Samstag, 25. Mai 2019

Kurzfristige Zunahme von Gewalt gegen Kinder und deren Ursachen

Kürzlich habe ich mich für einen Text, der wohl Ende des Jahres veröffentlicht werden wird, intensiv mit dem Thema Gewaltrückgang gegen Kinder befasst. Der stetige Gewaltrückgang ist nicht nur in Deutschland deutlich messbar (vor allem im langfristigen Trend seit den 1970er Jahren), sondern auch in anderen europäischen Ländern (z.B. Schweden, Österreich, Großbritannien), sowie in den USA und Kanada.

Entsprechend verwundert hat mich ein SPIEGEL-Interview mit der Soziologin Christine Bergmann (vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen - kurz: KFN), die sagte:
Tatsächlich berichten auch mehr Schüler als früher über Prügel daheim“ (DER SPIEGEL, Nr. 21 vom 18.05.2019, „Gefühlte Unsicherheit“, S. 13). Ich habe mir die entsprechende Studie angesehen, auf die sich Frau Bergmann ganz offensichtlich bezogen hat:  Bergmann, M. C., Kliem, S., Krieg, Y. & Beckmann, L. (2019): Jugendliche in Niedersachsen. Ergebnisse des Niedersachsensurveys 2017. (KFN-Forschungsberichte No. 144). Hannover, KFN.

Tatsächlich wurde in dieser o.g. Befragung von fast 9.000 niedersächsischen Schülern und Schülerinnen im Jahr 2017 festgestellt, dass es eine signifikante Zunahme körperlicher (sowohl schwerer als auch leichter) Elterngewalt gab (im Vergleich zu den Voruntersuchungen aus den Jahren 2013 und 2015). Zwischen 2013 und 2015 wurde dagegen noch eine leichte Abnahme der Gewalt festgestellt (was dem allgemeinen Trend entsprach).

Mindestens einmal erlebte, schwere körperliche Elterngewalt vor dem 12. Lebensjahr stieg z.B. von 11,8 % (Befragung 2015) auf 14,8 % (Befragung 2017) (Bergmann et al. 2019, S. 126). Ebenfalls stieg der Anteil der Schüler, die berichteten, innerhalb der letzten 12 Monate mind. einmal schwere Elterngewalt erlitten zu haben von 4,4 % im Jahr 2015 auf 5,9% im Jahr 2017. Gewisse Schwankungen sind in Befragungen normal und zufällig, aber hier wurde ja eine signifikante Zunahme festgestellt. (Nebenbei bemerkt zeigen diese Zahlen, dass in Niedersachsen mehr schwere Gewalt ausgeübt wird, als im Bundesdurchschnitt, zumindest zeigt dies ein Datenvergleich bezogen auf die Studie von Hellmann (2014) und dabei der Blick auf die jüngste Altersgruppe)

Wie lässt sich dieser Anstieg innerhalb von zwei Jahren erklären? Dieser Frage wurde in der Studie nicht direkt nachgegangen, aber die Antwort darauf erschließt sich letztlich zu einem nicht unwesentlichen Teil aus den Daten selbst.

Kinder mit Migrationshintergrund erleben deutlich häufiger körperliche Elterngewalt, als deutsche Kinder. Dies wurde in KFN-Studien immer wieder ermittelt, so auch in der Befragung aus dem Jahr 2017. So erlebten 9,9 % der deutschen Schüler in Niedersachsen mindestens einmal schwere körperliche Elterngewalt, Kinder mit Migrationshintergrund dagegen im Schnitt zu 25,9 % (Bergmann et al. 2019, S. 127).
In der Befragung 2017 gibt es einen deutlichen Unterschied bei der Stichprobe gegenüber der Befragung aus dem Jahr 2015: „Etwas mehr als ein Viertel der Neuntklässler/innen Niedersachsens (2017: 27.7 %) weist einen Migrationshintergrund auf; dieser Anteil ist statistisch signifikant höher als noch 2015 (24.0 %)"  (Bergmann et al. 2019, S. 24). Im Detail fällt auf, dass vor allem der Anteil an Schülern zugenommen hat, die (oder deren Familie) aus der ehemaligen Sowjetunion (SU) stammen, von 6,6 % (2015) auf 8,6 % (2017). Die nächst größere Steigerung gab es bei Schülern aus islamischen Ländern, von 1,9 % auf 2,5 % (Bergmann et al. 2019, S. 26).

Gerade für die Schüler, die (oder deren Familie) aus der ehemaligen Sowjetunion stammen, findet sich im Verhältnis zu der durchschnittlichen Gewaltrate von 25,9 % für Schüler mit Migrationshintergrund (wie oben gezeigt) eine überdurchschnittlich hohe Rate von 35,3 % von erlittener schwerer körperlichen Elterngewalt (Bergmann et al. 2017, S. 126). In der KFN-Studie aus dem Jahr 2015 lag die entsprechende Gewaltrate für Schüler aus der ehemaligen SU noch bei 26,8 % (Bergmann et al. 2017, S. 117), so dass hier nicht nur der Effekt bzgl. der anteilsmäßigen Zunahme an Schülern aus der SU eine Rolle spielt, sondern auch eine deutlich erhöhte Gewaltrate, die 2017 erfasst wurde. Für Schüler aus islamischen Ländern wurde die entsprechende Gewaltrate 2017 nicht ausgewiesen, 2015 lag sie noch bzgl. der schweren körperliche Elterngewalt bei 33 %.

Wenn der Anteil der Befragten aus diesen Regionen deutlich steigt, steigt logischerweise auch die Durchschnittsrate für Gewalt, die erfasst wird.

Allerdings: Auch bei den deutschen Schülern wurde eine erhöhte Gewaltrate festgestellt, sie stieg von 8 % (2015) auf 9,9 % (2017). Diese Steigerung ist erklärungsbedürftig, da sie dem Trend entgegenläuft. Da in Niedersachsen jedes Jahr diese Befragungen durchgeführt werden, wird sich bei der Befragung aus dem Jahr 2018 zeigen (die vermutlich 2020 veröffentlicht wird), ob 2017 nur ein „Ausreißer“ war und sich der Trend des Gewaltrückgangs fortsetzt.

Ergänzend möchte ich darauf hinweisen, dass sich auch beim Thema Häusliche Gewalt zwischen Elternteilen ähnliche Daten finden lassen. Zwischen 2015 und 2017 gab es eine leichte Steigerung der beobachteten Gewalt zwischen Elternteilen von im Schnitt 4,6 % auf 5 %. Die deutschen Schüler beobachteten unterdurchschnittlich Gewalt zwischen Elternteilen (3,3 %), die Schüler mit Migrationshintergrund deutlich überdurchschnittlich (9,1 %) (Bergmann et al. 2019, S. 130). Auch bei diesem Gewaltfeld dürfte also eine Zunahme von Menschen mit Migrationshintergrund eine Steigerung der durchschnittlichen Gewaltrate verursachen.

Schlussfolgerung und Kommentar


Ursprünglich wollte ich für mich klären, wie Frau Bergmann zu der Aussage kommt, dass jüngst Gewalt gegen Kinder zugenommen hat. Dabei landete ich jetzt zwangsläufig beim Thema Migration.
Ein erhöhter Zuzug von Menschen mit Migrationshintergrund und/oder eine höhere Geburtenrate von Menschen mit Migrationshintergrund bedeutet, dass sich in Deutschland statistisch die durchschnittliche Gewaltrate gegen Kinder erhöht, schlicht und einfach aus dem Grund, weil in Migrantenfamilien (vor allem aus Afrika, Asien, der ehemaligen SU und islamischen Ländern) deutlich mehr körperliche Übergriffe auf Kinder stattfinden und auch mehr häusliche Gewalt zwischen den Eltern passiert, als in deutschen Familien.

Mir ist bewusst, dass meine obigen Schlussfolgerungen Wind auf die Mühlen der Rechtspopulisten sind. Zudem habe ich leider in der Vergangenheit feststellen müssen, dass meine Besprechungen von Studien zum Ausmaß von Kindesmisshandlung in der Welt in rechten Kreisen und Internetangeboten besprochen und kommentiert wurde, mit dem Ziel, um pauschal gegen Geflüchtete zu hetzen. Dazu habe ich bereits einen Kommentar veröffentlicht, sowie in meinem Impressum eine Distanzierung vom Missbrauch der von mir gesammelten Daten für politische Zwecke beigefügt.

Ich habe entsprechend lange überlegt wie und ob ich diesen Beitrag schreiben soll. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich ihn unbedingt schreiben und veröffentlichen muss, weil die Fakten stimmen und einfach auf den Tisch gehören. Den Rechtspopulisten und ihren Anhängern möchte ich sogleich entgegnen, dass es mir um die Sorge aller Kinder, aber eben auch speziell der Migranten-Kinder geht, die im Hier und Jetzt in unserem Land leben. Sie gehören bereits dazu und gehen hier zur Schule. Mir geht es nicht darum, dass diese Kinder (und ihre Familien) wieder gehen sollen und dies dann sogar noch mit der häuslichen Gewalt zu begründen. Wenn diese Kinder hier sind, dann müssen sie integriert werden. Zu dieser Integration gehört dazu, dass sie selbstverständlich ein Recht auf gewaltfreie Erziehung in Deutschland haben! Dass fast jedes vierte Schulkind mit Migrationshintergrund (mindestens einmal) von schwerer körperlichen Elterngewalt betroffen ist (und wie wir oben gesehen haben bei manchen Gruppen sogar jedes dritte Kind betroffen ist), stimmt mich sehr sorgenvoll. Diese Informationen lösen bei mir keinen Hass auf Fremde oder Abwehrhaltungen aus, sondern das unbedingte Bedürfnis, hier zu helfen. Da die Aufgabe allerdings viel zu groß ist, muss hier die Politik etwas tun (natürlich parallel auch für die deutschen Schüler).

Ich selbst hatte bereits am 19.10.2015 an die damalige Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig geschrieben. In meinem Schreiben habe ich auf die Zahlen aus der UNICEF-Studie aus dem Jahr 2014 hingewiesen und die Länder in den Fokus gestellt, aus denen 2015 besonders viele Menschen zu uns geflüchtet sind.
Ich kommentierte die Zahlen in meinem Schreiben u.a. so:
Sofern Familien mit Kindern aus diesen Regionen zu uns kommen, ist damit zu rechnen, dass die Erziehungspraxis entsprechend dieser Zahlen gewaltbelastet ist. Ich möchte an Sie und Ihr Ministerium appellieren, sich diese Daten vor Augen zu führen und demokratische Wege zu finden, wie man mit diesem Problem zukünftig umgeht. Die möglichen Folgen von Kindesmisshandlung dürften Ihnen bekannt sein. Gerade diese Folgen dürften eine nachhaltige Integration hierzulande besonders erschweren. (...) Hier muss die Politik präventiv ansetzen und den Schutz der Kinder vor Augen haben.“
Von einer Sprecherin aus dem SPD-Parteivorstand bekam ich auch eine stellvertretende Antwort, aus der ich einen Teil zitiere: „Ich danke Ihnen für Ihre Ausführungen, die wir mit Interesse gelesen und zur Kenntnis genommen haben. Ihre Rückmeldung ist uns wichtig, wir werden Ihre Anregungen daher in zukünftige Diskussionen einbeziehen.“ Ob dies nur eine Standardantwort war oder ob dieser Punkt wirklich diskutiert wurde, ist mir natürlich nicht bekannt.

Donnerstag, 16. Mai 2019

Kindheit von Horst Seehofer


Ich habe lange überlegt, ob ich kurz etwas über die Kindheit von Horst Seehofer schreiben soll. Bei überdeutlich destruktiven politischen Akteuren wie z.B. George W. Bush und ähnlichen Politikern habe ich da keine Bedenken. Horst Seehofer liegt mir weder als Person, noch vom Politikstil und der Politikausrichtung. Aber er ist ein Demokrat und langjähriger Spitzenpolitiker, ich bin mir sicher, dass er auch Leistungen abgeliefert hat, die es zu würdigen gilt. Insofern geht es mir hier nicht darum, Horst Seehofer bloß zu stellen oder persönlich anzugreifen oder ihn als gänzlich irrationalen Politiker hinzustellen.

Ich blicke allerdings auf den Rechtsruck (so war jedenfalls mein Eindruck), den er als Person und mit seinen politischen Forderungen auf Grund der vielen Geflüchteten ab 2015 vollzogen hat. Und ich blicke auf den schwer zu ertragenden (und fast schon peinlichen) öffentlichen Streit und Schlagabtausch (der fast eine Regierungskrise produziert hat), den er sich mit Angela Merkel geliefert hat. Dass Angela Merkel sehr oft als "Mutti" bezeichnet wird, ist bekannt. Ich frage mich, ob manche Verhaltensweisen von Horst Seehofer aus den benannten Krisentagen eine ganz andere, tiefere Ursache (nämlich aus eigenen Kindheitstagen) hatten? Wie sehr spielte dabei eine Rolle, dass "Mutti" einfach weg sollte, dass "Mutti" gedemütigt werden sollte, dass Horst sich mächtiger fühlen wollte?

In der Süddeutschen Zeitung (Nr. 132) wurde am 12. Juni 2018 (online bereits einen Tag früher hier) der Artikel "Der Aufreger" (von Constanze von Bullion) veröffentlicht. Darin wird Horst Seehofer zitiert: "Ich hatte strenge Eltern (...). Einmal die Woche gab es eine Ohrfeige und in der Schule auf die Pratzn. Die Mutter hat gesagt, wenn du nicht brav bist, liegt einer unterm Bett." (S. 3) Der Vater habe nicht viel gesprochen, Disziplin und Gehorsam seien die Werte gewesen, die im Elternhaus zählten. Die Mutter von Horst wird als dominante Person beschrieben, die die Wege ihres Sohnes lenkte. Die körperliche Gewalt scheint dabei also nur ein Faktor von vielen gewesen zu sein. Einmal die Woche gab es eine Ohrfeige, dass macht ca. 52 körperliche Übergriffe pro Jahr (multipliziert mal wie viel Jahren?) + die Schläge in der Schule.
Ergänzend kommt noch hinzu, dass Horst als Kind gehänselt wurde, wie er selbst einmal sagte. (FAZ, 31.08.2017,  "Seehofer wurde als Kind gehänselt") Das sind kurze Einblicke in eine deutsche Nachkriegskindheit, die allerdings deutlich zeigen, dass Horst Seehofer sehr belastetet aufgewachsen ist.

Mittwoch, 15. Mai 2019

„Andere Leute haben auch eine schwierige Kindheit gehabt!“: Wechselwirkung zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und Genen


Immer wieder taucht der Hinweis auf, dass doch unzählige Menschen, die schlimmste Erfahrungen als Kind machen mussten, später ein relativ unauffälliges Leben führen und niemals straffällig oder gewalttätig oder politisch extremistisch werden. Mit diesem Hinweis wird routinemäßig dem zentrierten Blick auf destruktive Kindheitserfahrungen von Gewalttätern, Terroristen und Diktatoren kritisch entgegnet. Diese Kritik ist so durchgängig, dass ich ihr in meinem Buch in einem eigenen Kapitel (»Nicht alle einst gedemütigten und misshandelten Kinder werden zu Gewalttätern« und »Nicht alle Nationen, deren Bevölkerung als Kind schwer belastet war und misshandelt wurde, führen Kriege«: Und warum diese Feststellungen keine Gründe dafür sind, Kindheitseinflüsse gering zu reden!) entgegnet bin. Diese Kritik ist eigentlich recht leicht zu entkräften. Vor allem geht es um erhöhte Wahrscheinlichkeiten für destruktives Agieren im Erwachsenenalter. Zum anderen müssen auch andere negative Folgen (z.B. psychische Krankheiten, Selbstschädigungen usw.) in den Blick genommen werden, so dass nicht – nur weil kein Täterverhalten nachweisbar ist - gesagt werden kann, dass die erlittenen Kindheitserfahrungen keine negativen Folgen haben. (Ich habe dazu auch in einem Blogbeitrag bereits einiges geschrieben)

Das Thema Gene habe ich dabei bisher nur angeschnitten. Leider bekam ich erst nach Fertigstellung meines Buches von der Neurobiologin und Psychologin Nicole Strüber das Buch „Die erste Bindung. Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen“ (2018, Klett-Cotta, Stuttgart) in die Hände.

Heute weiß man, dass es verschiedene Wechselwirkungen zwischen Genen und Umwelt gibt. Gene beeinflussen, welche Auswirkungen Erfahrungen haben. Es gilt aber auch, dass Erfahrungen festlegen, welche Gene wirksam werden. Strüber beschreibt die sogenannte Hypothese der differentiellen Beeinflussbarkeit. „Hiernach werden Individuen abhängig von ihren Anlagen in einem unterschiedlichen Ausmaß von den Erfahrungen mit ihrer Umwelt beeinflusst – und zwar im Guten wie im Schlechten. Kinder mit einer besonders beeinflussbaren Veranlagung können mehr als andere von positiven Erfahrungen profitieren, leider aber auch mehr als andere unter einer negativen Umwelt“ (Strüber 2018, S. 34).
Beispielsweise kann das Gen für eine Bindungsstelle des Dopamins (laut Wikipedia ein wichtiger, überwiegend erregend wirkender Neurotransmitter des zentralen Nervensystems) in verschiedenen Varianten vorliegen und dadurch die Wirkung von Dopamin beeinflussen. Kinder mit einer sogenannten 7R-Variante reagieren empfindlicher auf ihre Umwelt und Erfahrungen, als Kinder mit einer 4R-Variante. „Haben Kinder mit der 7R-Variante eine eher unsensible Mutter, neigen sie sehr zu aggressivem Verhalten. Reagieren deren Mütter hingegen sehr feinfühlig auf ihr Kind, dann sind die 7R-Kinder ausgesprochen friedlich – friedlicher als die Kinder mit anderen Varianten. Bei den 4R-Kindern spielt Feinfühligkeit der Mutter keine so große Rolle“ (Strüber 2018, S. 65).

Das gleiche würde, so Strüber, für die Fremdbetreuung von Kindern gelten. Kinder mit der 7R-Variante reagieren mit besonderer Unaufmerksamkeit und impulsivem Verhalten auf lange Fremdbetreuung; umgekehrt sind diese Kinder bei keiner oder von kaum Fremdbetreuungen besonders aufmerksam und können sich selbst sehr gut regulieren.

An anderer Stelle schreibt die Autorin: „Das Auftreten von Resilienz wird gelegentlich als Argument dafür angeführt, dass sich der Mensch von schlimmen frühen Erfahrungen erholen kann, wenn er nur will. Frühe extrem negative Erfahrungen könnten keine späteren Verhaltensprobleme entschuldigen (»andere Leute haben auch eine schwierige Kindheit gehabt!«). Leider ist diese Schlussfolgerung ziemlich falsch, da sowohl die genetische Ausstattung als auch das Vorhandensein früher ausgleichender Erfahrungen (etwa eine positive Bindungsbeziehung zu einem Familienmitglied bei gleichzeitiger Misshandlung durch ein anderes) bestimmen, ob jemand resilient auf frühe negative Erfahrungen reagieren kann. Das ist per Willensentschluss kaum mehr zu beeinflussen“ (Strüber 2018, S. 34f). Ich möchte dem noch anfügen, dass trotzdem jeder Mensch eine Verantwortung trägt und u.a. durch Psychotherapien die negativen Folgen abmildern kann.

Wichtig ist unterm Strich zu verstehen, dass Menschen verschieden sind, auch was ihre genetische Ausstattung angeht. Bei dem Einen führen Misshandlungserfahrungen dazu, dass mit ungeheurer Wut und Hass nach außen reagiert wird, ein anderer Mensch lenkt diesen Hass eher nach innen und schädigt sich selbst, ein Dritter (z.B. mit der 4R-Variante und zusätzlich ausgleichenden Positiverfahrungen) kommt vielleicht einigermaßen gut durchs Leben, trotz Misshandlungserfahrungen. Es bleibt bei allen Gedankenbeispielen dabei, dass jemand, der durch Massenmord, Gewalttäterkarriere, Terror usw. auffällt, die Kindheitserfahrungen einen ganz wesentlichen Einfluss auf derart destruktives Verhalten genommen haben und es bleibt auch dabei, dass als Kind geliebte und gewaltfrei aufgewachsene Menschen nicht zu Massenmördern und ähnlichen Akteuren werden.

Ich persönlich kann den Satz „Nicht alle einst gedemütigten und misshandelten Kinder werden zu Gewalttätern“ oder „Andere Leute haben auch eine schwierige Kindheit gehabt!“ nicht mehr hören. Diese Art von Reaktion verbaut einen wesentlichen Zugang zum Verständnis der tieferen Ursachen von Gewalt und menschlicher Destruktivität.

Donnerstag, 18. April 2019

Buchbesprechung: "Erziehung prägt Gesinnung" von Herbert Renz-Polster


Das Familienklima von heute ist das politische Klima von morgen“, hat der Kösel-Verlag in großen roten Buchstaben auf die Rückseite des Buches „Erziehung prägt Gesinnung: Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte - und wie wir ihn aufhalten können“ (2019) von Herbert Renz-Polster geschrieben. Besser kann man den Inhalt und die Kernaussage des Buches im Grunde nicht beschreiben.

Es sind nicht die (ökonomisch) Abgehängten, die z.B. Trump oder die AFD wählten, analysiert der Autor. Es ist der Hang zum Autoritarismus, der diese Menschen antreibt. Und der Autoritarismus hat wiederum viel mit dem zu tun, wie Kindheit war.
Kinder, die ihre Kindheit innerlich unverletzt, mit Selbstvertrauen, wachen Augen, Einfühlungsvermögen und Mut unter dem Herzen verlassen, seien dagegen später als Erwachsene widerstandsfähig, gerade auch gegen die Verlockungen des Rechtspopulismus.

Je härter die Kindheit, desto härter die Politik. Landkarten der kindlichen Not", so lautet ein Kapiteltitel. Der Grundgedanke dabei ist, dass man aus Informationen über kindliche Not „politische Landkarten“ erstellen könne. Zustimmungsraten zu Körperstrafen gegen Kinder in den USA z.B. stehen in Zusammenhang zu konservativen Wahlverhalten. Ähnlich geht der Autor mit Blick auf Ostdeutschland vor und analysiert das (autoritäre) Erziehungssystem (inkl. langer Krippenbetreuung) in der ehemaligen DDR, um in der Tiefe zu erklären, warum im Osten deutlich rechtspopulistischer gewählt wird.

Mein Lieblingskapitel handelt vom Lachen oder besser gesagt dem Nicht-Lachen-Können von Rechtspopulisten und radikalen Politikern: „In der rechtsautoritären Bewegung scheint man schlichtweg kein echtes Lachen zu kennen! Man bringt es allenfalls zu einem frösteligen, selbstgefälligen Grinsen, aber eben nicht zu einem geselligen, freudvollen Lachen. (…) Wann lacht Erdogan? Wann ein Geert Wilders? Herr Kaczyński, Frau von Storch, was bringt Sie zum Lachen? Sie können das schlicht und einfach nicht. Denn Lachen, so berichtet die Psychologie, hat nicht nur etwas mit emotionalem Wohlbefinden zu tun. Vor allem braucht es zum echten, resonanten Lachen die entsprechende innere Software – nämlich die Fähigkeit, mit anderen mitzuschwingen, ihre Gefühlswelt zu erspüren – und für einen Moment angstfrei zu teilen. Diese Fähigkeit entwickelt sich in der Kindheit – oder eben nicht. Ja, vielleicht hat jemand, der sich in seinem Leben von Anfang an unterwerfen musste, nie einen wirklichen Grund gehabt, das Lachen zu erlernen.“ (S. 117)

Das Buch ist mit rund 270 Seiten reinem Inhalt (320 Seiten inkl. Quellenverzeichnis etc.) mit großzügiger Schrift und etlichen Zwischentiteln schnell und verständlich zu lesen. Für Menschen, die sich schon ausgiebig mit den möglichen politischen und gesellschaftlichen Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen befasst haben, bietet es nicht zu viel Neues. Aber um diesen Personenkreis geht es auch gar nicht. Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt und Bestsellerautor von mehreren Erziehungsratgebern. Er erreicht ein großes Publikum und hat sich jetzt auch in den politischen Raum gewagt. In den letzten zwei Wochen haben einige große Medien das Buch besprochen oder den Autor interviewt. Der große Verdienst des Autors ist, dass er das Thema „Kindheit und Politik“ in die Öffentlichkeit treibt. Das wurde auch so was von Zeit! Zu hoffen ist, dass andere Autoren aufspringen und eine wirkliche Debatte beginnt, die immer wieder den Satz vor sich hertragen sollte: „Das Familienklima von heute ist das politische Klima von morgen“. Oder wie ich es kurz zusammenfassen würde: „Die Kindheit ist politisch!“

Montag, 15. April 2019

Kindheit von Boris Johnson und die Irrationalitäten des Brexit-Lagers

Aktualisiert am 10.08.2019


Rachel Johnson, die Schwester des konservativen Politikers Boris Johnson, hat einen Einblick in das gegeben, was sie und ihr Bruder in der Kindheit zu Hause erlebt haben. (The Times, 15.10.2012, "Me, Boris Johnson and our brilliantly hands off parents")
Sie beschreibt, dass sie in ihrer Kindheit kaum eine Wahl hatte, außer was die Wahl von Büchern anging, die sie lesen wollte. Ihre Eltern scheinen alles bestimmt zu haben. Deutlich wird auch elterliche Vernachlässigung, was sich in folgendem Satz zuspitzt: „Our parents provided us with the essentials, then got on with their own lives.“ Sie hätten als Kinder niemals Freunde zum spielen zu Hause gehabt. Und sie fügt an: „Keeping children busy and happy was not a parental priority.
Sie beschreibt eine Szene, in der sie sich als Kind geweigert hatte, eine Straße zu überqueren. Ihre Mutter packte sie daraufhin an den Haaren und zog sie rüber. Überhaupt scheinen körperliche Übergriffe, auch schwerer Art, Routine gewesen zu sein: „(…) my father and mother both believed enthusiastically in corporal punishment. My mother once broke a large stick over my legs after Boris and I had spent a happy and, we felt, productive morning carefully filling every Wellington boot in the passage to the brim with water. I bear neither parent any ill feeling for beating me. I would have done the same.“ Klassisch ist an dieser Stelle, wie das einst misshandelte Kind seine Eltern in Schutz nimmt und anhängt: An ihrer Stelle hätte ich das Gleiche getan...

Zu dieser Gewaltbelastung kommt eine weitere, schwere Belastung hinzu: Die Mutter von Boris Johnson litt unter Depressionen und einer massiven Zwangsstörung. Dies ging zu weit, dass sie sich in wohl unterschiedliche Kliniken einweisen ließ und die Kinder von einer "Nanny" (die Kettenraucherin war) betreut wurden. Diese "Nanny" wurde zur Ersatzmutter für die Kinder.
(Mail Online (2019, 14. April):  Revealed: How a chain-smoking Norland nanny raised Boris Johnson and his siblings while their mother was in and out of hospital being treated for crippling mental health issues)

In der Familie Johnson sei alles auf Wettkampf eingestellt gewesen, berichtet der SPIEGEL. Der Druck kam dabei vor allem vom Vater. Boris` Halbschwester Julia sagte dazu: "Wenn ich im Lateintest nur Zweite wurde, fragte mein Vater sofort: Wer war Erster? Das war eine Standardfrage in unserem Haushalt und eine eindringliche Mahnung, nie woanders zu landen als ganz oben" (DER SPIEGEL, Nr, 30, 20.07.2019, "Der Fesselungskünstler", S. 12).
Und natürlich sollte Boris auch auf ein Eliteinternat kommen. Im Alter von 13 Jahren wurde er somit von seiner Familie getrennt und lebte die folgenden ca. fünf Jahre lang in Eton. Wichtige Teile des damaligen Erziehungssystems in solchen Internaten seien damals Angst und Erniedrigung gewesen (DER SPIEGEL, Nr. 32, 03.08.2019, "Kinder an der Macht", S. 80-84.)

Boris Johnson stand für einen harten Brexit ohne Diskussionen. Er fiel vor dem Referendum vor allem auch durch diverse irrationale Reden und Vergleiche auf. So z.B. als er die Einflussnahme der Europäischen Union mit Hitlers kontinentalen Machtansprüchen verglich. Es ist gut möglich, dass Johnson und sein Wirken die wesentlichen Prozentpunkte beim Wahlvolk für den Brexit erbrachten.

Was in Großbritannien seit dem Referendum (und auch schon davor) passiert, kann – und das wohl nicht nur in meinen Augen – nur noch als irrational und neurotisch bezeichnet werden.
Was ist eigentlich, wenn die EU und ihre Institutionen symbolisch für „Eltern“ stehen, für Vater und Mutter (siehe ausführlich zu solcher Symbolik den Beitrag hier)? Was, wenn die Ängste vor Einflussnahme, Ausbeutung, Abstrafung, Unterdrückung und Bevormundung durch EU-Institutionen eigentlich nur Projektionen aus eigenen Kindheitstagen sind? Wenn man sich unter dieser Prämisse die Reden und Verhaltensweisen in Großbritannien anschaut, dann wird einiges deutlicher.


Siehe ergänzend auch: Brexit - "Warum nicht auch mal im Kollektiv Amok laufen?" Oder: Die Identitätskrisen von Nationen

Montag, 8. April 2019

Rechte Politiker, rechte Wähler und Kindheit


Der australische, rechte Senator Fraser Anning hatte im März 2019 nach einer Ei-Attacke auf ihn durch einen 17-Jährigen diesen zweimal geohrfeigt (der Fall ging durch viele Medien) und wäre wahrscheinlich noch weiter auf ihn losgegangen, wenn er nicht von einigen Männern (wohl seine Mitarbeiter) gestoppt worden wäre. Das alleine spricht schon Bände, wenn ein gestandener, großer Mann derart auf einen "kleinen" 17Jährigen (dieser war eher schmächtig) losgeht.
Im Rückblick sagte Anning: "Der Typ kam von hinten. Das war dumm. Da hat er eben eine Ohrfeige bekommen. Die hätte ihm seine Mutter schon viel früher verpassen sollen." (ca. Minute 5:18, ARD-Weltspiegel vom 24.03.2019, "Neuseeland/Australien: Suche nach Wurzeln für den Rassismus?")

Wenn solche Menschen sich aufregen und sich im Recht fühlen, dann verraten sie manchmal mehr über sich, als ihnen wohl lieb sein dürfte. Anning wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit selbst als Kind durch Elternteile geschlagen worden sein und hat dies ganz offensichtlich als „positiv“ innerlich verdreht und sich mit dem Aggressor identifiziert. Gewalt gegen Kinder würde diese zu besseren Menschen machen, die sich dann später im Leben benehmen könnten und nicht einfach Eier auf Politiker werfen, so könnte man seine Aussage interpretieren. Wer solche Ansichten verinnerlicht hat, wird nicht automatisch zum rechten Politiker. Aber rechte Politiker als solche zeigen auffällig häufig durch Ihr Verhalten und ihr Reden (und auch ihre Ausstrahlung), wie sehr sie mit autoritärem Denken identifiziert sind. Je rechter oder besser gesagt je rechtsextremer Menschen sind, desto deutlicher können auch destruktive Kindheitserfahrungen in wissenschaftlichen Befragungen nachgewiesen werden (ich habe dazu mehrere Studien in meinem Buch besprochen und einige davon auch hier im Blog besprochen).

Es gibt noch mehr Fälle, die ähnlich gelagert sind:

Stephen Bannon, der extrem rechte, ehemalige Berater von Donald Trump, hat 2016 erklärt, dass psychische Gesundheitsprobleme durch ein Mehr an Schlägen gegenüber Kindern zu „heilen“ wären. “I’ve got a cure for mental health issue[s],”, sagte Bannon: “Spank your children more.” (huffpost.com, 15.11.2016, „Steve Bannon’s Cure For Mental Illness? 'Spank Your Children More'. Are we surprised?“ - von Lindsay Holmes und Daniel Marans) Überdeutlich zeigt sich hier, wie solche extrem destruktiven Akteure mit der Macht und dem Aggressor identifiziert sind und wie ihnen jegliches Mitgefühl fehlt.

Der ultrakonservative „Teaparty“-Anhänger Ted Cruz hat während des Wahlkampfes 2016 (er selbst trat als Präsidentschaftskandidat an) ohne Hemmungen öffentlichen erklärt, dass er seine 5jährige Tochter schlägt, wenn diese ihn z.B. anlügt. Mehr noch: Er hat diese „Straf-Erziehungsform“ auf die Politik übertragen und dazu aufgerufen, Hillary Clinton genauso abzustrafen:
„We do know Hillary told her daughter Chelsea, well gosh, I knew it was a terrorist attack, while we were out telling the American people it wasn't. You know I'll tell you, in my house, if my daughter Catherine, the five-year-old, says something she knows to be false, she gets a spanking." Und er fügte an: "Well, in America, the voters have a way of administering a spanking," (The Washington Post, 08.01.2016, „Cruz: I spank my daughter when she lies — voters can ‘administer…a spanking’ to Hillary Clinton“ - von Karen Tumulty)
Die Wähler sollten Hillary Clinton symbolisch körperlich dafür bestrafen (in diesem Fall durch Nicht-Wahl von ihr), dass sie in den Augen von Cruz gelogen (es ging dabei um den Bengasi-Anschlag 2012) habe. Man muss diesen Fall wohl nicht weiter kommentieren, er spricht für sich.

Grundsätzlich zeigen sich in den USA Zusammenhänge zwischen Zustimmungsraten zu Körperstrafen gegen Kinder und Mehrheiten für die Republikaner (klassisch in den südlichen Staaten) bzw. Trump Wählern (siehe dazu z.B. „Americans’ Opinions On Spanking Vary By Party, Race, Region And Religion“ oder „Millennials like to spank their kids just as much as their parents did“). Zufall?  Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster hat dazu viel in seinem aktuellen Buch „Erziehung prägt Gesinnung“ geschrieben, das ich demnächst besprechen werde. Politik und Kindheit, Kindheit und Politik, diese Dinge müssen in ihrer Verzahnung dringend weiter analysiert werden.

Dienstag, 19. März 2019

Brenton Tarrants Kindheit war weder "normal", noch "ohne Probleme"


I had a regular childhood, without any great issues“, schrieb der Massenmörder Brenton Tarrant laut Medienberichten in sein Manifest. Letzteres hatte er überdeutlich an das Manifest von Anders Breivik angelehnt, den er auch konkret als Vorbild nannte. Auch Breivik hatte in seinem Manifest geschrieben, dass er eine sorglose Kindheit hatte: “ I haven´t really had any negative experiences in my childhood in any way“, schrieb Breivik damals. Später konnte überdeutlich nachgewiesen werden, dass Breiviks Kindheit ein reiner Alptraum war.

Es sind erst wenige Tage nach dem Massenmord in Christchurch (Neuseeland) vergangen und schon jetzt wird deutlich, dass auch der eingangs oben zitierte Ausspruch von Brenton Tarrant eine Lüge ist.
Seine Eltern trennten sich in seiner frühen Kindheit. Brenton lebte danach bei seinem Vater. 2010 starb sein Vater an Krebs. Brenton muss zu dieser Zeit ca. 19 Jahre alt gewesen sein. Ob die Diagnose der Krankheit bereits gestellt wurde, als Brenton noch Kind war und er den Kampf seines Vaters gegen die Krankheit lange hat miterleben müssen, ist den Medien nicht zu entnehmen.

Ehemalige Schulkameraden haben geäußert, dass Brenton gemobbt wurde (u.a. wohl weil er übergewichtig war) und die meiste Zeit seines Lebens ein Einzelgänger war. Als Kind sei er außerdem besessen von Waffen und gewaltvollen Computerspiegel gewesen.

Teile seiner Familie haben erklärt, dass sie für die Todesstrafe gegenüber Brenton sind, nach all dem Leid, das er anderen Menschen angetan habe. Die Todesstrafe ist in Neuseeland abgeschafft und diese Forderung finde ich nicht nur deswegen erstaunlich.

So kurz nach einer solchen Tat über die Kindheitshintergründe des Täters zu schreiben, ist immer eine Gratwanderung. Es geht nicht darum, den Täter zu entschuldigen oder seine Opfer aus dem Blick zu nehmen.

Nach den Taten von Anders Breivik wurde damals in den Medien das Bild eines unbekümmerten Kindes gezeichnet, das „ganz normal“, wie so viele andere auch, ein Trennungskind war und ansonsten alle Chancen im Leben hatte. Unerklärlich schienen seine Taten, so der Tenor.
Ich möchte abraten, den Satz „I had a regular childhood, without any great issues“ von Brenton Tarrant ernst zu nehmen. Schon jetzt gibt es gegenteilige Hinweise. Die zukünftige Aufgabe sollte viel mehr sein, diese Kindheit noch deutlicher auszuleuchten (ich selbst vermute weitere Belastungsfaktoren).

Menschen, die als Kind unbelastet, geliebt und gewaltfrei aufwachsen durften, werden nicht zu Massenmördern. (Diese Feststellung schließt nicht aus, dass es weitere Faktoren gibt, die einen Menschen zu so einer Tat bewegen: Männlichkeitsbilder, Geltungsdrang, „Vorbilder“ wie Breivik, Zugang zu Waffen u.a.)




Verwendete Quellen:

Dailymail, 17.03.2019: From a bullied school boy to NZ'sworst mass murderer: Christchurch mosque shooter was 'badly picked on as achild because he was chubby' 




Freitag, 8. Februar 2019

Die Kindheit des NS-Generaloberst Alfred Jodl

In meinem Buch habe ich die Kindheiten etlicher NS-Verbrecher (Adolf Hitler, Rudolf Heß, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Martin Bormann, Albert Speer, Julius Streicher, Karl Dönitz, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Rudolf Höß, Josef Mengele, Adolf Eichmann, Alfred Filbert, Amon Göth und Reinhard Heydrich) ausführlich analysiert und Gemeinsamkeiten herausgestellt. Wesentliche Merkmale der von mir untersuchten Kindheiten sind, dass bei allen Akteuren keine Belege für eine gewaltfreie und liebevolle Kindheit gefunden werden konnte, sondern ganz im Gegenteil deutliche Belege oder Indizien vorliegen, die auf eine äußerst destruktive und belastete Kindheit hinweisen (mit oft mehrfachen Belastungsfaktoren).

Die Biografie von Alfred Jodl habe ich erst jetzt durcharbeiten können. Insofern ergänze ich diese Analyse jetzt hier im Blog.

Alfred Jodl war einer der höchsten Militärs im NS-Staat und gehörte später zu den während der Nürnberger Prozesse Angeklagten. Der 1890 geborene Alfred Jodl stammt aus einer Familie mit langer militärischer Tradition. Sein Großvater, Vater, Onkel, Bruder und Schwiegervater waren allesamt bayerische Offiziere (Jodl 1976, S. 252). Entsprechend war auch der Weg von Alfred Junior vorbestimmt: „Vater wie Mutter – ehrgeizig – schienen entschlossen, ihn von vornherein zur Armee zu geben. (…) Vielleicht brauchten sie den – militärbegeisterten – Sohn nicht einmal zu drängen. Trotzdem hieß für ihn das Ganze: frühzeitige Zäsur. Gerade einmal dreizehnjährig, betrat er seinen Schicksalsweg, wurde er Zögling des bayerischen Kadettenkorps. Die Anstalt (…) forderte vollkommene Unterwerfung. Glockenschläge trieben zum Dienst, der Vor- und Nachmittage beherrschte; Kommandos regelten – bis auf knappste Pausen – jeden Schritt des Tages. Der Kadett war Soldat, und als Soldat hatte er zu traben und strammzustehen“ (Scheurig 1999, S. 10).

Alfred Jodl meinte später, dass er gerne Kadett gewesen sei: „Mit der strengen Disziplin fand ich mich rasch ab, das waren wir ja von daheim gewohnt“ (Jodl 1976, S. 90). Wie diese strenge Disziplin daheim in seiner Familie genau ausgesehen hatte, lässt sich nur erahnen. Jodl selbst bleibt diesbezüglich oberflächlich. Auf seine Mutter angesprochen sagte er: „Sie hasste alle faulen Menschen, denen sie furchtlos und offen ihre Fehler vorhielt. So waren mein jüngerer Bruder Ferdinand und ich einer scharfen Zucht unterworfen, der wir unendlich viel verdanken“ (Jodl 1976, S. 89). Strenge Disziplin, scharfe Zucht, eine Mutter, die „leicht reizbar“ (Scheurig 1999, S. 9) war und eine vom Militär durchzogene Familienlinie, all dies lässt Demütigungen, Unterwerfungsrituale und wohl auch Prügel – zumal Jodl Ende des 19 Jahrhunderts aufwuchs – mehr als wahrscheinlich erscheinen. Alfred Jodl selbst machte in dem oben zitierten Satz deutlich, dass er sich vollkommen mit dieser Strenge identifiziert hatte, indem er betonte, wie unendlich viel er dieser zu verdanken habe. Noch im Kindesalter wechselte er dann von einem strengen Zuhause in eine strenge Kadettenanstalt. All dies deutet auf eine sehr belastete Kindheit hin.

Zudem gibt es deutliche Hinweise auf das Miterleben von Gewalt während seiner Schullaufbahn und von selbst erlitten sexuellem Missbrauch durch einen Geistlichen: „Anerzogene Zucht ersparte dem Schüler Stockschläge und Strafen, doch Beichte, Kommunion und ein sadistisch prügelnder Religionslehrer irritierten ihn. Als er, auf dessen Zimmer bestellt, erleben musste, dass sich der Geistliche ihm zu nähern suchte, war er angewidert. Sofort spürte er, was später zunahm: seine Ablehnung der Kirche“ (Scheurig 1999, S. 10). Jodl im O-Ton dazu: „Bei mir hatte dann auch eine Rolle gespielt, dass mir als kleiner Bub ein junger Geistlicher zu nahegetreten war, und später bin ich dann aus der Kirche ausgetreten“ (Jodl 1976, S. 89).

Erwähnenswert scheint mir noch, dass die Familie den Tod von drei Mädchen im Kindesalter zu verkraften hatte (Scheurig 1999, S. 9). Nur Alfred und sein jüngerer Bruder wuchsen zusammen auf. Ob Alfred Jodl seine Schwestern kennengelernt und ihren Tod miterlebt hatte, ist der Quelle nicht zu entnehmen. Falls er ihren Tod miterlebt hatte, stellt dies an sich bereits ein schweres Kindheitstrauma dar. Wie sich der Tod von drei Kindern auf die Psyche der Eltern ausgewirkt hat, scheint nicht überliefert zu sein. Auch hier lassen sich starke Belastungen erahnen.

Ich möchte abschließend sagen, dass die Recherche und die Erkenntnisse über die Kindheiten der o.g. NS-Täter für mich ein schwer ausdrückbares Gefühl ausgelöst haben. Es ist wohl ein Mix aus Erstauen (über den recht leichten Zugang über klassische Biografien zu Infos über Kindheitserfahrungen, die mit viel Fleiß und einem Blick für Details und das Wichtige auch jeder Andere hätte zusammenfassen können) gepaart mit einem Zusatzerstaunen darüber, dass mir bisher keine einzige Arbeit bekannt ist, die diese Kindheiten bzgl. ihrer Parallelen analysiert und zusammengefasst hat (selbst jemand wie Alice Miller ging zwar davon aus, dass alle Kindheiten der NS-Täter destruktiv waren, aber sie hat nur einzelne Täter - vor allem Adolf Hitler - analysiert. Sicherlich lagen damals aber auch weniger Biografien vor). Wie kann das sein?  Gleichzeitig weiß ich, wie schwer die Widerstände in der Gesellschaft sind, sich den Kindheitshintergründen der NS-Zeit zu stellen. Mein Erstaunen ist also gepaart mit einem Wissen um dieses Schweigen. Gerade klassische Historiker schauen oft an den Kindheitshintergründen vorbei oder erwähnen sie beiläufig, drittrangig oder reden sie gering  (dazu habe ich ein eigenes Kapitel in meinem Buch geschrieben: "Das große Schweigen"). Gerade klassische Historiker verfügen aber über die Deutungshoheit der NS-Zeit. Wenn diese Akteure schweigen, traut sich auch kein Journalist an dieses Thema ran, denn Journalisten brauchen anerkannte Experten, die sie zitieren können.

Meine Analyse und Zusammenfassung über die Kindheiten von NS-Tätern ist im Grunde eine Sensation. Nicht, weil ich so toll bin! Sondern weil die Fakten einfach auf dem Tisch liegen und einen überdeutlich ins Auge stechen und bisher noch nicht zusammengefasst wurden. Das Ziel ist letztlich, dass diese Fakten zum Alltagswissen werden. Für mich gibt es keine "Entdeckungsreisen" mehr. Das Wissen um die Kindheitshintergründe der NS-Zeit ist für mich zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Die Beschäftigung mit der Kindheit von Alfred Jodl "haute mich" insofern nicht mehr um, wie dies früher der Fall gewesen wäre. Dass seine Kindheit derart destruktiv war, ist einfach nur logisch und reiht sich ein in die Kindheiten seiner Mittäter.


Verwendete Quellen:

Jodl, Luise (1976): Jenseits des Endes. Leben und Sterben des Generalsoberst Alfred Jodl. Molden Verlag, Wien – München – Zürich.

Scheurig, Bodo (1999): Alfred Jodl. Gehorsam und Verhängnis. Biographie. Bublies Verlag, Schnellbach.

Freitag, 25. Januar 2019

"Ein schreckliches und ein großartiges Buch": Mein Buch ist ab sofort bestellbar!


Mein Buch ist ab sofort bei gängigen Onlinebuchhändlern (und wohl auch gängigen Buchhandlungen) vorbestellbar (z.B. amazon, Thalia, buch7 oder buecher.de) und wird voraussichtlich ab dem 20.02.2019 auslieferbar sein.

Der Mattes-Verlag hat sich für keine Bilder auf dem Cover entschieden, weil dies den Inhalt des Buches zu sehr einengen würde. Titel und Untertitel sagen dagegen bereits sehr viel aus und diese stehen entsprechend im Vordergrund. Statt einer Inhaltsangabe wurde vom Verlag ein Auszug aus der Buchrezension von Dr. Ludwig Janus auf der Buchrückseite eingefügt:
»Das Buch des Psychohistorikers Sven Fuchs ist zugleich ein schreckliches und ein großartiges Buch, eine Pflichtlektüre für alle, die sich für mehr Verantwortung in den sozialen Beziehungen, der Politik und im Umgang mit Kindern einsetzen möchten. Es bietet einen faktenreichen Überblick über die Gewalt im Umgang mit Kindern in Vergangenheit und Gegenwart. Gerade, weil die heutige Erziehung weniger gewaltorientiert ist, ist ein solcher vorurteilsfreier Blick auf die Dimension von Gewalt und Missbrauch in den Eltern-Kind-Beziehungen überhaupt möglich. Dass historische und auch noch gegenwärtige Kindheiten ein Albtraum und eine Hölle sein konnten und waren, wird von uns meist noch nicht wirklich realisiert. In diesem Sinne ist das Buch ein Augenöffner und verlangt dem Leser viel Bereitschaft ab, die unfassbare Dimension von Gewalt in den Eltern-Kind-Beziehungen wahrzunehmen.« (Ludwig Janus, Jahrbuch für psychohistorische Forschung Bd. 19)

Mein Buch sei „ein schreckliches und ein großartiges Buch“ fasst Janus zusammen. Dies trifft es sehr gut und es trifft vor allem auch meine eigene Gefühlslage sehr passgenau. Mein Buch ist für mich kein Werk, das ich stolz herumzeige und es mit Freude bekannt mache. Es bleibt immer auch ein schreckliches Buch, weil das Grundthema einfach schrecklich, belastend und erschreckend ist und bleibt. Ein Buch zu schreiben, war dabei sicherlich auch ein Stück weit eine intellektuelle Herausforderung für mich. Diese Herausforderung angenommen zu haben, hat mir auch Spaß gemacht. Ich freue mich natürlich, dass ich dieses Buchprojekt geschafft habe und ich wünsche mir vor allem, dass das Buch etwas bewegt und vielleicht sogar auch zu mehr Kinderschutz motiviert. Ich bin von dem Inhalt meines Buches zutiefst überzeugt und habe ein Buch geschrieben, das mir bisher in der Buchlandschaft fehlt und das einfach aus meiner Sicht eine zwingende Notwendigkeit ist. Der Grundinhalt meines Buches sollte zum Allgemeinwissen gehören und auch Teil von politischer Bildung sein.

Das Thema bleibt aber immer gefühlsmäßig ein zwiespältiges. Manchmal denke ich sogar für mich: Warum musste ausgerechnet ich so tief in dem Thema graben? Aber es ist wie es ist. Ich selbst merke im Alltag auch immer wieder, dass ich nicht an dem Thema vorbeikomme. Zu oft fallen mir bei allen möglichen Situationen Kindheitshintergründe (oft auch gepaart mit irrationalem Verhalten) ins Auge. Es gibt wirklich viele schöne Themen im Leben. Die Themen Kindesmisshandlung und belastende Kindheitserfahrungen gehören nicht dazu. Wir sind es aber den Kindern und auch der menschlichen Zukunft schuldig, dass wir hinsehen und uns mit dem Themenkomplex befassen. Über etwas zu lesen, kann nie schlimmer sein, als das, was Kindern überall auf der Welt real angetan wurde und wird.

Zudem ist mein Buch auch zu einem Teil egoistisch: Ich möchte, dass die Kindheit weltweit befriedet wird, damit das Leben für mich und meine Kinder und deren spätere Kinder immer sicherer und besser wird und von immer weniger menschlicher Verrücktheit und Krankheit durchzogen ist. Wer meinen Blog kennt, der weiß, um was für gesellschaftliche und politische Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen es mir alles geht.

Ich selbst bin in den sozialen Medien außer durch meinen Blog gänzlich nicht präsent. Für mich sind Twitter, Facebook & Co. große Zeiträuber und meine Zeit ist mir zu kostbar. Insofern verfüge ich über kein Netz von Onlineverbindungen und -Bekanntschaften. Wer mein Anliegen unterstützen möchte und wer online etwas aktiver ist, als ich dies bin, den möchte ich hiermit herzlich um etwas Hilfe bei der Bewerbung bitten. Ich freue mich natürlich auch über Kommentare und Bewertungen. Lustiger Weise hat eine Leserin mein Buch bei amazon bereits mit 5 Sternen bewertet, obwohl es noch gar nicht herausgekommen ist. Im vollen Vertrauen darauf, dass es die 5 Sterne verdient hätte :-). Ich freue mich aber auch über Kritik, denn Kritik bringt einen manchmal auch weiter.

Mittwoch, 16. Januar 2019

Massenmörder fallen nicht vom Himmel! Der Fall Stephen Paddock

Unter dem Titel „Warum wurde Stephen Paddock zum Attentäter?“ hat Caroline Fetscher im Tagesspiegel (01.10.2018) einen Artikel veröffentlicht, der es in sich hat. Ehrlich gesagt habe ich in der deutschen Medienlandschaft bisher keinen Artikel gelesen, der so weit in die Tiefe ging, um einen Täter und dessen Familie zu analysieren. Von dem Artikel gibt es auch eine Langversion, die ich sehr empfehle.

Frau Fetscher macht deutlich, dass Massenmörder wie Stephen Paddock, der am 01. Oktober 2017 das bisher schlimmste Schusswaffenmassaker in der USA durch einen Einzeltäter angerichtet hat, nicht vom Himmel fallen. In ihrer Analyse erfährt man zwar wenig über den Erziehungsalltag und den Umgang mit Stephen Paddock, als dieser aufwuchs. Allerdings wird deutlich, dass über Paddocks Sozialisation ein großer Schatten lag, der da lautet: sein psychopathischer und schwerkrimineller Vater Benjamin Hoskins Paddock Jr.

Fetscher schreibt: „Eine ultimative Antwort wird es im Fall Stephen Paddock kaum geben. Aber Spuren, die auf Antworten deuten, finden sich zuhauf – in der Katastrophe einer Sozialisation.“ (Langversion, S. 4)
1946, er war 19 Jahre alt, wurde Benjamin Paddock Jr. in Chicago wegen zwölffachen Autodiebstahls, Urkundenfälschung und Hochstapelei verurteilt.“ (S. 6) Er saß in der Folge fast fünf Jahre in einer Hochsicherheitsanstalt ein. Paddock Jr. erklärte später, „er sei während dieser Zeit oft in Schlägereien verwickelt gewesen und habe „siebzig Prozent“ der Haftzeit in Einzelzellen verbracht, da er nicht bereit war, sich an die Regularien zu halten.“ (S. 7) Dies sollte nicht die einzige Inhaftierung bleiben. „Wenige Monate nach Stephens Geburt wurde sein Vater zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, die Haft trennte die eben erst gegründete Familie und wird die Mutter schockiert haben.“  (S. 9)
Stephen war dreieinhalb Jahre alt, als sich für ihn vieles änderte. Er hatte die Mutter mit niemandem teilen müssen, und jetzt war ein ihm nahezu fremder Vater präsent, der bereits acht seiner dreißig Lebensjahre in Haft verbracht und mehr Erfahrung mit der Rohheit der Anstalt als der Verantwortung für Andere hinter sich hatte.“ (S. 9) Fetscher schreibt: „Benjamin Paddock Jr. dürfte ein impulsiver, wahrscheinlich – bedingt auch durch die Hafterfahrung – gewalttätiger Mann gewesen sein, der zugleich faszinierende Fähigkeiten besaß.“ (S. 10) Wie ging dieser Mann mit seinem Sohn Stephen um? Gab es Gewalt, psychische Übergriffe, verstörende Szenen? Und eine weitere Frage drängt sich zwangsläufig auf: Was für eine Persönlichkeit war eigentlich die Mutter von Stephen Paddock, sie sich in einen derart kriminellen Mann verliebt hatte und mehrere Kinder mit ihm bekam?

Das gemeinsame Familienleben dauerte allerdings nicht lange. Stephen war fast 6 Jahre alt, als sein Vater einen bewaffneten Raubüberfall auf eine Bank beging. Es folgte ein weiterer Raubüberfall. Noch wurde der Vater dabei nicht gefasst. Am 26. Juli 1960 wurde der Vater nach einem erneuten Raubüberfall inhaftiert, Stephen war zu der Zeit 7 Jahre alt.
Für Stephens Mutter und die Kinder war dieser Tag ein „emotionales Erdbeben. Den Söhnen, die nach Daddy fragen konnten, also Stephen und Patrick, erklärte die Mutter, ihr Vater sei tot und werde nie wiederkommen. (…) Aber ein wacher Siebenjähriger merkt nicht nur, (…), dass zu Hause etwas Katastrophales geschieht. Er wird bald auch wahrnehmen, dass die Mutter keineswegs in Trauer ist, sondern in Angst und Not, dass Worte unter Erwachsenen getuschelt werden oder abrupt geschwiegen wird, sobald die Kinder auftauchen. Warum gibt es kein Grab, keine Trauerfeier, kann Stephen bald gegrübelt haben. Was ist mit Daddy passiert? Seine Fragen werden auf eine Mauer aus Tabus gestoßen sein. Als Faktum blieb: Der Vater war weg. Stephen Paddock war mit dem plötzlichen Verlust des Vaters allein. Es hatte keine Möglichkeit gegeben, sich von ihm zu verabschieden. (…) Wo sich ein Kind derart spannungsgeladenen Affekten ausgesetzt sieht wie Stephen Paddock ab dem Juli 1960, läuft es Gefahr, nachgerade zu kollabieren. Um der Überwältigung durch Affekte zu entgehen, sucht die Psyche das Belastende abzuspalten. Erklären Erwachsene, wie hier, pathologisches Ungeschehenmachen zur Norm, sind dissoziative Reaktionen der Kinder vollends unvermeidlich. (…) Höchstwahrscheinlich kämpfte Stephen Paddocks Psyche mit Forderungen, Überforderungen, Tabus, Schuldgefühlen und Ängsten. In der Familie hatte sich Dynamit angesammelt, sie war ein Speicher emotionaler Sprengsätze – und wieder auf der Flucht. Jetzt wollte die Mutter den Sprengstoff vergraben, damit er nicht explodierte. Dafür sollte das „Daddy ist tot“ die Zauberformel sein." (S. 12,13)

1968 brach der Vater, der zu ca. 20 Jahren Gefängnis verurteilt worden war, aus dem Gefängnis aus und tauchte ca. 10 Jahre unter. In den gesamten USA wurde nach ihm gefahndet und er stand ab 1969 eine Zeit lang auf der Liste der 10 meistgesuchten Verbrecher des Landes. Caroline Fetscher geht davon aus, dass seine Söhne damals erfuhren, dass ihr Vater noch lebt und ihre Mutter sie belogen hatte. Stephen war zu der Zeit bereits ein Jugendlicher. Spätestens Ende der 1970er Jahre erfuhren die Söhne nachweisbar von ihrem Vater, als dieser aufgegriffen und nach kurzer Haftzeit begnadigt wurde. Diese "Wiedergeburt" des Vaters wird die Söhne schwer verstört haben.

Ich belasse es bei diesen Auszügen. Die Analyse von Fetscher ist derart umfangreich, dass ich bei Interesse dringend deren Lektüre empfehle. Alles in Allem kann man sagen, dass das Familienleben von Stephen Paddock ein Alptraum aus Verlusten, Lügen, Familiengeheimnissen, Armut, Verzweiflung, fehlender Hilfe gepaart mit psychisch kranken Elternteilen und einem schwer kriminellen Vater war.

Freitag, 11. Januar 2019

"Wider dem Fortschritt!" Destruktive emotionale Gruppenprozesse in der Welt.

Ohne Zweifel gibt es seit einigen Jahren ein schwer greifbares Rumoren, ein Brodeln, ein Hauch von Demokratiemüdigkeit bei einem Teil der Menschen und leider auch oftmals ein lautes Herumschreien, offenen Hass und Demokratiefeindlichkeit in vielen Gesellschaften, was sich kultur- und subkulturspezifisch jeweils unterschiedlich ausdrückt.

Wir haben die Wahl von Donald Trump in den USA erlebt, die Wahl für den Brexit in Großbritannien, die Umgestaltung der Türkei durch Recep Tayyip Erdoğan, rechtspopulistische Tendenzen in vielen europäischen Ländern, den Aufschwung der AFD in Deutschland, Menschen, die sich in Deutschland zu „Reichsbürgern“ erklären und die Verfassung ablehnen, PEGIDA Demonstrationen in Sachsen, die demokratische Wahl des ultrarechten Jair Bolsonaro in Brasilien, gewaltbelastete „Gelbwestenproteste“ in Frankreich, um nur einiges zu nennen.

Alle diese Entwicklungen haben auch ihre besonderen Eigenheiten und sind sicher zu einem Teil auch rational erklärbar. Um diesen Part der Erklärungen geht es mir hier nicht. Mir geht es – wie immer – um die irrationalen, sprich emotionalen Elemente dieser Entwicklungen.

Vorwegnehmen möchte ich einen großen Widerspruch. Ich selbst gehe auf Grund der Datenlage davon aus, dass die Welt immer besser wird und wir in etlichen Bereichen beständigen Fortschritt erleben und erlebt haben (was nicht bedeutet, dass alles gut ist und wir uns zurücklehnen können!). Wichtige Arbeiten und Quellen dazu sind für mich z.B. „Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist“ von Hans Rosling, „Frohe Botschaft: Es steht nicht gut um die Menschheit – aber besser als jemals zuvor“ von Walter Wüllenweber, „Früher war alles schlechter: Warum es uns trotz Kriegen, Krankheiten und Katastrophen immer besser geht“ von  Guido Mingels, „Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit“ von Steven Pinker, „Aufklärung jetzt: Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung“ von Steven Pinker und natürlich das großartige Onlineprojekt „Our World in Data“ + ergänzend Gapminder.
Wer die Fortschritte in der Welt negiert, stellt sich blind gegenüber den Fakten. Obwohl es faktisch so gut um uns steht wie nie zuvor in der Geschichte, werden gerade in Teilen der westlichen Welt Weltuntergangsängste und Schwarzmalerei salonfähig.

Die psychohistorische Theorie ist die einzige mir bekannte Theorie, die destruktive Gruppenprozesse u.a. als eine Reaktion auf Fortschritt ansieht. In der Tat beschädigen offensichtlich die meisten oder alle der o.g. Prozesse die Lebensgrundlage von genau den Menschen, die sich doch vorher selbst als beschädigt definierten und deswegen so agierten und/oder wählten, wie sie es taten, um (angeblich) etwas zum Positiven zu verändern. Pegida bedroht ganz offensichtlich den Touristen- und Wirtschaftsstandort Dresden. Der Brexit lähmt die britische Wirtschaft und bindet zudem Beamte und Politiker, die ansonsten ihre Kräfte in die Entwicklung des Landes hätten stecken können. Donald Trump und seine Regierung benehmen sich wir Elefanten im Porzellanladen und haben dem Ansehen der USA massiv geschadet. Jair Bolsonaro wird Brasilien nicht sicherer machen, wenn er allen Menschen erlaubt, eine Waffe zu tragen, Militärangehörige in die Regierung holt und wenn er gegen politische Gegner und Minderheiten vorgeht. Auch die destruktiven ökonomischen Folgen des Kurses von Erdoğan sind bereits für die Türkei greifbar. Usw. usf.

Der Psychohistoriker Florian Galler hat aktuell einen Kommentar geschrieben, aus dem ich zitieren möchte. (Vorwegnehmen möchte ich, dass ich seinen benutzten Begriff von den „Konservativen“ für etwas ungünstig halte, denn Konservative sind keine Anti-Demokraten. Er schreibt allerdings auch im Textverlauf etwas von „radikalen Konservativen“. Letztlich geht es um politische Extremisten und Rechtspopulisten.) Galler schreibt:
Das Hauptübel für die Konservativen ist das, was für die Demokraten das Vernünftige ist (Wohlfahrt der breiten Bevölkerung, Rechtsstaat, Friede und internationale Zusammenarbeit). All das vermindert nämlich die Möglichkeiten, frühe, prä- und perinatale traumatische Gefühle von Wut, Angst, Verachtung durch die Politik des Staates auszuagieren und damit abzuwehren.
Die Hassgefühle und die Verachtung gegen den Staat entstehen, weil der Nationalstaat seiner traditionellen Aufgabe der Abwehr früher traumatischer Gefühle durch deren Ausagierung innerhalb eines nationalen, unbewussten Gruppenprozesses in immer kleinerem Ausmass nachkommt oder nachkommen kann
.“
Dies sind zentral wichtige Gedanken. Die äußeren Umstände (dabei vor allem Fortschritt und Veränderungen) scheinen bei so einigen Menschen starke destruktive und vergrabene Emotionen zu triggern. Damit einher geht die starke Angst vor dem Verlust der eigenen Identität oder dem zersplittern selbiger (im Kern sind viele aktuelle politischen Probleme Identitätsprobleme, angefangen bei der Angst der Briten vor der EU, der Angst in Deutschland vor Veränderung der Kultur bis hin der Angst der Amerikaner, das „alte Amerika“ zu verlieren; zudem vereint alle männlichen Angsthasen, die Angst vor der Emanzipation der Frauen, einem der größten kulturellen Wandlungsprozesse überhaupt). In Wahrheit zeigt sich gerade in Zeiten des Fortschritts und der Veränderung, dass so einige Menschen gar keine gesicherte, eigene Identität besitzen. Man klammert sich dann an das Alte: an Tradition, Nationalität, Rasse, Geschlechtsrolle und Religion. Und man sucht das Fremde, das (angeblich) Gefährliche, das zu Bekämpfende gepaart mit einem „Wir-gegen-Die“. Fremden- und Feindeshass pseudo-stabilisiert Menschen.
Noch vor 100 Jahren war es die Aufgabe von Vaterstaat, diesen destruktiven, aufkommenden Gefühlen ein Ventil zu bieten, das da vor allem lautete: Feindeshass und Krieg! Thomas Mann brachte die kollektive Irrationalität und den kollektiven Wahn beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges besonders auf den Punkt: „Wir kannten sie ja, diese Welt des Friedens. Wimmelte sie nicht von dem Ungeziefer des Geistes wie von Maden? Gor und stank sie nicht von den Zersetzungsstoffen der Zivilisation? Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler, nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte? Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung.“

Da sich die Menschheit, ihre Institutionen, aber vor allem auch die Kindererziehungspraxis stark weiterentwickelt hat (und auch sonstige traumatische Erfahrungen der Menschen stetig abgenommen haben oder durch psychosoziale Hilfen besser aufgefangen werden können), ist es heute nicht mehr so „einfach“, wie in früheren Zeiten. Heute werden in den Demokratien seichtere Rückschrittsprozesse eingeschlagen. Trotzdem sind diese Prozesse folgenreich und global spürbar. Interessanterweise sind die Folgen in europäischen Ländern mit ihrer am weitesten entwickelten Kindererziehungspraktiken und weniger Gewalt gegen Kinder auch spürbar seichter, während z.B. in den USA, Brasilien oder besonders in der arabischen Welt (wo es den Kinder deutlich schlechter ergeht) die Folgen massiver oder im Fall von z.B. Syrien sogar massenmörderisch sind. Teile Europas und die USA wählen eher selbstzerstörerische Wege und Feindeshass nur intern zwischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen, statt gegen ein „böses Außen“. Für Europa und erst recht für Deutschland gilt dies aber nur in Teilen und Ansätzen, denn faktisch läuft es seit Jahrzehnten gut für den Kontinent.

Es verwundert – um erneut die o.g. Zitate von Galler aufzugreifen – nicht, dass es in Teilen der demokratischen Gesellschaften Bemühungen gibt, den Rechtsstaat und auch die demokratische Weltgemeinschaft ins Wanken zu bringen. Denn nur ein Unrechtsstaat oder ein zersplitterter Staat wird der Abwehr früher traumatischer Gefühle besonders gerecht. 
Auf Deutschland bezogen ist vor allem der Aufschwung der AFD sehr paradox. Würde man den pubertär wütenden Phrasen dieser Partei glauben, dann stünde Deutschland am Abgrund und Angela Merkel wäre der Teufel in Person. Alle objektiven Daten zeigen das genau Gegenteil: Deutschland und den meisten seiner Bürger und Bürgerinnen geht es so gut wie wohl noch nie. Und ich möchte nachhängen: Angela Merkel ist sichtbar kein Teufel.
Dass es einem Teil der Menschen (ökonomisch) nicht gut geht, versteht sich. Doch diese sind gar nicht das Hauptklientel der AFD. Paradoxer Weise gilt: „Die AfD wird vor allem von Menschen mit mittlerem bis gutem Einkommen gewählt.“

Um das Ganze etwas greifbarer zu machen, habe ich zwei Beispiele ausgewählt.
In der Sendung „Markus Lanz - Deutschland! vom 8. November 2018 - Gespräche über Einigkeit und Recht und Heimat“ (evtl. noch auf YouTube zu finden) kam Svenja (gelernte Alterpflegerin, gebürtige Schleswig-Holsteinerin) aus Mecklenburg-Vorpommern zu Wort. Sie lebt mit Mann und Kindern zurückgezogen am Rande des Existenzminiums in einer Art Gemeinschaft von Aussteigern mit rechtem Gedankengut und demokratiefeindlichen Tendenzen.

Lanz sagte: „Ich merke, dass es Dir nicht mehr darum geht, etwas besser zu machen. Sondern eigentlich geht es darum, dieses System kaputt zu machen.
Antwort von Sonja: „Ja, damit es von vorne anfängt. Auf Reset drücken.“
Lanz: „Erst mal zerstören.“
Antwort von Sonja: „Genau! Dann können wir von vorne anfangen, damit wir mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkommen.“
Lanz etwas später: „Was müsste man tun, um Euch wieder zurückzuholen?
Antwort von Sonja: erstauntes „Wow“, dann nachdenkliches „hmm“, dann lachen: „Das schafft keiner, ne!“.
Ihr Lebensgefährte hat auf diese Frage zunächst auch keine Antwort, schickt dann aber noch halbherzig hinterher, dass man die Löhne erhöhen müsste. In ca. zwischen 10 und 30 Jahren würde in Deutschland, aber auch nicht nur hier, ein Krieg untereinander ausbrechen. Ein Bürgerkrieg, der von den Flüchtlingen ausgehen würde, die sich vorher auf Schwarzmärkten bewaffnen würden, hängt er noch nach.

Letztlich ist dies ein extremes Beispiel. Aber zeigen nicht auch viele bürgerliche Menschen diesen Wunsch nach Zerstörung (wenn auch nicht in dieser extremen Form)? Der zudem deutlich gepaart ist mit Irrationalität?  Sonja und ihr Lebensgefährte wissen ganz offensichtlich selbst gar nicht, was sie zu glücklichen Menschen machen würde, die sich zudem auch sicher fühlen. Ich glaube, dass es so ähnlich z.B. auch mit vielen ideologisch überzeugten AFD-Wählern ist. Im Grunde ist keine komplexe und rationale Sicht auf die eigene und die gesellschaftliche Situation erwünscht. Es geht eigentlich um das offene ausagieren von Angst, Wut, Hass und dem Wunsch, die Gesellschaft zu kippen. Solchen Irrationalitäten kann die Politik nicht mit einer Erhöhung des Mindestlohns oder sonstigen Maßnahmen entgegenwirken. Die Politik müsste die Leute emotional erreichen, was schwierig ist. Markus Lanz hat dabei ein Stück weit vorgemacht, wie es gehen kann. Er ging offen und ohne Abwertungen auf Svenja zu und stellte einfühlsame Fragen, gepaart mit einer gewissen Sorge um das Befinden der Familie. Der nächste Schritt wäre irgendwann gewesen zu fragen, was den beiden denn im Leben und in ihren Familien alles zugestoßen ist und woher ihr düsteres Bild von der Welt in der Tiefe stammt.

Ein anderes Beispiel:

In der Süddeutschen Zeitung (Nr 300 vom 31.12.2018/01.01.2019, Seite 3) gab es einen großen Artikel über den Reichsbürger Herrn S. unter dem Titel „Ohne mich“.
Herr S. hat eindeutig paranoide Tendenzen und zeigt deutliche Irrationalitäten. Seine Heimat habe man ihm genommen, Deutschland sei zersplittert und besetzt. Die Bundesrepublik habe keine Gültigkeit. Er ist, das durchzieht den Artikel, deutlich auf der Suche nach Halt, Heimat und Identität. Und ich würde ergänzen: Er ist kein glücklicher Mensch. Mit rationalen Argumenten braucht man Herrn S. nicht zu kommen.
Die Kindheit von Herrn S. war äußerst destruktiv. Die Eltern trennten sich, die Mutter war weg, neunmal zog die Familie um, neunmal musste er die Schule wechseln. „Der Vater heiratete zwei weitere Male, schlug seine Frau im Suff, tobte und schrie, und Herr S. sagte mit 14 Jahren zu seinem Bruder, der 13 war: `Komm, Biege, weg hier.`“ Die Brüder zogen zunächst in ein Jugendheim.
Selbstverständlich werden nicht alle Kinder, die so etwas erlebt haben, zu Reichsbürgern und Anti-Demokraten. Wir sollten aber nicht unterschlagen, dass die Probleme von Herrn S. mit Sicherheit seiner Biografie geschuldet sind und er eigentlich Hilfe bräuchte, emotionale und psychosoziale Hilfe.

Wie sollte die Politik durch Sachentscheidungen jemanden wie Herrn S. erreichen oder auch jemanden wie Sonja? Diese Fälle sind keine rational zu betrachtenden Fälle, sie müssen im Kern emotional verstanden und gelöst werden. So ähnlich sehe ich auch die Prozesse und Lösungen im größeren Rahmen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass gerade in Europa die Mehrheit der Bevölkerung keine Anti-Demokraten sind. Auch wird  Deutschland die AFD überstehen und aushalten, die eine Minderheit der Menschen vertritt. Vermutlich wird sich die AFD in den nächsten Jahren entzaubern und - qua fehlender Feindbilder - selbst zerreißen.

Da Kindheitsleidsgeschichten wie die von Herrn S. und Anderen stetig und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weniger werden, wird sich die Stimmung langfristig auch immer weiter beruhigen. Die Menschen werden immer mehr auf gefestigtem Boden stehen und eine vielschichtige Identität ausbilden, die nicht so leicht durch Veränderungen und Fortschritt umzuwerfen ist. Die westliche demokratische Welt wird dem Rechtspopulismus langfristig trotzen. Wir schaffen das. Ich hoffe innig, dass ich damit recht behalte :-). 

Donnerstag, 13. Dezember 2018

Titel und Infos zu meinem Buch sind ab sofort beim Verlag online!

Auch wenn das Titelbild-/design noch nicht online ist (und mir selbst auch noch nicht bekannt ist, dies ist Sache des Verlages), muss ich jetzt doch schon qua meiner enormen Ungeduld darauf hinweisen, dass ab sofort beim Mattes Verlag Buchtitel, Inhaltsverzeichnis und mein Prolog online sind: http://mattes.de/buecher/psychohistorie/978-3-86809-143-4.html.

Der Buchtitel lautet: 

Die Kindheit ist politisch!
 
Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen

Die Entscheidung für den Mattes-Verlag fiel mir recht leicht, weil dies der Verlag ist, der die "Jahrbücher für psychohistorische Forschung" veröffentlicht. (Mein eigenes Buch sehe ich sowohl als psychohistorische, aber auch politische und auch sozialwissenschaftliche Arbeit an. Außerdem ist das Buch natürlich auch ein großes Kinderschutzbuch.) Zudem hat der Verlag mir viel Freiraum gelassen und mein Manuskript wurde zwar hier und da überarbeitet und in Form gebracht, aber ansonsten weitgehend vor allem textlich so belassen, wie ich es verfasst habe.

Der Mattes-Verlag ist ein kleiner Verlag und ich bekomme einen großen Vertrauensvorschuss in meine Arbeit und potentielle Absatzmöglichkeiten (ein Buch eines neuen Autors drucken zu lassen, ist für einen Verlag immer auch eine Risiko was Kosten angeht). Sofern einige Leser und Leserinnen des Blogs das Buch kaufen möchten, möchte ich dazu motivieren, das Buch direkt beim Verlag zu bestellen. Dadurch erhält der Verlag (nicht ich!) einen größeren Ertrag, als wenn es über den normalen Buchhandel bestellt wird. Natürlich freue ich mich grundsätzlich über alle Bestellungen, auch über den normalen Buchhandel.

Das Buch wird wohl Anfang nächsten Jahres (spätestens ab Februar) bestell und auslieferbar sein. Aktuell ist es noch im Druck und wird noch in keinem Buchhandel vorbestellbar sein. Sofern ich neues weiß, werde ich sicherlich wieder etwas dazu schreiben.

Eine E-Book Variante des Buches ist vom Verlag nicht vorgesehen. Ich selbst warte erst einmal die Resonanz ab und werde es evtl. einige Zeit später selbst als E-Book veröffentlichen.

Darüber hinaus möchte ich darauf hinweisen, dass Herr Dr. med. Ludwig Janus in dem bald verfügbaren Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 19: "Gewalt und Trauma: Direkte und transgenerationale Folgen für Individuen, Bindungen und Gesellschaft" eine Rezension über mein Buch verfasst hat. Ich bin Herrn Janus sehr dankbar für seinen Zuspruch und seine Unterstützung bei der Bekanntmachung meines Buches :-) .

(Siehe ergänzend auch meinen Beitrag: Mein Buch ist fertig!)

Dienstag, 4. Dezember 2018

Häusliche Gewalt gegen Frauen - Ein Blick auf die Zahlen und die Details

aktualisiert am 22.03.2021 (siehe für genaue INFO Kommentare unten)

Über den Rückgang von sexueller und häuslicher Gewalt hatte ich bereits einen Blogbeitrag geschrieben. Kürzlich wurde in den deutschen Medien sehr viel über das Thema „Häusliche Gewalt“ berichtet. Insofern möchte ich das Thema erneut aufgreifen (zumal es hierbei ergänzend auch um das Wohlergehen von Kindern geht, denn das Miterleben von Gewalt zwischen Elternteilen stellt einen enormen Belastungsfaktor für Kinder dar). Immer wieder stehen dabei zwei Zahlen groß im Raum: 25 % und 22 %. So viel Prozent der Frauen in Deutschland haben - zwei repräsentativen Studien nach - häusliche Gewalt erlitten.

Ich zweifle diese Zahlen nicht an, beide Studien sind mir bekannt. Allerdings fehlt mir Erstens ein differenzierter und auch sachlicher Blick auf die Detailergebnisse und Zweitens fehlt mir die Frage, wie sich dieses Gewaltfeld ggf. verändert hat oder anders gefragt: Hat häusliche Gewalt abgenommen, nimmt sie zu oder bleibt sie gleich? Außerdem fehlt noch die Frage, ob diesen 22 bis 25 % Gewaltbetroffenen auch 22 bis 25 % männlichen Tätern gegenüberstehen oder ob der Anteil an männlichen Tätern nicht evtl. deutlich niedriger (auf Grund von Mehrfachtäterschaft) ausfällt?

Die 2004 veröffentlichte repräsentative Studie Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland kommt zu dem Ergebnis, dass 25 % der Frauen in Deutschland im Alter von 16 bis 85 Jahren mindestens einmal in ihrem Leben körperliche und/oder sexuelle Partnerschaftsgewalt erlebt haben. (BMFSFJ - Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2004): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, S. 220)

Zu einem vergleichbaren Ergebnis für Deutschland kommt auch eine im März 2014 veröffentlichte repräsentative Studie der Europäischen Grundrechteagentur: 22 % der Frauen im Alter zwischen 18 und 74 Jahren haben demnach seit dem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch eine/n derzeitige/n und/oder frühere/n PartnerIn erfahren. (FRA - European Union Agency for Fundamental Rights (2014): Gewalt gegen Frauen: eine EU-weite Erhebung. Ergebnisse auf einen Blick. Luxemburg, S. 19)

Letztere Studie wurde in Gesamteuropa durchgeführt. In der Auswertung ist es daher schwierig, bzgl. Deutschland Einsicht in die Details zu bekommen. Eine Detailansicht bietet allerdings die vorgenannte Studie des BMFSFJ (2004), die ich nachfolgend besprechen werde. Nur 1 % der Partnergewalt ging von weiblichen Partnern aus. Insofern konzentrieren wir uns vor allem auf männliche Täter.

Zur Häufigkeit von körperlicher und/oder sexueller Partnergewalt im gesamten Leben:

28,1 % der gewaltbetroffenen Frauen haben in ihrem gesamten Leben nur ein einziges Mal Partnergewalt erlitten; 17,5 % zwei bis drei Mal. Wir können also festhalten, dass fast die Hälfte (45,6 %) der gewaltbetroffenen Frauen in ihrem gesamten Leben sehr selten Partnergewalt erlitten haben. 5,8 % der gewaltbetroffenen Frauen haben 20 bis 40 Mal Partnergewalt in ihrem Leben erlitten und 12,1 % häufiger als 40 Mal. (BMFSFJ 2004, S. 235)

Wenn wir die genannten 45,6 % auf die 25 % Gesamtbetroffenenrate beziehen, dann lässt sich differenziert sagen, dass 11,4 % aller Befragten Frauen einmalig oder sehr selten Formen von Partnergewalt und 13,6 % aller befragten Frauen häufiger als selten Formen von Partnergewalt erlitten haben.

Ausmaß und  Häufigkeit von rein körperlicher Gewalt in der aktuellen Partnerschaft:

91,6 % haben noch nie Gewalt in der aktuellen Partnerschaft erlitten ( 2,1 % machten keine Angaben)
3,8 % haben nur ein einzige Mal Gewalt erlebt.
1,5 % selten
0,7 % gelegentlich
0,4 % häufig
 (BMFSFJ 2004, S. 224)

Ausmaß von körperlicher und/oder sexueller Gewalt in der aktuellen Partnerschaft:

13 % der Frauen haben mindestens einmal in der aktuellen Partnerschaft körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt.
87 % der Frauen haben demnach in der aktuellen Partnerschaft weder körperliche noch sexuelle Gewalt erlebt.
(BMFSFJ 2004, S. 225)

Etwa 40% der Frauen, die körperliche oder sexuelle Übergriffe in der aktuellen Paarbeziehung erlebt haben, haben ausschließlich „wütendes Wegschubsen“ und keine andere körperliche Gewalthandlung erlebt.  (Bei Gewalt durch Ex-Partner fallen im Vergleich mehr schwere Gewaltformen ins Auge. So gaben von den Frauen, die Gewalthandlungen durch frühere Beziehungspartner genannt haben, nur 11% an, ausschließlich wütendes Wegschubsen erlebt zu haben.)

Schweregrade: 

Auf die Frage „Hatten Sie bei einer oder mehrerer dieser Situationen schon einmal Angst, ernsthaft oder lebensgefährlich verletzt zu werden?“, antworteten 38% der von Gewalt betroffenen Frauen mit ja, 56% verneinten dies und 6% machten dazu keine Angaben. 64% der gewaltbetroffenen Frauen berichteten über Verletzungsfolgen aufgrund von Gewalt in Paarbeziehungen. (BMFSFJ 2004, S. 235) Die häufigste Verletzungsfolge waren blaue Flecken/Prellungen.

Psychische Gewalt: 

42 % der Befragten gaben an, jemals psychische Gewalt erlitten zu haben. Ca. 30% der Frauen, die psychische Gewalt erlebt hatten, benannten als Täter den Partner (Partnerinnen) oder Ehemann. (BMFSFJ 2004, S. 105f) Wenn ich richtig gerechnet habe müssten demnach 12,6 % aller Befragten mindestens einmal in ihrem Leben psychische Gewalt durch den Partner oder Ehemann erlebt haben.

Gewaltinitiative durch die Frauen:

83,1 % der von Partnergewalt betroffenen Frauen gaben an, nie mit Gewalt angefangen zu haben. 10,4 % hatten einmal mit der körperlichen Gewalt angefangen und 3,8 % mehrmals. (BMFSFJ 2004, S. 237) Die AutorInnen der Studie vermuten auf Grund der ergänzenden mündlichen Interviews, dass der Anteil der Frauen, die mit Gewalt angefangen haben, real niedriger liegt, als die zuvor genannten Daten aus dem schriftlichen Fragebogen. Trotzdem muss hier angemerkt werden, dass wohl ein gewisser Teil der von Frauen erlittenen Partnergewalt (ca. 3,8 % oder etwas weniger?) entweder innerhalb eines allgemeinen und beidseitigen Gewaltverhältnis stattfand oder selbst erlittene Gewalt der Frauen aus Abwehrreaktionen (z.B. "wütendes Wegschubsten)" des zuvor angegriffenen männlichen Partners entstanden. Diese Frauen wären dann entweder sowohl Opfer als auch Täter oder zu einem Teil auch nur Täter. 

Blick auf andere Studienergebnisse: 

Was mich bei dem Thema immer wieder wundert ist, dass eine weitere große und repräsentative Studie oft ausgeklammert wird, sowohl in den Medien als auch manchmal von Fachseite. In der Expertise Gewalt in Paarbeziehungen. Expertise für den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung von Monika Schröttle aus dem Jahr 2017 werden beispielsweise vier verfügbare Studien zum Dunkelfeld vorgestellt, darunter die oben besprochene Studie vom BMFSFJ (2004) und die ebenfalls oben kurz besprochene Studie der European Union Agency for Fundamental Rights (2014),  plus  zwei kleinere Studien (einmal bezogen auf Männer und einmal bezogen auf Menschen mit Behinderungen).

Ausgeklammert wurde hier von Frau Schröttle (die auch wesentlich an der Studie vom BMFSFJ mitgewirkt hat) die große Studie „Hellmann, D. F. (2014): Repräsentativbefragung zu Viktimisierungserfahrungen in Deutschland. (Forschungsbericht Nr. 122). (KFN, Hannover)“ für die insgesamt 11.428 Männer und Frauen im Alter zwischen 16 und 40 Jahren repräsentativ über Gewalterfahrungen (und dabei auch über häusliche Gewalt durch Partner) befragt wurden. Die Items zum Erleben körperlicher Gewalt innerhalb von Haushalt und Familie wurden von denjenigen Befragten beantwortet, die zum Befragungszeitpunkt mit einer erwachsenen Person in einem Haushalt lebten (n = 8.467; davon 4.431 Frauen und 4036 Männer). Die Fragen reichten von leichteren Formen von Gewalt (z. B. „Mit mir zusammenlebende Familien- oder Haushaltsmitglieder haben bei Streit oder Auseinandersetzungen mit einem Gegenstand nach mir geworfen“) bis hin zu schweren Formen (z. B. „Mit mir zusammenlebende Familien- oder Haushaltsmitglieder haben mir absichtlich Verbrennungen oder Verbrühungen zugefügt“). Die Lebenszeitprävalenz der häuslichen körperlichen Gewalt durch die Partnerin bzw. den Partner beträgt bezogen auf die Stichprobe von 8.467 Befragten 2,5 % (oder 3,8 % für Frauen und 1,3 % für Männer). Knapp die Hälfte der Gewaltbetroffenen berichteten von psychischen Folgen der Gewalt und ebenfalls knapp die Hälfte von körperlichen Folgen.

Anzumerken ist hier, dass auf Grund der Fragestellung Gewalt durch Partner, die nicht mit den Betroffenen zusammenlebten, ausgeklammert wurde (das ist zumindest der Schluss, den ich auf Grund der Fragestellungen ziehe). Insofern fallen Gewalterfahrungen in losen Partnerschaften sowie auch durch Ex-Partner raus, was vermutlich auch zu einem Teil erklärt, warum die Gewaltbetroffenrate deutlich niedriger ausfällt, als bei der Studie des BMFSFJ. Insofern sind die Ergebnisse nicht direkt mit den Ergebnissen des BMFSFJ (2004) vergleichbar.

Insgesamt berichteten außerdem in der Studie von Hellmann 4,9 % aller befragten Frauen, in ihrem Leben bereits sexuelle Gewalt („Hat Sie schon einmal jemand mit körperlicher Gewalt oder unter Androhung von Gewalt gegen Ihren Willen zum Beischlaf (Geschlechtsverkehr) oder beischlafähnlichen Handlungen gezwungen oder versucht, das zu tun?“) erlebt zu haben. Die meisten Übergriffe kamen dabei im Rückblick auf die letzten 5 Jahre von Ex-Partnern oder aktuellen Partnern, vermutlich gilt diese Tendenz auch für die Betroffenen mit Blick auf das Leben ab dem 16. Lebensjahr.  Diese Zahl müsste jetzt noch mit der oben genannten Gewaltrate von 3,8 % bezogen auf körperliche Partnergewalt gekoppelt werden. Bei Hellmann wurden beide Gewaltformen allerdings nur getrennt dargestellt, so dass man nicht zu einer Aussage wie in der BMFSFJ-Studie kommen kann wie:  „hat mindestens einmal in ihrem Leben körperliche und/oder sexuelle Partnerschaftsgewalt erlebt“.

Die Studie von Hellmann hat allerdings zwei große Vorteile im Vergleich zu der BMFSFJ-Studie:

Erstens: Die Befragungen fanden 2011 statt. Somit haben wir ein aktuelleres Bild über Partnergewalt, zumindest bezogen auf die Gruppe der damals 16 bis 40Jährigen.

Zweitens: Die Studie von Hellmann ist direkt vergleichbar mit einer großen Befragung aus dem Jahr 1992 und erlaubt somit als einzige Dunkelfeld-Studie zum Thema „Häusliche Gewalt“ eine Trendaussage. Leider wurde in der Vergleichsauswertung die Partnergewalt nicht gesondert dargestellt. Insofern beziehen sich die nachfolgenden Ergebnisse auf den Gesamtkomplex der  Häuslichen Gewalt, was für diese Studie neben Gewalt durch Partner (was fast ein Drittel, nämlich 26,7 % der erfassten Fälle von Häuslicher Gewalt ausmacht) auch Gewalt zwischen Erwachsenen mit Tätern wie Eltern, erwachsenen Geschwistern oder anderen Haushaltsmitgliedern meint.

Betrachtet wurden Angaben zur häuslichen Gewalt bezogen auf die letzten 5 Jahre vor der Befragung einmal für das Befragungsjahr 1992 und für 2011. Ergebnis nur für die Frauen: Von 1992 bis 2011 hat sich die Prävalenz schwerer häuslicher Gewalt um 58 % und die Prävalenz leichtere Gewaltformen um 35 % für die Befragungsteilnehmerinnen reduziert. Beide Gewaltformen zusammen betrachtet hat sich das Risiko häuslicher Gewalt für Frauen in diesem Zeitraum um 42 % reduziert. (Hellmann 2014, S. 131, 178)

Trotz mancher Einschränkungen der Studie von Hellmann zeigt sich erneut, dass wir im Jahr 2018 sehr vorsichtig mit den Zahlen der BMFSFJ-Studie umgehen sollten, wenn es darum geht, die heutige Situation von Frauen in Partnerschaften zu beurteilen.

Was die aktuellere Situation betrifft, sind vielleicht auch nachfolgende Daten von Interesse:

Für eine Untersuchung (Landeskriminalamt Mecklenburg Vorpommern, Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes MV &Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald (2017): Erste Untersuchung zum Dunkelfeld der Kriminalität in Mecklenburg-Vorpommern) zum Dunkelfeld der Kriminalität in Mecklenburg-Vorpommern wurde die Bevölkerung ab 16  bis über 80 Jahre zum Kriminalitäts-Erleben im Jahr 2014 befragt. In der Untersuchung wurde auch die Häusliche Gewalt in Partnerschaften abgefragt. Von den 3.170 Befragten gaben 1.746 Personen an, im vergangenen Jahr zumindest kurzfristig einen festen Partner gehabt zu haben. 36 von insgesamt 3.170 Befragten (1,2 %) gaben an, durch eine oder mehrere Straftaten der Häuslichen Gewalt geschädigt worden zu sein (körperliche, sexuelle und/oder psychische Gewalt). (S. 81) Obwohl hier also auch noch psychische Gewalt abgefragt wurde, ist der Wert auf relativ niedrigem Niveau. Wenn man die Gewalt nur auf die Menschen bezieht, die einen Partner hatten (36 von 1.746), dann kommt man auf eine Rate von rund 2 %. Hierbei muss nochmal hervorgehoben werden, dass auch psychische Gewalt mit einbezogen wurde. 98 % der Menschen in Partnerschaften in Mecklenburg Vorpommern erlebten im Jahr 2014 also eine durchgängig gewaltfreie Zeit.

Ein wenig Licht ins Dunkel bringen auch zwei große KFN-Studien aus Niedersachen, einmal aus dem Jahr 2013 (9512 befragte Schüler) und einmal aus 2015 (10638 befragte Schüler). 2013 berichteten 4,7 % aller Befragten, dass sie Gewalt zwischen ihren Eltern beobachtet hatten; 2015 waren es 4,6 %. Interessant sind auch Unterschiede je nach Herkunft: 2015 berichteten 2,9% der deutschen Schüler, dass sie Gewalt zwischen den Eltern miterlebt hatten; Schüler mit Migrationshintergrund berichteten dies zu 9,6 %, was dann den Durchschnittswert von 4,6 % für alle Schüler ergibt (Bergmann et al. (2017): Jugendliche in Niedersachsen. Ergebnisse des Niedersachsensurveys 2013 und 2015. Forschungsbericht Nr. 131. Hannover. S. 120) Die große Mehrheit der Kinder und Jugendlichen erleben also eine gewaltlose Zeit, ebenso wie ihre Eltern. 

Was sich mit Blick auf alle genannten Studien nicht klären ließ, ist der Anteil von männlichen Tätern. Ich gehe davon aus, dass viele Männer Mehrfachtäter sind, wenn es um Gewalt gegen die Partnerin geht. Sprich wenn sie grundsätzlich zu Gewalt neigen, werden sie mehr als ein Opfer hinterlassen. Den 25 % gewaltbetroffenen Frauen aus der BMFSFJ-Studie werden also nicht 25 % Männer in der Bevölkerung gegenüberstehen. Auf Grund der Datenlage lässt sich dieser Teil nicht abschließend klären. Dazu bräuchte es Täterbefragungen und dabei auch Fragen über die Anzahl der Opfer.

Zusammenfassende Bewertung und Kommentar:


In Medienberichten wird nach meinem Eindruck immer wieder recht leichtfertig mit Zahlen hantiert. Berichte über schwere Fälle von häuslicher Gewalt und in Frauenhäuser geflohenen Frauen werden die beiden Zahlen 25 % und/oder 22 % aus den beiden oben genannten Studien angehängt. Dadurch entsteht meiner Meinung nach ein verzerrtes Bild in der Öffentlichkeit und es werden Ängste geschürt, die nur teilweise begründet sind.

Meine aller erste Kritik an den Umgang mit diesen Zahlen ist, dass sie weitgehend ein Bild über die Vergangenheit aufzeigen. Bei gut einem Drittel der Frauen waren die Gewalthandlungen in der Partnerschaft innerhalb der letzten 5 Jahre (ca. 1998-2003) aufgetreten, bei einem weiteren Drittel vor 6-20 Jahren (ca. 1983-1997), bei 17% war dies länger als 20 Jahre (Jahre vor 1983) her und 13% machten hierzu keine Angaben. (BMFSFJ 2004, S. 239). Die Befragten bilden die weibliche Bevölkerung der Geburtsjahrgänge zwischen ca. 1918 und ca. 1987 ab. Außerdem wurden die Befragungen für die 2004 veröffentlichte BMFSFJ-Studie im Jahr 2003 durchgeführt. Was in den 15 Jahren seitdem passiert ist, wissen wir nicht.  Wir können auf Grund dieser Angaben sagen, das mit Sicherheit nicht 25 % der Frauen in Deutschland relativ aktuell von häuslicher Gewalt betroffen sind. Die Daten der Studie erlauben auch keine Aussage dahingehend, ob Gewalt in Paarbeziehungen abgenommen oder zugenommen hat, weil es keine Vergleichsstudie gibt.

Die oben aufgezeigten Daten zeigen außerdem, dass die Gewalt von ca. der Hälfte der gewaltbetroffenen Frauen einmalig oder sehr selten erlebt wurde. Schwere Fälle von häufiger häuslicher Gewalt sind in der Minderheit. Entsprechend macht es überhaupt keinen Sinn, wenn medial schwere Fälle mit Prozentsätzen wie den 25 % untermauert werden.

Das Wortpaar „Häusliche Gewalt“ erzeugt in jedem Menschen Bilder und einen Deutungsrahmen. Ich vermute sehr stark, dass die meisten Menschen beim Lesen und Hören dieses Wortpaares im ersten Moment relativ heftige Bilder vor sich haben und diese dann mit den 25 % verknüpfen, wenn diese Zahl genannt wird. Das gedankliche Ergebnis wäre dann: Die Welt in Deutschland ist sehr schlecht für Frauen und sehr viele Männer sind häusliche Gewalttäter. In diesen 25 % steckt allerdings eine große Bandbreite: im niedrigsten Bereich z.B. Frauen, die vielleicht vor über 30 Jahren einmal von ihrem Partner weggeschubst worden sind und ansonsten nie wieder Gewalt erlebt haben. Und im extremsten Bereich Frauen, die über 40 Mal Partnergewalt erlitten haben, dabei z.B. Verbrennungen, Drohungen mit Waffen und Schläge mit der Faust oder Gegenständen. Dazwischen gibt es etliche Abstufungen und Grautöne.

Ausgeklammert bleibt in der Berichterstattung auch der nachgewiesene Rückgang von häuslicher Gewalt. Dieser Rückgang passt zu einem allgemeinen langfristigen Trend des Gewaltrückgangs im häuslichen Bereich, dabei vor allem dem Rückgang von Gewalt gegen Kinder.

Der Rückgang von Gewalt gegen Kinder beschleunigt seinerseits wiederum den Rückgang von Gewalt gegen Frauen in Partnerschaften (auch dies wird medial oft nicht besprochen), denn zwischen erlebter Gewalt in der Kindheit und später ausgeübter Gewalt gegen Partner finden sich starke Zusammenhänge (siehe dazu z.B. Whitfield, C. L.; Anda, R. F.; Dube, S. R. & Felitti, V. J. (2003): Violent childhood experiences and the risk of intimate partner violence in adults: assessment in a large health maintenance organization. In: Journal of Interpersonal Violence. Vol. 18, Issue 2, S. 166–185. und Temple, J. R. et al. (2018): Childhood Corporal Punishment and Future Perpetration of Physical Dating Violence. In: The Journal of Pediatrics. Volume 194, S. 233–237.) und McKinney, C. M., Caetano, R., Ramisetty-Mikler, S., & Nelson, S. (2009). Childhood family violence and perpetration and victimization of intimate partner violence: findings from a national population-based study of couples. Annals of epidemiology, 19(1), S. 25–32.)

Auch auf der Opferseite gibt es starke Zusammenhänge. Hellmann schreibt, dass eine "gewalttätige Sozialisation durch die Eltern bzw. sonstigen Erziehungspersonen das größte Risiko für eine spätere Reviktimisierung in Form von partnerschaftlicher Gewalt" darstellt (Hellmann 2014, S. 113f). Das Beobachten von Gewalt zwischen den eigenen Eltern in der Kindheit (Faktor 1,7),  selbst erlebte leichte körperliche Gewalt (Faktor 2,8) bzw. schwere körperliche Gewalt (Faktor 6,8) durch die Eltern bzw. weitere Erziehungspersonen ist mit einem erhöhten Risiko assoziiert, als Erwachsener von der Partnerin bzw. dem Partner misshandelt zu werden. Anders ausgedrückt: Frauen, die z.B. schwere körperliche Gewalt in der Kindheit erlitten haben, weisen ein fast siebenmal (Faktor 6,8) höheres Risiko auf, körperliche Gewalt durch ihre Partnerin bzw. ihren Partner zu erfahren, als Frauen, die nie körperliche Gewalt erlitten haben. 
Ganz ähnliche Ergebnisse kommen aus den USA. Frauen, die als Kind körperlich misshandelt wurden oder Gewalt miterlebt haben, haben ein deutlich erhöhtes Risiko, später selbst häusliche Partnergewalt zu erleben (Bensley L, Van Eenwyk J, Wynkoop Simmons K. (2003): Childhood family violence history and women’s risk for intimate partner violence and poor health. American journal of preventive medicine. 25(1), S. 38–44.).

Man könnte auch zugespitzt formulieren, dass aus Opfern mit einer deutlich erhöhten Wahrscheinlichkeit erneut Opfer werden. Diese Feststellung soll Betroffenen keine Schuld zuschieben (die Verantwortung für sein Handeln trägt der Täter). Allerdings stützen diese Befunde die Vermutung, dass Menschen, die eine destruktive und gewalttätige Kindheit hatten, später Probleme damit haben, Menschen zu erkennen, die ihnen nicht gut tun, Grenzen (rechtzeitig) zu setzen oder sich zu wehren (z.B. durch Verlassen des destruktiven Partners). Ein Rückgang von elterlicher Gewalt gegen Kinder wirkt also in doppelter Hinsicht: die Tätergenese sowie auch die Opfergenese wird dadurch reduziert.

Ausgeklammert bleibt ebenfalls eine historische Einordnung. Das Züchtigungsrecht des Ehemannes gegenüber seiner Frau wurde im Deutschen Reich erst 1928 abgeschafft. Vorher gab es ein verbrieftes Recht dafür, die Ehefrau zu schlagen. Ich habe mich nicht in die Geschichte der häuslichen Gewalt gegen Frauen vertieft, aber es leuchtet ein, dass vor über 100 Jahren sicherlich nicht 75 % aller deutschen Frauen keinerlei körperliche und/oder sexuelle Gewalterfahrungen seitens des Partners erlitten haben, so wie dies die o.g. BMFSFJ-Studie für einen Frauenbevölkerungsschnitt nachgewiesen hat. 

Zu guter Letzt möchte ich schreiben, dass ich der Letzte bin, der die Augen vor Gewalt verschließt. Ich habe in meinem Blog bewiesen, dass ich hinsehen kann und will. Das grundsätzliche Ziel ist eine gewaltfreie Gesellschaft. Ich bin aber immer auch für einen unaufgeregten und sachlichen Umgang mit Zahlen und Daten. Ich persönlich möchte wissen, in was für einer Welt und in was für einem Land ich lebe. Dazu gehört der Blick in Abgründe (das vorhandene Ausmaß der Gewalt), aber auch auf Lichtblicke. Die große Mehrheit der Frauen in Deutschland lebt gewaltfrei in Partnerschaften und erfährt im gesamten Leben keine Gewalt durch ihren Partner. Aktuellere Studien als die des BMFSFJ zeigen ein deutlich geringeres Ausmaß der Gewalt und auch einen Rückgang mit Blick auf eine Vergleichsstudie (wie oben gezeigt). Auch darum sollte man und frau wissen.