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Mittwoch, 24. Januar 2024

Kindheit von Pol Pot

Die Familie lebte im Vergleich zu den Leuten in ihrer Umgebung im Wohlstand (Short 2004, S.28).

Pol Pot (eigentlicher Name ist „Saloth Sâr“, ich bleibe im Textverlauf aber bei Pol Pot) hatte insgesamt fünf Geschwister, wovon drei deutlich älter waren. Drei weitere Geschwister waren gestorben, wobei in der verwendeten Quelle nicht der genaue Zeitpunkt ihres Todes genannt wird (Short 2004, S. 28). Insofern ist auch nicht klar, ob Pol Pot ihren Tod miterlebt hat oder nicht (was ein sehr schwerer Belastungsfaktor für ein Kind wäre). Bei insgesamt drei toten Kindern halte ich es zumindest für wahrscheinlich, dass er den Tod von mindestens einem Geschwisterkind miterlebt haben könnte.

Über die Säuglingszeit von Pol Pot fand ich keine Informationen. Allerdings sei an dieser Stelle auf den im ländlichen Raum der Region traditionell verbreiteten Glauben an „Geister-Mütter“ aus dem vorherigen Leben erinnert.
In Kambodscha gab und gibt es vor allem im ländlichen Raum traditionelle Vorstellungen bezogen auf das neugeborene Kind, die von wesentlicher Bedeutung sind. Ein zentraler Glaube ist, dass das Neugeborene durch seine Mutter aus dem früheren Leben (Glaube an Wiedergeburt) stark beeinflusst werden kann. Sobald das Neugeborene seinen ersten Atemzug tut, muss die Verbindung zur früheren Mutter abgetrennt werden, wofür es einige Rituale gibt. Trotzdem bleibt die Angst groß, dass die frühere Mutter eifersüchtig oder wütend werden könnte, wie die neue Mutter mit dem Kind umgeht und es aufzieht. Passiert dem Kind irgendetwas, könnte dies durch die frühere Mutter beeinflusst sein und wirft ein schlechtes Licht auf die neue Mutter. Aus diesem Grund sind viele Mütter bemüht, nicht allzu herzlich und liebevoll, aber auch nicht all zu aggressiv mit dem Kind umzugehen. „(…) many mothers, for example, are encouraged not to be seen to be either too affectionate or too aggressive towards the child in case it creates jealousy or anger in the previous birth mother. If a child smiles before 3 months old it can be interpreted as a signal that it can see its preceding mother. Where she is jealous or angry she might again try to 'take the child back'.” (Miles & Varin 2006, S. 15).
Ein Baby, das lächelt, wird demnach also nicht auf Freude stoßen, sondern auf Angst. Dass dieser Glaube den gesamten Umgang mit Säuglingen und Kindern negativ beeinflusst, liegt nahe. Die Folgen dieses Glaubens für die Entwicklung eines Kindes sollten nicht unterschätzt werden. Was bedeutet es für ein Kind, wenn es auf die Welt kommt und die eigene Mutter voller Ängste ist, weil da noch die andere Mutter aus dem „vorherigen“ Leben im Hintergrund steht? Symbolisch steht etwas Grundlegendes zwischen Mutter und Kind: eine andere Mutter. Wie kann so eine emotional gesunde Entwicklung glücken?

Der Biograf Philip Short schreibt mit Blick auf die Kindheit von Pol Pot: „Cambodians, at that time even more than today, lived parallel sets of lives: one in the natural world, among the laws of reason; the other, mired in superstition, peopled by monsters and ghosts, a prey to witches and the fear of sorcery. In this sense Cambodia was, and to some extent is still, a medieval country, where even the King takes no important decision without first consulting the court astrologer.” (Short 2004, S. 28).
Ich halte es entsprechend für hoch wahrscheinlich, dass auch Pol Pot als Säugling so behandelt wurde, wie zuvor oben beschrieben (auffällig ist in diesem Kontext auch, dass der Vater von Pol Pot als sehr „neutral“ in seinem Verhalten beschrieben wird und nicht mit seinen Kindern lachte – siehe unten).  

Das jüngste Kind der Familie, Neph, erinnert sich an die Eltern, beginnend mit dem Vater, wie folgt: „He never joked with us, or with anyone else. If he was angry, he didn’t show his feelings or become violent. He always remained calm. Our mother was the same, and I think that’s why they got on so well” (Short 2004, S. 31) Der Vater “was a disciplinarian, like most Cambodian fathers, but by the standards of the time the chastisement he meted out was mild.” (Short 2004, S. 31). 

Wir bekommen hier ein Bild gezeichnet, das grundsätzlich mit Vorsicht zu beurteilen ist. Denn das Bild kommt von einem Kind (Neph) der Familie, negative Episoden mit den Eltern können ausgeblendet und/oder ein idealisierendes Bild der Eltern gezeichnet worden sein. Wir wissen heute, dass Menschen grundsätzlich dazu neigen, Eltern im Rückblick eher milde zu beurteilen. Das ist das Eine. 

Dennoch bekommen wir in diesen Zeilen einige aufschlussreiche Informationen. Die Eltern hätten sich relativ neutral gegenüber den Kindern verhalten. Außerdem wird trotz der Zeichnung des Vaters als nicht gewalttätig dennoch darauf verwiesen, dass er auch der Strafende war, wie bei den meisten Vätern der Region, wenn auch in milderen Formen. Wir können nicht ausschließen, dass dies auch Gewalt beinhaltete. 

Bis zum heutigen Tag sind Körperstrafen in der Familie in Kambodscha erlaubt (Global Partnership to End Violence Against Children 2023). Das Ausmaß von (schwerer) Gewalt gegen Kinder in den Familien ist extrem hoch: „One in two of Cambodia’s children have experienced severe physical discipline, and one in four has experienced emotional abuse” (Global Partnership to End Violence Against Children 2020). (Siehe ergänzende zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in dem Land auch einen älteren Blogbeitrag von mir!)

Pol Pot wurde je nach Quelle 1925 oder 1928 geboren, damals werden Körperstrafen noch weitaus mehr als legitime Erziehungs-Norm verinnerlich und zur Routine gehört haben, als heute. Körperstrafen werden dann dem Zeitgeist nach oftmals nicht als Gewalt definiert, auch nicht von den Menschen, die dies („notwendige“ Erziehung) seitens der Eltern erlebt haben.

Interessant ist auch, dass der Biograf Short in diesem Kontext den Schul-/Studienfreund von Pol Pot, Keng Vannsak, bzgl. dessen Schulzeit im Dorf zitiert. Ungehorsam wurde damals durch den Dorflehrer hart bestraft: “How he beat me! Kicks and punches . . . he was brutal! Then he took me outside, and put me under a grapefruit tree – full of red ants!” (Short 2004, S. 32).
Und er fügt an: “Yet punishments like this were so much the norm for Cambodian youngsters that Vannsak remembered that same teacher as ‘an adorable, saintly man’ who first instilled in him a love of learning” (Short 2004, S. 32). Hier sehen wir überdeutlich die starke Identifikation mit dem Aggressor. Ob Pol Pot auch vom Dorflehrer geschlagen wurde, scheint nicht belegt zu sein (sollte aber von der Wahrscheinlichkeit her mitgedacht werden). 

Diese Textstelle ist eine deutliche Mahnung auch bzgl. der oben zitierten positiven Aussagen von Neph über seine Eltern. Zudem erhalten wir hier Informationen über Strafformen gegen Kinder im ländlichen Kambodscha der damaligen Zeit. Viele Kinder werden ähnliches erlebt haben. 

Keng Vannsak hat außerdem auch Zuhause seitens des Vaters schwere Gewalt erlebt: Der Vater, “who used to tie his arms together, throw him on to a bed and beat him with a cane until he fainted” (Short 2004, S. 32). Pol Pot und seine Geschwister hätten da mehr Glück gehabt, hängt Short dem an.

Auch Chandler (1992, S. 8) betont, dass es keine Belege dafür gebe, dass Pol Pot derartige Konflikte mit seinem Vater hatte, wie es z.B. bzgl. Stalin oder Mao überliefert ist. Er erwähnt in diesem Kontext aber auch, dass Pol Pot in Unterhaltungen mit anderen Menschen nie seine Eltern erwähnte und sich ausschwieg. 

Sofern das Bild, das Neph gezeichnet hat, einigermaßen stimmen sollte, kamen allerdings spätestens im Alter von sechs oder neun Jahren schwere Belastungen auf Pol Pot zu (Short (2004) geht von dem Geburtsjahr 1925 aus, Chandler (1992, S. 7) nennt ebenfalls auch das Jahr 1925, hält aber das Geburtsjahr 1928 für plausibler, was bedeuten würde, dass Pol Pot bereits im Alter von sechs Jahren seine Familie verlassen musste, was Short auch genauso ausführt: Pol Pot habe seine Familie im Alter von sechs Jahren verlassen müssen Chandler (1992), S. 8).
Der Junge sollte dem Willen der Eltern nach in Phnom Penh zur Schule gehen und zukünftig bei Verwandten leben. Dies war kein ungewöhnlicher Schritt, es gehörte zur Tradition des Landes, dass (oft wohlhabendere) Verwandte Kinder aufnahmen und diese informell adoptierten (Vries & Weerdesteijn 2018, S. 11). Für die Kinder bedeutete diese eine Trennung von ihren Eltern. 

Bevor es soweit war, wurde Pol Pot aber noch für ein Jahr auf ein strenges, buddhistisches Kloster (Wat Botum Vaddei) geschickt, in dem jedes Jahr ca. einhundert Kinder neu aufgenommen wurden.
Monastic discipline was strict. As a novice, Sâr was part of a rigidly ordered community in which (…) originality and initiative were discouraged, the least deviation was punished and the greatest merit lay in unquestioning obedience to prevailing orthodoxy” (Short 2004, S. 35).

Ein Mitklosterschüler von Pol Pot berichtet über die strenge Disziplin vor Ort u.a.:
And you were given a thrashing if you didn’t do as they said. If you didn’t walk correctly, you were beaten. You had to walk quietly and slowly, without making any sound with your feet, and you weren’t allowed to swing your arms. You had to move serenely. You had to learn by heart in pali the rules of conduct and the [Buddhist] precepts so that you could recite them without hesitation; if you hesitated, you were beaten” (Short 2004, S. 35). Dieser Unterwerfung und Gewalt wird auch Pol Pot nicht entronnen sein.
Chandler (1992, S. 9) merkt bzgl. der Zeit im Kloster an: „At six or seven and recently separated from his parents, Sar must have been traumatized by the solemn discipline of the monastery, even though there would have been other little boys with shaven heads wearing yellow  robes with him. (…) Sar was also forced to be obedient.”
Jetzt wird es interessant. Denn Chandler, der wie gezeigt deutliche Worte bzgl. einer Traumatisierung im Kindesalter findet, merkt nur wenige Sätze danach an: „In examining his early years, I found no traumatic events and heard no anecdotes that foreshadow his years in power“ (Chandler 1992, S. 9). Er sei außerdem ein liebenswertes Kind gewesen.
Dass sich Biografen und Historiker bzgl. der Kindheit ihrer Untersuchungssubjekte selbst widersprechen, erlebe ich nicht zum ersten Mal. Hier spielt meiner Meinung nach u.a. fehlendes Fachwissen über Traumatisierungen und Traumafolgen, aber auch fehlendes gesellschaftliches Bewusstsein bzgl. der vielen verdeckten und offenen Belastungen, denen Kinder ausgesetzt sind, mit rein.  

Nach dem Jahr im Kloster wurde Pol Pot im Haus seines älteren Bruders in Phnom Penh aufgenommen und ging vor Ort zur Schule. Mit seinen Eltern im Dorf scheint er nie wieder zusammengelebt zu haben. 

In einem kriminologischen Artikel befassen sich die Autoren de Vries & Weerdesteijn (2018) mit Pol Pots Sozialisation und Kindheit vor dem Hintergrund seiner Verbrechen. Das dauerhafte Weggeschickt werden im Kindesalter wird die Bindung zu seinen Eltern deutlich belastetet haben, schreiben sie. Zusätzlich zitieren sie aus der kriminologischen Forschung, dass eine schwache Bindung an Eltern mit abweichendem Verhalten in einem Zusammenhang steht (Vries & Weerdesteijn 2018, S. 15). Eine logische und zulässige Verbindungslinie, wie ich finde. 

Pol Pot besuchte später regelmäßig seine Schwester, die im Palast des Königs lebte (Infos über weitere Beziehungen der Familie zum Königshaus siehe auch Chandler (1992), S. 8). Bei diesen Besuchen kam es, den Erinnerungen von zwei Palastfrauen zufolge, auch zu sexuellem Missbrauch durch die Frauen des Harems. „At fifteen, Sâr was still regarded as a child, young enough to be allowed into the women’s quarters. (…) The young women would gather round, teasing him, they remembered. Then they would loosen his waistband and fondle his genitals, masturbating him to a climax. He was never allowed to have intercourse with them. But in the frustrated, hothouse world of the royal pleasure house, it apparently afforded the women a vicarious satisfaction.” (Short 2004, S. 42).

Später wechselte Pol Pot auf eine Technikerschule. Während dieser Zeit waren seine Mitschüler feindlich gegenüber ihm eingestellt und er fühlte sich sehr einsam (Vries & Weerdesteijn 2018, S. 16).

Die Ironie der Geschichte wollte es, dass Pol Pot während eines Auslandsstudium in Paris mit den kommunistischen Ideen in Berührung kam, die seinen weiteren Weg prägen sollten (Vries & Weerdesteijn 2018, S. 16).

Fazit

Auch wenn es vielen anderen Kindern aus der Zeit und Region – den Biografen nach - noch schlimmer ergangen zu sein scheint, so bleibt es eine Tatsache, dass auch Pol Pot nicht verschont wurde: seine Kindheit war deutlich und mehrfach belastet. Seine Kindheit fügt sich ein in die lange Reihe von belasteten Kindheiten von Diktatoren und Massenmördern. 

Die Recherchen bzw. dieser Text hier zeigen allerdings auch überdeutlich gerade auf die Kindheiten der Vielen. Diktatoren wie Pol Pot sind nur in einer Gesellschaft möglich – so meine These – in der ein bedeutsamer Teil der Menschen als Kind traumatisiert wurde (Stichworte aus dem Text: Glaube an „Geister-Mütter“ und entsprechender Umgang mit Säuglingen, verbreitete Weggabe von Kindern, Gewalt gegen Kinder in der Familie, Schule und in Klöstern). Dies bildet das Fundament für den kollektiven Wahn und Terror, der sich Bahn brechen kann (nicht muss). 


Quellen:

Chandler, D. P. (1992). Brother Number One: A Political Biography Of Pol Pot. Westview Press, Boulder – San Francisco – Oxford.

Global Partnership to End Violence Against Children (2020). IN CAMBODIA, FORMAL SOCIAL WORKERS NOW REACH ALL 25 PROVINCES. https://www.end-violence.org/articles/cambodia-formal-social-workers-now-reach-all-25-provinces

Global Partnership to End Violence Against Children (2023). Corporal punishment of children in Cambodia. https://www.endcorporalpunishment.org/wp-content/uploads/country-reports/Cambodia.pdf

Miles, G. & Varin, S. (2006). Stop violence against us! Summary report 2: a preliminary national research study into the prevalence and perceptions of Cambodian to violence against and by children in Cambodia. World Vision International Resources on Child Rights. https://archive.crin.org/en/docs/stop_v_cam.pdf

Short, P. (2004). Pol Pot: The History of a Nightmare. Hodder & Stoughton, London (Kindle-E-Book Version)

Vries & Weerdesteijn (2018). The Life Course of Pol Pot: How his Early Life Influenced the Crimes he Committed. Amsterdam Law Forum 10(2), S. 3-19. 


Sonntag, 31. Dezember 2023

Historiker Simon Sebag Montefiore über die Mütter von Hitler, Stalin und Trump. Eine kritische Anmerkung.

Der Historiker Simon Sebag Montefiore hat kürzlich dem SPIEGEL (52/2023) im Rahmen des Titelthemas „Für immer Sohn. Wie Mütter das Leben von Männern prägen“ ein ausführliches Interview gegeben (Historiker über Mütter mächtiger Männer. „Die Macht von Frauen lag in der Kontrolle ihres Sohnes“)

In dem Interview geht er u.a. auf die Mütter von Stalin, Hitler und Donald Trump ein. Wobei die Mutterbeziehung Hitlers ihn mit am meisten beeindruckt hätte, wie er auf Nachfrage sagt. 

Alle drei Mutterbeziehung kommentiert er nicht bzgl. ihrer destruktiven Wirkungen. Im Gegenteil, die Mütter von Hitler und Stalin werden sogar recht wohlwollend und zugewandt dargestellt. Auf SPIEGEL Frage "Von der Mutter des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump heißt es, dass sie ihren Sohn für dumm gehalten habe" hin kommentiert er nur, dass Trumps Mutter eine „energische, direkte Frau“ gewesen sei. Auf die folgende Nachfrage, warum Trump Frauen gegenüber immer wieder wenig Respekt gegenüber zeige, vermutet Montefiore als Ursache altes Klischeedenken von „Heiliger und Hure“. 

In allen drei Fällen wurde somit die grausame Realität der Mutter-Sohn-Beziehungen in meinen Augen ausgeblendet und insofern wurde eine Chance verpasst, die Wirkung von destruktiven Elternfiguren auf politische Führer (und deren Verhalten) in einem großen Leitmedium zu besprechen. 

Leider kommentiert der Historiker sogar noch an einer Stelle:
Hitlers Mutter „war sehr nachsichtig. Man hat den Charakter von Diktatoren ja lange Zeit damit erklärt, dass ihre Eltern sie grausam behandelt hätten. Aber das stimmt nicht. Natürlich gab es viele Väter, die tranken und ihre Kinder schlugen, aber das war normal – der Freudianismus hat dem zu viel Bedeutung beigemessen. Hitlers Mutter hat ihren Sohn vergöttert.“

Dieser Satz blendet alle Erkenntnisse aus, die es mittlerweile über die Kindheiten von Diktatoren (und auch Gewalttätern an sich) gibt. Die Gemeinsamkeit von Diktatoren ist gerade ihre massiv traumatische Kindheit (siehe auch mein Buch „Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen“). Diesen Satz dann auch noch mit „Hitler“ einzurahmen, entbehrt jeder Logik, da gerade Hitler eine unfassbar traumatische Kindheit erlebt hat.

Dass Hitler von seinem Vater häufig und schwer misshandelt und gedemütigt wurde, ist längst bekannt (und wird auch dem Historiker Montefiore bekannt sein). Der Historiker Roman Sandgruber hat 2021 beispielsweise sehr deutlich geradezu einen Schlussstrich über die Erkenntnislage bzgl. Hitlers von Gewalt geprägter Kindheit gezogen, da dies einfach überdeutlich belegt ist: „Hitler: Ein einst misshandeltes Kind. Deutliche Worte in einem neuen Buch".

Hitlers Mutter stand hilflos und ohnmächtig daneben, ohne ihrem Sohn helfen/schützen zu können oder zu wollen. Was dies mit einer Mutter-Sohn-Beziehung macht, ist u.a. unter Kindertherapeuten bekannt. Das Gleiche gilt für einer mütterliche "Vergötterung" ihres Sohnes, was wenig mit Liebe zu tun hat und viel Destruktivität im Leben des Sohnes zur Folge haben kann.
Neben der Gewalt war Hitlers Kindheit von weiteren schweren Belastungen geprägt, darunter z.B. Tod von mehreren Kernfamilienmitgliedern

Die massiv destruktiven Eltern-Kind-Beziehungen bei den Trumps sind ebenfalls belegt (wenn auch öffentlich weniger bekannt/besprochen), auch der Einfluss der destruktiven und vor allem abwesenden Mutter (bei Interesse zwei lange Blogbeiträge dazu hier und hier

Was mich am meisten fassungslos zurückließ sind die Kommentare des Historikers bzgl. Stalins Mutter, die er als "eine interessante Figur", die ihren Sohn gefördert und angetrieben habe, beschreibt. Stalin habe seiner Mutter viel zu verdanken. 

Simon Sebag Montefiore selbst hat in seinem Buch „Der junge Stalin“ auf die massive Gewalt des Vaters UND der Mutter von Stalin hingewiesen. Ja, die Mutter von Stalin hat ihren Sohn körperlich misshandelt (nach meinen Recherchen zusätzlich auch emotional, aber das würde hier zu viel Raum einnehmen). Im SPIEGEL-Interview, das eine Titelstory über den Einfluss von Müttern auf ihre Söhne angelehnt ist, wird dieser extrem wichtige Faktor der mütterlichen Misshandlung einfach nicht erwähnt. 

Anbei zwei Zitate aus dem Montefiore Buch „Der junge Stalin“ im Kapitel „Der verrückte Besso“:

Streitsüchtig und aggressiv, war er so schwer unter Kontrolle zu halten, dass sogar seine Mutter, die ihn anbetete, zu Züchtigungen griff, um ihren widerspenstigen Schatz zum Gehorsam zu zwingen.“

Sie verdrosch ihn häufig«, erzählt Stalins Tochter Swetlana. Als Stalin seine Mutter in den Zwanzigerjahren zum letzten Mal besuchte, fragte er sie, warum sie ihn so oft geschlagen habe. »Es hat dir nicht geschadet«, erwiderte sie. Aber das ist umstritten. Psychiater glauben, dass Gewalt Kindern stets schadet, und gewiss bringt sie weder Liebe noch Mitgefühl hervor.“

Was ich auch sehe – und da hat Montefiore einen Punkt – ist, dass Diktatoren in ihrer Kindheit auffällig häufig eine Mutter hatten, die sie antrieb und übermäßig erhöhte (neben den gleichzeitigen Demütigungen und Erniedrigungen innerhalb der Familie). Die besonderen Größenfantasien der Diktatoren haben hier wahrscheinlich mit ihren Ursprung. Insofern ist diese Art von mütterlichem Einfluss ein bedeutsamer Faktor. 

Aber ohne die viele Gewalt und die vielen Ohnmachtserfahrungen in der Kindheit dieser Akteure, wären sie nicht zu den gefühlskalten politischen Führern geworden, die sie wurden. Und genau darüber müssen wir sprechen und aufklären. 

"Der Freudianismus hat dem zu viel Bedeutung beigemessen", sagte der Historiker ja (siehe oben). Das ist genau das Paradoxe im öffentlichen Bewusstsein. Dass destruktive Kindheiten Folgen haben, wird zwar öffentlich besprochen und ist irgendwie auch bewusst. Wenn es aber um Politik und politische Führer geht, wird dies sehr oft ausgeblendet und gering geredet. Es ist auch nicht das erste Mal, dass ich von Seiten eines Historikers solche Zeilen hier lese: "Natürlich gab es viele Väter, die tranken und ihre Kinder schlugen, aber das war normal". 

 Der Historiker Volker Ullrich hat z.B. in der Biografie "Adolf Hitler. Biographie Band 1: Die Jahre des Aufstiegs 1889 – 1939" sehr deutlich die Gewalt von Hitlers Vater beschrieben. Dann fügt er an:
Doch sollten sich Biographen hüten, zu weitreichende Schlüsse aus frühen Kindheitserlebnissen zu ziehen. Körperliche Züchtigung war damals als Erziehungsmittel durchaus noch an der Tagesordnung. (…) Nach allem, was wir wissen, scheint Hitler eine ziemlich normale Kindheit verbracht zu haben, jedenfalls gibt es keine gesicherten Hinweise auf eine abnorme Persönlichkeitsbildung, aus der sich die späteren Verbrechen ableiten ließen" (Kapitel: „1 Der junge Hitler“).

Was grausame Realität der Mehrheit der Kinder war, hat dann also keine negativen Folgen und übt keinen Einfluss auf Verhalten aus, wenn aus diesen Kindern später mal einflussreiche politische Akteure werden? 

Eigentlich weiß es Montefiore ja auch besser, denn er schrieb ja selbst: "Psychiater glauben, dass Gewalt Kindern stets schadet, und gewiss bringt sie weder Liebe noch Mitgefühl hervor" (siehe oben).

Dieses Hin und Her, diese Widersprüchlichkeiten der Aussagen zeigen mir, dass der Historiker sich selbst noch nicht bewusst gemacht hat, dass Kindheit politisch ist! Damit ist er nicht alleine, sondern bildet die gedanklichen und emotionalen Mehrheitsverhältnisse der Gesellschaft ab. 

Dies Stück für Stück zu verändern, wird auch mein Ziel im neuen Jahr 2024 bleiben. 

In diesem Sinne: Einen guten Rutsch ins neue Jahr wünsche ich!


Freitag, 3. Februar 2023

Kindheit von Michail Gorbatschow

Michail Gorbatschow wurde am 02.03.1931 in einem Dorf im Nordkaukasus geboren. Er hatte keine einfache Kindheit. Seine erste Kindheitserinnerung war die an eine Suppe, in der Frösche gekocht wurden, weil eine Hungersnot herrschte (Taubman 2018, S. 38).

Während der Hungersnot 1932/1933 kamen zwei seiner Onkel und eine Tante ums Leben. Die Eltern waren zudem arm, die Kinder mussten früh mithelfen und arbeiten. Auch traf Stalins Terror die Familie, beide Großväter wurden zeitweise verhaftet. Als die deutsche Wehrmacht einmarschierte, besetzte diese einige Monate das Heimatdorf der Familie. „Eine schrecklichere Zeit ist kaum vorstellbar“, kommentiert sein Biograf (Taubman 2018, S. 33).
Er hängt dem aber sogleich an, dass Michail Gorbatschow „in einem erstaunlichen Ausmaß“ trotz des Schreckens um ihn herum „eine glückliche Kindheit“ hatte (Taubman 2018, S. 33). Beide Großväter hatten den Gulag überlebt, der Vater den Krieg. Ein Großvater leitete eine Kollektivfarm. Glückliche Umständen ließen größere Belastungen der (kurzen) deutschen Besatzung an der Familie vorüberziehen. Michail habe außerdem ein von Natur aus sonniges und optimistisches Gemüt besessen, schreibt Taubman.
Psychologen haben festgestellt, dass die potentiellen Opfer persönlicher Schicksalsschläge und sich anbahnender Tragödien, wenn diese durch Glück oder eigene Anstrengung ein positives Ende nehmen, von den Ereignissen profitieren und mit erhöhtem Selbstvertrauen, gesteigertem Optimismus und geringerer Anfälligkeit für Depressionen aus ihnen hervorgehen. Außerdem blieb Michail  Gorbatschow nicht nur von den schlimmsten Dingen verschont, sondern wuchs in vieler Hinsicht auch unter Idealbedingungen auf. Sein Vater, Sergej Gorbatschow, war offensichtlich ein wundervoller Mann, geliebt und bewundert von seinem Sohn, der ihm `sehr nahe` stand. (…) Gorbatschows Großvater mütterlicherseits behandelte seinen Enkel mit `Zärtlichkeit`, und Zärtlichkeit ist kein Gefühl, zu dem sich russische Männer gern bekennen“ (Taubman 2018, S. 33f.).

Der Großvater väterlicherseits galt hingegen als autoritär. Dennoch hatte auch dieser „eine Schwäche für den kleinen Michail, und dasselbe galt für beide Großmütter“ (Taubman 2018, S. 35). Dieser Großvater, „(…) der alte Mann, den so viele fürchteten, wurde weich, wenn er es mit seinem Enkel zu tun hatte“ (Taubman 2018, S. 37). Die Großmutter väterlicherseits beschreibt Gorbatschow in seinen Erinnerungen so: Sie war „herzensgut und fürsorglich: Sie hatte mit allen Mitleid, besonders mit den kleinen Kindern. (…). Großmutter Stepanida und ich waren Freunde. Ich hatte Glück“ (Gorbatschow 2013, S. 42f.). 

Michails Mutter „konnte kalt und strafend sein: Sie hatte Sergej eigentlich nicht heiraten wollen und disziplinierte ihren Sohn durch Schläge mit dem Gürtel, bis er dreizehn war“ (Taubman 2018, S. 35). Michail Gorbatschow war demnach, wie die meisten seiner Generation, ein misshandeltes Kind! Dies wird ganz sicher deutliche Spuren in ihm hinterlassen haben.
Trotz des guten Verhältnisses zu seinem Vater wird es für das Kind sicher auch eine Art Schutz vor dieser strengen Mutter gewesen sein, dass er ab dem dritten Lebensjahr mehrere Jahre nicht bei seinen Eltern, sondern bei seinen Großeltern mütterlicherseits lebte. 

Allerdings schreibt Michail Gorbatschow in seinen Erinnerungen auch: „(…) immer war Mutter in der Nähe, immer unterstützte sie uns. Ich liebte sie. Und auch Vater liebte sie bis zu seinem Tod. Sie war eine wunderschöne Frau, sehr stark und zupackend. Vater war stolz auf sie, verzieh ihr ihre hektische Art und half bei allem“ (Gorbatschow 2013, S. 50). Wenn wir ihm glauben wollen, dann hatte seine Mutter also auch durchaus positive Seiten. Das entschuldigt nicht ihre Gewalttätigkeit gegen das Kind, macht das Bild aber rund und detailreicher. Denn positive Ausgleichserfahrungen (auch mit Täter-Elternteilen), können ein Schutzfaktor sein (dagegen stehen z.B. Akteure wie Stalin, der keinerlei positive Ausgleichserfahrungen in seiner Familie machen konnte).

Über die Großeltern mütterlicherseits sagte Gorbatschow: Bei ihnen „genoss ich völlige Freiheit (…) denn sie liebten mich abgöttisch. Bei ihnen hatte ich das Gefühl, das ich es sei, der die Hosen anhatte. Wie oft man daher auch versuchte, mich bei den Eltern wohnen zu lassen, und sei es nur für kurze Zeit, es gelang kein einziges Mal. Am Ende waren alle mit diesem Zustand sehr zufrieden“ (Taubman 2018, S. 40). Die Großeltern waren relativ wohlhabend (was den Jungen offensichtlich auch gut durch die Hungernot brachte) und noch jung: die Großmutter war damals erst achtunddreißig Jahre alt. Sie prägten ganz wesentlich die frühen Jahre von Michail. 

Als Michail zehn Jahre alt war, begann der Krieg. Sein Vater wurde eingezogen und die Kinder mussten fortan die Männer ersetzen, arbeiten und ihre Kindheit überspringen, wie es Michail Gorbatschow später formulierte (Taubman 2018, S. 47). 

Er selbst bezeichnet sich als Kriegskind:  „Meine Generation ist die Generation der Kriegskinder. Wir sind gebrannte Kinder, der Krieg hat auch unseren Charakter und unserer ganzen Weltanschauung den Stempel aufgedrückt. Was wir in unserer Kindheit durchgemacht haben, ist wohl die Erklärung dafür, warum gerade wir Kriegskinder die Lebensweise von Grund auf ändern wollen“ (Gorbatschow 2013, S. 46). 

Der Vater kam wie bereits beschrieben lebend zurück. Eine Besonderheit sticht ins Auge. Der Vater hat nicht – wie so viele seiner Generation – über seine schrecklichen Kriegserlebnisse geschwiegen und diese in sich vergraben. Er erzählte häufig davon, auch und gerade gegenüber seinem Sohn Michail (Taubman 2018, S. 53). Das Grauen fand also Ausdruck in dieser Familie und sein Sohn hatte – dies ist meine Deutung – die Möglichkeit, seinen Vater dadurch besser nachzuvollziehen (denn die Kriegserlebnisse werden ganz sicher psychische Spuren hinterlassen haben). 

Ab 1946 arbeitete Michail fünf Sommer hintereinander schwer und lange Tage mit seinem Vater auf dem Feld zusammen. Sie hatten dabei Gelegenheit für zahlreiche Gespräche. „Wir redeten über Gott und die Welt, über unsere Angelegenheiten, über das Leben. Das war keine Vater-Sohn-Beziehung im alten Sinne mehr, sondern ein Verhältnis zwischen Männern, die gemeinsam arbeiteten, und der Vater verhielt sich mit gegenüber respektvoll. Wir wurden jetzt noch etwas anderes, nämlich Freunde“ (Taubman 2018, S. 62).

Ich habe nach dem Kriegsbeginn Russlands gegen die Ukraine damit begonnen, etliche Kindheiten von politischen Führern bzw. Zaren in Russland zu beschreiben (siehe das Inhaltsverzeichnis). Die Kindheiten von historischen russischen Führungspersonen waren alle samt schwer belastet. Dies gilt auch für Michail Gorbatschow. Den wesentlichen Unterschied hat sein Biograf William Taubman deutlich hervorgehoben: Michail Gorbatschow hat während seiner Kindheit und Jugend gleichzeitig auch eine Fülle von positiven Erfahrungen mit nahen Bezugspersonen gemacht. Das ist genau das, was Resilienz bedingt, wie wir heute wissen. Das Center on the Developing Child der Harvard Universität schreibt dazu: "The single most common factor for children who develop resilience is at least one stable and committed relationship with a supportive parent, caregiver, or other adult.
Das ist auch ein Unterschied im Vergleich zu Putin, in dessen Kindheit ich keinerlei Lichtblicke ausmachen konnte. 

Michail Gorbatschow war ohne Frage ein ganz außergewöhnlicher Mensch und Politiker. Er sticht unter allen bisherigen politischen Führern seines Landes hervor. Seine außergewöhnliche Kindheit wird ihren Anteil daran haben. Kindheit ist politisch!


Quellen:

Gorbatschow, M. (2013). Alles zu seiner Zeit. Mein Leben. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg. 

Taubman, W. (2018). Gorbatschow. Der Mann und seine Zeit. C. H. Beck, München. 


Sonntag, 4. Dezember 2022

Childhood is political!

This text (slightly updated version) is the English translation of:

Fuchs, Sven (2021). Die Kindheit ist politisch! Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Interdisziplinäre Fachzeitschrift für Prävention und Intervention (DGfPI), Jahrgang 24, Heft 1, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S. 80-85.


Abstract: Do childhood experiences have consequences? If this question is put into relation to politics and society or even to collective things such as war, extremism, terrorism or social developments towards dictatorial regimes, then quite a few people would respond, “No, childhood has nothing to do with it!” People answer in this direct way quite promptly, but most of the time they don’t engage or really get involved to talk about these connections. I will use among other things biographies to show that childhood is indeed political and that childhood experiences itself can have political consequences.


Please imagine, dear reader, that you are a psychotherapist. In the following, I present five individual cases, anonymized at first. You will learn the real names of the “patients” afterwards. Patients come to your practice, we imagine, because of a range of mental and health conditions (addictions, mood disorders, sleep disorders, suicidal thoughts, self-loathing, etc.). In the course of anamnesis and therapy, their childhood backgrounds become clear, which I will present briefly: 

Case A: A was the first surviving child after two miscarriages; at the age of five he almost died of smallpox; after an accident suffered in childhood, his left arm was also injured and remained crippled; the father was a violent alcoholic who beat his wife and children; A’s father beat him almost every day (after one assault the child had blood in his urine for days); one day the father even tried to strangle A’s mother; when A was 11 or 12 years old, his parents separated; the father later became a vagrant; A’s mother also abused her son and she forced him into training to become a priest; A spent five years of his adolescence in a seminary which was characterized by rituals of submission to authority, humiliation by the clergy, powerlessness and punishment.

Case B: The mother had originally wanted to abort the fetus; during pregnancy, she already perceived the fetus as a difficult child who was restless and kicked her; for the infant, the mother did only what was necessary and was uncaring; early separation of parents; single mother was overwhelmed early on and asked the authorities for help; as a two-year-old, B was therefore accommodated in out-of-home care at the weekends for some time; the mother neglected and beat her son + emotional abuse; the mother behaved in a “sexualized” manner toward her son; the mother told her son she wished he were dead; the mother probably suffered from borderline personality disorder; three-week inpatient admission to a psychiatric facility as a four-year-old (along with his single mother); psychiatric team was extremely concerned after the assessment and demanded that the mother and son be separated; the father then attempted to gain custody, but failed. 

Case C and D: This is about two brothers; the father was physically violent towards the children and died early of cancer; the now single mother neglected the children, who also grew up in poverty and appeared neglected; finally, the mother became seriously ill, she asked the authorities for help, whereupon the two sons were placed in a children’s home; however, the home chosen by the authorities was very far away, which meant that neither the mother nor the other siblings could visit the brothers, they could only phone them; a few month after being placed in the home, the mother died, presumably of a drug overdose. 

Case E: E was rejected as a fetus, his mother tried to abort him, but this failed; E lost his father early and went to live with an uncle who regularly beat him and called him the “son of a cur”; the uncle was considered an argumentative and moody person and an obstinate admirer of Adolf Hitler; the uncle was eventually imprisoned for his veneration of the Nazis and E had to go back and live with his mother who had found a new husband in the meantime; he was not welcomed; the new stepfather was also brutal and beat E; in the family home there was neither running water nor electricity, and humans and animals lived together under one roof; at night, the family slept crowded together on the dirt floor to keep each other warm; since E was fatherless and an outsider, he was also teased mercilessly by the other children in the village and often beaten up.

Case F: War childhood (including escape from Jena from the Red Army), orphan: The father died when F was five, the mother died when she was 14, severe conflict and marital crisis in the parental home after mother's affair, then suicidal moods of the mother; abandonment by the mother on several occasions (children's home + relatives); the first time, F’s mother passed her to the children’s home at the age of six for about half a year (later, F wrote the screenplay for the German film “Bambule”, which depicted the hardship and attempted resistance of female adolescents in institutions); the mother had fallen in love with a fellow female student and seems to have devoted herself entirely to this relationship and her university education; after the mother's death, the whole world died for her, F later said; the mother's girlfriend became a foster mother but neglected the adolescent.  

Please remember that you are still imagining that you “are” a psychotherapist. Do you see a connection between these childhoods and the patients’ suffering and mental state, or do you rule it out? I can imagine that you recognize a connection and you are also quite right with regard to the general research situation.

Internationally, since the pioneering work of Dr. Vincent Felitti in the late 1990s, research into so-called Adverse Childhood Experiences (ACEs) has expanded tremendously. ACEs typically include stress factors such as sexual, physical and emotional abuse; neglect; parental separation; witnessing domestic violence; growing up with mentally ill or addicted family members; and witnessing the incarceration of family members. 789 professional articles that focused on various consequences of adverse childhood experiences (ACEs) were published between 1998 and 2018 (Struck et al. 2021). In addition, a full 38,411 English-language professional articles thematically related to child maltreatment emerged between the years 2000 and 2018 (Tran et al. 2018). The large meta-study by Gershoff & Grogan-Kaylor (2016) is worth highlighting: 111 studies were evaluated. The studies evaluated included data for a total of 160,927 children. 99 % of studies found harmful effects of physical violence against children and no positive effects. 17 negative effects were recorded, including, for example, aggression, antisocial behavior, mental health problems, low self-esteem, lower cognitive ability, lower internalized morals, alcohol and drug abuse, and approval of corporal punishment against children. 

Analysis of ACEs (review and meta-analysis; 253,719 respondents from 37 international studies) has found that adults who were exposed to four or more ACEs were seven to eight times more likely to be involved in interpersonal violence (violence victimization or perpetration), and 30 times more likely to attempt suicide than adults with no ACE exposure (Hughes et al. 2017). 

Adverse Childhood Experiences were also found to a strikingly high extent in the particular population of (violent) offenders (Baglivio et al. 2021, Cannon et al. 2016, Dermody et al. 2020, Graf et al. 2021, Messina & Grella 2006, Reavis et al. 2013). In one study, particularly young murderers (N = 25, mean age = 14.7) were also found to have clearly destructive childhood backgrounds: dysfunctional family (96 %), emotionally abused at home (83 %), physically abused (55 %), sexually abused (10 %); in addition, 52 % of these children/murderers had suicidal thoughts (Myers et al. 1995).

Meanwhile, the costs associated with adverse childhood experiences are also coming into focus. A 2019 study, funded by WHO, calculates the annual cost due to adverse childhood experiences (ACEs) to be US$ 581 billion in Europe and US$ 748 billion in North America (Bellis et al. 2019). “How Much More Data Do We Need? Making the Case for Investing in Our Children” is the title of a recent specialist article that makes the case that the consequences of child maltreatment are finally extensively researched and that it is time to invest heavily in children (Berger et al. 2021). 

I believe that you are a good “psychotherapist” if you recognize the connections and do long-term trauma therapy with your above-mentioned patients. However, my experience is that these relationships are often faded out or even denied when it comes to the political realm, when it comes to dictatorial/authoritarian forms of government, extremism, terrorism, war and hostile/destructive politics. All these things are most rarely associated with adverse childhood experiences. 

But now we come to the resolution (sources for each of the childhoods discussed above are in parentheses): Patient A is the mass murderer and dictator Josef Stalin (Fuchs 2019), patient B is the Norwegian right-wing terrorist and mass murderer Anders Breivik (Borchgrevink 2013, Fuchs 2019), patients C and D are the Islamist terrorists Chérif and Saïd Kouachi (Fuchs 2019, Smith 2019) who carried out the attack on the editorial office of the satirical magazine Charlie Hebdo on January 7, 2015. Patient E is the Iraqi mass murderer and dictator Saddam Hussein (Fuchs 2019) and patient F is Red Army Faction (RAF) founding member and German far-left terrorist Ulrike Meinhof (Fuchs 2019).  

I could imagine that your assessment of these personalities might now change somewhat. There is a danger, you may think, that the actions of these people would be excused if we relate them to correspondingly destructive childhoods. There is an equal danger of losing sight of the victims of the perpetrators when we focus on the victim that these perpetrators once were. An essential thought may also be that most people abused and traumatized as children do not become mass murderers and terrorists (however, I assume that you as a “psychotherapist” would not hold against your “patients” that, after all, many other people with similar childhood backgrounds do not have an addiction problem or suicidal thoughts, just a thought). The influences that must come together for a person to become a perpetrator, even a mass murderer, are undoubtedly always complex and not just dependent on childhood. And yes, certainly the step to commit the crime is also a decision of the respective perpetrator and these people have to answer for this, no matter what their childhood was like. We do not have to excuse their actions, but we should understand so that prevention can take effect. 

The much more essential and central question for me is: Would these personalities have become this kind of perpetrator if they had experienced a largely loving and violence-free childhood? Or also: with the horrors of childhood remaining the same, would they have become these perpetrators if they had received help, support, positive compensatory experiences and psychotherapy early on? 

In 2019, I published my book, “Die Kindheit ist politisch!“ (Childhood is Political!”) (Fuchs 2019; the book was reviewed in English by Peter Petschauer (2020) ). In it, I showed that the countries and regions (e.g. Iraq, Syria, Afghanistan, Egypt, Palestine, Cambodia, El Salvador, but also the USA) that strike us as “problem children” in terms of world politics (or that represent this in a shorter historical retrospect) and that represent severe political conflicts, social imbalances, war, terror and/or recruitment regions for terrorists, at the same time show an enormously high level of violence against children in various forms and, in addition, often other stress factors for children. I have conducted extensive studies and case analyses/biographies on extremists/terrorists (e.g. Andreas Baader, Zacarias Moussaoui, Osama Bin Laden), (violent) criminals, dictators (e.g. Adolf Hitler, Benito Mussolini, Francisco Franco, Nicolae Ceauşescu, Slobodan Milosevic, Josip Broz Tito, Mao Zedong, Augusto Pinochet, Manuel Noriega, Fidel Castro), belligerent politicians (e.g. Lyndon B. Johnson, Ronald Reagan, George W. Bush, Bill Clinton, Recep Tayyip Erdoğan, Wladimir Putin) NS perpetrators (including Rudolf Hess, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Rudolf Höß, Adolf Eichmann) and soldiers. The conclusions from all my research come to a head in the title of the book. What all of the named personalities have in common is that their childhoods were often anything but free of violence, loving and happy. In the overall picture, it becomes clear that the above-mentioned case studies are not isolated cases or outliers. 

After the book was published, I also compiled all the studies/individual papers I could find in which right-wing perpetrators of violence / right-wing extremists had been interviewed about their childhoods. To date, I have found a total of 37 papers for which a minimum of one and a maximum of 115 right-wing personalities were interviewed. It turns out that right-wing perpetrators of violence or right-wing extremists usually had a very destructive childhood. I refer here to my abstract, which can be viewed online (Fuchs 2021). In my opinion, the empirical data is almost overwhelming and it is surprising that child protection as an essential branch of prevention of extremism has not been / is not widely discussed. 

One of these works is presented here as an example. 91 (70 male, 21 female) former US extremists / racists (from Ku Klux Klan, Christian Identity, neo-Nazi, racist skinheads groups) were interviewed. Results regarding ACE values (experiences before the age of 18): 48 % experienced physical abuse in the home, 46 % experienced emotional neglect in the home, 46 % experienced emotional abuse in the home, 23 % experienced sexual abuse in the home, 15 % experienced physical neglect in the home; 68 % experienced parent abandonment, 66 % reported parental substance abuse, 47 % witnessed domestic violence, 47 % reported parent/caregiver mental illness, and 32 % reported parent incarceration (Windisch et al. 2020). 

I advocate that we look at the possible political consequences of childhood without blinkers and that the prevention of child abuse or ACEs is also communicated as the prevention of violence, terrorism and extremism.  If this view succeeds across society as a whole, then this would subsequently necessitate one thing above all: more worldwide child protection.  

I would like to add my favorite quote (from the former director of the Clinic for Child and Adolescent Psychiatry at the University Medical Center Hamburg-Eppendorf and expert in psychotraumatology Prof. Peter Riedesser): “The more children here and around the world are neglected, beaten, humiliated and slide into hopelessness and hatred, the higher the destructive potential in our own country and worldwide. Against this background, child protection has become a question of survival. Worldwide child protection is the ideal way to prevent not only mental suffering, but also crime, militarism and terrorism. It ensures democracy and peaceful cultural and economic exchange. It takes all of our creativity and determination to make this happen. If we all wanted this in a unique act of solidarity, we would also have the knowledge and the means” (Riedesser 2002, p. 32). 


Bibliography

Baglivio, M. T.  Wolff, K. T. & Epps, N. (2021): Violent juveniles' adverse childhood experiences: Differentiating victim groups. Journal of Criminal Justice. Volume 72, 101769, https://doi.org/10.1016/j.jcrimjus.2020.101769

Bellis, M. A., Hughes, K., Ford, K., Rodriguez, G. R., Sethi, D. & Passmore, J. (2019). Life course health consequences and associated annual costs of adverse childhood experiences across Europe and North America: a systematic review and meta-analysis. Lancet Public Health. 4: e517–28. https://doi.org/10.1016/S2468-2667(19)30145-8

Berger, R., Dalton, E. & Miller, E. (2021). How Much More Data Do We Need? Making the Case for Investing in Our Children. Pediatrics, 147 (1), e2020031963; DOI: https://doi.org/10.1542/peds.2020-031963

Borchgrevink, A. (2013): A Norwegian Tragedy. Anders Behring Breivik and the Massacre on Utøya. Cambridge / Malden: Polity Verlag.

Cannon, Y., Davis, G., Hsi, A. & Bochte, A. (2016). Adverse Childhood Experiences in the New Mexico Juvenile Justice Population. Georgetown Law Faculty Publications and Other Works. 2191. https://scholarship.law.georgetown.edu/facpub/2191

Dermody A., Lambert S., Rackow, A., Garcia J., & Gardner C. (2020). An Exploration of Early Life Trauma and its Implications for Garda Youth Diversion Projects. Youthrise / Quality Matters, Dublin. https://youthrise.org/wp-content/uploads/2020/11/Early-Life-Trauma-and-its-Implications-for-Garda-Youth-Diversion-Services-Full-Report.pdf

Fuchs, S. (2019). Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen. Heidelberg: Mattes-Verlag.

Fuchs, S. (2021, 25. Jan.): Kindheitsursprünge von Rechtsextremismus: DIE gesammelten Studien. https://kriegsursachen.blogspot.com/2020/09/kindheitsursprunge-von.html

Gershoff, E. T. & Grogan-Kaylor, A. (2016). Spanking and Child Outcomes: Old Controversies and New Meta-Analyses. Journal of Family Psychology, 30(4), p. 453-69.

Graf, G. H.-J., Chihuri, S., Blow, M. & Li, G. (2021). Adverse Childhood Experiences and Justice System Contact: A Systematic Review. Pediatrics. 147 (1), e2020021030, https://doi.org/10.1542/peds.2020-021030.

Hughes, K., Bellis, M.A., Hardcastle, K.A., Sethi, D., Butchart, A., Mikton, C., Jones, L. & Dunne, M. P. (2017). The effect of multiple adverse childhood experiences on health: a systematic review and meta-analysis. Lancet Public Health, 2017; 2, e356–66.

Messina, N. & Grella, C. (2006). Childhood Trauma and Women’s Health Outcomes in a California Prison Population. American Journal of Public Health. Vol. 96, No. 10. p. 1842-48.

Myers, W. C., Scott, K., Burgess, A. W. & Burgess, A. G. (1995). Psychopathology, biopsychosocial factors, crime characteristics, and classification of 25 homicidal youths. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry. Volume 34, Issue 11, p. 1483-89. https://doi.org/10.1097/00004583-199511000-00015

Petschauer, P. W. (2020). Destructive Childhood Experiences and the Penchant for Authoritarians. Clio’s Psyche. Volume 26, Number 2, Winter 2020, p. 253-258. 

Reavis, J. A., Looman J., Franco, K. A., Rojas B. (2013). Adverse Childhood Experiences and Adult Criminality: How Long Must We Live before We Possess Our Own Lives? The Permanente Journal. Vol. 7, No. 2, p. 44-48. https://doi.org/10.7812/TPP/12-072

Riedesser, P. (2002): Trauma - Terror - Kinderschutz: Prävention seelischer Störungen und destruktiven Verhaltens. Vortrag bei der Verleihung des Kinderschutzpreises am 29.10.2001. Psychotraumatologie, 3(2), p. 32.

Smith, J. (2019). Home Grown: How Domestic Violence Turns Men Into Terrorists. Riverrun, London

Struck, S., Stewart-Tufescu, A., Asmundson, A. J.N., Asmundson, G. G. J. & Afifi, T. O. (2021). Adverse childhood experiences (ACEs) research: A bibliometric analysis of publication trends over the first 20 years. Child Abuse & Neglect, Volume 112, 104895. https://doi.org/10.1016/j.chiabu.2020.104895

Tran, B. X., Pham, T. V., Ha, G. H., Ngo, A. T., Nguyen, L. H., Vu, T. T. M., Do, H. N., Nguyen, V., Nguyen, A. T. L., Tran, T. T., Truong, N. T., Hoang, V. Q., Ho, T. M., Dam, N. V., Vuong, T. T., Nguyen, H. Q., Le, H. T., Do, H. T., Moir, M., Shimpuku, Y., Dhimal, M., Arya, S. S., Nguyen, T. H., Bhattarai, S., Latkin, C. A., Ho, C. S. H. & Ho, R. C. M. (2018). A Bibliometric Analysis of the Global Research Trend in Child Maltreatment. International Journal of Environmental Research and Public Health. 15(7). pii: E1456. https://doi.org/10.3390/ijerph15071456

Windisch, S., W., Simi, P., Blee, K. & DeMichele, M. (2020). Measuring the Extent and Nature of Adverse Childhood Experiences (ACE) among Former White Supremacists. Terrorism and Political Violence. https://doi.org/10.1080/09546553.2020.1767604


Samstag, 26. November 2022

Kindheit in Russland - Teil 2

Die in Kiew geborenen Politikerin und Publizistin Marina Weisband (2022) hat mit Blick auf den aktuellen Krieg in der Ukraine auf ihrer Homepage folgendes geschrieben:
Eigentlich seit dem 13. Jahrhundert lebten sämtliche Generationen in Russland in Knechtschaft. Sie wurden in Knechtschaft geboren und starben in Knechtschaft. Sei es das zaristische Regime mit der Leibeigenschaft oder der Stalinismus. Persönliche Würde war einfach kein Ding. Meine Mutter erzählte mir gestern: „Ich habe, als ich nach Deutschland gekommen bin, fünf Jahre gebraucht, um zum ersten Mal sowas wie Selbstwert zu fühlen. Davor hatte ich keine Vorstellung, was das ist.“ Was bedeutet das? In der Sowjetunion war der Mensch staub. (…) Wo Menschen Staub waren, hielten sie sich schon immer an etwas, das größer war, als sie selbst. Die Idee Gottes. Die Idee des Imperiums. Die schiere Größe des Landes und seines Geistes, wo das eigene Leben klein und unbedeutend war.“

Geschichte ist nicht einfach nur Geschichte. Sie wirkt fort (Stichwort u.a.: transgenerationales Trauma). Das hat Weisband in ihrem eindrucksvollen Text „Russland verstehen“ im Grunde deutlich beschrieben. 

Wie sah also Kindheit in Russland aus? Dieser Frage bin ich bereits in dem Blogbeitrag "Kindheit in Russland" vom 03.04.2014 nachgegangen. Diesen Beitrag möchte ich heute ergänzen.
Meine neue Hauptquelle, die mich vor allem dazu veranlasste, ist das Buch „Children's World: Growing Up in Russia, 1890–1991“ von Catriona Kelly; eine wahre Fundgrube für Kindheit in Russland. Ergänzen werde ich diese neue Quelle um einzelne, kurze Informationen aus anderen Quellen, die ich hier verarbeiten werde. 

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Kindheit in Russland

Wenn beispielsweise um das Jahr 1900 herum Essen serviert wurde, kamen die Kinder zuletzt und bekamen die schlechtesten Stücke. Der Hausherr nahm sich zuerst. Am Ende mussten sich die Kinder beim Hausherren für das bedanken, was sie erhalten hatten (Kelly 2007, S. 366) "Family law still enshrined the patriarch as mini-tsar in his own household, with his wife and progeny perceived  as dependants" (Kelly 2007, S. 27). Im Kleinen wie im Großen herrschten zaristische Verhältnisse und sicherlich steht beides auf eine Art in einem Zusammenhang bzw. stützte sich gegenseitig.
Oder wie Lloyd deMause es drastischer formulierte: „Die politischen Alpträume des zaristischen und stalinistischen Russlands waren exakte Abbilder der Alpträume einer gewöhnlichen russischen Kindheit. Weitverbreiteter Kindesmord, heftige Schläge und andere Arten physischer Misshandlung waren Vorbilder für physische Gewalt des Kremls, das KGB und des Gulag" (deMause 2000, S. 455f.).

Im 17. Jahrhundert besaß die junge Frau in Russland keinerlei Vorrechte. Zu ihren Aufgaben gehörte es, sich um das Haus zu kümmern, Kinder zu gebären und für ihren Mann zu sorgen. „Wenn der Mann mit seiner Frau nicht zufrieden war, hatte er die Möglichkeit, sie zu züchtigen. Wenn nur eine leichte Strafe notwendig war, konnte er sie schlagen. Der Domostroi, der Kodex für die Haushaltsführung (…), diente den Oberhäuptern der russischen Familien als Leitfaden für die verschiedenen häuslichen Angelegenheiten, wie dem Konservieren von Pilzen bis hin zur Züchtigung von Ehefrauen. In Bezug auf letzteres empfahl er, 'ungehorsame Frauen streng, jedoch nicht zornerfüllt auszupeitschen'. Sogar eine gute Frau sollte von ihrem Mann belehrt werden, 'indem er von Zeit zu Zeit die Peitsche gebraucht, wobei er aber freundlich bleibt, niemanden anderen zusehen lässt, vorsichtig vorgeht und Fausthiebe vermeidet, welche blaue Flecken verursachen'. In den unteren Gesellschaftsschichten pflegten russische Männer ihre Frauen auch bei den geringsten Anlässen zu schlagen. 'Einige von diesen Barbaren hängen ihre Frauen an den Haaren auf und peitschen sie ganz nackt', schrieb Dr. Collins. Manchmal starben die Frauen an den Folgen der Züchtigungen; dann waren die Männer frei und konnten wieder heiraten“ (Massie 1982, S. 38).

Eine weitere Möglichkeit, sich seiner Ehefrau zu entledigen, war, sie in ein Kloster zu stecken. Für die Außenwelt galt sie dann als „tot“, der Mann durfte erneut heiraten. „Die gesellschaftliche Verachtung der Frauen hatte grausame Folgen für die russischen Männer des 17. Jahrhundert. Ein echtes Familienleben gab es nicht, das intellektuelle Leben stagnierte, die rohesten Sitten herrschten vor, und die Männer fanden nur Ablenkung im Alkohol.“ (Massie 1982, S. 39).
Noch viel mehr, das möchte ich hier diesem Zitat anmerken, hatten die Frauen zu leiden und mit ihnen die Kinder, die all diese Rohheiten von Beginn an miterleben mussten. Aus diesen Kindern wurden dann die Erwachsenen, die die "Traditionen" fortführten. Man kann auch nicht erwarten, dass sich aus furchtbar missbrauchten, unterworfenen und gedemütigten Mädchen/Frauen gute Mütter entwickeln. Als Mütter hatten und haben Frauen stets Macht über Kinder. Traumatisierte Mütter werden auf die eine oder andere Art mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auch zu einer Belastung oder sogar zu einer Gefahr für die eigenen Kinder, gerade auch in einer Zeit wie dem 17. Jahrhundert. 

Ein Bericht in der New York Times zeigt, dass diese "Geschichte der häuslichen Gewalt" bis heute fortwirkt: "A fifth of all Russian women have been physically abused by a partner, and an estimated 14,000 women in the country die as a result of domestic violence each year—more than nine times the number of deaths in the U.S., though Russia’s population is less than half the size. At least 155 countries have passed laws criminalizing domestic violence. But in Russia, there is no such law; the government has even made it easier for domestic violence to go unpunished" (Roache 2021). 

Nun ist es sicherlich so, dass z.B. im 17. Jahrhundert auch in (West-)Europa raue Sitten herrschten. Allerdings spricht einiges dafür, dass Russland allgemein rückständiger war und sich Fortschritt langsamer vollzog (u.a. zu sehen am Beispiel der Leibeigenschaft, Alphabetisierungsrate, Kindersterblichkeitsrate, Kleinkindbetreuung, Wickelpraxis). 

"Etwas mehr als die Hälfte der Bauern waren Leibeigene. Ihre Eigentümer, die Grundherren, gehörten gewöhnlich dem Adel an. Zu einer Zeit, da die Leibeigenschaft nahezu überall in Westeuropa verschwunden war, um die Mitte des 17. Jahrhunderts, hatte man sie in Russland gesetzlich festgeschrieben" (de Madariaga 2006, S. 25). Noch im Jahr 1858 lebten ca. 40 % der Russen als Leibeigene. Sie wurden erst am 19.02.1861 durch die Aufhebung der Leibeigenschaft in die Freiheit entlassen (d'Encausse 1998, S, 18).

Auch die Alphabetisierung vollzog sich langsamer. 1870 lag die Alphabetisierungsrate im russischen Reich bei gerade einmal bei 15 % (im Vergleich zur gleichen Zeit z.B.: Schweden = 80%, Vereinigtes Königreich = 76%, Frankreich 69%) (Roser & Ortiz-Ospina 2018).

Auch die Kindersterblichkeit war verhältnismäßig hoch. Im Jahr 1913 lag die Säuglingssterblichkeitsrate (0-1 Lebensjahre) im europäischen Teil Russlands bei 26,5%. In zentralrussischen Gebieten (darunter u.a. die Region Moskau, Nowgorod oder Kaluga) lag die Sterblichkeitsrate sogar zwischen 34 und 38,6%. „The discrepancy between these rates and those in some European countries – 13.9 in Britain, 16.7 in France, 19.9 in Germany, and 21.3 in Austro-Hungary – was regularly cited in order to point to Russia`s backwardness and to the need of change” (Kelly 2007, S. 294).  Im frühen 20. Jahrhundert lag die Kindersterblichkeit der unter Dreijährigen im russisch-ländlichen Raum bei 50% (Kelly 2007, S. 306). Ab Ende der 1920er Jahre begannen die Kindersterblichkeitsraten deutlich zu sinken. Im Jahr 1957 lag die Säuglingssterblichkeitsrate (0-1 Jährige) bereits bei 4,5 % (Kelly 2007, S. 323). 

Die hohe Säuglingssterblichkeit hing u.a. auch mit traditionellen Vorstellungen vom Umgang mit dem Kind zusammen. „Even where it was detrimental, traditional care often 'killed with kindness' rather than neglect or indifference. Feeding solids early came from the conviction that 'milk isn`t a real food'. Enormous efforts were expended to protect children, though in the first instance from malevolent spirits and the 'evil eye' rather than from infections or microbes” (Kelly 2007, S. 294). Dass die Autorin Vernachlässigung als Ursache für die Sterblichkeitsraten zur Seite schiebt, erstaunt.
Dunn (1980, S. 537) folgend kamen die Sterblichkeitsraten in Russland zwar auch durch Bedingungen wie unzureichende Ernährung und medizinische Versorgung, klimatische Bedingungen etc. zu Stande, aber: „Wichtig ist meiner Meinung nach die Tatsache, dass russische Eltern Kinder und Kinderaufzucht für unwichtig hielten. Zwar musste man sich um die Kinder kümmern, doch im Grunde genommen vernachlässigten die Eltern ihre Kinder, ja, waren ihnen gegenüber sogar feindlich gesonnen.“

Kelly neigt außerdem dazu, Vorzüge des traditionellen straffen Wickelns der Säuglinge in Russland (Bewegungsfreiheit wird monatelang gänzlich eingeschränkt) hervorzuhaben (Kelly 2007, S. 288), obwohl sie sehr wohl wahrgenommen hat, dass die Expertenmeinungen zwischen Russen und Europäern bzgl. des straffen Wickelns schon damals deutlich auseinandergingen (Kelly 2007, S. 330). Die Praxis des traditionellen, straffen Wickelns hielt sich in Russland in manchen Arbeiterfamilien bis in die 1930er Jahre. Auf dem Land gab es bis in 1960er Jahre keinerlei Bestrebungen, von dieser Praxis abzurücken (Kelly 2007, S. 330). 

Babybücher der frühen Sowjetzeit betonten die Notwendigkeit zur Selbstbeherrschung und Disziplin von Anfang an, wozu u.a. das Baden in kaltem Wasser zur „Abhärtung“ gehörte (Kelly 2007, S. 326). Lloyd deMause meint mit Blick auf bis ins 20. Jahrhundert praktizierte „Abhärtungsrituale“ von Säuglingen (die es früher auch in Westeuropa gab), dass sich Reformen der Kindererziehung in Russland im Vergleich zu Westeuropa um ca. 200 Jahre verzögerten (deMause 2000, S. 455).

Schon die Geburt verlief noch Anfang des 20. Jahrhunderts nicht selten alles andere als erfreulich:
In communities where women had to work right through pregnancy, elaborate preparation was ruled out for many, and it was fairly common for women to go through labour unaided, in field or by a road. As one Soviet obstetrician was to comment, a pregnant women could expect less considerate treatment than a draught horse. In such situations, one may assume, the ritual procedures of birthing were delayed or truncated, and the infant arrived in life uncelebrated and unwelcomed” (Kelly 2007, S. 292). 

Aber auch Kindestötungen kamen vor: “Infanticide was not an uncommon event in the countryside (…)” (Kelly 2007, S. 292). "Among the lowest social level in seventeenth century Russia, female infanticide seems to have been widespread" (Milner 2000, S. 232).
Säuglingstötungen wurden Anfang des 18. Jahrhunderts seitens der politischen Führung zum Thema (was klar macht, dass die Tötungen eine bekannte Realität waren). Zunächst ging es vor allem darum, das Töten von illegitimen Kindern zu verhindern. 1716 wurden dann durch Peter I. Strafen für das Töten von sowohl illegitimen wie auch legitimen Kindern verhängt. Doch die russischen Väter fühlten sich durch diese Verordnung in ihren traditionell absoluten Rechten über ihren Nachwuchs zu bestimmen beschnitten. Peter I. reagierte darauf so, dass es keine Strafen gegen Elternteile gab, wenn deren Kinder "versehentlich" während elterlicher Strafmaßnahmen starben. In der Folge wurde es schwierig, den Eltern strafbares Fehlverhalten nachzuweisen. (Milner 2000, S. 107). 

Ab den 1930er Jahren gab es Bestrebungen, die Krippenbetreuung massiv auszuweiten. In den Folgejahren wurde die maximale Anzahl von zu betreuenden Kleinkindern auf 35 bis 40 pro Betreuungsperson angehoben (Kelly 2007, S. 344). In der Realität sei laut Kelly die Zahl der zu betreuenden Kinder zweifellos höher gewesen. 
Wir können uns vorstellen, dass die Bedingungen für die Kinder entsprechend miserabel waren, wovon auch einzelne Berichte zeugen, die Kelly zitiert. Der Standardaufenthalt der Kinder in den Krippen lag in den 1940er Jahren bei zwölf Stunden.  „'Hospitalisation', in the sense of institutionalised psychological trauma and emotional deprivation, must have been widespread among many 'graduates' of such crèches” (Kelly 2007, S. 349).
Aber nicht nur die Bedingungen waren rückständig, auch die Anzahl von Kindergärten (also Einrichtungen für etwas ältere Kinder) zeigt, dass Russland ganz anders aufgestellt war: "In 1911 there were only 100 kindergartens in operation across Russia, a figure that was strikingly low compared with the figures for France (5,863), the US (4,363), or Austro-Hungary (3,150)" (Kelly 2007, S. 369)

Bezogen auf Arbeiter- oder Bauernkinder um 1900 war das Hauptbestreben der Eltern sie durch die frühe Kindheit zu bringen. Enger Kontakt zur Mutter war begrenzt auf die ersten frühen Jahre. Sobald die Kinder sprechen und gehen konnten, wurden sie der Aufsicht von älteren Geschwistern überlassen oder gar nicht beaufsichtigt. Manchmal konnte aus Vernachlässigung auch Kindesmisshandlung werden, betont die Autorin (Kelly 2007, S. 361). 

Ein Bericht aus dem ländlichen Russland im 19. Jahrhundert zeigte vielfältige Gewalt gegen Kinder: „Dmitrii Ivanovich Rostilavov (b. 1809), raised as the son of a priest in a Russian village, noted the widespread resort to corporal punishment at all levels of society. Whereas landowners, the clergy and merchants adopted a grim ritual with birch rods or leather straps, peasants seized whatever was to hand, including sticks, ropes and horse whips, with the result that children were »beaten, pummeled, and even maimed«” (Heywood 2018, S. 114).

Um das Jahr 1900 herum war in Russland auch in den Mittel- bis Oberklassefamilien Körperstrafen gegen Kinder keineswegs unüblich. Auch das Einsperren von Kindern in dunklen Räumen waren mögliche Strafmaßnahmen (Kelly 2007, S. 362). In Arbeiter- oder Bauernfamilien galt: “Generally, the attitude to children, once they had reached the age of seven, was strict. Misdemeanours were punished by beatings or by sharp scoldings, disobedience was not tolerated" (Kelly 2007, S. 366) Manchmal wurden Kinder halbtot geschlagen, wie laut Kelly Einzelberichte zeigten. 

Ende des 19. Jahrhunderts waren auch Körperstrafen an Schulen gängige Praxis in Russland, wobei in religiösen Schulen am brutalsten geschlagen wurde (Kelly 2007, S. 521f.)
Gewalt gegen Kinder hielt sich auch in der Sowjetzeit: „Corporal Punishment was, by all accounts, used almost universally in working-class and peasant families. Strict control was still exercised in some families over how children behaved at table, and over the way they acted in the presence of visitors – interrupting and clamouring for attention were definitely not allowed. A standard method of behaviour regulation was the withdrawal of love: 'I don`t have a granddaughter any more', as a visiting grandmother said to her Leningrad granddaughter in 1960” (Kelly 2007, S. 390). 

Es mag entsprechend wenig verwundern, dass auch die Schüler untereinander oftmals nicht gerade zimperlich miteinander umgingen. Kinder, die anders oder schwächer waren, wurden schnell zur Zielscheibe (Kelly 2007, S. 562f.) Heute würden wir dazu Mobbing sagen. 

Vor allem nach den Jahren des Ersten Weltkriegs und der Oktoberrevolution stieg in Russland die Zahl der Kinder, die in Waisenhäuser untergebracht werden mussten, rasant an. Von 30.000 im Jahr 1917 auf 540.000 im Jahr 1921 (Kelly 2007, S. 193). Nach der Hungersnot 1920/1921 lag ergänzend die Zahl der Kinder, die ins Elend und totale Not gestürzt wurden bei mindestens vier Millionen. Diese Kinder wurden zu Erwachsenen und gestalteten die russische Gesellschaft mit. 

Dunn spitzt die Lebenssituation vieler russischer Kinder im historischen Rückblick wie folgt zu:
In der Zeit von 1760 bis 1860 in Russland ein Kind zu sein, war eine Qual, ein ungesichertes Dasein voll von Hindernissen für die körperliche wie die seelische Entwicklung. Vielleicht weniger als die Hälfte der Kinder erreichte das Erwachsenenalter. (…) Nur wenige von denen, die trotz allem körperlich überlebten, wurden in unserem heutigen Sinn erwachsen, nämlich autonome eigenverantwortliche Persönlichkeiten“ (Dunn 1980, S. 537).

Inna Hartwich (2022) hat für die taz den Artikel "Erziehung in Russland. Gewalt von Kindesbeinen an" verfasst und diese auf allen Ebenen zu findende Gewalt in der russischen Gesellschaft in Bezug zu Gräueltaten der russischen Armee und auch dem Krieg in der Ukraine an sich gesetzt. 
Ihr großartiger Artikel erspart mir hier das ausführliche Schlusswort! Wir müssen die aktuellen Kindheiten in Russland allerdings - dies soll dieser Blogbeitrag hier deutlich machen - im Kontext der Geschichte von Kindheit in Russland betrachten. 

Langfristig gilt: Russland verändern heißt, russische Kindheit verändern und verbessern. Ein Projekt, das nicht von heute auf morgen realisiert werden kann. Ein Bewusstsein für dieses grundlegende Problem wäre ein Anfang. 


(Siehe ergänzend die Kindheiten etlicher russischer Zaren und die Kindheit von Putin, Lenin, Stalin und Trotzki in meinem Blog)


Quellen:

de Madariaga, I. (2006). Katharina die Grosse. Das Leben der russischen Kaiserin. Hugendubel Verlag, Kreuzlingen / München.

deMause, L. (2000). Was ist Psychohistorie? Eine Grundlegung. Psychosozial Verlag, Gießen.

d'Encausse, H. C. (1998). Nikolaus II.: Das Drama des letzten Zaren. Paul Zsolnay Verlag, Wien. 

Dunn, P. P. (1980). »Der Feind ist das Kind«: Kindheit im zaristischen Russland. In: DeMause, L. (Hrsg.) (1980). Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main. S. 535-564.

Hartwich, I. (2022, 05. Juli). Erziehung in Russland. Gewalt von Kindesbeinen an. taz. 

Heywood, C. (2018). A History of Childhood. Polity Press, Medford. (Second Edition)

Massie, R. (1982). Peter der Grosse und seine Zeit. Athenäum Verlag, Königstein/Ts.

Milner, L. S. (2000). Hardness of Heart/Hardness of Life: The Stain of Human Infanticide. University Press of America, Lanham / New York / Oxford. 

Roache, M. (2021, 03. März). Russia's Leaders Won't Deal With a Domestic Violence Epidemic. These Women Stepped Up Instead. New York Times. 

Roser, M. & Ortiz-Ospina, E. (2018, 20. Sep.). Literacy. Our World in Data. 

Weisband, M. (2022, 07. März). Russland verstehen

Donnerstag, 19. Mai 2022

The Childhood of Vladimir Putin

(original in German: https://kriegsursachen.blogspot.com/2022/05/die-kindheit-von-wladimir-putin.html; translation by Gabriella Becchina)

 PDF file for download, see here!


Introduction

“Does Putin's traumatic childhood have a link with Ukraine and other wars? Looking at his backstory does not justify his actions but offers one of the many explanations for an unfolding crisis. And a lesson for many of us” (Singh 2022). I can’t but agree. His childhood explains a lot and yet excuses nothing!

In addition, one must keep in mind that there is also an inherent connection to childhood and trauma experiences in Russia. Russia is not just Putin. His actions would not be possible without the direct or tacit support of countless people. Childhood in Russia was and is a great source of strain (see: “The Cruel and Brutal Russian Family of the 17th Century and the Relation to Contemporary Times” (Fuchs 2022) and “Childhood in Russia” (Fuchs 2014). Of course, this also has (political) consequences.

Parents traumatized by war

Let us now tackle his childhood and family backgrounds. Putin's father fought on the front lines during World War II and was almost killed. Putin's mother also nearly died when her hometown of Leningrad was besieged and starved (Baker & Glasser 2005, p. 40).

In an article, Vladimir Putin (2015) explicitly described his parents' war experiences. His father was part of a diversion group of 28 people. They were once ambushed. His father survived only because he spent hours burying himself in a swamp and breathing through a reed. Of the 28 men, only four returned alive. Putin's father was immediately sent back to the front. There he was badly wounded and almost lost a leg. He had metal splinters in his body all his life. He was only fortuitously saved because a neighbor found him and dragged him to the military hospital at the risk of his life. While there, he diverted food for Putin's mother and their three-year-old son, which led to Putin's father sometimes fainting from hunger. Meanwhile, his mother had to withstand the siege of Leningrad. Her son was eventually taken away from her. He came into a home to save him from starvation. However, the little boy fell ill with diphtheria and died.

He was buried in a mass grave with over 470,000 further people (Myers 2015, p. 11). The family had previously lost a child who had died shortly after birth (Baker & Glasser 2005, p. 40).

At the time, Putin's mother was also closer to death than to life. Putin goes on to tell how one day his father was walking home on crutches. Paramedics were carrying bodies outside, including Putin's mother. The father discovered that she was still breathing. He cared for his wife and was able to save her (Putin 2015). Putin adds that five of his father's six brothers died in the war. His mother also lost relatives.

Putin's parents combined must have been highly traumatized people. We know today that this can put a heavy burden on the offspring (keyword: transgenerational transmission of trauma).

Childhood nightmare

The family lived in only one room and Vladimir's life arguably took place mainly outside and in backyards. "Everyone somehow lived within themselves," as recounted later by Putin in his description of that period and life with his parents. "I can't say that we were a very emotional family, that we discussed anything much. They kept a lot to themselves. I still wonder today how they dealt with the tragedies” (Seipel 2015, chapter: “Upheavals of the Past”). Another source describes how his parents left the boy to his own devices and he basically grew up as a type of street kid (Retter 2022). The living conditions were poor, they had to share the kitchen with others; to wash, the family went to public washhouses and often had to dodge hordes of rats in their home (Baker & Glasser 2005, p. 41).

Putin's father is described as a hard, strict and silent man who showed no feelings towards his son Vladimir and often argued with him. Once Vladimir left town with his friends without telling his parents. When he returned home, his father beat him with a belt (Baker & Glasser 2005, pp. 41f.). The biographer Steven Lee Myers (2015, p. 12) describes him in a very similar way: "Vladimir`s father was taciturn and severe, frightening even to people who knew him well." Myers (2015, p. 14) confirms the previously described fatherly violence against the son as well.

"His father was, by all accounts, concerned primarily with discipline, not with the quality of schooling his son received," writes Gessen (2014, p. 47f.) and adds that the boy initially had little interest in his education and most of the biographical descriptions from this period centered on the many "fistfights of his childhood and youth". On the street and with regard to the other boys, everything revolved around “constant drinking, cursing, fistfights. And there was Putin in the middle of all this,” reported a former classmate (Gessen 2014, p. 48).

Putin's former teacher, Vera Gurevich, relayed that she once visited the father and explained to him that his son was not developing his full potential. The father replied: "Well, what can I do? Kill him or what?" (Myers 2015, p. 15). Quite an unusual answer, which in turn testifies to the roughness of this person.

Putin, who was younger and slimmer than the other children around him, tried to hold up by persistently fighting. He also brought this violence to school, which got him into trouble and made him an outsider: "The school punished Putin by excluding him from the Young Pioneers Organization - a rare, almost exotic form of punishment, generally reserved for children who were held back repeatedly and essentially deemed hopeless. Putin was a marked boy: for three years, he was the only child in the school who did not wear a red kerchief around his neck, symbolizing membership in the Communist Organization for ten-to-fourteen-year-olds” (Gessen 2014, p. 48).

“As is almost always the case with bullies, Putin started out as a victim. (…) he was bullied and humiliated as a child” (Strick 2022). Myers also confirms that Putin was bullied and attacked because of his small size (Myers 2015, p. 15, 153). Ihanus (2022) describes another scene in which attacks against Putin took place: "His former teacher Vera Gurevich once said that the small Putin was locked by other schoolmates in the girls’ toilet where the girls slapped him."

Learning martial arts was evidently a way for the young Putin to be able to defend himself. He was used to violence since childhood. His teacher Vera Gurevich reported that when Putin broke the leg of one of his classmates at the age of 14, he said that some people "only understand violence" (Welt-Online 2022).

Are Putin's parents his biological parents?

In a research series (Dobbert 2015), Die ZEIT newspaper addressed the subject of Vera Putina, the woman who claims to be Vladimir Putin's real mother. Apparently, there is some evidence to justify publishing this story (including similarities in facial features between her and Putin). I myself don't want to skip this chapter, thus referring to the article (which can be viewed online and is very interesting). However, questions obviously still persist and there is no absolute certainty (through a genetic test) about this story. If the story is true, then Vladimir had an ominous odyssey of changing caregivers behind him, which would have implied an enormous burden for the child.

The story goes like this: Vera Putina fell in love with a man named Platon Privalov and became pregnant. Only then did she find out that he was married, and broke up with him. She moved in with her parents. During that time, she had to leave her barely two-year-old son with her parents for weeks at a time because her work took her out of town. Eventually, she met a Georgian, married him and moved to Georgia with her illegitimate son. A girl was born. For years there was a dispute about the boy. Her husband no longer wanted him to stay. Once her husband's sister simply gave the boy away to a strange man. The mother went looking for her son and brought him back. After that, she decided to place him with her parents again. However, her father became very ill and the boy had to move to foster parents who were distant (childless) relatives of her parents: Vladimir Spiridonovich Putin and Maria Ivanovna Putina (Putin's official parents).

Stanislav Belkovsky (2022, pp. 42f.) also doubted the official version of Putin's origins in his biography of Putin and basically explained the ZEIT story in a similar way (his book was originally published in 2013, i.e. before the ZEIT article). As a result of these experiences, Vladimir had become a withdrawn and grim child. In addition, he has hated Georgians as an ethnic group and as a category since then.

I find a further piece of information regarding the above-mentioned context noteworthy. Sadovnikova (2017, p. 30) specifies that Putin's father wanted a son. The mother actually didn't want a child (let’s also remember: she had lost two children before), but agreed. In this respect, Putin was an unwanted child on the part of his mother (which may have influenced the mother-son bond). For one. According to the source, the father wanted a son, which there is approximately a 50/50 chance for through natural pregnancy. The situation is different when a son is "offered" through relatives, as suggested in the above-mentioned ZEIT article. Just as an additional mental note.

Closing remarks

It is safe to say that Vladimir Putin's childhood was not "exotic" in the Russia of that time. Many Russians grew up with parents traumatized by war, in poverty and with violence, and were neglected and/or experienced the death of family members. With it loomed the shadows of Russian history: e.g. the oppression by the tsars, Stalin's terror, famines, all the wars, serfdom and despotism. Still, I would not use this information and background to say that not all people who grew up this way became like "Putin" (which is often used as an argument to downplay any contingent bearings). Needless to say, there is something psychopathic about Putin that few people develop in this fashion. However, his actions would not have been possible without the direct or tacit support of countless Russian people (including those following and helplessly frozen), as I already wrote at the beginning. The circle is now closing, especially in light of the suffering and trauma endured by many!

Or as Juhani Ihanus (2008, p. 255) expressed it: "The mystery and charisma of the leader reflect the secrets of abuse, shared by the majority of Russians in one form or another."



Bibliography

Baker, P. & Glasser, S. (2005). Kremlin Rising: Vladimir Putin's Russia and the End of Revolution. A Lisa Drew Book/Scribner, New York. Kindle e-book Edition.

Belkowski, S. (2022). Wladimir: Die ganze Wahrheit über Putin. Redline Verlag, München (3rd edition). Kindle e-book edition.

Dobbert, S. (2015, May 7): Vera Putina’s Lost Son. DIE ZEIT. https://www.zeit.de/feature/vladimir-putin-mother

Fuchs, S. (2022). Die grausame und rohe russische Familie des 17. Jahrhunderts und der Bezug zur heutigen Zeit. https://kriegsursachen.blogspot.com/2022/04/die-grausame-und-rohe-russische-familie.html

Fuchs, S. (2014). Kindheit in Russland. https://kriegsursachen.blogspot.com/2014/04/kindheit-in-russland.html

Gessen, M. (2014). The Man Without a Face: The Unlikely Rise of Vladimir Putin. Granta, London. Kindle e-book edition.

Ihanus, J. (2008). Putin the Aging Terminator: Psychohistorical and Psychopolitical Notes. The Journal of Psychohistory, Winter 2008, 35(3), S. 240-269. 

Ihanus, J. (2022). Putin, Ukraine, and Fratricide. (will be published in Clio's Psyche, spring issue, discussed in advance and sent to participants of the "Psychohistory Forum Virtual Meeting" on May 14, 2022)

Myers, S. L. (2015). The New Tsar: The Rise and Reign of Vladimir Putin. Alfred A. Knopf, New York. Kindle e-book edition. 

Putin, W. (2015, May 9). Das Leben ist eine einfache und grausame Sache. Frankfurter Allgemeine-online. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wladimir-putin-zum-70-jahrestag-des-kriegsendes-13578426.html

Retter, E. (2022, Feb. 23). Vladimir Putin's childhood explained - from 'miracle baby' to power-crazed president. Mirror. https://www.mirror.co.uk/news/world-news/vladimir-putins-childhood-explained-miracle-26303775?utm_source=twitter.com&utm_medium=social&utm_campaign=sharebar

Sadovnikova, A. (2017). Wenig folgsam und sehr frech. In: DER SPIEGEL-Biografie (Ed.). Wladimir Putin. 05/2017. SPIEGEL-Verlag, Hamburg.

Seipel, H. (2015): Putin. Innenansichten der Macht. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg. Kindle e-book edition.

Singh, D. (2022, March 15). Putin's rough childhood and its shadow over Ukraine and other wars. India Today. https://www.indiatoday.in/news-analysis/story/russia-ukraine-war-vladimir-putin-childhood-1925663-2022-03-15?t_source=rhs&t_medium=It&t_campaign=readthis&utm_source=twshare&utm_medium=socialicons&utm_campaign=shareurltracking

Strick, K. (2022, March 24). Is Vlad mad or bad? The life of Putin — from a childhood being chased by rats to today’s isolation and paranoia. Evening Standard. https://www.standard.co.uk/insider/vladimir-putin-russia-ukraine-war-background-president-life-covid-pandemic-b988399.html

Welt-Online (2022, Feb 22). Putin als Jugendlicher: „Wenn der Kampf unvermeidbar ist, muss man als Erster zuschlagen“. https://www.welt.de/politik/ausland/article237062307/Putin-Wenn-der-Kampf-unvermeidbar-ist-muss-man-als-Erster-zuschlagen.html


Author profile (in german): https://mattes.de/autoren/fuchs_sven.html


Donnerstag, 17. März 2022

Doku „Diktatoren - Wurzeln des Terrors“ und einige Anmerkungen dazu

 „Hitler, Mussolini, Stalin, Mao, Pol Pot, Saddam Hussein, Kim Jong Un: Alle dieser Diktatoren waren einst Kinder und Teenager, bevor sie zu Tyrannen wurden. Die Dokumentation blickt in die Kindheit und die Jugendzeit der schrecklichsten Diktatoren im 20. und 21. Jahrhundert. Die Porträts dieser Jugendlichen begeben sich auf die Spur nach den Wurzeln des Wesens dieser Männer, die später absolute Macht anstrebten.

So wurde die französische TV-Doku „Diktatoren - Wurzeln des Terrors“ (2021 vom Regisseur François Chayé; original Titel „A la source de la tyrannie“) angekündigt, was mich natürlich extrem neugierig machte. Aktuell kann die Doku noch (mit Werbeblöcken) hier gestreamt werden. 

Die Doku ist in verschiedene Kapitel unterteilt. Ein Kapitel heißt: „Gewalttätige Kindheit“!

Ich wundere mich ehrlich gesagt schon länger, dass es bisher meines Wissens nach keine Doku gab, die die destruktiven Kindheiten von Diktatoren in den Blick nimmt. Jetzt also das! Das ist ein wirklich großer und wichtiger Schritt. 

Zwischendrin kamen mir allerdings erste Zweifel, ob die Doko in eine für mich zufriedenstellende Richtung geht. Z.B. als über die Mutter von Adolf Hitler gesagt wird, dass sie für ihn „emotionale Sicherheit“ bot, etwas, das ich deutlich anders sehe. 

Es tauchten aber auch erste vielversprechende Kommentare auf. Beispielsweise als dieser Satz fällt: „Für Hitler verschmolzen sein Vater und das Kaiserreich zu einem Hasssymbol“. Diese Stelle wurde nicht gesondert kommentiert, sie zeigt aber deutlich die Verschmelzung von Kindheit (Gewalt durch den Vater und Hass auf den Vater) und Gesellschaft bzw. Übertragung von Hass aus der Kindheit auf Vaterfiguren/“Vaterstaat“/“das Alte“. 

Unter dem o.g. Kapiteltitel geht es dann wirklich in die Tiefe der Kindheitsabgründe: Maos Vater sei alles andere als liebevoll gewesen und habe nicht gezögert, seinen Sohn zu schlagen. Mao habe seinen Vater gehasst.
Saddam Hussein sei in extremer Armut aufgewachsen. Es habe „wenig Liebe“ in seiner Kindheit gegeben und er galt „als Bastard“. Und: „Der Stiefvater war gewalttätig und schlug ihn fast täglich.“ Über den Alkoholismus des Vaters von Stalin und dessen Gewaltverhalten wird ebenso berichtet, wie über all die Demütigungen und Entbehrungen, die Stalin in einem Priesterseminar erlitten hat.
Über die häufige väterliche Gewalt, die auch Mussolini erlitten hat, wurde leider nichts berichtet, obwohl dieser Diktator Thema war. 

Zum Schluss hin kommt dann diese Aussage:

Bei einigen Diktatoren liegen die Wurzeln ihres Handelns in einer besonders traumatischen Kindheit. Die prägenderen Faktoren für ihre kriminelle Entwicklung liegen jedoch meist im historischen, sozialen und politischen Umfeld, in Kombination mit einer blutigen Ideologie schaffen die Despoten dann den Aufstieg an die Macht.“

Nach dieser Stelle war den vorherigen Ausführungen zur Kindheit schon einmal deutlich der Wind aus den Segeln genommen. Glaubt es mir oder nicht, ich ahnte schon, welcher Nachsatz noch kommen würde und er kam auch, von dem Historiker Johann Chapoutot:

 „Es besteht kein Zweifel daran, dass Hitler eine unglückliche Kindheit hatte. Die Beziehung zu seinem Vater war katastrophal und bereitete ihm große psychische und physische Schmerzen. (…) Doch im 19. Jahrhundert gab es viele Kinder, die Opfer von Misshandlungen wurden und sie wurden nicht alle zu Massenmördern. Den Gewaltherrschern ist auf ihrem Lebensweg noch etwas anderes passiert. Hitler verstand es, auf die Erwartungen der damaligen Gesellschaft zu reagieren. Diese wollte eine klare Identität und Hitler vermittelte durch den Nationalsozialismus und die deutsch-völkische Ideologie das Gefühl, dass man etwas darstellt.“ 

Da ist er wieder, dieser klassische Satz:Aber nicht alle traumatisierten Kinder werden zu…“.
Die Ursachenkette zwischen destruktiver Kindheit und politischer Gewalt wird durch diesen Satz sofort zerrrissen. Bereits in dem zuvor zitierten Part wurde der Blick von der Kindheit weg in Richtung anderer „prägenderen“ Faktoren („historischen, sozialen und politischen Umfeld, in Kombination mit einer blutigen Ideologie“) gelenkt. 

Es ist selbstverständlich, dass es keinen einfachen Link zwischen destruktiver Kindheit hier und Diktatoren dort gibt. Selbstverständlich bedarf es weiterer Einflussfaktoren, wovon der größte natürlich das Streben nach und das Erreichen von Macht ist. Diese Leute müssen zudem redegewandt und intelligent sein. Sie müssen männlich sein. Sie müssen zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein usw. usf.  

Was mich so ungemein stört, wenn Kindheitseinflüsse gering geredet werden, ist, dass nie die umgedrehte Frage gestellt wird: Wären Hitler, Mussolini, Stalin, Mao und Saddam Hussein auch zu solchen Diktatoren und Massenmördern geworden, wenn sie eine liebevolle und weitgehend unbelastete Kindheit gehabt hätten? Diese Frage taucht einfach nicht auf!

Der zweite Punkt ist, dass der Satz „doch im 19. Jahrhundert gab es viele Kinder, die Opfer von Misshandlungen wurden und sie wurden nicht alle zu Massenmördern“ mit Blick auf das Werden eines Diktators im Grunde bereits die Lösung des Rätsels mit enthält. Nur ein einziger Mensch kann logischer Weise in einer Diktatur zum Diktator werden. Wenn doch aber eine destruktive Kindheit in einem deutlichen Zusammenhang zu menschlicher Destruktivität und Gewaltverhalten und auch „Ohnmachtsverhalten“ steht (was wir heute einfach auf Grund wissenschaftlicher Befunde wissen), dann erklärt sich doch gerade aus der Feststellung „doch im 19. Jahrhundert gab es viele Kinder, die Opfer von Misshandlungen wurden“ die Entwicklungen hin zu einer Diktatur! 

Johann Chapoutot hat es oben nach seiner kritischen Anmerkung bzgl. Kindheitseinflüssen im Grunde bereits gesagt: „Hitler verstand es, auf die Erwartungen der damaligen Gesellschaft zu reagieren. Diese wollte eine klare Identität“. Ein als Kind traumatisierter Führer stand in Resonanz mit der als Kind traumatisierten Bevölkerung, die sich eine Identität wünschte (Identitätsprobleme sind eine klassische Folge von Kindesmisshandlung!). Warum wurde hier nicht der Einfluss von Kindheit erkannt?

Vergessen werden darf außerdem auch nicht, dass die vielen Kinder des 19. Jahrhunderts, die Opfer von Misshandlungen wurden, zwar nicht alle zu Massenmördern und Diktatoren wurden, aber viele (vor allem männliche) Kinder wurden zu "Diktatoren im Kleinen", in der Familie. Das war ihr Einfluss- und Machtbereich! Historische Berichte über tyrannische Väter finden sich haufenweise. Sie „mordeten“ die Seelen ihrer untergeordneten Familienmitglieder. Und ja, beim genaueren Hinsehen finden wir im historischen Rückblick auch haufenweise Mütter (+ Großmütter, Dienerinnen, Ammen), die sich gegenüber Kindern wie Diktatoren und Menschenschinder verhielten, obwohl sie nach außen hin (der patriarchalen Sitte/Struktur nach) nicht die absolute Macht in der Familie inne hatten. 

Der andere Weg, Hass auszudrücken, ist der Weg nach innen: Selbsthass, Krankheit, Suizid, Depressionen, sich in Ohnmachtsbeziehungen ergeben usw. usf. Auch das wird gerne unterschlagen, wenn es heißt, dass nicht alle als Kind misshandelten Menschen zu "ihr wisst schon was" werden. 

Doch im 19. Jahrhundert gab es viele Kinder, die Opfer von Misshandlungen wurden und sie wurden nicht alle zu Massenmördern“. Dieser Satz ist schlicht unterkomplex, obwohl das erklärte Ziel des Satzes ja gerade war, die Komplexität von Menschen und Gesellschaften zu beachten. 

Im Grunde liegt hier stets auch das gleiche Problem zu Grunde: Historiker sind nun einmal keine Psychologen und Experten für Traumafolgen. Ihnen fehlt entsprechend das Wissen um die komplexen Folgen von Kindesmisshandlung, die sich in unzähligen Formen ausdrücken können.

Die Doku war ansonsten gut und auch wichtig! Es wird sicher der Tag kommen, an dem in einem ähnlichen Format selbstbewusst die These formuliert wird, dass destruktive Kindheiten das Fundament für Diktaturen bilden können. 

Die Doku "Diktatoren - Wurzeln des Terrors" lief am 15.03. in der Zeit zwischen 02:20 - 03:00 Uhr auf N-TV

Ist schon irgendwie symbolisch, dass das Thema gesendet wird, wenn alle schlafen...


siehe ergänzend auch meinen Blogbeitrag: "Eine lieblose Kindheit haben viele erlebt und werden trotzdem nicht zu Mördern"