Montag, 19. Juli 2010

Aborigines. Gewalt und Missbrauch. Entzauberung eines Urvolkes?

Ausstralische Medien berichteten in der Vergangenheit (wohl beginnend ab 2004, mit einem Höhepunkt im Jahr 2006 durch die Veröffentlichung eines Berichtes durch Nanette Rogers, Staatsanwältin des Bundesstaats Northern Territory, auf dessem Gebiet viele Traditionen der Ureinwohner erhalten geblieben sind und sie in vielen Gemeinden unter sich leben. ) fast täglich über katastrophale Zustände in Aborigine-Familien: Gewalt, Vergewaltigungen und sexueller Missbrauch von Kindern.
Im Bericht ist von endemischem Kindsmissbrauch die Rede. Rogers kritisierte, viele Verbrechen blieben nicht nur ungeahndet, sondern würden von den Tätern und Entscheidungsträgern in den Aboriginal-Gemeinden unter Hinweis auf "Traditionen der Männer" entschuldigt.“, schreibt die taz. Neu ist das Problem des Kindsmissbrauchs laut taz Bericht nicht. „Experten wiesen schon vor Jahren darauf hin, dass Sex mit Kindern, Vergewaltigungen und brutalste, nicht selten tödlich endende Gewalt gegen Frauen in vielen Aboriginal-Dörfern alltäglich sind. Fachleute sind der Meinung, der Grund liege vor allem beim Alkoholmissbrauch und der sozialen Verwahrlosung ganzer Gemeinden.
Der Präsident der australischen Labour-Partei, Warren Mundine (er ist selbst Aborigine, der erste, der es geschafft hat, eine Spitzenposition in der Politik zu erreichen), spricht „von einem Zusammenbruch der sozialen Strukturen“ innerhalb der Aborigine Gesellschaft und darüber, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder als normal angesehen würden. (vgl. tagesschau Bericht „"Die Aborigine-Gesellschaft implodiert")
Prof. Dr. Adi Wimmer, Vorsitzender der deutschen Gesellschaft für Australienstudien schreibt in einem GEO Bericht etwas von „systematischem Kindesmissbrauch“. Auch der SPIEGEL schreibt, dass Inspektoren der Regierung von systematischem Kindesmissbrauch in Gemeinden des Bundesstaats Northern Territory (wo überwiegend die als Aborigenes bezeichneten australischen Ureinwohner leben) berichteten.

Im Jahr 2007 gab es in Australien weiteres großes Aufsehen nachdem der Report “Little Children are Sacred” veröffentlich war. Auch hier wurde über weit verbreiteten sexuellen Missbrauch, aber auch über häusliche Gewalt, Drogen- und Alkoholmissbrauch usw. berichtet. 2007 intervenierte schließlich die Regierung Howard mit harten Maßnahmen. „Die Maßnahmen wurden ausgelöst durch einen schockierenden Expertenbericht über Kindesmissbrauch und Alkoholismus bei den Aborigines, den die Regierung des Northern Territory in Auftrag gegeben hatte. Der Bericht wies unter anderem darauf hin, dass bereits dreijährige Aborigine-Kinder an Geschlechtskrankheiten leiden. Die Studie geht von etwa 20 Prozent schweren Alkoholikern im Northern Territory aus.“ (Focus, "Die Entmündigung der Aborigines")
Das deutsche Auswärtige Amt schreibt dazu: „Nach dem Bekanntwerden von weitverbreitetem sexuellen Missbrauch von Kindern in zahlreichen Gemeinden des Northern Territory sah sich die Regierung Howard im Juni 2007 veranlasst, dort den nationalen Notstand zu erklären und unter Einsatz des Militärs und der Bundespolizei direkt zum Schutz der Kinder einzugreifen. Die Maßnahmen der sog. Intervention umfassten u.a. die Unterbindung des Alkohol- und Drogenhandels, den Entzug von Landrechten sowie die zwangsweise Gesundheitsuntersuchung aller Kinder. Die Intervention stieß in der Bevölkerung auf ein unterschiedliches Echo, wird jedoch überwiegend – nicht zuletzt von vielen Aborigines selbst – als notwendig angesehen. Die jetzige Regierung hat im März 2009 die bestehenden Zwangsmaßnahmen, mit geringfügigen Veränderungen, um weitere drei Jahre verlängert.
Ein anderer Bericht schildert, dass auf die Regierungsmaßnahmen mit unterschiedlicher Kritik reagiert wurde. „Nicht nur Aborigines-Verbände laufen dagegen Sturm, auch Menschenrechtsgruppen und progressive Politiker kritisieren den Vorstoß der Regierung als untauglich und werten ihn als einen verheerenden Rückfall in gescheiterte Politikmuster im Umgang mit der wichtigsten nationalen Minderheit.

Fakt ist, dass muss hier erwähnt werden, dass auch der Durchschnittsaustralier oft Alkoholprobleme hat (wie in anderen westlichen Kulturen auch) und sexueller Missbrauch natürlich in allen Gesellschafsschichten und – gruppen vorkommt. Insofern wäre es sicher konstruktiver und glaubwürdiger gewesen, wenn die australische Regierung parallel auch diese Probleme benannt und angegangen wäre.


Mir geht es in diesem Beitrag jetzt aber um etwas anderes, nämlich um die Entzauberung von Urvölkern. Lloyd deMause hat die Idealisierung von Kindheit bei primitiven Gesellschaften scharf kritisiert. (vgl. deMause, 2005, S. 192ff) Er zeigt insbesondere am Beispiel der Kindererziehung in Neuguinea (nahe Australien) auf, wie gewaltbeladen, missbrauchend und vernachlässigend der Umgang mit Kindern in dieser Kulturregion war und ist und wie Kindestötungen alltäglich waren. Dazu bringt er etliche Beispiele an, wo Anthropologen die Kindheit bei entsprechenden Völkern idealisieren und umdeuten, Fakten weglassen oder übersehen. Als Beispiel sei folgende Stelle zitiert, wo er sich zusammenfassend äußert: „Diese Arten von täglichen Missbräuchen, zusammen mit verschiedenen Typen von ritueller Päderastie, Folter und Verstümmelung sind so weit verbreitet, dass die Schlussfolgerung im Standardwerk der Anthropologie über kulturübergreifenden Kindesmissbrauch – „es steht so gut wie fest, dass es keinen Kindesmissbrauch in Neuguinea gibt.“ – total unerklärlich erscheint.“ (ebd., S. 205). Seine Schilderungen über die dortige Kindheit sind derart schockierend, dass es mir schwer fiel, sie in einem Stück zu lesen.
An Hand einer Quelle aus dem Jahr 1965 berichtet deMause auch, dass die australischen Aborigines früher bis zu 50 % ihrer Säuglinge umbrachten. (vgl. ebd., S. 194) Ich habe schon oft in Texten und Kommentaren über Kindestötungen bei Stämmen und Urvölkern verständnisvolle Reaktionen gelesen. Das Motto war durchgehend: „Wenn man arm ist, in der Steppe wohnt und lebt, dann ist das Leben dort sehr hart. „Überschüssige“ Kinder, schwache und gebrechliche umzubringen, kommt damit eher einer “ Fürsorge“ für das Überleben des Stammes gleich.“ De Mause berichtet aus verschiedenen Regionen, dass wenn gefragt wird, die Akteure etwas anderes berichten: Die Säuglinge wurden umgebracht, weil „Kinder zu viele Probleme bereiten“, weil „die Mütter auf ihre Ehemänner wütend waren“, weil sie „dämonische Kinder“ wären, weil das Kind „ein Hexer werden könnte“, weil „ihre Ehemänner zu einer anderen Frau gehen“, weil „sie keine Kinder haben wollten, die sie in ihren Liebschaften einschränken würden“, weil „es weiblich war“, weil „sie einen bald verlassen würden“ oder weil “sie nicht bleiben werden, um im Alter auf uns zu schauen.“ (ebd., S. 194)
Schockierendes las ich auch auf der österreichischen Homepage www.babyguide.at – „erste Anlaufstelle zum Thema Schwangerschaft, Geburt, Baby, Kind, Familie, Ernährung“:
Bis auf kleinere Abweichungen ist das Geburtsritual bei allen Stämmen der Aboriginals gleich. Die werdende Mutter verlässt gemeinsam mit ihrer Mutter das Lager und begibt sich an einen geschützten Ort, der in der Nähe einer mit Wasser gefüllten Felsmulde liegt. Die zukünftige Großmutter hebt ein Loch im Boden aus, (…) Ist das Kind schwach oder behindert darf sie es in der Erde vergraben noch bevor es den ersten Schrei tut. Das ist sehr wichtig, denn wenn die Mutter ihr Kind einmal schreien hört, ist bereits eine Bindung zu ihm hergestellt. Meist aber gelingt die Geburt (…) Nun wird das Baby kurz kopfüber über das Feuer gehalten und im Anschluss aus rituellen Gründen mit Sand und Asche eingerieben.
Geboren, schon mit dem möglichen Grab vor Augen (und die Mutter gebärend, mit dem Bewusstsein, dass das Kind auch gleich im Grab landen könnte), danach gehalten übers Feuer (wie auch einst im europäischen Mittelalter üblich, um „Dämonen“ vom Kind zu vertreiben, wie man in Europa damals sagte.)… ein traumatischer Start ins Leben, der auf der o.g. Familienhomepage nicht weiter kommentiert wird. Ich frage mich auch, was passiert z.B., wenn Mutter und Großmutter vielleicht gerade Streit oder andere Konflikte, in denen es um Macht geht, hatten? Was für ungeheure Macht wurde hier den Großmüttern gegeben, über Tod oder Leben innerhalb von Sekunden zu entscheiden? „Sind die Kinder aber auf der Welt“ heißt es einige Sätze weiter, „werden sie mit viel Zärtlichkeit und Liebe groß gezogen, auch die Väter kümmern sich geduldig um ihren Nachwuchs. Kleine Kinder genießen große Freiheit und werden niemals bestraft. Der Übergang von der Kindheit in das Erwachsenenalter wird mit einem speziellen Ritual gestaltet, die Initiation.“ Einer Schilderung über eine traumatische Geburt und möglicher Kindestötung folgt die Idealisierung des Urvolkes und seiner Erziehung, um dann auf die Initiation hinzuweisen, ohne zu erwähnen, dass auch diese traumatisch ist und wenig mit Liebe und Mitgefühl gemein hat.
Manche Mädchen müssen sich bei einigen australischen Stämmen einer “rituellen Operation“ unterziehen, der sogenannten „Atna-ariltha-kuma“. Vor allem erleben aber die Jungen "Initiationsrituale" (siehe dazu wikipedia), durch die sie „zum Mann werden“ und die Wochen andauern können. Dazu gehört die Entfernung der männlichen Vorhaut und später auch die vollständige oder teilweise Spaltung der Harnröhre an der Unterseite des Penis. Das ganze ohne Betäubung und mit primitiven Werkzeugen, was nicht selten zu bleibenden Schäden oder gar zum Tod führen kann. (siehe auch "Beschneidung von Jungen und Männern") Im Internet habe ich einige Bilder dazu recherchiert, die ich hier nicht zeigen möchte, weil ich sie zu heftig finde. Mehrere Männer halten die Jungen fest, während sie beschnitten werden. Die Jungen sind total ausgeliefert. Angstvoll, schmerzverzerrt sind die Gesichter der Jungen. Eigentlich schreien sie nur noch auf den Bildern, die ich fand… Ohne Zweifel ist dies eine erhebliche Gewalterfahrung in diesen frühen Jahren. "In einer abschließenden Initiationsstufe im Alter von 16 oder 17 Jahren wurde bei fast allen Völkern die Haut junger Männer und Frauen skarifiziert (das Einbringen von Ziernarben in die Haut), womit sie heiratsfähig wurden.“ (wikipedia) Ein Bild aus Papua-Neuguinea zeigt den zwangvollen Charakter dieser Prozedur.
Unter dem Deckmantel „Kultur“ und „Tradition“ verschweigen westliche Kommentatoren all zu oft, wie traumatisch so etwas für Heranwachsende ist. DeMause schreibt in diesem Zusammenhang passend: Überall werden „ältere Kinder als Strafe für ihre Individuation und Selbstständigkeit gefoltert und verstümmelt. Obwohl diese Folter von den Anthropologen Initiationsrituale genannt werden, sind sie weniger Initiationen in irgendetwas, als Bestrafungen für das Heranwachsen. Sie dramatisieren eine Reinigung von maternalen Giften, damit Jungen dann von den Männern als Projektionsfläche benutzt werden können. Die meisten von ihnen führen maternale Traumata in der einen oder anderen Weise wieder auf.“ (deMause, 2005, S. 204)

Lloyd deMause widerspricht der Annahme von AnthropologInnen, dass das Inzesttabu eine der wenigen kulturellen Allgemeinheiten von Menschen darstellt. Er zeigt vielmehr auf, wie alltäglich sexueller Missbrauch bei Urvölkern ist. „Da die Verwendung von Säuglingen und Kindern als erotische Objekte kulturübergreifend so alltäglich ist, überrascht es nicht, dass in Neuguinea auch andere Erwachsene als die Eltern üblicherweise Kinder sexuell missbrauchen. Babys im Besonderen werden behandelt, als wären sie Brüste, um daran zu saugen und den ganzen Tag zu masturbieren. (…) Die inzestuöse Verwendung von Kindern in Neuguinea und Australien dehnt sich auf die anderen melaneschen und polynesischen Inseln aus, obwohl bei komplexer werdenden Gesellschaften die Praktiken stärker ritualisiert vorkommen.“ (deMause, 2005, S. 197f) und „In vielfacher Art und Weise demonstrieren neuguinesische Eltern, dass, wenn das Kind nicht erotisch gebraucht wird, es nutzlos ist.“ (ebd., S. 200) Er schildert darauf, wie bei Urvölkern den Kindern oftmals keine Aufmerksamkeit geschenkt wird, wie sie ignoriert werden, wie kleine Kinder mit scharfen Messern spielen dürfen oder am Feuer spielen, wobei nicht wenige sich ernsthafte Verletzungen zufügen. (Ich glaube, dass viele westliche Beobachter die Realität umdeuten, indem sie angeben, dass die Kinder in Urvölkern „viele Freiheiten“ hätten, obwohl der dortige Alltag eher zeigt, dass sie einfach vernachlässigt werden. Viele Menschen aus unserer westlichen Kultur scheinen wohl „auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ zu sein, sie wollen in den alten Kulturen etwas finden, das macht sie blind für die dortige Realität.)

Wenn wir über diverse Probleme – von Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Verwahrlosung, Gewalt usw. - von Urvölkern wie den Aborigines in Australien sprechen, dann muss die Analyse der Ursachen selbstverständlich die historische Unterdrückung und Entrechtung und die kollektive Traumatisierung dieser Völker durch die oft mörderische Verfolgung seitens der Kolonialisten beinhalten. Aber: Die Analyse muss vor allem auch beinhalten, dass diese Völker oftmals schon immer sehr gewaltvolle „Traditionen“ gegenüber ihren Kindern auslebten, wie deMause zeigt. Der systematische sexuelle Missbrauch in der heutigen traditionellen Aborigine-Gesellschaft, scheint hier seine tiefen Wurzeln zu haben.

Die Arbeit von deMause hat mir persönlich ein ganz neues Bewusstsein für Urvölker gegeben. Viele der traditionellen Mythen und Rituale, die mit Geistern, Dämonen, Hexerei, rituellen Opfern, Tierwesen usw. zu tun haben, scheinen demnach vielmehr Ausdruck einer psychisch zersplitterten Persönlichkeit (deMause spricht in diesem Zusammenhang von der „Schizoiden Psychoklasse“) zu sein. Ich war richtig erschrocken, als ich einige Zeit nach meiner erstmaligen Lektüre von deMause im Fernsehen zwei Dokus (erinnere leider nicht mehr die Titel) über zwei südamerikanische Urvölker gesehen habe. Ich achtete plötzlich auf ganz andere Details und Verhaltensweisen der vorgestellten Völker. Und ich sah vor allem auch, wie die dort Forschenden mit leuchtenden Augen und total idealisiert von den Völkern berichteten. (In einem Moment hoben sie z.B. hervor, dass sie von der kindlichen Fröhlichkeit und Leichtigkeit der Menschen berührt waren. In einem anderen Moment kam es zwischen einer Gruppe und einem anderen Stamm fast zu kriegerischer Gewalt, die nur dadurch beendet wurde, dass ein Schwein geopfert wurde. Unter wüsten Beschimpfungen und Drohungen trennten sich dann die Gruppen) Vielleicht geht es manch einem ähnlich, der sich mit deMause befasst hat. Das würde mich interessieren. Bitte gerne Kommentare dazu.

Freitag, 9. Juli 2010

Wirtschaftswachstum: "Die Emotionen heben ab"

„Die Wirtschaft hebt ab“, titelte gestern DIE ZEIT. „Nachdem der Internationale Währungsfonds heute früh seine gerade mal zwei Monate alte Wachstumsprognose für das reale globale BIP im Jahr 2010 um 0,4 Prozentpunkte auf 4,6 Prozent angehoben hat (Vorjahresvergleich, in Kaufkraftparitäten), ebenso wie die deutsche, von 1,2 auf 1,4 Prozent, meldete die Bundesbank zur Mittagsstunde, dass die deutsche Industrieproduktion im Mai saisonbereinigt um sage und schreibe 2,6 Prozent gegenüber dem April und um 12,4 Prozent gegenüber Mai 2009 zugelegt hat.
(siehe auch einige interessante Grafiken zum Wachstum im ZEIT Artikel.)

Panik und schiere Angst beherrschte die Ökonomie Ende 2008 und vor allem im Jahr 2009. In einem Text hatte ich bereits gedanklich angeregt, dass diese Ängste emotionale Ursachen haben könnten. Das Platzen der Blase auf dem US-Immobilienmarkt in den USA war natürlich sehr real. Banken und Geldgeber hatten unzählige faule Kredite international weiterverkauft. Keiner wusste genau, wer nun wo welche faulen Kredite im Lager hat. Die ganze Vorentwicklung in den USA brauchte allerdings vor allem eines: Die Fähigkeit, Realitäten stark zu verdrängen. Und das hat dann irgendwie doch etwas mit unserer psychischen Situation zu tun. Dazu kommt, dass es für mich weiterhin rational unverständlich ist, warum innerhalb weniger Wochen weltweit die Konsumenten ihre Nachfrage nach Produkten reduzierten, „nur weil die Banken in der Krise sind“. Wenn ich mich an das letzte Jahr erinnere, dann denke ich an ein Bombardement von schlechten Nachrichten. Alles wäre schlecht, wir wären am Boden, alles drohe zusammenzubrechen, das würde noch Jahre so bleiben, die Wirtschaftskrise von 1929 wäre Kleinkram dagegen usw. usf.

Ich persönlich fühlte mich eher genervt von diesen ständigen Nachrichten. Die Initiative krise-nein-danke.com spricht mir dabei aus dem Herzen: „Wir haben zu oft gehört, dass es uns schlecht geht - bis wir es irgendwann alle selbst geglaubt haben.“ Und so war es in der Tat! Die Krise wurde geradezu herbeigeredet. Wie erwartet – die positive Wirtschaftentwicklung hatte ich ja in meinem oben genannten Text schon erwähnt – geht es 2010 weiter kräftig nach oben. Keine jahrelange Krise, Massenarbeitslosigkeit usw. droht. Für 1 ½ Jahre wollte sich die Nation schlecht fühlen. Nun, spätestens nach der WM 2010 ist die gewollte Depression wohl vorbei. Die nächste wird irgendwann kommen, auch sie wird in der Tiefe wieder emotionale Ursachen haben. Insofern wäre es wünschenswert, wenn WirtschaftswissenschaftlerInnen sich auch mal mit psychohistorischen Thesen zu ökonomischen Phänomenen beschäftigen würden. Die Ergebnisse wären sicher aufschlussreich.

Donnerstag, 8. Juli 2010

mögliche Ursachen von Frauenhass

Durch meine aktuellen Gedanken zu den Maskulisten bin ich noch mal auf einen interessanten Beitrag von einem Mann in einem Forum gestoßen. Dieser suchte dort Hilfe und leidet unter seinem Frauenhass. Er hat nichts mit den Maskulisten zu tun. Trotzdem finden sich hier Parallelen, was die möglichen Ursachen des Frauenhasses angeht, wie ich finde. Aber bitte. Lest selbst:

"Die Emotionen von Frauen interessieren mich wenig bis gar nicht....Ich bin ein Trampel geworden und wenn eine Frau etwas von mir will macht mich das oft fast schon aggressiv. Ich habe eine beste Freundin und die meinte einmal ich werde zum "Göbbels" wenn ich über dieses Thema rede (falls jemand diese Metapher versteht). Ich habe mir einen zerstörerischen Frauenhass eingefangen, ausgelöst durch meine EX-Beziehung. Alle Frauen sind böse, verräterisch und hinterlistig. In meiner Wahrnehmung. Ich weiss, dass das nicht stimmt, aber das hilft mir wenig weiter. Gar nicht eigentlich. (…) Meine Mutter ist eine sehr komplizierte Person von der ich übermässige Ablehnung und Erniedrigung erfahren habe in emotionaler Hinsicht. Sie war durchaus auch liebevoll und aufopfernd, hat mich jedoch ebenso oft über die Klinge springen lassen und emotional "verbeult". Körperliche Nähe gab es auch nie seitens ihr. Ich könnte das ganze noch ausführlicher beschreiben, aber ich denke man versteht worum es geht. Ich empfinde eine Mischung aus Hass, ein wenig Liebe und Mitleid ihr gegenüber, was eine Ursache für meine jetzige Misere sein dürfte. (…)Witzig ist auch, dass die meisten meiner engen Freunde alle ähnlich destruktive Mütter hatten, das ganze sich bei denen jedoch anders äussert (Helfersyndrom, Bindungsangst etc. (...) )Ich habe gelernt, dass die Gefühle die ich Frauen gegenüber habe eigentlich woanders hingehören. Zu meiner Mutter, die ziemlich manipulativ und seelisch grausam war. Ich habe einen regelrechten Hass auf sie entwickelt. Sie hat eine Persönlichkeit wie Gollum von Herr der Ringe. (...) Das Problem ist, dass mein Vater, zu dem ich ein sehr gutes Verhältnis habe, schwer krank ist und sie ihn verprügelt, weil er sich nicht wehren kann. Mein Vater war aber auch die längste Zeit Alkoholiker, woher mit Sicherheit auch ein Grossteil meiner Vertrauensprobleme rühren."

Samstag, 26. Juni 2010

Medusas Kinder in der Antike


Durch meine Beschäftigung mit der Medusa und den Maskulisten bin ich auf eine interessante Information gestoßen. In ihrer Dissertation „Das unheimliche Sehen | Das Unheimliche sehen. Zur Psychodynamik des Blicks“ zitiert Elke Rövekamp eine Quelle (Schlesier, 1989) wie folgt: " (…) wir müssen wohl aufgrund der vorhandenen archäologischen Zeugnisse davon ausgehen, dass nichts von antiken Künstlern so häufig dargestellt wurde, wie das Medusenhaupt." (Rövekamp, 2004, S. 356) Wir finden in der Antike das Bild der Medusa „(…) an Gebäuden aller Art, an Giebeln und auf Mauern, an Tempeln, Privathäusern und Grabbauten; wir sehen es an den Rüstungen der Krieger, an Wagen, Schilden, Helmen, Harnischen, Beinschienen, Streitwagen, an Zaumzeug und Panzer der Pferde; es ist auf Wandgemälden und Mosaiken, auf Münzen und Schmuckstücken dargestellt; an den Geräten des täglichen Gebrauchs in Haus und Tempel ist es zu sehen, an Stühlen, Lampen, Kandelabern, an allen erdenklichen Gefäßen, auf Deckeln und an den Henkeln der Mischkrüge für Wein und Wasser, auf den Ölamphoren, den Schminkkästchen, den Trinkschalen." (ebd., S. 364f)

Die Medusa ist eine Erfindung aus der Antike. Ihre damalige enorme Verbreitung leuchtet mir vor allem ein, wenn man sich die Arbeiten von Lloyd deMause vor Augen führt. Er hat auf den antiken Kindererziehungsmodus „Später Infantizid“ hingewiesen. In dieser Zeit waren schwere Gewaltformen gegen Kinder, Kindesvergewaltigungen und Kindestötungen vorherrschend, entsprechend bildete sich die narzisstische Psychoklasse heraus. Der Vater war erst wirklich anwesend, wenn es um die Anleitung des älteren Kindes ging, vorher waren ihm die Kinder egal. Sicherlich war er auch brutal. Den Frauen und Müttern oblag die Kindererziehung, die wie gesagt von Gewalt geprägt war. In meinem aktuellen kurzen Text über "Medusas Söhne" habe ich die Verbindung zur Mutter gezogen. Die grausame Mutter wird im versteinernden Blick der Medusa von den Menschen wiedererkannt. Deshalb übte die Medusa zusammen mit ihrer Geschichte (vor allem auch ihrer Enthauptung durch Perseus) offensichtlich auf die antiken Menschen (dabei wohl auch vor allem die Männer) eine solche Faszination aus. Diese Erklärung scheint mir schlüssig und sie stützt deMause Annahmen über die Art und Weise der Kindererziehungspraxis in der Antike, deren psychische Folgen im Medusamythos sichtbar werden.

Donnerstag, 24. Juni 2010

Medusas Söhne. Oder: Wie Mann zum Maskulisten wird


Es ist schon ca. 7 Jahre her Jahre, wo ich mich eine Zeit intensiv mit der Männerbewegung beschäftigt habe. Diese besteht ja aus mehreren Richtungen, die ich hier gar nicht aufzählen und besprechen möchte. Mir geht es hier jetzt um den Teil dieser Bewegung, die sich „Maskulisten“ nennen und die ich radikale Maskulisten nenne.

Meine Einstellung zu diesen Leuten ist seit damals: Es ist verschwendete Lebenszeit, sich mit ihren Texten zu befassen. Mann ärgert sich einfach nur, wenn mann so viel dumpfen Kram ließt.
Diese Bewegung verbreitet zunächst einmal einige Kernthesen und Ansätze, die ich durchaus für richtig und begrüßenswert halte. Z.B. die Forderung, dass männliche Opfererfahrungen (Männer werden nämlich häufiger Opfer von Gewalt, als Frauen, außer im Bereich der sexuellen Gewalt. Allerdings - das verschweigen die Maskulisten - sind auch die Täter mehrheitlich Männer, außer, wenn es um Gewalt gegen Kinder geht, da sind die Verhältnisse bei körperlicher Gewalt ausgeglichen) mehr ins gesellschaftliche Bewusstsein gebracht werden müssen, dass es da mehr Hilfe gezielt auch für Jungen und Männer geben muss, dass Frauen häufiger als Täterinnen gegenüber Kinder auftreten, als dies allgemein wahrgenommen wird usw. usf. (Wobei Vorsicht geboten ist, wenn die Maskulisten Zahlen und Studien angeben, mann sollte sich da andere Quellen suchen.) Zusätzlich gibt es dann noch etliche andere Kernthesen der Maskulisten, die ich für höchst problematisch, verdreht und falsch halte, hier aber nicht besprechen kann.

Ihre Forderungen stehen dabei aber immer und grundsätzlich in Abgrenzung zum Feminismus und dabei speziell auch gegen die EMMA und Alice Schwarzer, die ihre Hauptfeindbilder sind. Frauen, speziell Feministinnen tauchen in den Texten der Maskulisten als deutliche Feindbilder auf, die es zu bekämpfen gilt. Der indirekte und direkte Frauenhass, der sich dort in den Texten zeigt, ist wirklich unerträglich und somit schwerlich zu lesen. Es werden also keine eigenen konstruktiven Ziele formuliert und den Frauen ihre Fortschritte und berechtigten Errungenschaften gelassen, sondern es kommt einem vor, wie auf einem Kindergeburtstag: Da ist eine Torte und die Jungs schreien und streiten darum, dass die Mädchen zu viel Torte hätten, dass sie sich verziehen sollen, weil jetzt die Zeit der Jungen ist, die Zeit, Torte zu essen. Zu diesem Kindergeburtstag gehört dann auch, dass mann sich verabredet, z.B. Mädchenpartys zu stürmen…äh feministische Internetforen zu torpedieren. Und dieser Kindergeburtstag ist denn auch der Grund dafür, warum ich dazu etwas schreiben möchte. Denn mir scheinen diese hasserfüllten, zum Teil auch sehr irrationalen Texte der Maskulisten viel mit deren Kindheit zu tun zu haben.

Damals las ich eine Homepage eines Maskulisten (die ich nicht mehr benennen könnte). Er vertrat die üblichen Gedanken, verwies auf die üblichen Links und maskulinen Bücher. Er schrieb aber auch etwas über sich und seine Kindheit. Diese war geprägt von Misshandlungen und Bestrafungen seitens seiner Mutter. Damals traute ich erst meinen Augen kaum. Die Verbindung zu seinen hasserfüllten Texten über Frauen und die eigene Misshandlungsgeschichte waren so offenkundig, dass es fast absurd schien, wie er seine Homepage betrieb und gestaltete. Verständlich wird dies, wenn mann darum weiß, dass Gefühle von misshandelten Kindern abgespalten werden. Später können sich die Männer dann ggf. noch sachlich daran erinnern, dass sie Schläge bekamen, was sie dabei fühlten, wissen sie nicht mehr. Die hasserfüllten Gefühle treiben dann aber ihr Unwesen auch weiterhin. In diesem Fall wurde der Hass komplett auf den Feminismus projiziert: „Die Feminstinnen hassen uns Männer, also müssen wir uns ihnen entgegenstellen und sie zurückdrängen.“

Damals hatte ich auch eine gewisse Zeit mit einem männerbewegten Mann zu tun. Er war kein Maskulist per Selbstdefinition, trotzdem kamen bei ihm immer wieder irrationale Gedanken und auch ein sehr verächtliches Frauenbild durch. Frauen waren für ihn grundsätzlich böse. Er selbst hatte vor allem schweren emotionalen Missbrauch und Körperstrafen seitens seiner Mutter erlebt und konnte sich an viele Details aus seiner Kindheit überhaupt nicht mehr erinnern. Das sind zwei Erfahrungen, die mann sicher nicht verallgemeinern kann. Trotzdem regen sie an, sich da weiter Gedanken zu machen und ich habe sie immer im Hinterkopf, wenn es um die Maskulisten geht.

Aus einem aktuellen Anlass heraus, habe ich dann kürzlich einfach mal wieder etwas zum Thema gegoogelt, (obwohl ich mich ja eigentlich nicht mehr mit diesen Leuten beschäftigen wollte, habe ich eine komplette Stunde dafür geopfert...). Bei den ersten Suchergebnissen fiel mir gleich das Bild der Medusa entgegen. Mehr noch, auf bekannten Homepages und Blogs der Maskulisten prangt das Bild des Perseus, in der Hand hält er den abgeschlagenen Kopf der Medusa. Manche Maskulistenblogs haben in ihrem Blognamen sogar gleich das Wort Perseus mit aufgenommen. Ein Titel eines bekannten Maskulistenbuches enthält ebenfalls das Wort Medusa. In einem entsprechenden Internetforum nutzt ein Schreiberling das Bild des Perseus als Avatar. In einem anderen Internetforum werden weibliche Gender-Professorinnen als „Medusaköpfe“ bezeichnet; eine Ehefrau, deren Mann laut Gerichtsbeschluss keinen Unterhalt zahlen braucht (wie er stolz berichtet) ist ebenfalls die „Medusa“; in einer Einladung zur „Online-Konferenz der Maskulisten“ heißt der Server "Maskulisten", das Passwort "medusa“, wie berichtet wird; ein Teil der Männerbewegung, der mit dem Feminismus sympathisiere sei blind „für die schreckliche Gestalt der Großen Mutter, der Medusa.“ bzw. dieser verfallen, da diese Männer „das Männliche“ aus ihrem Weltbild gelöscht hätten. Und folgende einzelnen Zitate möchte ich hier komplett anbringen: "Eine Sache sei noch zwingend zu erwähnen. Bei all unserem Tun und Handeln braucht man aussagekräftige und klare Symbole, mit denen sich andere identifizieren können. Perseus mit dem Haupt der Medusa wurde schon mal als Symbol vorgeschlagen, was ich ausgezeichnet fand, u.a. auch da eine gewisse Radikalität dem ganzen zu Grunde liegt: der rücksichtslosen und restlosen Auslöschung des Feminismus.“ Und „Perseus - und das abgeschlagene Haupt der Medusa. Ich träum gerade davon, daß in 5 Jahren ebensoviele Leute mit Stickern/Autoaufklebern mit diesem Symbol drauf - zu sehen sein werden, wie damals "Atomkraft-nein danke"-Sticker/Aufkleber. Vielleicht ja auch mit Schriftzug: Feminismus? Nein Danke! Oder das Symbol (Perseus und das Haupt der Medusa).“ und „Es ist psychisch fast unmöglich, das ganze Ausmaß und die Obszönität des Grauens dieser Ideologie (Anmerk. gemeint ist der Feminismus) konstant im Bewußtsein zu halten, denn sie ist derart furchtbar, daß man, der Medusa ins Antlitz blickend, zu Tode erstarrt und buchstäblich nicht mehr vor sich liegen sieht, was man sieht.“ Medusa scheint es den Maskulisten wirklich angetan zu haben.

Zum letzten Zitat möchte ich noch etwas einbringen. Es macht Sinn, hier einmal das Wort „Mutter“ einzusetzen. Das liest sich dann wie folgt:
Es ist psychisch fast unmöglich, das ganze Ausmaß und die Obszönität des Grauens dessen, was meine Mutter mir antat, konstant im Bewußtsein zu halten, denn sie ist derart furchtbar, daß man, der eigenen Mutter ins Antlitz blickend, zu Tode erstarrt und buchstäblich nicht mehr vor sich liegen sieht, was man sieht.“ Der ganze Schrecken des inneren Kindes wird hier deutlich, der hier von dieser Person vermutlich einst real erlebt wurde und der sich jetzt in Wortsilben und Bildern wiederaufführt.


Die Kinder- und Jugendlichen Psychotherapeutin Barbara Diepold beschreibt bildlich die innere Welt schwer traumatisierter Kinder. Hier fiel mir erstmals das Bild der Medusa in diesem Zusammenhang auf: „Die innere Welt traumatisierter Kinder ist so, wie Hieronymus Bosch sie gemalt und Dante sie in seinem „Inferno“ beschrieben hat, oder der Mythos der Medusa sie erzählt: Gespenster und Geister, brennendes Feuer, Eiseskälte, Leichenstarre, von Kopf bis Fuss gespaltene Menschen, deren Fragmente sich zu ganzen Menschen zusammensetzen, Menschenleere und Einsamkeit, Spiele mit Leichenteilen, Unfälle und mörderische Aggressivität“ (Diepold, B. 1998: Schwere Traumatisierungen in den ersten Lebensjahren. In: Endres, M. / Biermann, G. (Hrsg.): Traumatisierung in Kindheit und Jugend. Reinhardt Verlag, München., S. 136f) Hellhörig machte mich dann auch, dass über Adolf Hitler berichtete wird, er hätte das Bild der Medusa an seinen Wänden hängen gehabt und gesagt: „Diese Augen! Es sind die Augen meiner Mutter!“ (deMause, 2005, S. 154)

In der Psychoanalyse ist das Bild der Medusa oft ein Hinweis auf die eigene Mutter. Die Mutter kann Nahrung, Wärme und Liebe geben, aber sie kann diese auch entziehen und damit existenzielle Ängste auslösen. In einem – eigentlich gegenüber der Psychoanalyse sehr kritisch gemeinten Artikel – schreibt eine taz Autorin passend: „Die verdrängte, mächtige Mutter bleibt aber nun, wie alles Verdrängte, im Unbewussten aktiv. Als die böse Frau tritt diese Figur in Märchen und Fantasien wieder auf: von der Sphinx über Medusa und diverse Hexen- und Feenfigurenbis hin zur heutigen Form der schrecklichen Verderberin, der Emanze, die die ganze schöne Gesellschaft mit ihren unmäßigen Forderungen durcheinander bringt und die Männer - na was wohl? - am liebsten kastrieren würde.“ (vgl. http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2006/07/22/a0252)
Um die Medusa herum finden sich viele gefährliche Schlangen. „Beinhalten Träume Riesenschlangen, also Würgeschlangen, ist die Bedeutung häufig die einer "fesselnden und erdrückenden Umarmung", wie sie z.B. eine besitzdenkende, nicht loslassende Mutter ausüben kann.“ (http://www.traumdeutung-lebensberatung.de/traumsymbole-traumsymbol-schlange.html)

Die Schlangen erinnern vielleicht auch etwas an die Nabelschnur des Säuglings. Wieder etwas, was mit Mutter und Kind zu tun hat. Die Enthauptung der Medusa ist übrigens auch die Einleitung einer Geburt. Aus ihrem Hals werden ihre Kinder Pegasus und Chrysaor geboren, im Augenblick des Todes sozusagen „entbunden". Tod und Wiedergeburt ist etwas, das vor allem auch in psychohistorischen Arbeiten bzgl. kriegerischen Verhaltens behandelt wird. Durch den Tod eines anderen, „fühle ich mich wiedergeboren“. Die Ursachen dafür sehen die PsychohistorikerInnen in destruktiven, von Gewalt bestimmten Kindheitserfahrungen. „Die Feministinnen sollen sterben, damit wir leben können.“ Könnte ein Teil der Fantasie sein, die Maskulisten ausleben. Und darin ist dann auch die Rachefantasie des Kindes enthalten: "Meine Mutter muss sterben, damit ich endlich leben kann."

Auch manche Maskulisten selbst scheinen sehr klar die Mutter in der Medusa zu erkennen. Geradezu entzückt beschreibt ein Leser in seinem Kommentar einer bekannten Maskulisten Homepage: „Was ich dir sagen will: die Perseus-Figur (Brunnenfigur von B.Cellini), die du abgebildet hast, hat für mich... eine besondere Bedeutung.“ Ein Buch, das der Leser erinnert, beschreibt die antiken Mythen und „die Befreiung des Helden aus der Abhängigkeit von der Großen Mutter; die verschiedenen Stufen des Heldenkampfes, d.h. der Muttertötung oder Tötung des Drachens (…) Die Perseus-Gestalt wurde mir besonders sympathisch; und als ihre Verkörperung besonders die Brunnenfigur des Cellini.

Ein anderer Maskulist schrieb in seinem Blog: "Vor einigen Wochen lief der Film "Clash of the Titans" in unseren Kinos an. Da die Hauptfigur kein Anderer als Perseus höchstpersönlich ist, war der Film für mich als Maskulist natürlich Pflicht. Ich war positiv überrascht. Vor allem der Kampf des Perseus gegen die Medusa ist eindrucksvoll inszeniert und übte eine starke Faszination auf mich aus." Wie emotional der Kampf des Perseus gegen die Medusa (Mutter) besetzt ist, wird hier deutlich.

Trotz etwas komplizierter Sprache finde ich auch folgendes Zitat erhellend:
Man kann sagen, daß die Tat des Perseus darum von historischer Symbolkraft war, weil er die Macht des bösen Blicks gebrochen hat. Seligmann (1910/1922) hat die fast ubiquitäre Verbreitung des bösen Blicks beschrieben, dessen Bedrohlichkeit mit dem Sieg des Perseus natürlich nicht vorbei war, sondern bis heute anhält. Es scheint zu den kulturellen Urerfahrungen zu gehören, daß der Mensch sich dem Blick unterworfen erlebt. Die Psychoanalyse, die sich mit primären Spuren der Bildung des Selbst beschäftigt (Lacan, Kohut, Miller u.a.), hat die Bedeutung der Spiegelung des Infans durch den Anderen, also zumeist die Mutter, herausgearbeitet. Wenn Kohut vom "Glanz im Auge der Mutter" spricht, worin sich das Kind spiegelt und so, als gespiegeltes, sich identifiziert, erhellt daraus umgekehrt auch, was es heißt, einem kalten unemphatischen, nicht annehmenden Blick ausgesetzt zu sein. Ich bin primär der, der im Blick des anderen sich gegeben ist. Aufbau oder Fragmentierung des Selbst sind Funktionen der Blickqualitäten, die für den Blickunterworfenen lebenswichtig sind. Verwerfen oder Annehmen sind grundlegende Blickgebärden, in deren Matrix Subjekte sich identifizieren lernen. Natürlich ist in der Psychoanalyse mit der Verschränkung der Blicke mehr gemeint als das, was zwischen den Augen von Mutter und Kind sich abspielt. Der Blick ist Signifikant für die atmosphärische Tönung der Gesamtbeziehung. Der Blick aber, wußte man schon in der Antike, ist Träger eben von Atmosphären.“ (http://www.culture.hu-berlin.de/hb/static/archiv/volltexte/texte/natsub/sinne.html)
PsychologInnen sprechen vom „Tanz der Augen“ zwischen Eltern und Kind. Der liebevolle, anerkennende Blick ist vor allem für den Säugling von ungeheurer Bedeutung für seine Entwicklung. Fehlt dieser Blick, ist der Blick vielleicht sogar kalt und grausam, erlebt das Kind kein Echo im Blick, dann wird das schon vom Säugling als massive Bedrohung empfunden und das hat erhebliche negative Folgen für die weitere Entwicklung.

Wie aber war nun die Kindheit der radikalen Maskulisten? Haben sie den „toten, bösen Blick“ ihrer Mutter und ihres Vaters gesehen? Ich schreibe hier jetzt bewusst auch vom Vater, denn ich möchte dies nicht nur auf die Mutter reduzieren. Wenn eine Mutter kalt und ablehnend ist, dann könnte der Vater vieles ausgleichen (und umgekehrt), wenn er ein liebevolles Verhältnis zum Kind aufbaut. War der Vater dagegen emotional und physisch abwesend, dann trägt er dadurch natürlich auch seinen Teil bei. Da diese Abwesenheit sehr oft in unserer Gesellschaft vorkommt, beziehen sich die Rachegedanken der Maskulisten wohl in der Tat eher auf den Elternpart, der zumindest noch da war: Die Mutter. Hätten sie einen "ausgleichenden Vater" erlebt, würden sie wohl kaum so hassen können. Ein positives Männerbild fehlt, da kein positiver Vater und Vorbild zur Verfügung stand.

Mir scheint es wirklich so zu sein, als ob die Maskulisten im Blick der Medusa ihre destruktive Mutter wiedererkennen. Ihren Hass lassen sie jetzt – emotional blind wie sie sind - stellvertretend an den Feministinnen aus. Sie wollen blind bleiben, also kann mann ihnen nur mit Kritik und Grenzen setzten entgegnen. Für rationale Argumente sind die Maskulisten nicht zugänglich, da sie hassen wollen und den Hass brauchen. Mann sollte sich über ihren Kindergeburtstagskram allerdings nicht zu arg ärgern, gerade wenn mann auch darum weiß, dass es eben das Verhalten von emotionalen Kindern ist. Denn das ist ja genau das, was sie brauchen, eine ärgerliche, schockierte, ggf. feindliche Gegenreaktion. Insofern wünsche ich den Maskulisten, dass sie daran arbeiten, erwachsen zu werden und ihre eigene Torte backen. Viel Glück dabei! Vielleicht beschäftige ich mich dann in weiteren 7 Jahren noch mal für eine Stunde mit Euch und schaue, ob ihr da weitergekommen seid.



siehe ergänzend auch:

- Medusas Kinder in der Antike
- mögliche Ursachen von Frauenhass


P.S.

Der Ausweg aus diesem Hass wäre für die Maskulisten, dass sie sich dem „Bösen Blick“ der Mutter / des abwesenden Vaters stellen. Für das Kind von einst wäre dieser Blick (psychisch) tödlich gewesen, hätte das Kind geradeaus geschaut und bewusst gesehen, dass es nicht geliebt, sondern gehasst / abgelehnt wurde. Die damaligen Ängste kommen also in der Tat Todesängsten gleich. Wenn mann so einige Texte und Beiträge der Maskulisten liest, dann entdeckt man hinter der hasserfüllten Fassade sehr oft pure Angst vor „den Feministinnen“ (den „feministischen Monstern“), ja geradezu Todesangst. Heute könnten diese Männer der alten Angst direkt ins Angesicht schauen, ohne befürchten zu müssen, zu sterben oder zu versteinern, denn sie sind ihren Eltern nicht mehr als Kinder ausgeliefert und von diesen existenziell abhängig. Der “verspiegelte Schild“, der in der Sage Perseus vor dem direkten Blick der Medusa schützte, könnte in der heutigen Zeit ein Psychotherapeut sein, der einen geschützten Rahmen bieten kann, damit diese Männer sich dem Blick stellen können. Dass Maskulisten irgendwann diesen Weg wählen, halte ich zwar für notwendig, allerdings auch für sehr unwahrscheinlich.

Donnerstag, 17. Juni 2010

Alice Millers Sohn Martin über eine emotional schwierige Mutter und nachträgliche Gedanken

Im SPIEGEL vom 03.05.2010 („Mein Vater, ja, diesbezüglich“) ist ein interessantes Interview mit dem Sohn – Martin Miller - von der kürzlich verstorbenen Kindheitsforscherin Alice Miller zu lesen. Darin schildert er die schwierige Situation, Kind von einer so berühmten Analytikerin zu sein, die zudem über ihre eigenen Kriegstraumatisierungen nicht bis kaum sprechen konnte und emotional schwer für ihre Kinder zu erreichen war. Millers Sohn hat nach eigenen Angaben unzählige Versuche unternommen, mit seiner Mutter über ihre Erlebnisse zu sprechen, vergeblich. Er spürte emotional, dass ihr im Krieg etwas zugestoßen war, Fakten erfuhr er nicht. Martin Miller wörtlich: „Mir haben Leute immer gesagt: Eine Mutter, die so einfühlsam schreibt - da musst du eigentlich die beste Mutter gehabt haben. Eine absurde Situation. Die Leute hatten ein Bild von dieser Frau, das mit meinem nicht übereinstimmte. Es war sehr schwierig.“ und „Es ist meine persönliche Tragödie, dass ich es als Kind von Eltern der Kriegsgeneration nicht geschafft habe, eine emotionale Beziehung zu meinen Eltern aufzubauen.“ Erst kurz vor Alice Millers Tod konnte der Sohn sich ihr in einem Gespräch emotional annähern. Seine Mutter hat sich in diesem Gespräch auch bei ihm entschuldigt. Martin schildert auch, wie er Opfer seines Vaters wurde, in Form von körperlicher und psychischer Gewalt. Alice Miller war Zeugin dieser Übergriffe und intervenierte dabei auch, war aber wohl auch hilflos. Später trennte sie sich von ihrem Mann und ihr Sohn Martin ging in ein Internat.
Die SPIEGEL Journalisten äußern im Interview, dass sie auf diese Schilderungen nicht vorbereitet waren. Sie hatten offensichtlich ein anderes Bild von der Familie Miller erwartet. Ich muss gestehen, dass mich Martins Schilderungen nicht wirklich wundern. Ich habe einige Fotos von Alice Miller gesehen und mir einige ihrer selbst gemalten Bilder auf ihrer Homepage angesehen. Außerdem kenne ich einige ihrer Bücher. Sie selbst berichtete nach meiner Erinnerung auch von eigenen Psychotherapien. Insofern hat sie nicht wirklich ihr persönliches Leid verborgen. Ich fand auch schon immer, dass sie nicht glücklich wirkte. Zudem ist es nur logisch, dass gerade Menschen mit schweren eigenen traumatischen Hintergründen über das Thema schreiben. Die meisten bekannten Fachmenschen, die über Kindesmisshandlung, sexuellen Missbrauch und Vernachlässigung schreiben und veröffentlichen, sind höchst wahrscheinlich auf die ein oder andere Weise selbst betroffen. Ich vermute stark, dass Alice Miller auch als Kind Gewalt in ihrer Familie erlebt hat. Martin Miller sagt dazu nichts im Interview, insofern bleibt das ganze natürlich Spekulation. Ihre Bücher und ihre Thesen verlieren durch diese Informationen eh nicht an Bedeutung, ihr Wahrheitsgehalt bleibt bestehen.

Die anderen beiden Leitfiguren in diesem Forschungsbereich - Lloyd deMause und Arno Gruen - haben auch Gewalt als Kind erlebt. Lloyd deMause erwähnte in einem seiner Bücher, dass er selbst geschlagen worden ist. Er selbst ordnet sich in die „sozialisierte Psychoklasse“ ein, seine eigenen Kinder dagegen sieht er im helfenden Modus. Arno Gruens Biografie habe ich vor einiger Zeit kurz durchgeblättert. Ich erinnere Schilderungen über erhebliche Gewalterfahrungen und vor allem auch eine emotional sehr distanzierte Mutter, die Gruen selbst nach seinen ersten Erfolgen nicht wirklich Anerkennung für seine Leistung geben konnte. (Trotzdem entging Gruen ganz offensichtlicher der „Identifikation mit dem Aggressor“)
Der Vater der Psychoanalyse Sigmund Freud berichtete, er sei von seiner Amme als zweijähriger „sexuell verführt“ wurde. (vgl. deMause, L. 1992: Evolution der Kindheit. In: deMause, L. (Hrsg.): Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M, (7. Auflage)
, S. 79ff), also sexuell missbraucht worden. In einem Brief Freuds an seinen damaligen Vertrauten Wilhelm Fließ heißt es: „Leider ist mein Vater einer von den Perversen gewesen und hat die Hysterie meines Bruders und einiger jüngerer Schwestern verschuldet.“ Ein weiteres Freud-Zitat: „Dann die Überraschung, dass in sämtlichen Fällen der Vater als pervers beschuldigt werden mußte, mein eigener nicht ausgenommen.“ (vgl. Focus, Nr. 39, 1993: "Unzucht und frühes Leid") "Pervers" war damals ein Ausdruck für sexuelle Übergriffe seitens männlicher Person. Über diese Passagen wird viel diskutiert. Ich finde, sie sprechen eine deutliche Sprache, Freuds Vater war ein Missbrauchstäter. Carl Gustav Jung - Begründer der Analytischen Psychologie – berichtete einst gegenüber Freud, dass er „als Knabe einem homosexuellen Attentat eines von mir früher verehrten Menschen unterlegen“ war, sprich sexuell missbraucht wurde. (siehe o.g. Focus Artikel)

Ich habe irgendwie im Hinterkopf den Satz für mich gebildet: Ohne Gewalt gegen Kinder und Kindesvernachlässigung gäbe es kaum noch Psychotherapie, weil es erstens kaum PatientInnen gäbe, aber auch zweitens kaum TherapeutInnen. Wer sich mit diesem Thema befasst oder auch Psychotherapeut wird, der hat dafür seine Gründe. (Auch Martin Miller ist beruflich Psychotherapeut) Das selbe gilt sicher auch für MitarbeiterInnen von entsprechenden Beratungsstellen. Eine gewisse Betroffenheit kann dabei ein guter Motor sein, eine zu große Betroffenheit birgt Risiken, wie ich finde.

Warum betreibe ich diesen Blog und warum schreibe ich so viel zu dem Thema? Die Frage stellt sich nach diesem Text natürlich automatisch. Ja, eine gewisse eigene Betroffenheit ist auch meine Grundlage. Wobei ich irgendwie auch ein Spezialfall bin. Ich habe nie elterliche körperliche Gewalt (auch keine leichten Züchtigungen oder Ohrfeigen) erlebt und ich habe nie sexuelle Gewalt erlebt. Zudem hatte ich als Kind sehr viele Freiheiten, die mir meine Eltern einräumten. Ich kannte auch keine Bestrafungen. Strafen gab es bei uns nicht. Meine Betroffenheit ist eher in der Form, dass es sehr viele stark destruktive emotionale Spannungen zwischen meinen Eltern gab und ich mittelbar Opfer davon wurde. Und ich meine letztlich, dass ich viel von dem aufarbeite, was eigentlich Sache meiner Eltern und auch Großeltern gewesen wäre. Mir ist sehr bewusst, warum ich so tief in dem Thema grabe. Ich könnte da viel zu schreiben, was mir aber zu persönlich ist, gerade fürs Internet. Für mich war die Beschäftigung mit dem Thema wichtig, natürlich auch für mich selbst. Niemand beschäftigt sich mit diesem Thema intensiv, wenn es nicht auch um die eigene Person geht.
Doch wenn es jetzt nur noch das wäre, würde ich heute damit aufhören, darüber zu schreiben. Ich tue dies weiter aus einem starken inneren Gefühl heraus, dass diese Art der Bearbeitung von gesellschaftlichen Problemen bzw. die Benennung von den tieferen Ursachen enorm wichtig für die Zukunft unseres Planeten ist. Ich tue dies, weil ich mir dadurch erhoffe, einen Teil dazu beitragen zu können, dass diese Welt besser wird. Das hört sich vielleicht geschwollen an, ist aber die Wahrheit.
(Nebenbei bemerkt habe ich beruflich nichts mit dem Thema zu tun, sondern betreibe diesen Blog als eine Art "Hobby")

Samstag, 5. Juni 2010

"Du weinst doch nicht?"

Auf der Suche nach aktuellen Zahlen zu weiblichen Täterinnen bei sexuellem Missbrauch bin ich auch auf einen erschütternden Bericht gestoßen. Betroffenenbericht von „Mona“:
„Das Gesicht meiner Mutter ist ganz nah. ‚Du weinst doch nicht?‘ Sie schlägt meinen Kopf auf den Boden und wiederholt freundlich: ‚Du weinst doch nicht, oder?‘ Es ging ihr nicht darum, mir das Weinen zu verbieten. Sie wollte, dass ich Schmerzen litt und nicht mehr wusste, dass es mir weh tat. Ich sollte lachen, während sie mich quälte. Ich sollte verrückt werden. Das ist ein Stück aus dem Alltag mit meiner grossen Feindin, meiner Mutter. Das ist Teil der sexuellen Ausbeutung. Vor niemandem hatte ich so maßlose Angst wie vor meiner Mutter. Sie kannte mich viel besser. Sie besaß mehr Druckmittel. Sie konnte viel weiter gehen. Sie gab mir zu essen oder verweigerte es mir. Sie wusch mich oder tauchte mir den Kopf ins Wasser. Sie brachte mich ins Bett oder sperrte mich aus der Wohnung. Darüber hinaus war sie den ganzen Tag mit mir allein. Sie konnte mich schlagen, mir Brandwunden zufügen, mich in den Schrank sperren, mich zwingen, stundenlang still zu stehen, und sie konnte mich jederzeit berühren. Sie hatte Zeit. Sie hatte Zeit, zu warten bis meine Kraft nachliess; Zeit ihre Drohungen auszukosten. Ich fühlte mich wie ein Tier auf dem Sprung. Der Tag war eine graue Masse: warten auf den Mittag, warten auf den Abend, warten auf den Morgen, warten bis jemand hereinkam, dann war ich sicher.“ http://www.dgfpi.de/tl_files/bundesverein/praevention/2004_02.pdf (Seite 9)

Ich suche solche Erfahrungsberichte schon länger nicht mehr gezielt, da es der eigenen Psyche nicht gut tut, so etwas zu oft zu lesen. Meine Erfahrung mit dem Thema Gewalt gegen Kinder ist, dass es keine Grenze an Schrecklichkeiten gibt, keinerlei Grenzen nach oben. Immer wieder bin ich in den letzten Jahren auf Berichte gestoßen, die mich sehr erschüttert haben. Die eigene Vorstellungskraft reicht nicht aus, um sich das ausdenken zu können, was die Realität an Grausamkeiten bietet. Der oben beschriebene Fall ist ein extremer Fall. Kaum jemand kann sich allerdings vorstellen, dass auch solche extremen Fälle keine Einzelfälle sind, auch heute noch, hier in Deutschland. Je weiter man den Blick in die Geschichte wagt, desto mehr „Extremfälle“ findet man in der breiten Masse der Betroffenen von Gewalt, das hat mir Lloyd deMause in seinen Beiträgen deutlich vor Augen geführt. Umso mehr verwundert es auch nicht, dass parallel dazu die politischen Grausamkeiten und der Wahnsinn sich, je weiter man in die Geschichte zurückblickt, steigert.

Ich kann mir über „Mona“ kein Bild machen, da ich diese Frau nicht kenne. Jedem muss aber klar sein, dass solche Erfahrungen tiefe Spuren hinterlassen. Mona hat offensichtlich Hilfe gesucht und spricht über ihre leidvollen Erfahrungen. Das ist der Weg, um wieder ins Leben zu finden und Destruktivität zu reduzieren. Viele suchen keine Hilfe, viele reden nicht über ihre Erfahrungen, sondern schließen diese hinter sich zu. Gerade auch in früheren Zeiten gab es so etwas wie Therapie oder psychosoziale Betreuungsangebote gar nicht. Selbst wenn die Menschen reden wollten, gab es gar keinen Rahmen dafür. Wen wundert es da, dass die Gewalterfahrungen auf anderen Bahnen wiederaufgeführt wurden und werden, z.B. in Kriegen. Das Verhalten der Menschen erzählt uns etwas über das Ausmass des Terrors, den sie einst als Kind erlebt haben müssen. (Z.B. Amokläufer, Selbstmörder, Drogenabhängige usw. usf.) Wir befinden uns letztlich immer noch in einem Prozess, in dem die Gesellschaft Stück für Stück die Augen öffnet, öffnen muss. Der unverstellte Blick ohne Scheuklappen zurück auf das, was unsere Vorfahren und wir selbst an Gewalt erfahren haben, ist notwendig, um zu verarbeiten und um Zukunft konstruktiv und friedlich zu gestalten.

Das o.g. Beispiel zeigt auch eindrucksvoll den fatalen psychischen Prozess, der durch Gewalt gegen Kinder erzeugt wird und werden soll. „Du weinst doch nicht?“, sagt die misshandelnden Mutter. Will heißen: „Du fühlst doch keinen Schmerz, wenn ich Dir Gewalt antue. Ich bin doch Deine Mutter, ich liebe Dich und Du liebst mich. Das, was ich mit Dir tue, ist keine Gewalt und Du fühlst auch keinen Schmerz.“
Kinder können solch eine Situation nur aushalten, wenn sie ihre Gefühle abspalten. Dieser Moment ist die Keimzelle der meisten menschlichen destruktiven Verhaltensweisen, die wir auf unserem Planeten vorfinden. Wir erinnern uns auch: Gewalt gegen Kinder ist das häufigste Gewaltdelikt, das in menschlichen Gesellschaften existiert.


Ich erwähnte oben, dass ich nach aktuellen Zahlen suchte. Wie würden die meisten Menschen antworten, wenn sie gefragt würden, wie viel Prozent der TäterInnen bei häuslicher Gewalt ihrer Einschätzung nach männlich und weiblich sind? Ich vermute, die meisten würden hohe Prozentzahlen bei den Männern angeben. Dabei zeigen die Zahlen, dass mindestens über 50 % der TäterInnen bei der körperlichen Kindesmisshandlung Frauen sind. Beim sexuellen Missbrauch schwanken die Zahlen zwischen 1,5 % und 30 % weibliche Täterinnen, je nachdem ob man vom Hellfeld ausgeht oder verschiedene Dunkelfeldstudien und ExpertInneneinschätzungen berücksichtigt. Die Frauenbewegung hat große und notwendige Fortschritte erzielt, was die Wahrnehmung von männlicher, häuslicher Gewalt angeht. Die Berichte, die auch weibliche Täterinnen fokussieren, häufen sich langsam in den letzten Jahren (Ein aktuelles Beispiel: "Wenn Mütter sich an ihren Kindern vergehen."). Auch hier stehen wir vor einem notwendigen Aufklärungs- und Bewusstseinsprozess. Erst wenn alles auf dem Tisch ist, kann die Gesellschaft nachhaltig verarbeiten, aufarbeiten und umfassende Präventionsarbeit leisten.

Donnerstag, 3. Juni 2010

Das "goldene" Zeitalter des emotionalen Kapitalimus

Geld fühlt nichts. Der im Wirtschaftsprozess handelnde Mensch – der Homo oeconomicus – fühlt nichts, er handelt zweckrational und nutzenmaximierend sagt das klassische ökonomische Modell. Damit sollen gesellschaftliche und ökonomische Prozesse und Phänomene erklärt werden. Das individuelle Verhalten (und erst recht die Emotionen) der Akteure ist in diesem Modell nicht wirklich von Bedeutung, es geht darum zu erklären, was im Großen (z.B. „dem Markt“) stattfindet.

Ich kann das Modell gut nachvollziehen und finde es auch nützlich, um Wirtschaftsprozesse zu erklären und zu verstehen. Worum es mir hier jetzt aber geht ist ein Lob an den Kapitalismus und zwar ein echtes. Ich finde den Kapitalismus nämlich klasse! Wirklich. Es ist das Modell, was einfach am meisten Sinn macht und dem menschlichen Wesen – das gerne Handel treibt und innovativ ist - gerecht wird. Ich halte insofern auch nichts von einer grundlegenden Systemkritik und einer Abschaffung des Kapitalismus, um dann scheinbar eine bessere Welt zu erzeugen.
Was ich im Grunde für das Hauptproblem innerhalb des Systems halte, sind die Emotionen der Menschen oder auch die emotionale Leere von einem Teil der Akteure. Geld fühlt nichts, ja richtig. Aber Menschen fühlen etwas. Sollte man zumindest meinen. Mit Gefühlen verbinden wir vor allem auch Mitgefühl. Doch was passiert, wenn der am Markt teilnehmende Mensch im Extremfall gar nichts fühlt? Wenn er innerlich leer und abgestumpft ist? Wenn er eben kein Mitgefühl kennt?

Geld fühlt nichts, aber, es gibt auch Menschen, die nichts fühlen. Wenn der nicht-fühlende Mensch, der mitgefühllose Mensch kein Einzelfall ist, sondern einen erheblichen Teil der Akteure ausmacht und/oder Einzelpersonen, die über erhebliche Kapitalmengen verfügen, zu dieser Kategorie zählen, dann gibt es Probleme.
Würde der mitfühlende Mensch heute in Aktien eines Rüstungskonzerns investieren, wenn er mit einer 90 % Wahrscheinlichkeit auf Grund von Marktdaten mit einer Verdreifachung seines Kapitals rechnen könnte? Es wäre zweckrational, wenn dieser Mensch sich das Geschäft nicht entgehen lassen würde. Es wäre emotional, wenn er den Gewinn sausen lassen würde.
Und wenn der mitfühlende Mensch Morgen Opas Aktien von einem Rüstungskonzern erbt, was würde er tun? Könnte er damit Leben, Anteile an einem Unternehmen zu besitzen, das Waffen herstellt, damit Menschen getötet werden können? Wahrscheinlich nicht. Opas Aktien gehören also verkauft.

Das Rüstungskonzernbeispiel ist ein deutliches Beispiel, eines von vielen möglichen. Mit der stetigen Verbesserung der Kindererziehungspraxis wird auch der Markt immer emotionaler und mitfühlender werden. Dort wo keine Gewalt gegen Kinder angewandt wurde, mussten auch keine Gefühle abgespalten werden. In dem Moment, wo der emotionale Mensch umfassende Informationen über den Markt bekommt, wird er mit höherer Wahrscheinlichkeit auch emotionaler mit diesen Informationen umgehen, als der Akteur, dessen Gefühle verschüttet wurden. Wenn der emotionale Mensch erfährt, dass ein Produkt, das er gerne kauft, z.B. für erhebliche Umweltschäden verantwortlich ist oder durch das produzierende Unternehmen Menschrechte mit Füßen getreten werden, wird er seine Kaufentscheidung wahrscheinlich ändern. Sein maximaler Nutzen wäre dann ein menschlicher, emotionaler, nämlich sich gut bzw. nicht schlecht zu fühlen mit dem, was er mit seinem Geld tut. Der Boom der ökologisch und sozial verträglich arbeitenden Unternehmen in den letzten 30 Jahren geht meiner Meinung nach zu einem großen Teil auf die Verbesserung der Kindererziehung zurück. Mitfühlende Menschen wollen sozial verträgliche und umweltschonende Produkte. Menschen ohne Gefühle ist dies egal. Der Markt wird sich in den nächsten Jahrzehnten ökologisieren und immer sozialverträglicher werden. Ebenso verändert sich die Informationsbedeutung im Wirtschaftsprozess. Die Menschen wollen immer mehr „emotionale Infos“ über Unternehmen und Produkte. Diverse Label, Medienberichte, Internetportale und Broschüren zeigen dies.

Wenn die Fortschritte im Kinderschutz und der Erziehung (und auch in der Psychotherapie, durch die Gefühle zurückerobert werden können) so weitergehen, ist diese ökonomische-emotionale Entwicklung nicht zu stoppen. Der alte neoliberale, mitleidlose Markt wird abgelöst werden, durch den emotionalen Markt. Wir befinden uns mitten in diesem Veränderungsprozess. Insofern freue ich mich schon auf die Zukunft.

Donnerstag, 20. Mai 2010

Eurokrise, Wirtschaftskrisen und die irrationale Angst

Die aktuellen Wirtschaftskrisen sind vor allem emotionale Krisen. Dieser Eindruck drängt sich mir immer mehr auf, wenn ich mir insbesondere die letzten 2-3 Jahre (Lebensmittelkrise, Schweinegrippe, Weltwirtschaftskrise, Bankenpleiten, Staatspleiten, Kriege, dazu monatelange Berichte über sexuellen Missbrauch und misshandelte Heimkinder) vor Augen führe.

Das Bruttoinlandsprodukt ist in Deutschland – mit Ausnahme einiger kleiner Ausrutscher nach unten – stetig gewachsen, was folgende Tabelle eindrücklich zeigt: http://www.pdwb.de/w_biprei.htm

Noch im Mai 2008 wurde berichtet, dass Deutschland das stärkstes Wirtschaftswachstum seit zwölf Jahren erlebt. http://www.nzz.ch/nachrichten/wirtschaft/aktuell/staerkstes_wirtschaftswachstum_seit_zwoelf_jahren_in_deutschland_1.743811.html#

Den Aufwärtstrend kann man sich auch hier wunderbar anschauen.

Für das Jahr 2010 sind die Prognosen zur Entwicklung des deutschen BIP durchaus positiv.

Auch von einer "Kreditklemme" kann Anfang 2010 nicht mehr die Rede sein. Der deutschen Wirtschaft drohen keine flächendeckende Probleme mit der Kreditversorgung mitten in der konjunkturellen Erholung, wie die Finacial Times Deutschland schreibt.

Ebenso sank die Zahl der Arbeitslosen zwischen 2006 und 2008 stetig und stieg dann 2009 wieder etwas (nicht in einem "krisenhaften" Ausmass) an.

„Urlaubslust statt Krisenfrust“ titelt die repräsentative 26. Deutschen Tourismusanalyse und zeigt, dass die Reiselust der Deutschen auch im Jahr 2010 ungebremst ist. Ähnliche Ergebnisse brachte eine andere Studie aus dem Jahr 2009. Demnach wollten 56 Prozent der Bundesbürger im Sommer 2009 in den Urlaub fahren. Das war nur ein Prozent weniger als im Vorjahr.

Einher mit dem stetigen Wachstum geht die Angst und die Panik und natürlich Kriege in fernen Ländern. Lloyd deMause hat auf das Phänomen „Wachstumspanik“ und „Interne-Opfer-Lösung“ hingewiesen, um das Wachstum und damit verbundene Ängste abzuschwächen. Dazu habe ich ein wenig etwas hier geschrieben. (weiter unten im Text)
Aktuell erleben wir die „EURO-Krise“. Angela Merkel – geübt darin, Angst zu verbreiten – hat in einer aktuellen Regierungserklärung am Mittwoch von einer "existenziellen Bewährungsprobe für Europa" gesprochen. "Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.", warnte sie. "Die gegenwärtige Krise des Euros ist die größte Bewährungsprobe, die Europa seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge im Jahre 1957 zu bestehen hat." Wir haben ein Bedrohungsszenario und wir haben irrationale, total abgehobene politische Entscheidungen, wie mal eben 750 Mrd. Kredite zu verteilen, finanziert, richtig, natürlich durch Kreditaufnahmen...

Auch der EURO befand sich im Übrigen seit Jahren nur im Höhenflug. http://www.ross-trading.de/a/technische-chartanalysen/chartanalyse-euro.htm Seit dem Jahr 2001 erklomm die Währung einen Rekordwert nach dem anderen! Da hätten die Amerikaner mit ihrem schwachen Dollar ja im Grunde jedes Jahr Rettungsschirme für ihre Währung aufspannen müssen, aber, wie wir wissen, waren und sind sie ja etwas abgelenkt, weil sie den ein und den anderen Krieg führen…

Ist es eine existenzielle Bedrohung für uns, wenn der Euro vielleicht auf das Niveau von 2000 zurückfällt? Ging es uns damals so viel schlechter als heute? Wissen wir nicht auch aus Erfahrung, dass kurzfristige starke Kursschwankungen relativ normal sind, wenn "bad news" anstehen und in ein paar Wochen der Markt schon wieder ganz anders denken könnte, wenn neue andere Nachrichten anstehen? Und haben wir nicht auch alle in der Schule gelernt, dass eine eigene schwache Währung auch positive Effekte für den eigenen Außenhandel haben kann? Gerade auch für den Exportmeister Deutschland?
Rund drei Viertel der Ausfuhren von Waren "Made in Germany" wurden allerdings 2009 in europäische Länder geliefert. Der Anteil der Waren, die in die Mitgliedstaaten der Europäischen Union gingen, betrug 63%, schreibt das statistische Bundesamt. Die Importe Deutschlands kamen ebenfalls zu einem großen Teil aus Europa (71%). Ich bin kein Wirtschaftsexperte (kenne mich aber mit handfesten Wirtschaftsprozessen und der realen Wirtschaft aus, in der ich beruflich sehr aktiv bin). Aber im Ernst, wenn man diese Zahlen ließt, dann ist der EURO doch weiterhin für alle ein Segen! Kursschwankungen traktieren uns weniger, wenn wir letztlich hauptsächlich mit einer Gemeinschaftswährung handeln. Das war ja auch u.a. das Ziel von der Einführung des EURO. Warum sagt das keiner?

Warum sagt eigentlich niemand: "Sicher, wir müssen uns verbesssern, wir haben einige Probleme und Herausforderungen, aber Leute, eigentlich geht es uns doch ganz gut, wir packen das schon!" Jeder, der in der Wirtschaft zu tun hat, weiß, dass nur Motivation und Zusprache hilft, wenn es Probleme gibt. Dies ist vor allem die Aufgabe von Führungskräften. Doch wie es scheint, will die Nation sich schlecht fühlen....

Die aktuellen Krisen scheinen mir vor allem psychologische, emotionale Krisen zu sein. Kindheitserfahrungen könnten ihre Ursache sein, wie die Psychohistorie nachzuweisen versucht. Dem muss weiter nachgegangen werden.

Samstag, 15. Mai 2010

Massenvergewaltigungen und das vererbte Trauma

In der aktuellen EMMA findet sich ein interessanter Artikel (EMMA, Frühjahr 2010: „Das vererbte Trauma“, S. 92ff) über die Auswirkungen der Massenvergewaltigungen deutscher Mädchen und Frauen 1944/45 auf die nächste Generation. Im Folgeartikel (von Ingo von Münch) wird geschätzt, dass ca. 180.000 Frauen und Mädchen bei Vergewaltigungen oder deren Folgen gestorben sind. Mindestens zwei Millionen Frauen wurden allein in Deutschland vergewaltigt. Nur für die Stadt Wien liegt die Zahl der 1945 vergewaltigten Frauen zwischen 70.000 und 200.000. Ein Projekt erforschte genauere Zahlen: Im Durschnitt erlebten die untersuchten Frauen 17 mal Vergewaltigungen, eine befragte Frau erlitt dies 70 mal…

Wenn die zwei Millionen Frauen im Schnitt zwei Kinder bekommen haben, dann hätten wir mindesten 4 Millionen Menschen, die von dem Trauma mit betroffen sein könnten. Wir wirkte sich dies auf die Gesellschaft aus? Das scheint kaum erforscht zu sein, wie man dem Artikel entnehmen kann. Ich frage mich auch, wie viele Kinder auf Grund der Vergewaltigungen geboren wurden? Und wie gingen dann die Mütter damit und mit ihren Kindern (der Täter) um?
Psychologen, die sich mit dem Thema aktuell u.a. im Projekt Lebenstagesbuch mit dem Thema befassen, stellten erstaunt fest, dass sich nicht nur betroffene Frauen bei ihnen meldeten, sondern viel öfter noch deren Töchter – und manchmal auch die Söhne. „Diese schrecklichen Erlebnisse haben sie selbst sowie ihre Ehe und ihre Beziehungen zu uns Kindern zeitlebens belastet“, schreibt die Tochter einer Mutter, die auf der Flucht Opfer von russischen Soldaten wurde. Eine Schwiegertochter berichtet über ihre Schwiegermutter: „(…) Sie war ständig psychosomatisch krank, wurde tablettenabhängig, viele depressive Schübe belasteten die Partnerschaft und das familiäre Zusammenleben. Eine liebevolle Zuwendung zum Ehemann und die damit verbundene Sexualität fiel ihr sehr schwer, auch das Verhältnis zu den Kindern bestand in der Hauptsache aus der sich gehöhrenden Versorgung, aber eine innige liebvolle, über Körperkontakt zugewandte Annäherung an die beiden Kinder war ihr nur sehr schwer möglich.“
Die Folgen für die nächste Generation werden auch an Hand folgender Symptome der Kriegsgeneration deutlich: „Das Erlebnis der Vergewaltigung zieht sich durch das ganze Leben unserer Patientinnen (…) Viele der Frauen leiden bis heute unter Depressionen, Alpträumen oder sogenannten Flashbacks, also dem Wiedererleben der Tat. (…)“
Die TherapeutInnen berichten über entsprechende Probleme der Kinder der Kriegsgeneration, vor allem von Beziehungsstörungen. „Häufig können sie keine Nähe zulassen, weil sie sie zwischen den Eltern nicht erlebt haben, aber auch von der traumatisierten Mutter nicht bekommen haben. Und oft haben sie sich als Kind selbst die Schuld daran gegeben, wenn die Mutter kühl war“, schreibt eine Therapeutin. Vielen dieser Töchter würde langsam klar, dass sie das Erbe ihrer traumatisierten und zum Schweigen verdammten Mütter angetreten haben. Entsprechend häufen sich die Anfragen für therapeutische Hilfe für die zweite Generation.

Mit den Auswirkungen von Krieg auf die nächste Generation habe ich mich auch hier beschäftigt:

- Die Kriegskinder
- Die Kinder von Holocaust-Überlebenden

Freitag, 14. Mai 2010

Das Angstgebilde „al-Qaida“ oder "Wie baue ich mir einen Feind?"

Nach dem jüngsten gescheiterten Anschlagversuch am New Yorker Times Square, deren Drahtzieher pakistanische Taliban sein sollen, zu denen der stellvertretende Sicherheitsberater im Weißen Haus, John Brennan, feststellte „Diese Gruppe hat enge Verbindungen mit al-Qaida. Das ist etwas, was wir sehr ernstnehmen" (vgl. http://www.sueddeutsche.de/politik/574/510690/text/) und darauf der Oberbefehlshaber der internationalen Afghanistan-Truppen, US-General Stanley McChrystal, anregte, man solle nun schneller mit dem Töten von pakistanischen Taliban und al-Qaida Kämpfern in Nord-Waziristanich beginnen, muss ich etwas zum Thema „al-Qaida“ schreiben.


„Wie baue ich mir einen Feind?“ Dies scheint die zentrale Frage vor allem in den USA nach dem Zusammenbruch des Feindbildes „Ostblock“ zu sein. Dazu habe ich kürzlich einiges bzgl. des Feindbildes „Irak“ und „Saddam Hussein“ geschrieben. Nun, Saddam ist tot, hunderttausende Iraker auch…, so etwas wie „Terror“ und vor allem „al-Qaida“ bleibt als Bedrohungsszenario. (Schaut man sich beispielsweise die Daten auf wikipedia an, dann beginnen die der Terrorgruppe „al-Qaida“ zugeschriebenen Anschläge im Jahr 1993, drei Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und zwei Jahre, nach dem zweiten Golfkrieg gegen Saddam Hussein) Denn ohne „Feind“ scheint es nicht zu gehen, droht innerer Zusammenbruch.
Al-Qaida hier al-Qaida dort, ich kann es nicht mehr hören! Ich glaube nicht an das Zentralorgan „al-Qaida“, das natürlich auch einen bösen Kopf a la Osama Bin Laden braucht. „Al-Qaida, das sind viele Organisationen. (…) Am besten beschrieben ist al-Qaida heute als ein terroristisches Franchise-Unternehmen.“, schreibt die ZEIT in einem sehr guten Artikel über das Thema. Osama bin Ladens Zeit als Gründer und Manager der ersten Generation von al-Qaida sei längst abgelaufen, schreibt die ZEIT weiter. „Die zweite (Mohammed-Atta-)Generation mag von bin Laden als Geld- und Ideengeber profitiert haben. Mittlerweile aber ist die globale Mission gegen die Ungläubigen ein Selbstläufer. (…) Für die jüngste, dritte Generation von Glaubenskämpfern, die sich vor allem aus jungen arbeitslosen Nordafrikanern speist, ist »Scheich Osama« nur noch eine Inspirationsfigur. Ihnen mag er noch Impulse geben, kontrollieren kann er sie nicht. An die Stelle der alten, vertikal organisierten al-Qaida ist ein loses, horizontales Netzwerk aus Netzen getreten.“
Trotz dieser Feststellung lässt der ZEIT-Autor allerdings nicht von dem Wort „al-Qaida“ los, sondern formuliert Sätze wie „Wird al-Qaida Deutschland verschonen? Wahrscheinlich nein.“ Genauso gut hätte er auch schreiben können „Wird es Terroranschläge in Deutschland geben? Wahrscheinlich ja. Durch welche Gruppierung, durch welchen Einzeltäter, das wird sich zeigen.“

Überall auf der Welt gibt es Anschläge (die meisten davon finden dabei nicht im Westen statt, sondern in den Entwicklungsgesellschaften) und meistens wird „al-Qaida“ dahinter vermutet. Ich übersetze für mich schon länger „al-Qaida“ mit „Hass“ oder „Hasser“. „Der „Hass“/ Die „Hasser“ war/waren verantwortlich für den jüngsten Anschlag. „, das ist meine Übersetzung von Mediennachrichten, die mir mehr Sinn zu machen scheint. Die Terroristen sind Hasser, Frauenhasser, Kinderhasser, Selbsthasser, Staatshassser, Modernehasser, Fortschrittshasser. Sie sind vor allem Produkte einer Atmosphäre von Gewalt in ihren Familien, die leider in vielen muslimischen Ländern herrscht, stärker noch als im Westen. Und in der Folge dieser Erfahrungen sind es Menschen, die mit dem aktuellen modernen Fortschritt in allen Teilen der Welt überfordert sind (siehe dazu weitere Anmerkungen hier). Wenn man diesen Hassern ein Feindbild bietet, nehmen sie es nur zu gerne an. Die globalisierte Welt bringt die Ressourcen mit, durch die sich auch der Hass globalisieren kann, der sich früher vor allem auf andere Bahnen entlud (familiäre Gewalt, Frauenunterdrückung, Bürgerkriege, regionale Warlordkämpfe usw. usf.). (Die globalisierte Welt ist aber nicht die Ursache des Hasses.)
Vor allem die USA ist dabei meisterlich darin, sich zum Feindbild zu machen. Ihre ganze Außenpolitik ist seit Jahrzehnten nicht auf echte Sicherheit bedacht, sondern auf Eskalation und darauf, dass die USA als Feindbild bereit steht, für die Hassser dieser Welt. Und wir Europäer haben uns zu einem Teil mit vor den Karren spannen lassen. Wir züchten uns den Hass selbst, lenken ihn auf uns, um dann die Hasser eifrig mit unserer überlegenen Technik zu bekämpfen. Nur echte Hasser lassen sich gut bekämpfen, denn irgendwie braucht unsere Psyche schon einen oberflächlichen „guten Grund“ dafür, dass Menschen sterben sollen. Menschen, die nicht zurückschreien, nicht mit Gewalt und Hass und Drohungen antworten, sind nämlich keine guten Feinde.

Das Wort „al-Qaida“ dient im Grunde einem großen Ziel, der Verbreitung von Angst vor einem großen, realen Feind. Das ist nicht der Verdienst von Osama bin Laden, sondern dieses Angstgebilde haben wir uns in der westlichen Welt selbst aufgebaut, weil wir Angst haben wollen, weil wir die Angst vor einem äußeren Feind brauchen. Denn ohne dieses Außen, drohen die tyrannischen Eltern aus unserer Kindheit wieder in unseren Kopf zu gelangen. Doch diese sehr realen Aggressoren dürfen nicht erkannt werden, müssen verschont bleiben. Also suchen wir uns andere, die wir bestrafen können. Wäre der Afghanistankrieg mit von uns Europäern getragen worden, wenn es so etwas wie das Angstgebilde „al-Qaida“ (das angeblich alles lenkt) nicht gegeben hätte? Wohl kaum. Das Wort „al-Qaida“ sollte entsprechend gestrichen werden. Wenn man es durch „Hasser“ austauscht, wird man näher an die Ursachen kommen und weniger Feindbildgefühle auslösen. Dies würde einen rationaleren Umgang mit dem Problem Terror ermöglichen und unsinnige, unnütze Kriege in fernen Ländern erschweren.

(siehe zu dem Thema auch, wie Angela Merkel Angst verbreitet)

Freitag, 7. Mai 2010

Meinungsbild zum Afghanistaneinsatz und Kindheit

Kurz nachdem die Luftangriffe auf Afghanistan seitens der USA Anfang Oktober 2001 begannen, hielten damals knapp 80 Prozent der Deutschen diese für gerechtfertigt. Je länger sich allerdings die Luftangriffe hin zogen, desto weniger Deutsche hielten sie für einen sinnvollen Beitrag zu Bekämpfung des Terrorismus, die Relationen waren schließlich 53 zu 47.
(http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Medien/wittich.html)

„Mitte Oktober wurde in den Medien darüber spekuliert, ob Bundeswehrtruppen bei den Kampfhandlungen in Afghanistan eingesetzt würden. Zu diesem Zeitpunkt waren nur knapp 40 Prozent der deutschen Bevölkerung für einen Bundeswehreinsatz, reichlich 60 Prozent waren dagegen. Anfang März waren diese Einsätze knapp zwei Monate im Gange. Der Nachrichtenlage nach waren dort eingesetzte Bundeswehrangehörige mit Schutz- und Sicherheitsaufgaben betraut, über Verwicklungen in Kampfhandlungen wurde nichts bekannt. Entsprechend hatte sich das Meinungsbild in der deutschen Öffentlichkeit verändert. Nunmehr stimmte 58 Prozent der Deutschen den Einsätzen der Bundeswehr in Afghanistan zu und 42 Prozent lehnten sie ab.“
(http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Medien/wittich.html)

Bei einer Forsa-Umfrage im März 2002 befürwortete eine große Mehrheit von 62 Prozent den Einsatz am Hindukusch, nur knapp ein Drittel wollte damals einen Abzug der Truppen. (http://www.stern.de/politik/deutschland/stern-umfrage-bundeswehr-soll-raus-aus-afghanistan-704985.html)

Im Jahr 2002 hielten nach einer Emnid Umfrage 55 Prozent der Befragten den Afghanistan Einsatz für richtig, 44 Prozent hielten ihn für falsch. (http://www.focus.de/politik/ausland/umfrage_aid_57018.html)

Eine Forsa Umfrage ergab im September 2005, dass nur knapp ein Drittel der Deutschen (34 Prozent) für einen Abzug aus Afghanistan plädierten. (http://www.welt.de/politik/deutschland/article7174424/62-Prozent-der-Deutschen-fuer-Afghanistan-Abzug.html)

Mitte 2007 lehnten nach einem blutigen Anschlag auf deutsche Soldaten in Kundus 68 Prozent der von Emnid Befragten den Einsatz ab. (http://www.focus.de/politik/ausland/umfrage_aid_57018.html)

Im September 2007 war (laut Forsa) eine Mehrheit von 52 Prozent für einen Rückzug, im September 2008 waren es 59 Prozent. Mit 61 Prozent lehnten im Juli 2009 die Deutschen den Einsatz ab. (http://www.stern.de/politik/deutschland/stern-umfrage-bundeswehr-soll-raus-aus-afghanistan-704985.html)

Nach dem Bombardement auf zwei Tanklastwagen im September 2009 waren laut Forsa 55 Prozent für eine Rückkehr der deutschen Truppen. (http://www.welt.de/politik/deutschland/article7174424/62-Prozent-der-Deutschen-fuer-Afghanistan-Abzug.html)

62 Prozent der Deutschen sprechen sich in einer aktuellen Forsa-Umfrage im April 2010 für einen Abzug aus Afghanistan aus. Nach einer kürzlich veröffentlichten ARD-Blitzumfrage sind 70 Prozent für einen möglichst schnellen Rückzug der deutschen Soldaten. Nur 26 Prozent sind für eine Fortsetzung des Einsatzes- im Herbst 2009 waren das noch 37 Prozent. (http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,689243,00.html)

Ein Vergleich zwischen drei repräsentativen Jugendstudien (jeweils 1992, 2002 und 2005) zeigt, dass ca. 30 % (jeweils nach Jahreszahlen 31,8 %, 29,6 % und 32 %) der Jugendlichen gewaltfrei erzogen wurden. Die große Mitte sind die „konventionell“ erzogenen, die häufig leichte körperliche Bestrafungen und andere Sanktionen erfahren haben und in deren Erziehung „weitgehend“ auf schwere körperliche Gewalt verzichtet wurde. (Zahlen jeweils in der Reihenfolge der Jahreszahlen: 36,4 %, 51,2 % und 46, 7 %). Eine gewaltbelastete Erziehung (Diese Gruppe weist bei allen Sanktionsarten – inkl. psychischer Gewalt - eine überdurchschnittlich hohe Häufigkeit auf, insbesondere auch schwere Körperstrafen.) erlebten jeweils nach Jahreszahlen 31, 8 %, 19,3 % und 21,3 %.
(vgl. Bundesministerium der Justiz (erstellt von Prof. Dr. Kai-D. Bussmann) 2007: Report über die Auswirkungen des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung. Berlin, S. 18 (http://www.bmj.de/files/-/1375/BussmannReport.pdf))

Wir haben also grob gedacht eine drei Drittel Gesellschaft, wobei es natürlich unzählige Grautöne gibt, was das Gewalterleben angeht. Und diese Drittelung wird sich je nach Geburtsjahrgang weiter verändern. Je älter die Menschen, desto verhältnismäßig mehr Gewalterfahrungen, ist hier meine These. Diese Drittelung ist mir immer wieder ins Auge gefallen, wenn es um gesellschaftliche Themen geht. Z.B. bei Alice Schwarzer, die von einer drei Drittel Mentalität bei den Männern ausgeht. „Viele Erfahrungen, Studien und Umfragen deuten zurzeit auf eine Zwei-Drittel-Männergesellschaft hin: Das erste Drittel steht der Sache der Frauen aufgeschlossen und sympathisierend gegenüber, wenn auch nicht ohne Rückfälle. Das zweite Drittel versucht, sich durchzuschlawinern. Das dritte Drittel hat verstanden und hält hart gegen. Wobei Bewusstsein und Bereitschaft zur Veränderung keineswegs immer eine Frage des Alters sind; die jungen, von emanzipierten Müttern und Schwestern geforderten Männer sind jedoch überproportional im ersten Drittel vertreten.“ (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-17540822.html)

Diese Aufteilung findet sich jetzt auch in interessanten Zahlen bzgl. des Afghanistan Einsatzes (siehe Zahlen oben). 20 Prozent hielten spontan Luftangriffe auf Afghanistan seitens der USA kurz nach dem 11. September – wo alle Emotionen für die USA schlugen - für falsch. Ich glaube, dass diese "20 Prozent" den festen Kern der modernen, gewaltfreien Erziehung in Deutschland repräsentiert. Oder wissenschaftlicher ausgedrückt: Würde man diese 20 Prozent zu ihren Kindheitserfahrungen befragen, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit eine große Mehrheit der Befragten eine weitgehend gewaltfreie Erziehung und mehr noch mindestens eine besonders fürsorgliche Elternfigur angeben, davon gehe ich aus. Leider finden solche Art von Befragungen fast nie statt, insofern lässt sich dies schwer überprüfen. Diese 20 % vergrößerten sich dann im Laufe der Zeit – je nach Nachrichtenlage - langsam auf ca. 30-45 Prozent wenn es um den Einsatz der Bundeswehr ging, wie oben dargestellt. Je mehr Opfer publik wurden, desto mehr stieg auch die Ablehnung dem Einsatz gegenüber, ein Zeichen für die gewachsene Empathiefähigkeit von uns Deutschen. Stück für Stück lehnt nun auch eine Mehrheit der Deutschen den Einsatz ab. Ein fester Kern von um die 30-40 % ist immer noch für den Einsatz. In dieser Gruppe der festen 30-40 % vermute ich eine verhältnismäßig große Mehrheit von Menschen, die als Kind schwerere Formen von Gewalt erfahren haben. Auch dies gilt es zu prüfen. Wir werden sehen, ob zukünftig Studien in dieser Art auftauchen werden.

(Menschen, die dies hier lesen, die selbst Gewalt erfahren haben und schon immer gegen den Krieg waren, mögen sich bitte nicht all zu sehr über meine Gedanken ärgern. Die Gedanken beschreiben ein grobes Modell, an den Rändern gibt es immer auch andere Bewegungen und als Menschen sind wir eh zu allem fähig :-).)

Die Mitte – im Sinne wie einleitend oben beschrieben – entscheidet dabei die wesentlichen Richtungen, in die eine Gesellschaft schwenkt, so scheint es. Sie verfügt über beide Anteile, den destruktiven, der sich mit der Macht identifiziert und den konstruktiven, der diese Identifikation auflösen kann und Emphatiefähigkeit zulässt. Die gesellschaftlichen Entwicklungen und Nachrichtenlagen wirken stark auf diese Mitte. Das erste Drittel – die gewaltfrei Erzogenen – stehen grundsätzlich fester im Leben, stehen Krieg aus einem tiefen emotionalen Gefühl heraus ablehnend gegenüber. Insofern sind sie auch weniger durch äußere Einflüsse in ihrer Meinung und Sicht beeinflussbar.
All dies sind meine persönlichen Vermutungen, wie schon gesagt. Einige Zahlen und Indizien (man siehe auch viele Bereiche dieses Blogs) scheinen diese allerdings ein wenig zu bestätigen. Gezielte Studien in dieser Hinsicht wären ein Weg, Kindheitserfahrungen und politische Überzeugungen im Zusammenhang zu betrachten.

Als Schlusswort möchte ich noch loswerden, dass die Deutschen Verantwortung übernehmen müssen. Das Meinungsbild war nicht immer mehrheitlich gegen einen Einsatz der Bundeswehr. Die PolitikerInnen handelten also im Sinne des Volkes mit der Vergabe des Afghanistan Mandats. Auch jeder Wähler und jede Wählerin trägt mit eine Verantwortung dafür, dass weiterhin Menschen in Afghanistan sterben. Umso mehr freut es mich aktuell, dass eine Mehrheit der Bevölkerung mittlerweile erkannt hat, dass der Einsatz von Soldaten keinen Sinn macht.

Montag, 3. Mai 2010

Analyse der Regierungserklärung von Angela Merkel zum Afghanistan Krieg

Ich habe mir die Rede bzw. Regierungserklärung von Angela Merkel vom 22. April 2010 noch mal genau durchgelesen (Plenarprotokoll 17/37) und möchte hier ein kleines Experiment machen. In dem Buch „Das emotionale Leben der Nationen“ von Lloyd deMause habe ich das erste mal von seiner „Fantasieanalyse“ der Reden politischer Führer gelesen. Bei dieser Technik geht es darum, versteckte emotionale Botschaften, sowie anderes verbales und nonverbales Material aus den Reden herauszustellen. Ich fand das damals beim ersten Lesen nicht wirklich bedeutend und fand einiges auch merkwürdig. DeMause hat wichtigere Dinge geschrieben, die sich wissenschaftlich auch besser nachweisen lassen. Trotzdem will ich jetzt mal Neuland betreten und habe mir die Rede von Angela Merkel, in der sie den Krieg in Afghanistan und die Beteiligung der Bundeswehr rechtfertigte, genau angesehen und dabei versucht, die Kriterien von deMause anzuwenden. Danach dachte ich, nun, ähnliche „Fantasiewörter“ bzw. Schlagwörter könnten doch sicherlich auch im ähnlichem Stil und Ausmass bei Reden von Kriegsgegner auftauchen. Wenn dem so wäre, würde die Analyse von deMause kaum Sinn machen, da Kriegsgegner sicher nicht verdeckt emotionale Botschaften für einen Krieg in ihre Rede (unbewusst) einbringen würden. Deshalb habe ich die Reden von Jürgen Trittin und Gregor Gysi (als Vergleichspersonen) auf die gleiche Weise behandelt. Beide Reden wurden am selben Tag in der gleichen Sitzung gehalten. Meine Ergebnisse finde ich recht interessant:

Angela Merkel (CDU) in ihrer Abgabe einer Regierungserklärung zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan:

Gestorben, Terror, Angst, Risiken, Gefahren, missbrauchen, schmerzhaft, missbrauchen, Gefahren, schmerzhaft, Toten, Gefecht, toten Soldaten, Bürgerkrieg, Bürgerkrieg, fürchtet, Opfer, Waffengewalt, Krieg, Gefecht, „Ich habe ihn erschossen. Er oder ich, darum ging es in diesem Fall“, Gefechts, Härte, Krieges, Kriege, Aufopferung, Waffenbrüder, Krieg, Leid, Feindeinwirkung, Leben in Afghanistan verloren, Kampf , Leben verloren, Luftschlag, Tod, Gefahr, Kampfeinsatz, missachtet, Mädchen, katastrophal, Bedrohung, Schattenseiten, Gefahren, Krieges, Terrororganisationen, Terrorangriffe, Terrorismus, Kindern, Piraten, räuberischen Attacken, Gefahr, Gefahren, Kriegen, Bedrohung, Krieges, Krieges, Chaos, Anarchie, Anschläge, Atomterrorismus, Bedrohungen, Nuklearwaffen, Bomben, gefährlich, Gefahr, Nuklearwaffen, Gewalt, Terror, Willkür, Unterdrückung, Anarchie, Chaos, Angst, getötet, Angst, Terrorismus, Leben verloren, Opfer, Terroranschlägen, Angst, verletzt, getötet, Angst, Angst.


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Getöteten, verletzten, Eskalation, Aufstandsbekämpfung, Opfer, Aufstandsbekämpfung, Aufstandsbekämpfung, Aufstandsbekämpfung, Risiken, Risiken, Krieg, Hilflosigkeit, Gefährdung, Krieg, Krieges, tödlichen Gefahren, töten, Kriegsrhetorik, kriegerische Zustände, Kriegsrhetorik, Staatszerfall, Bürgerkriege, Staatszerfall.

Gregor Gysi (DIE LINKE):

Krieg, Fiasko, Krieg, Irakkrieg, kämpfen, Verletzte, Tote, sterben, Krieges, sterben, Aufschrei, Fiasko, Tod, Krieg, Gefährdung, geistig gestört, verletzten und toten , verletzten und toten, verletzten und toten, Krieges, toten, Krieg, Krieg, Terrorismus, Krieg Terrorismus, bekämpfen, Terroristen, Terroristen, Terrorismus, bekämpfen, Terrorismus, bekämpfen, Krieg, verfeindeten, Krieg, Hass, Terroristinnen und Terroristen, Krieg, Kriege, Kindersoldaten, Mädchen, Krieg, Terroristen, Atomwaffen, Atomwaffen, Atomwaffen, Irakkrieg, Krieg, kämpfen, Krieg.


Wie erwartet kommen auch in den Reden der Kriegsgegner häufig Worte wie „Krieg“, „Terror“, „töten“ bzw. „Toten“ etc. vor. Was allerdings fehlt sind die häufigen Angstwörter. Sie sprechen höchstens von „Gefährdung“ (jeweils einmal) und Trittin benutzt einmal das Wort „Gefahren“. Bei Merkel häufen sich dagegen die Angstwörter: „Gefahren“, „Gefahr“, „gefährlich“, „Bedrohung“ und „Angst“. Dazu kommt, dass sie während ihrer Rede sage und schreibe 22 mal das Wort „Sicherheit“ benutzt. Zusammen mit sehr emotionalen und starken Wörtern wie z.B. „schmerzhaft“ und „katastrophal“. Man muss nicht unbedingt diese Schlüsselwörter sammeln, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass Angela Merkel in ihrer Rede mit Angst arbeitet. Durch die Herausstellung dieser Wörter wird es aber noch etwas deutlicher. Angst vor „Gefahren“ zu schüren, um den Krieg zu rechtfertigen, scheint der rote Faden ihrer Rede zu sein. Dazu kommen Wörter, die traumatische Kindheitserfahrungen ihrer ZuhörerInnen ansprechen könnten: missbrauchen, Opfer, Mädchen, schmerzhaft, missachtet, Kindern, Leid, „(Waffen)Brüder, katastrophal, verletzt, fürchtet, Willkür, Unterdrückung usw. Auch diese starken emotionalen Ausdrücke fehlen nahezu komplett bei den Kriegsgegnern.

Es hat sich aus meiner Sicht also gelohnt, die Fantasieanalyse hier mal auszuprobieren. Ich fand es recht erkenntnisreich.

Folgender Satz fiel mir in der Rede von Angela Merkel gesondert besonders auf:

In einem Interview, das am letzten Sonntag in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen ist,
hat Hauptfeldwebel Daniel Seibert minutiös ein Gefecht beschrieben, in das er am 4. Juni des letzten Jahres geriet. Auf die Frage, ob er selbst in diesem Gefecht geschossen und einen Menschen getötet hat, antwortet er – ich zitiere –: Ich habe ihn erschossen. Er oder ich, darum ging es in diesem Fall.
“ Indirekt aber deutlich verweist sie dann direkt in den Folgesätzen darauf, dass dem Soldaten und den Soldaten an sich Anerkennung und Respekt zu zollen seien, um dann anschließend Obama u.a. mit folgendem Satz zu zitieren: „Der Mut des Soldaten ist ruhmreich, ein Ausdruck der Aufopferung für sein Land, für die Sache und für seine Waffenbrüder.

Ich finde es gruselig, wenn im deutschen Bundestag vom "Heldentod" deutscher Soldaten gesprochen wird, selbst wenn man sich hier indirekter Hinweise und einem Zitat bedient. Weiter kommentieren muss man diese Rede wohl nicht mehr.

Samstag, 24. April 2010

Der Golfkrieg als emotionale Störung

Nachfolgende Gedanken und Textauszüge ergänzen das, was ich in den letzten Beiträgen in diesem Blog geschrieben habe. Diese Dinge sollten einer breiteren Öffentlichkeit vor Augen geführt werden, gerade auch, weil wir uns derzeit immer noch im Krieg befinden:

Ende des Jahres 1989 brach der sogenannte Ostblock endgültig zusammen. Die Welt atmete scheinbar auf, Freiheit für alle war das erreichbare Ziel.
Amerika fühlte sich allerdings nach dem Fall der Berliner Mauer schrecklich, sagt Lloyd deMause:
“ „Die Demokratie gewinnt“, schrieb The New York Times am 3. März 1990, „Das Wettrüsten ist vorbei. Die Schurken sind jetzt freundlich … der so lange begehrte Jackpot gehört jetzt Amerika. Warum also fühlt sich das nicht besser an?“ Überall tauchten Vorhersagen von Niederlagen, Konjunkturrückgang und dem Ende des amerikanischen Traums auf. Die Medien fragten sich, trotz der Tatsache des erreichten Weltfriedens und der expandierenden Wirtschaft Amerikas, warum die „Menschen unglaublich depressiv“ (The New York Times) wären. „In den vergangenen Monaten lag ein deutlicher Geruch von Zusammenbruch und Untergang über der Stadt“ (New York Post). Irgendeine Katastrophe ist im Kommen.“ (Washington Post). Ohne Feind von außen, in den man unsere Ängste projizieren hätte können, hatte Amerika nur eine Chance, die Gefühle der Depression loszuwerden: eine opferartige ökonomische Rezession herbeizuführen, die uns und unsere Familien für unseren Frieden und Wohlstand bestrafen würde. Ein Grund für die Wahl von Bush war sein oft wiederholtes Statement: „Wir müssen alle Opfer bringen.“ (deMause, 2005, S. 21)
In der Tat rutschte die amerikanische Wirtschaft 1990 in eine Rezession. “Es gab nur einen Weg, um keine längere ökonomische Rezession zur Heilung unserer nationalen Depression brauchen zu müssen: Man könnte einen Feind in Übersee erfinden, den man für unsere „Gier“ beschuldigen und dann bestrafen könnte, anstatt uns selbst zu sehr zu bestrafen.“ (ebd., S. 24)
DeMause zeigt in seinen weiteren Ausführungen, dass der zweite Golfkrieg zunächst mit medialen Bildern von Paranoia, Mord und sogar Selbstmord (unbewusst) vorbereitete wurde. Ihm fiel vor allem auch die häufige Darstellung von Kindern und Jugendlichen auf, die geopfert wurden. Kinder wurden in Magazinen und politischen Cartoons gezeigt, die erstochen, erschossen, stranguliert wurden, die auf einen elektrischen Stuhl gesetzt werden sollten und von Klippen gestoßen wurden. Diese Bilder waren derart vorherrschend, dass deMause vier Monate bevor der Irak in Kuwait einmarschierte einen Artikel veröffentlichte, in dem er eindringlich davor warnte, Amerika wäre auf dem Weg, ein neues militärisches Wagnis zu beginnen, um Menschen zu opfern.

„Wenn ein unter schweren Depressionen leidender Patient ohne Bezug zu konkreten Ereignissen in seinem jetztigen Leben eine psychiatrische Klinik aufsucht und erzählt, er hätte Selbstmordgedanken und Träume von Kindern, denen weh getan wird, vermutet der Kliniker die Diagnose eines posttraumatischen Stresssyndroms (PTSS). Das trifft vor allem dann zu, wenn – wie Amerika im Jahr 1990 – der Patient extreme Stimmungsschwankungen, häufige Panikattacken, übertriebe Zukunftsängste, manische Episoden von hektischen Geldausgaben und Kreditaufnahmen, Drogenmissbrauch, Gefühle des Realitätsverlustes und Trennung durchlebt hat. Da dies alles Symtome von PTSS sind, könnte eine der ersten Fragen des Pschiaters sein, ob der Patient Flashbacks von Kindheitstraumata erlebt hat, ob er insbesondere eindringliche Bilder von leid zufügenden Elternfiguren vor sich hat, speziell solche von grausamen oder vernachlässigenden Müttern. Sind diese Gruppenfantasien weit verbreitet – wie meistens im Vorfeld von Kriegen – ist das ein Hinweis auf eine Rückkehr zu frühen Traumata, ein Beweis dafür, dass die Nation eine Krise eines PTSS-Typs durchläuft, eine, gegen die man sich nur wehren kann, wenn man ihre Ängst Feinden aufbürdet.“ (ebd. S. 27)

DeMause zeigt nachvollziehbar und quellenbasiert auf, wie Amerika die Jahre zuvor Saddam Hussein aufgerüstet, aufgebaut und geradezu Saddams Überfall auf Kuwait (mit) provoziert hatte. (ebd., S. 29ff) Am 25. Juli als sich die Irak-Kuwait Krise zuspitzte und gar zu eskalieren drohte, kam die amerikanische Botschafterin April Glaspie nach Bagdad, um über die Krisenlage zu diskutieren. Die Iraker veröffentlichten später das Protokoll des Treffens. Zu Saddams Ankündigung, er werde evtl. Kuwait überfallen sagte sie: „Wir haben keine Meinung zu innerarabischen Konflikten, wie zu ihrem Konflikt mit Kuwait.“ (vgl. Kahn, 2005, S. 203) Dies kam einem Freibrief gleich. Auch Mansur Khan (2005) beschreibt ausführlich in seiner Doktorarbeit, wie die USA diesen Krieg provozierten und förderten. Er schreibt: „Über eine Warnung der US Regierung gegenüber dem Irak schrieben die Autoren Biswas und Murphy: „It is clear that some serious warnung to Iraq by the U.S. that an invasion of Kuwait would meet with U.S. military opposition would have deterred Hussein.“ Eine Regierung, die wirklich besorgt wäre, dass Saddam Hussein Kuwait überfallen würde, hätte wohl daher kaum darauf verzichtet, eine klare Warnung an den Irak und Saddam Hussein zu senden, da sie damit rechnen konnten, dass eine solche den Irak davon abschrecken würde, Kuwait anzugreifen. Eine solche gab es aber nicht, viel mehr könnte man ohne jegliche Übertreibung davon reden, dass die Bush Regierung statt dessen Saddam Hussein ermutigt hatte, Kuwait zu überfallen, was auch letztendlich der Fall war.“ (ebd., S. 191)

Dies sind nur einige Auszüge. Ich will und kann hier nicht alle Abläufe darstellen, dies haben auch andere schon sehr gründlich getan, wer mag kann im Internet dazu weiter recherchieren. Fest steht: Die USA wollten den Konflikt und Krieg mit dem Irak, sie wurden nicht in die Irak-Kuwait-Krise „hineingezogen“, sondern sie zogen die Fäden von Anfang an. Kahn meint, dass dies vor allem aus einem weltweiten Hegemoniestreben heraus geschah. Ich sehe dies anders.
Von Anfang an waren Kinder der emotionale Fokus des Golfkrieges. Mit Beginn des Golfkrieges verschwanden gleichzeitig die politischen Bilder in den Medien von schrecklichen amerikanischen Müttern und Kindesopfern, schreibt deMause. Dafür wurde jetzt Saddam Hussein zur „Schreckensmami“, dargestellt als Kindesmissbraucher, der gerne Kinder tötet. (deMause, 2005, S. 32ff)
Bush sprach öffentlich sogar von der „Vergewaltigung Kuwaits durch den Irak“. (vgl. Kahn, 2005, S. 227) „Aber die wahrscheinlich groteskeste Lüge, die die Bush Regierung produzierte, war eine Geschichte über irakische Greueltaten im besetzten Kuwait. Im Oktober 1990, bezeugte eine weinende Teenagerin in dem House Human Rights Caucus, daß sie Zeugin gewesen wäre, als irakische Soldaten fünfzehn Babys aus ihren Brutkästen holten, um sie dann auf dem Boden des Krankenhauses sterben zulassen. Später stellte sich im New York Times Op-Ed Teil (Januar 6, 1992) heraus dass, das Mädchen die Tochter des kuwaitischen Botschafters in den USA war, und das ihre Geschichte frei erfunden war.“ (ebd. 228) Die gleiche Geschichte wiederholte sie am 27. November 1990 vor dem UN-Sicherheitsrat. Die Brutkästengeschichte half ungemein bei der Mobilisation für die US Militäraktion. Bush erwähnte die Geschichte, so Kahn, sechs mal in einem Monat und acht mal in 44 Tagen.
„Keiner von denen, die diese Aussage hörten“, schreibt deMause zu der Brutkästengeschichte, „und keiner von den Hunderten von Reportern, welche die Geschichte schluckten, dachten daran, irgendein Detail von ihr nachzugehen, da sie die unbewussten Fantasien der Nation bestätigte. (…) wie brauchten Geschichten vom Kindesmissbrauch. Wir waren dabei, unsere Kindheitstraumata wiederaufzuführen, so wie posttraumatische Stresspatienten häufig ihren Kindern oder sich selbst Leid zufügen, damit sie sich vorübergehend von ihrer inneren Not Erleichterung verschaffen können. Wir mussten daher unsere Fantasien von schrecklichen Mamis und leidenden Kindern objektivieren, um für den Eintritt in den Krieg vorbereitet zu sein.“ (deMause, 2005, S. 32f)

Parallel fühlte sich Amerika „wiederbelebt“ durch den Krieg, man hatte wieder einen Feind, „Gut“ und „Böse“ waren wieder klar getrennt. The New Republic schrieb: „Saddam Hussein tat der Welt mit der Invasion Kuwaits einen Gefallen“. „Danke, Saddam, Wir brauchen das.“ übertitelte ein anderer Reporter seine Kolumne über die irakische Invasion. (ebd., S. 32)
Im Golfkrieg flog die Airforce 43 Tage lang pausenlose Einsätze, bis die Armee zum Einsatz kam, aber schon vor deren Einsatz war der Krieg längst entschieden. In nur drei Wochen wurde mit einer Sprengkraft bombardiert, die alle Bombardments des 2. Weltkrieg übertraf, dabei wurden ca. 250.000 Irakis getötet (vgl. Kahn, 2005, S. 308) 70 % der abgeworfenen Bomben verfehlten ihre Ziele und trafen Zivilisten. (deMause, 2005, S. 35) DeMause zitiert Ramsey Clark und geht davon aus, dass allein in den 43 Tagen ca. 500.000 Kinder umkamen. (ebd. S. 37)
Auch in der Folge des Irakkrieges starben vor allem Zivilisten (je nach Schätzung zwischen 500.000 und 1.500.000), insbesondere starben Kinder, durch Bomben oder auf Grund mangelnder Ernährung und Epedemien, die USA hatte durch ihre Angriffe gerade auch Bewässerungskanäle und Lebensmittel erzeugende Anlagen zerstört und zudem ein wirksames Embargo verhängt. Das Bayrische Landesministerium für politische Bildung schreibt: „Seit 1991 sind nach Schätzungen internationaler humanitärer Organisationen rund 1,5 Millionen Iraker, darunter über 550 000 Kinder unter fünf Jahren, den Folgen dieser Wirtschaftssanktionen zum Opfer gefallen - durch Mangelernährung und unzureichende medizinische Versorgung. Das entspricht rund sieben Prozent der irakischen Bevölkerung.“ (http://www.km.bayern.de/blz/web/irak/golfkriege.html)
Das Embargo wird als das unerbittlichste und destruktivste in der Geschichte beschrieben, die Auswirkungen waren schlimmer als die des Krieges. „Das BIP (Bruttoinlandsprodukt) war 1993 auf fast das Niveau von 1960 abgesackt. Damit war fast ein Halbes Jahrhundert an ökonomischem Wachstum und Verbesserungen des Lebensstandards der irakischen Bevölkerung zu Nichte gemacht.“ (Kahn, 2005, S. 303f)

Die Stimmung in Amerika wurde durch das menschliche Blutbad allerdings wiedebelebt, so deMause. Die Popularitätswerte des Präsidenten stiegen auf 91 Prozent, die höchsten, die ein amerikanischer Machthaber jemals hatte. Die Börsenwerte schnellten in die Höhe. Leitartikel im ganzen Land gratulierten dem Präsidenten zu seinem „Sieg über das Böse“. Wir alle erinnern uns an die Bilder von heimkehrenden US-Truppen, die von Menschenmassen und Blumen empfangen und bejubelt wurden. Die Truppen hatten ihren Soll erfüllt. Bush ließ Saddam an der Macht, er ahnte offensichtlich, dass Amerika später einen zuverlässigen Feind brauchen würde. Im März 2003 begann die erneute Invasion im Irak, diesmal durch George W. Bush Junior... Laut einer Studie starben seit Beginn der militärischen Intervention im März 2003 bis zum Juli 2006 mehr als 600.000 Iraker durch direkte Gewalteinwirkung wie Bomben und Schüsse, weitere 50.000 kamen durch andere, kriegsbedingte Missstände wie Wassermangel, fehlende Elektrizität und Seuchen ums Leben. (http://www.zeit.de/online/2006/41/irak-opfer-studie, siehe auch http://www.sueddeutsche.de/politik/205/362027/text/) Ein andere Studie kommt zu dem Schluss, dass zwischen März 2003 und Juni 2006 zwischen 104.000 und 223.000 Iraker ums Leben kamen. (http://www.sueddeutsche.de/politik/704/429457/text/) Wieviele Opfer der bürgerkriegsähnlichen Zustände oder durch US-Soldaten wurden, ist den Berichten nicht zu entnehmen. Dass US-Soldaten häufig Zivilisten töten, ist u.a. einem Bericht im Focus zu entnehmen: Viele ehemalige Soldaten berichten über den Krieg im Irak. "Dutzende der Interviewten wurden Zeugen, wie ihre Kameraden irakische Zivilisten niederschossen, darunter auch Kinder (...) sie beschreiben die Gräueltaten als alltäglich – nur werden die Vorfälle in der Regel nicht gemeldet und werden auch fast nie bestraft. (...) Veteranen beschreiben in „The Nation“, dass US-Soldaten rücksichtslos um sich feuern, sobald sie das Militärgelände verlassen. Einige schossen demnach Löcher in Benzinkanister, die am Wegesrand verkauft werden, um dann Granaten in die Benzinpfützen zu werfen. Andere eröffnen das Feuer auf Kinder – unter den Augen der Iraker." (http://www.focus.de/politik/ausland/tid-6860/irak-krieg_aid_66751.html)
Deutliche Ergebnisse zeigt eine Studie amerikanischer und irakischer Gesundheitsexperten, die die Fachzeitschrift der britischen Ärzte, „The Lancet“, veröffentlichte. Demnach seien seit März 2003 bis Ende 2004 schätzungsweise 100.000 Zivilisten umgekommen sind. Die meisten Opfer seien Frauen und Kinder. Sie seien vor allem bei Luftangriffen der Amerikaner und ihrer Verbündeten umgekommen, erklärt das Team der Wissenschaftler unter der Leitung von Les Roberts von der Johns Hopkins Bloomberg School of Public. (http://www.tagesspiegel.de/politik/studie-100000-tote-durch-irakkrieg/558630.html)

Es scheint in der Tat so zu sein, dass das Elend der Menschen, dass tote Kinder und eine Reduzierung von Wirtschaftskraft die eigentlichen Ergebnisse und zugleich Ziele von Kriegen sind. Wir müssen anfangen, uns mehr mit diesen Dingen auseinanderzusetzen und die „emotionalen Störungen“ der Nationen zu bearbeiten.

Der Teil aus „Das emotionale Leben der Nationen“ über den Golfkrieg ist komplett in englisch (Chapter 2--"The Gulf War as a Mental Disorder") unter http://www.psychohistory.com/htm/eln02_gulf.html zu lesen. Für alle, die obige Dinge ausführlich nachlesen möchten.



Verwendete Quellen:

deMause, L.2005: Das emotionale Leben der Nationen. Drava Verlag, Klagenfurt/Celovec.

Khan, M. 2005: Der zweite Golfkrieg (1990-1991): Verteidigung des Völkerrechts oder hegemoniales Bestreben? Eine Kriegsursachenforschung. Dissertation am Fachbereich der Politikwissenschaften der Universität Kassel. (https://kobra.bibliothek.uni-kassel.de/bitstream/urn:nbn:de:hebis:34-2006051211576/1/Mansur_Diss1.pdf)

Freitag, 23. April 2010

Alice Miller ist gestorben

Die Kindheitsforscherin Alice Miller starb am 12. April im Alter von 87 Jahren, wie der Suhrkamp Verlag erst kürzlich mitteilte. Ihre Bücher sind Bestseller und wurden in 30 Sprachen übersetzt.

Der Tod von Alice Miller wird - so glaube ich - allerdings nicht das bewirken, was sie sich seit Jahrzehnten wünscht: Ein umfassendes gesellschaftliches Bewusstsein dafür, dass das, was Kindern jeden Tag millionenfach an Leid (vor allem durch ihre Eltern) zugefügt wird, sich in deren späteren Leben enorm destruktiv auswirkt und vor allem auch auf der gesellschaftlichen, politischen Bühne wiederaufgeführt wird, in Form von Krieg, Terror, politischen Konflikten usw. usf.

Die Medien hätten jetzt die Chance, das Wissen, was Miller hinterlässt, umfassend aufzubereiten, es zu diskutieren und es zu verbreiten. Gerade in der heutigen Zeit, wo Krieg durch westliche Länder wieder auflebt, sollte dies Thema sein. Ich bin nicht sicher, ob die Medienschaffenden den Mut und den Willen, vielleicht mehr noch die Emphatie dazu haben werden. Wir werden sehen.