Freitag, 30. Oktober 2009

Amokläufer Tim K. - neue Details

Über den Amokläufer Tim K. tauchen neue Details auf. Die EMMA berichtet über "schwierige Familienumständen" (übrigens ohne weiter darauf einzugehen). Der Gutachter Professor Reinmar du Bois diagnostiziert eine "masochistische Persönlichkeitsstörung" und vermutet, der 17-Jährige habe seine "Opferrolle in eine Täterrolle verkehrt" („Was auch immer das genau bedeuten mag, es deutet auf jeden Fall auf ein schwer ¬gestörtes Verhältnis von Tim K. zu Frauen“, kommentiert die EMMA). Die Psychiaterin, bei der sich Tim untersuchen ließ, diagnostiziert einen Verdacht auf "atypischen Autismus" und "eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung und Spielsucht". (vgl. EMMA, Nov./Dez. 2009: „Es war Frauenhass“, )

Die ganze Welt sei schlecht, er wolle "Menschen erschießen", sagte Tim K. seiner Therapeutin, laut Stern. Das psychologische Gutachten über den Amokläufer von Winnenden, das der Staatsanwaltschaft Stuttgart vorliegt, beschreibt einen Jugendlichen, der von Hass und Gewaltphantasien besessen war. (vgl. Stern.de, 08.09.2009, „Die Gewaltphantasie des Tim K.„)

In den Medien tauchen – zusätzlich zu den bereits benannten - auch Beschreibungen wie „manisch-depressiv“ (FAZ.NET, 09.09.2009: „Die Eltern sind mitverantwortlich“) auf oder es wird von „Stimmungsschwankungen“ und einer "sozialen Phobie" (SPIEGEL Online) berichtet. Die Atmosphäre innerhalb der Familie wird – laut vorgenannten FAZ-Artikel - von Tims Schwester als „gefühlskalt“ beschrieben.

Die Frage, die allen Berichten gemein ist, lautet: Wo waren die Eltern? Was ist mir deren Verantwortung? Die psychische Situation des Sohnes hätten sie doch sehen müssen. Usw.

Ich finde den Umgang mit Persönlichkeitsstörungen in den Medien oft zu oberflächlich. Geschrieben wird über Diagnostik und definierte Störungsbilder. Wie diese Störungen eigentlich entstehen, interessiert nicht wirklich. Die Mainstreammedien Stern, FAZ und SPIEGEL beschreiben rein die Feststellungen des Gutachters. Die EMMA schliddert haarscharf an tieferen Ursachen vorbei, indem sie auf die Erwähnung des Opfer-Täter-Kreislaufes bemerkt: „Was auch immer das genau bedeuten mag (…)“, um dann die tieferen „Wurzeln des Übels“ vor allem in einer gestörten Männlichkeit zu suchen.

Es wirkt oft so, als ob die Menschen glauben, dass eine schwere Persönlichkeitsstörung quasi vom Himmel fällt oder gar in den Genen liegt. Dass diese i.d.R. mit leidvollen Kindheitserfahrungen zusammenhängen…das Eisen scheint zu heiß, das will keiner richtig berühren. Wenn die Atmosphäre in Tim K.s Familie "gefühlskalt" war – und dies ist nur ein Begriff aus dem Mund der Schwester, was sich dahinter alles verbergen mag, werden wir kaum erahnen können – , dann macht es wenig Sinn, von diesen gefühlskalten Eltern Verantwortungsbewusstsein zu erwarten. (Was nicht bedeutet, dass man sie nicht zur Verantwortung ziehen sollte.) Wenn man bereit wäre, hinzuschauen, würde man nicht fragen: „Wo waren die Eltern?“, sondern man würde sagen: „Die Eltern waren nie da. Wo war das Umfeld, das hätte eingreifen sollen und wo war der Kinderschutz?“

Um noch einen deutlicheren Bogen zu diesem Blog zu spannen: Ich frage mich, was mit Menschen passiert, die ähnliches in ihrer Familie erlebten wie Tim K. und einfach nur in anderen Regionen wohnen? Ich denke z.B. an den Irak oder Palästina. Der kulturelle Kontext leitet dann sehr wahrscheinlich die Hass- und Rachegefühle. Statt in einer Schule ein Massaker anzurichten, würde ein entsprechend geprägter Mensch vielleicht als Selbstmordattentäter amerikanische Soldaten töten oder mit einem Sprengstoffgürtel umhüllt in ein israelisches Cafe laufen. Der kulturelle Rahmen lenkt die Ausformungen des Hasses, die Ursachen des Hasses aber liegen in den Familien.
Übrigens: Auf Tims Computer fand die Polizei auch Spuren, denen zufolge der Schüler immer wieder zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001 recherchiert hatte. Letztmalig am 8. März (3 Tage vor dem Amoklauf), als er bei Wikipedia unter anderem die Seiten über "Mohammed Atta" und "Abdulaziz al-Omari" aufrief; beide starben als Attentäter an Bord der entführten Flugzeuge, die in die Türme des World Trade Center einschlugen. Fotos der einstürzenden Wolkenkratzer hatte Tim K. ebenso gespeichert wie Dokumente zum Film "Flug 93". (vgl. SPIEGEL Online)


siehe ergänzend auch Artikel:
"Interview mit Beinahe-Amokläufer"
"Amoklauf von Winnenden und die Medien"

Donnerstag, 29. Oktober 2009

Arno Gruen und Sozialwissenschaft, geht das zusammen?

Zufällig bin ich auf einen Text von Dr. Jürgen Haberleithner gestoßen, in dem er sich mit den Grundthesen des Psychoanalytikers Arno Gruen befasst. So weit ist dies nicht unbedingt etwas erwähnenswertes. Nun schrieb ich u.a. auch im vorangegangen Beitrag, dass mir immer wieder auffällt, wie blind sich die Sozialwissenschaft gegenüber Thesen von Gruen und anderen wie lloyd deMause und Alice Miller stellt. Dewesegen finde ich den Text von Haberleithner hier unbedingt erwähnenswert, denn der Text entstand anlässlich der politikwissenschaftlichen Untersuchung „Sozialpsychologische Ansätze in den Internationalen Beziehungen“ an der UNI Wien und der Autor ist Sozialwissenschaftler. Entsprechend macht er sich auch kurz Gedanken darüber, wie die Sozialwissenschaft sich mit Gruens Thesen auseinandersetzen könnte. Das ist doch mal klasse!

Es wäre schön, wenn sich immer mehr auch SozialwissenschaftlerInnen diesem Thema annehmen würden. Gibt es doch im Grunde genügend spannende Anknüpfungspunkte zu gesellschaftlichen Theorien. Gerade auch die jüngere Generation von WissenschaftlerInnen, die weniger eigenen Traumatisierungen in der Kindheit ausgesetzt war, als noch die Generation davor, könnte hier neue Wege gehen. Wir werden sehen.

(Meine Art Psychoanalyse und Sozialwissenschaft bei diesem Thema zusammenzubringen kann man hier nachlesen)

Dienstag, 27. Oktober 2009

Kurzer Rückblick: Erfahrungen und Erkenntnisse

Der Text über die Gewalt gegen Kinder in Entwicklungsländern hat mir erneut etwas deutlich gemacht. Seit dem Jahr 2003 recherchiere ich mal mehr mal weniger zum Thema Kriegsursachen. Es verhielt sich dabei eigentlich immer so, dass sich die Verbindungslinie zur Kindesmisshandlung immer offener zeigte, je mehr Informationen ich zusammentrug. Es ging eigentlich nie in die andere Richtung. Dabei war ich oft gar nicht all zu voreingenommen. Beispielsweise bzgl. dem Diktator Saddam Hussein vermutete ich vor meinen Recherchen zwar ein hohes Ausmaß an Gewalterfahrungen in dessen Kindheit. Was ich fand übertraf allerdings meine Erwartungen. Ähnlich ging es mir bei George W. Bush. Ich hätte damals nie damit gerechnet, dass ein J. A. Frank gleich ein ganzen Buch über die besagten Zusammenhänge über ihn schrieb: „Bush auf der Couch. Wie denkt und fühlt George W. Bush? „ In dem erhebliche traumatische Erfahrungen in seiner Kindheit aufgezeigt werden. Ein wichtiges Buch, das leider – so weit ich es wahrnehmen konnte – in der Öffentlichkeit kaum Beachtung fand.
Nie fand ich in der Kindheit von Diktatoren oder demokratischen Kriegstreibern eine Kindheit, die von Liebe, Wärme, Respekt und Freiheit bestimmt war. Immer war es das glatte Gegenteil, fand ich geschlagene und vernachlässigte Kinder, so dass es schon fast ein Wunder ist, dass da bisher so wenig hingeschaut wird.

Sehr erstaunt haben mich auch ausführliche und hintergründige Texte von Alenka Puha (z.B. dieser), die über die unglaublich lange Tradition der schweren Kindesmisshandlung und des Kindesmissbrauchs im ehemaligen Jugoslawien schrieb und die einen direkten Zusammenhang zum Bürgerkrieg zog. Wenn man die Texte gelesen hat, fällt es wirklich schwer zu sehen, dass diese Texte in der Analyse des Balkankrieges überhaupt keine Rolle in den Medien und auch der Politikwissenschaft gespielt haben. Eigentlich kaum zu fassen.

Und dann gab es immer wieder Biografen, deren Bücher ich las und die die Kindheit von Diktatoren beschönigten und/oder nicht richtig hinsahen. Ich habe das im Grundlagentext insbesondere an dem Buch über Stalin von dem Biografen Bullock festgemacht. Weitere Recherchen ergaben erneut ein Bild von einer Kindheit, in der Stalin kein helfender Zeuge zur Seite stand und in der er von beiden Elternteilen misshandelt wurde, während Bullock von einer „liebevollen Mutterbeziehung“ schrieb.

Kurz nach dem Beginn der israelischen Militäroperation „gegossenes Blei“ schrieb ich etwas über die Kindheit in Israel und die Kindheit in Palästina und versuchte dort Erklärungen für diesen Dauerkonflikt zu finden. Bzgl. Palästina hatte ich nicht viele Daten gefunden, nur Andeutungen von mittelalterlichen Erziehungspraktiken und eine Studie, die hohe Raten von sexuellem Missbrauch nachwies. In dem kürzlich erschienen UNICEF Report las ich dann, dass Palästina an der Spitze der untersuchten Länder stand: Hier erlebten nur 5 % der Kinder keine Gewalt! Erneut eine Bestätigung dafür, dass Frieden nicht möglich ist, wenn Kinder in diesem Ausmaß misshandelt werden.
(Es verwundert übrigens nicht, dass der UNICEF Report auch für Vietnam sehr hohe Gewaltraten gegen Kinder feststellte.)

Die Beispiele ließen sich fortführen.

Ich bin an einem Punkt, wo eigentlich weitere Forschung beginnen müsste. Forschung über die Lücken. Dafür bin ich allerdings weder ausgebildet noch habe ich Zeit und Möglichkeiten dafür. Ich denke an eine ausführliche Analyse dessen, was Kindheit in Ländern wie z.B. Ruanda, Sudan, Kambodscha, Kongo usw. bedeutete, bevor das Blutvergießen begann. Ich bin mir sicher, dass man hier mit einem geschulten Auge schnell fündig werden würde. Und umgekehrt wird man in Ländern, die einen komplexes soziales Netz entwickelt haben, die für friedlichen ökonomischen und kulturellen Austausch und für dauerhaften Frieden stehen, sehr wahrscheinlich eine Bevölkerungsstruktur vorfinden, in der keine Mehrheit schwer misshandelt und missbraucht wurde.

Dabei ist es nur eine menschliche Logik, dass Gewaltverhalten gerade auch in Form von Krieg einen tieferen (emotionalen) Hintergrund haben muss. Man braucht nicht unzählige Studien, um dies nachzuweisen. Jedem klar fühlenden und denkenden Menschen muss im Grunde bewusst sein, dass z.B. eine ökonomische Krise nicht in erster Linie für so etwas wie den Holocaust verantwortlich sein kann. Wenn ich aber Morgen in aller Öffentlichkeit losgehen würde und rufe: „Die extreme Gewalt gegen Kinder hat in der deutschen Geschichte für Leid gesorgt, insbesondere entstanden dadurch Kriege und Massenmord!“ Dann werde ich wohl i.d.R. für verrückt erklärt werden. Laufe ich los und rufe: „Die Wirtschaftskrise war schuld an all dem!“ dann wird keiner ein Problem haben. Es ist schon verrückt…

Samstag, 10. Oktober 2009

Gewalt gegen Kinder in Entwicklungsländern

Der UNICEF Report 2009 enthüllt u.a. extrem hohe Raten von körperlicher und psychischer Gewalt gegen Kinder in Entwicklungsländern. Angeführt wird die Liste von Palästina, Vietnam, Yemen und Ägypten. (vgl. UNICEF, 2009, S. 8)

In Palästina erleben nur 5 % der Kinder keine Gewalt, 70 % erleben psychische und körperliche Gewalt, 23 % erleben nur psychische Gewalt und 2 % nur körperliche Gewalt.

Zahlen für Vietnam: 6 % keine Gewalt, 58 % psychische+körperliche, 32 % nur psychische, 4 % nur körperliche

Zahlen für Yemen: 7 % keine Gewalt, 81 % psychische+körperliche, 10 % nur psychische , 2 % nur körperliche

Zahlen für Ägypten: 8% keine Gewalt, 68 % psychische+körperliche , 22 % nur psychische, 2 % nur körperliche

Über 80 Prozent aller Kinder in einer Reihe von weiteren arabischen und westafrikanischen Ländern erleben Gewalt in der ein und/oder anderen Form. Unter 80 % fallen dann abnehmend bis zu ca. 50 % einige osteuropäische Staaten.

In den ausgewählten sechs lateinamerikanischen und karibischen Staaten erleben durchschnittlich 83 % aller Kinder mindestens eine Form von Gewalt. (ebd. S. 31)

UNICEF weist darauf hin, dass die Gewalt gegen Kinder meist von Menschen ausgeht, die die Kinder kennen: Eltern, Stiefeltern, Lehrer usw.

Quelle: UNICEF, September 2009: Progress for Children - A Report Card on Child Protection.

In dem Report werden die Formen der Gewalt nicht weiter ausdifferenziert (was auf Grund der vielen Daten verständlich ist). Zu vermuten wäre hier allerdings, dass z.B. hinter "körperlicher Gewalt" häufig körperliche Misshandlungen stehen und nicht hautsächlich Züchtigungen, sprich dass das Gewaltverhalten gegen Kinder insgesamt in Entwicklungsländern heftig (darauf weisen z.B. auch einzelne Infos hin, die ich hier zusammengestellt habe) und dadurch auch schädlicher und folgenreicher für die Kinder ist.

Im deutschen Vorwort zu dem Report heißt es ergänzend: Jedes dritte Mädchen in Entwicklungsländern wird als Kind verheiratet. In den Ländern Niger, Tschad und Mali liegt der Anteil der Kinderheiraten sogar bei über 70 Prozent, in Bangladesch, Guinea und der Zentralafrikanischen Republik sind es mehr als 60 Prozent.
Eine Gesellschaft kann sich nicht entwickeln, wenn ihre jüngsten Mitglieder in Kinderheiraten gezwungen, sexuell ausgebeutet und ihrer grundlegenden Rechte beraubt werden“, sagte UNICEF-Direktorin Ann Veneman. „Das Ausmaß der Kinderrechtsverletzungen zu erfassen ist ein erster Schritt, um eine Umgebung für Kinder zu schaffen, in der sie geschützt aufwachsen und sich entwickeln können.“

Dies ist eine Botschaft, die insbesondere auch von psychohistorischen ForscherInnen seit einigen Jahrzehnten verbreitet wird. Leider wird sie kaum gehört, so manches mal sogar belächelt und von der Sozial-/Politikwissenschaft i.d.R. erst gar nicht wahrgenommen. Dabei fehlt vor allem der Blick auf Zusammenhänge zwischen den kindlichen Gewalterfahrungen von breiten Bevölkerungsschichten, politischer Instabilität bis hin zu Krieg und letztlich einer fehlenden sozio-ökonomischen Entwicklung. Denn: Eine Gesellschaft kann sich nicht entwickeln, wenn die meisten ihrer Kinder missbraucht, misshandelt und vernachlässigt wurden und werden. Ihr fehlt zudem das Fundament für gewaltlose Konfliktaustragung und echte (auch emotionale) Demokratie.

Mein vorheriger Beitrag zu Lösungen für Afghanistan macht auf das ganze Dilemma aufmerksam. Der Westen versucht mit aller Gewalt einem nicht-entwickelten Land von oben Demokratie aufzudrücken. Gewaltmonopol, Wahlen, Verwaltung usw. sollen helfen, das Land zu stabilisieren.
In einem Land wie Afghanistan muss dagegen mit viel Einsatz und Empathie versucht werden, vor allem die Kindheit zu befrieden. Dies muss das oberste Ziel sein. Erst dann kann sich das Land wirklich auf den demokratischen Entwicklungsprozess begeben, den es ohne Zweifel nötig hat.