jahr 1913 lag die Säuglingssterblichkeitsrate (0-1 Lebensjahre) im europäischen Teil Russlands bei 26,5%. In zentralrussischen Gebieten (darunter u.a. die Region Moskau, Nowgorod oder Kaluga) lag die Sterblichkeitsrate sogar zwischen 34 und 38,6%. „The discrepancy between these rates and those in some European countries – 13.9 in Britain, 16.7 in France, 19.9 in Germany, and 21.3 in Austro-Hungary – was regularly cited in order to point to Russia`s backwardness and to the need of change” (Kelly 2007, S. 294).  Im frühen 20. Jahrhundert lag die Kindersterblichkeit der unter Dreijährigen im russisch-ländlichen Raum bei 50% (Kelly 2007, S. 306). Ab Ende der 1920er Jahre begannen die Kindersterblichkeitsraten deutlich zu sinken. Im Jahr 1957 lag die Säuglingssterblichkeitsrate (0-1 Jährige) bereits bei 4,5 % (Kelly 2007, S. 323). 

Die hohe Säuglingssterblichkeit hing u.a. auch mit traditionellen Vorstellungen vom Umgang mit dem Kind zusammen. „Even where it was detrimental, traditional care often 'killed with kindness' rather than neglect or indifference. Feeding solids early came from the conviction that 'milk isn`t a real food'. Enormous efforts were expended to protect children, though in the first instance from malevolent spirits and the 'evil eye' rather than from infections or microbes” (Kelly 2007, S. 294). Dass die Autorin Vernachlässigung als Ursache für die Sterblichkeitsraten zur Seite schiebt, erstaunt.
Dunn (1980, S. 537) folgend kamen die Sterblichkeitsraten in Russland zwar auch durch Bedingungen wie unzureichende Ernährung und medizinische Versorgung, klimatische Bedingungen etc. zu Stande, aber: „Wichtig ist meiner Meinung nach die Tatsache, dass russische Eltern Kinder und Kinderaufzucht für unwichtig hielten. Zwar musste man sich um die Kinder kümmern, doch im Grunde genommen vernachlässigten die Eltern ihre Kinder, ja, waren ihnen gegenüber sogar feindlich gesonnen.“

Kelly neigt außerdem dazu, Vorzüge des traditionellen straffen Wickelns der Säuglinge in Russland (Bewegungsfreiheit wird monatelang gänzlich eingeschränkt) hervorzuhaben (Kelly 2007, S. 288), obwohl sie sehr wohl wahrgenommen hat, dass die Expertenmeinungen zwischen Russen und Europäern bzgl. des straffen Wickelns schon damals deutlich auseinandergingen (Kelly 2007, S. 330). Die Praxis des traditionellen, straffen Wickelns hielt sich in Russland in manchen Arbeiterfamilien bis in die 1930er Jahre. Auf dem Land gab es bis in 1960er Jahre keinerlei Bestrebungen, von dieser Praxis abzurücken (Kelly 2007, S. 330). 

Babybücher der frühen Sowjetzeit betonten die Notwendigkeit zur Selbstbeherrschung und Disziplin von Anfang an, wozu u.a. das Baden in kaltem Wasser zur „Abhärtung“ gehörte (Kelly 2007, S. 326). Lloyd deMause meint mit Blick auf bis ins 20. Jahrhundert praktizierte „Abhärtungsrituale“ von Säuglingen (die es früher auch in Westeuropa gab), dass sich Reformen der Kindererziehung in Russland im Vergleich zu Westeuropa um ca. 200 Jahre verzögerten (deMause 2000, S. 455).

Schon die Geburt verlief noch Anfang des 20. Jahrhunderts nicht selten alles andere als erfreulich:
In communities where women had to work right through pregnancy, elaborate preparation was ruled out for many, and it was fairly common for women to go through labour unaided, in field or by a road. As one Soviet obstetrician was to comment, a pregnant women could expect less considerate treatment than a draught horse. In such situations, one may assume, the ritual procedures of birthing were delayed or truncated, and the infant arrived in life uncelebrated and unwelcomed” (Kelly 2007, S. 292). 

Aber auch Kindestötungen kamen vor: “Infanticide was not an uncommon event in the countryside (…)” (Kelly 2007, S. 292). "Among the lowest social level in seventeenth century Russia, female infanticide seems to have been widespread" (Milner 2000, S. 232).
Säuglingstötungen wurden Anfang des 18. Jahrhunderts seitens der politischen Führung zum Thema (was klar macht, dass die Tötungen eine bekannte Realität waren). Zunächst ging es vor allem darum, das Töten von illegitimen Kindern zu verhindern. 1716 wurden dann durch Peter I. Strafen für das Töten von sowohl illegitimen wie auch legitimen Kindern verhängt. Doch die russischen Väter fühlten sich durch diese Verordnung in ihren traditionell absoluten Rechten über ihren Nachwuchs zu bestimmen beschnitten. Peter I. reagierte darauf so, dass es keine Strafen gegen Elternteile gab, wenn deren Kinder "versehentlich" während elterlicher Strafmaßnahmen starben. In der Folge wurde es schwierig, den Eltern strafbares Fehlverhalten nachzuweisen. (Milner 2000, S. 107). 

Ab den 1930er Jahren gab es Bestrebungen, die Krippenbetreuung massiv auszuweiten. In den Folgejahren wurde die maximale Anzahl von zu betreuenden Kleinkindern auf 35 bis 40 pro Betreuungsperson angehoben (Kelly 2007, S. 344). In der Realität sei laut Kelly die Zahl der zu betreuenden Kinder zweifellos höher gewesen. 
Wir können uns vorstellen, dass die Bedingungen für die Kinder entsprechend miserabel waren, wovon auch einzelne Berichte zeugen, die Kelly zitiert. Der Standardaufenthalt der Kinder in den Krippen lag in den 1940er Jahren bei zwölf Stunden.  „'Hospitalisation', in the sense of institutionalised psychological trauma and emotional deprivation, must have been widespread among many 'graduates' of such crèches” (Kelly 2007, S. 349).
Aber nicht nur die Bedingungen waren rückständig, auch die Anzahl von Kindergärten (also Einrichtungen für etwas ältere Kinder) zeigt, dass Russland ganz anders aufgestellt war: "In 1911 there were only 100 kindergartens in operation across Russia, a figure that was strikingly low compared with the figures for France (5,863), the US (4,363), or Austro-Hungary (3,150)" (Kelly 2007, S. 369)

Bezogen auf Arbeiter- oder Bauernkinder um 1900 war das Hauptbestreben der Eltern sie durch die frühe Kindheit zu bringen. Enger Kontakt zur Mutter war begrenzt auf die ersten frühen Jahre. Sobald die Kinder sprechen und gehen konnten, wurden sie der Aufsicht von älteren Geschwistern überlassen oder gar nicht beaufsichtigt. Manchmal konnte aus Vernachlässigung auch Kindesmisshandlung werden, betont die Autorin (Kelly 2007, S. 361). 

Ein Bericht aus dem ländlichen Russland im 19. Jahrhundert zeigte vielfältige Gewalt gegen Kinder: „Dmitrii Ivanovich Rostilavov (b. 1809), raised as the son of a priest in a Russian village, noted the widespread resort to corporal punishment at all levels of society. Whereas landowners, the clergy and merchants adopted a grim ritual with birch rods or leather straps, peasants seized whatever was to hand, including sticks, ropes and horse whips, with the result that children were »beaten, pummeled, and even maimed«” (Heywood 2018, S. 114).

Um das Jahr 1900 herum war in Russland auch in den Mittel- bis Oberklassefamilien Körperstrafen gegen Kinder keineswegs unüblich. Auch das Einsperren von Kindern in dunklen Räumen waren mögliche Strafmaßnahmen (Kelly 2007, S. 362). In Arbeiter- oder Bauernfamilien galt: “Generally, the attitude to children, once they had reached the age of seven, was strict. Misdemeanours were punished by beatings or by sharp scoldings, disobedience was not tolerated" (Kelly 2007, S. 366) Manchmal wurden Kinder halbtot geschlagen, wie laut Kelly Einzelberichte zeigten. 

Ende des 19. Jahrhunderts waren auch Körperstrafen an Schulen gängige Praxis in Russland, wobei in religiösen Schulen am brutalsten geschlagen wurde (Kelly 2007, S. 521f.)
Gewalt gegen Kinder hielt sich auch in der Sowjetzeit: „Corporal Punishment was, by all accounts, used almost universally in working-class and peasant families. Strict control was still exercised in some families over how children behaved at table, and over the way they acted in the presence of visitors – interrupting and clamouring for attention were definitely not allowed. A standard method of behaviour regulation was the withdrawal of love: 'I don`t have a granddaughter any more', as a visiting grandmother said to her Leningrad granddaughter in 1960” (Kelly 2007, S. 390). 

Es mag entsprechend wenig verwundern, dass auch die Schüler untereinander oftmals nicht gerade zimperlich miteinander umgingen. Kinder, die anders oder schwächer waren, wurden schnell zur Zielscheibe (Kelly 2007, S. 562f.) Heute würden wir dazu Mobbing sagen. 

Vor allem nach den Jahren des Ersten Weltkriegs und der Oktoberrevolution stieg in Russland die Zahl der Kinder, die in Waisenhäuser untergebracht werden mussten, rasant an. Von 30.000 im Jahr 1917 auf 540.000 im Jahr 1921 (Kelly 2007, S. 193). Nach der Hungersnot 1920/1921 lag ergänzend die Zahl der Kinder, die ins Elend und totale Not gestürzt wurden bei mindestens vier Millionen. Diese Kinder wurden zu Erwachsenen und gestalteten die russische Gesellschaft mit. 

Dunn spitzt die Lebenssituation vieler russischer Kinder im historischen Rückblick wie folgt zu:
In der Zeit von 1760 bis 1860 in Russland ein Kind zu sein, war eine Qual, ein ungesichertes Dasein voll von Hindernissen für die körperliche wie die seelische Entwicklung. Vielleicht weniger als die Hälfte der Kinder erreichte das Erwachsenenalter. (…) Nur wenige von denen, die trotz allem körperlich überlebten, wurden in unserem heutigen Sinn erwachsen, nämlich autonome eigenverantwortliche Persönlichkeiten“ (Dunn 1980, S. 537).

Inna Hartwich (2022) hat für die taz den Artikel "Erziehung in Russland. Gewalt von Kindesbeinen an" verfasst und diese auf allen Ebenen zu findende Gewalt in der russischen Gesellschaft in Bezug zu Gräueltaten der russischen Armee und auch dem Krieg in der Ukraine an sich gesetzt. 
Ihr großartiger Artikel erspart mir hier das ausführliche Schlusswort! Wir müssen die aktuellen Kindheiten in Russland allerdings - dies soll dieser Blogbeitrag hier deutlich machen - im Kontext der Geschichte von Kindheit in Russland betrachten. 

Langfristig gilt: Russland verändern heißt, russische Kindheit verändern und verbessern. Ein Projekt, das nicht von heute auf morgen realisiert werden kann. Ein Bewusstsein für dieses grundlegende Problem wäre ein Anfang. 


(Siehe ergänzend die Kindheiten etlicher russischer Zaren und die Kindheit von Putin, Lenin, Stalin und Trotzki in meinem Blog)


Quellen:

de Madariaga, I. (2006). Katharina die Grosse. Das Leben der russischen Kaiserin. Hugendubel Verlag, Kreuzlingen / München.

deMause, L. (2000). Was ist Psychohistorie? Eine Grundlegung. Psychosozial Verlag, Gießen.

d'Encausse, H. C. (1998). Nikolaus II.: Das Drama des letzten Zaren. Paul Zsolnay Verlag, Wien. 

Dunn, P. P. (1980). »Der Feind ist das Kind«: Kindheit im zaristischen Russland. In: DeMause, L. (Hrsg.) (1980). Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main. S. 535-564.

Hartwich, I. (2022, 05. Juli). Erziehung in Russland. Gewalt von Kindesbeinen an. taz. 

Heywood, C. (2018). A History of Childhood. Polity Press, Medford. (Second Edition)

Massie, R. (1982). Peter der Grosse und seine Zeit. Athenäum Verlag, Königstein/Ts.

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Roache, M. (2021, 03. März). Russia's Leaders Won't Deal With a Domestic Violence Epidemic. These Women Stepped Up Instead. New York Times. 

Roser, M. & Ortiz-Ospina, E. (2018, 20. Sep.). Literacy. Our World in Data. 

Weisband, M. (2022, 07. März). Russland verstehen