In der ARD-Dokumentation „Helmut Schmidt. Lebensfragen“ (am 23.12.2013 gesendet) hat der Altkanzler im hohen Alter Rede und Antwort über sein Leben gestanden. Dabei sagte er auch ein wenig etwas über seine Kindheit. (onine derzeit noch auf youtube)
„Meine Verbindung mit den Eltern war damals nicht sonderlich eng.“, so Schmidt im Laufe der Doku. (Was somit auch die Mutter einschließt, über die Schmidt in der Doku wenig berichtet.) Die Sendung beginnt gleich zu Anfang mit einer Szene zwischen Vater und Sohn. Der Vater will Helmut Fahrradfahren beibringen. Dabei ist er sehr streng, nimmt keine Rücksicht auf Verletzungen durch einen Sturz und sagt zu dem verletzten am Boden liegenden Helmut „Was sagen wir da, was sagen wir? Da lach ich drüber! Aufstehen und weiter!“
Seinen Vater beschreibt Schmidt so (und über sich selbst spricht er dabei in der dritten Person): „Abweisend, kühl, Schmusereien hat es nicht gegeben zwischen ihm und seinen beiden Söhnen.“
Nach der Frage des Interviewers, ob Schmidt sich an klassische Kinderängste erinnern könne, antwortet er zunächst mit einem bestimmten „Nein“. Der Interviewer hakt nach und zählt einige mögliche Ängste auf, am Ende auch Zornesausbrüche des Vaters. Schmidt hält kurz inne. „Bisweilen hatte ich Angst vor meinem Vater, vor den Prügeln, die ich kriegte.“ Der 1918 geborene Helmut Schmidt hatte allem Anschein nach eine damals klassische deutsche Kindheit, was einen autoritären Erziehungsstil bedeutete.
Für mich war zudem auch aufschlussreich, was über die Kriegsjahre berichtete wurde. Nach der Frage, warum er sich Freiwillig für Einsatz zur Ostfront gemeldet hatte, antwortetet Schmidt, dass er nicht „als Feigling durch die Gegend laufen“ wollte, „Alle jungen Soldaten hatten inzwischen das Eiserne Kreuz (…) und ich hatte das nicht, das war das ganze Motiv.“ Er äußert er sich anschließend auch kurz selbstkritisch über seine damalige Verrücktheit.
Auf Nachfrage gibt Schmidt sofort zu, dass er Menschen im Krieg getötet hat, diese habe er aber nicht gesehen. Er habe Flugzeuge abgeschossen und Dörfer in Brand geschossen. „Man hat den Feind selber kaum gesehen, man hat ihn nur geahnt.“ „Wenn man Dörfer in Brand geschossen hat, wusste man dann auch, dass Frauen und Kinder sterben würden.?“ fragt der Interviewer. Schmidt: „Das war einem nicht bewusst. Im Kriege ist in vielen Situationen das eigene Denken ausgeschaltet.„
Ich will mir hier kein Urteil über Schmidt und dessen Taten im Krieg erlauben. Mir geht es um etwas anderes. Schmidt ist ein vielschichtiger Mensch, ein hochintelligenter Mann und ein echter Demokrat. In diesem Blog bin ich schon mal durch einen Leser aufgefordert worden, mich auch mit den Lebenswegen von (politischen) Menschen zu befassen, die keine glückliche Kindheit hatten und trotzdem politisch konstruktiv (oder zumindest nicht zerstörerisch/kriegerisch) handelten. Ich denke, dass für einen solchen Lebensweg Helmut Schmidt ein gutes Beispiel ist, zumindest nach 1945.
Ich weiß nicht, wie es anderen Menschen geht, wenn sie Helmut Schmidt sehen und hören. Ich persönlich schätze sein weitschichtiges Denken und seine klare Sprache. Außerdem fährt er eine klare Linie und steht zu dem, was er denkt. Und er hat auch eine gewisse und sehr feste Moral, so scheint es mir. Aber mir fällt auch immer wieder auf, wie er sich emotionale Regungen verbietet, wie er diese zurückhält. Irgendetwas fehlt, denke ich immer, wenn ich ihn reden hören. Man ahnt immer, dass er emotional dabei ist, aber man sieht es nicht. Diese fehlende Emotionalität ist sicher zu einem nicht unwesentlichen Teil das Resultat von elterlicher Gewalt und der Distanz zum Kind, die Schmidt beschrieb, wie auch ergänzend den Kriegserfahrungen. Zudem ist auch sein Kettenrauchen eine mögliche klassische Folge von solch traumatischen Erfahrungen.
Helmut Schmidt ging im Nachkriegsdeutschland demokratische Wege und verdient sicherlich für vieles Respekt. Aber trotzdem erfüllt sein Handeln und Denken während der Kriegsjahre Grundannahmen dieses Blogs. Als junger Mensch wollte er freiwillig ganz Vorne an der Front dabei sein. Ihm fehlte ganz offensichtlich die emotionale Vorstellungskraft dafür, was Krieg bedeutet. Diese emotionale Lücke ist eine klassische Folge von destruktiver Erziehung.
Kein Mensch geht ohne Folgen aus einer lieblosen Kindheit heraus. Gerade auch direkte elterliche Gewalt, die Schmidt erfuhr, hat immer Auswirkungen auf das Leben des heranwachsenden Menschen. Diese Folgen können wir, denke ich, auch bei Helmut Schmidt sehen. Wir sehen aber auch, dass Menschen immer Individuen sind und dass sie ihren Lebensweg je nach Möglichkeiten mitgestalten. Gewalterfahrungen in der Kindheit führen nicht automatisch zu einem politisch (oder sonstigen) verbrecherischen Verhalten, das die entsprechende Persönlichkeit lebenslang durchzieht. Helmut Schmidt hat viel für Deutschland und die demokratischen Entwicklungen im Lande getan. Politisch war er alles andere als eine Gefahr für den Frieden oder die Demokratie.
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Ein weiterer Politiker und dessen Kindheit machte vor kurzem Schlagzeilen: Sigmar Gabriel (derzeit Vizekanzler).
Als Sigmar drei Jahre alt war, trennten sich seine Eltern und er musste gegen seinen Willen bei seinem Vater bleiben, einem überzeugten Nazi, der seinen Sohn oft verprügelte und ihn mit diversen Sanktionen und Strafen überzog. Beispielsweise verschenkte der Vater Sigmars gesamtes Spielzeug, nachdem der Sohn mit schlechten Noten nach Hause gekommen war. Erst als Sigmar 10 Jahre alt war, erstritt seine Mutter erfolgreich das Sorgerecht und Sigmar fühlte sich von ihr gerettet. (Allerdings entführte der Vater den Sohn zunächst und zwang diesen, seiner Mutter am Telefon zu sagen, er wolle beim Vater bleiben) Als Heranwachsender klaute Sigmar und zerstach Reifen, seine Mutter brachte ihn mit großer Mühe wieder in die richtige Bahn. (verwendete Quellen Bild, 10.01.2013, "SPD-Chef Sigmar Gabriel. Die Geschichte seiner schweren Kindheit" und Tagesspiegel, 11.01.2013, "Mein Vater, der Nazi") Und auch an anderer Stelle werden die Folgen der Misshandlung sichtbar. Der Focus schreibt: „Der Sozialdemokrat hat seine Vergangenheit bewältigt, eines jedoch kann er nicht abschütteln – seinen Jähzorn, den ihm laut „Zeit“ auch enge Freunde nachsagen.“
Sigmar Gabriel war als Kleinkrimineller durchaus gefährdet, weiter abzurutschen und ganz andere Wege zu gehen. Er hatte das Glück, eine Mutter zu haben, die ihm half.
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Vitali Klitschko hat sich nach seinem Rückzug aus dem Boxsport stark politisch in der Ukraine engagiert und ist dort derzeit ein wichtiger Oppositionspolitiker. Sein Bruder Wladimir Klitschko berichtete einst in einem Interview über seine Kindheit: „Als ich mal was ganz Schlimmes getan hatte, wusste ich, dass mir der Po versohlt wird. Also dachte ich: Wenn der Vater abends kommt, wird es hart. Aber ich dachte auch: Wenn die Mutter das schon geklärt hat, wird Vater gnädig sein. Dann habe ich den Gürtel aus einer Hose meines Vaters genommen und bin damit zur Mutter gegangen. Ich sagte ihr, dass ich etwas Schlimmes gemacht habe, und dass es nicht richtig war. Ich gab ihr den Gürtel in die Hand, guckte in ihre Augen und sagte: So, und jetzt schlag zu. Und dann habe ich ihr noch mit Tränen in den Augen gesagt: Komm, schlag! Mach es! Und dann ist unsere Mutter eingeknickt.“ (Tagesspiegel Online, 15.06.2011, "Politik ist ein Kampf ohne Regeln" ) Dieses Beispiel bracht er beiläufig, um zu erklären, wie er seine Mutter zum Mitwirken an den Dreharbeiten für den Film „Die Klitschkos“ überzeugen konnte. Die Interviewer gingen darauf nicht weiter ein. Mit dem Gürtel durch den Vater verprügelt zu werden, ist schwere körperliche Gewalt, ähnliches hat ganz sicher auch Vitali erlebt, der seinem Bruder auch nicht ins Wort fiel.
Die Klitschko Brüder haben beide einen Weg gewählt, um legal und in einem sportlichen Rahmen Gewalt auszuüben. Beide haben sich dabei eine sehr traditionelle Männlichkeit gebastelt, bei der Stärke und Dominanz zählt und Schwäche oder gar Ohnmacht nicht erwünscht ist. Wie Vitali sich politisch entwickelt, ist bisher nicht eindeutig vorhersehbar. Beide Brüder stehen eindeutig nicht für Gewalt (außerhalb des Ringes) und politischen Wahn.
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Arnold Schwarzenegger – berühmter Schauspieler, Bodybuilder und ehemaliger Gouverneur - von Kalifornien berichtete über seine Kindheit in Österreich erschütterndes: „„Ich wurde an den Haaren gezogen. Ich wurde mit einem Gürtel verprügelt. (…) Damals wurde der Willen von vielen Kindern gebrochen. Das war die österreichisch-deutsche Mentalität.“ Immer, wenn er geschlagen worden sei, so im Artikel weiter, habe er sich gesagt: „Hier bleibe ich nicht mehr lange. Ich will hier weg. Ich will reich sein. Ich will jemand werden.“ (schwaebische.de, 05.08.2004, "Arnold Schwarzenegger spricht über Prügel-Vater")
Auch bei Schwarzenegger kann man – so meine Wahrnehmung – deutlich die Folgen der Kindesmisshandlung sehen. Er bastelte sich eine harte und männliche körperliche Hülle und trat auf der Leinwand als gewaltvoller Actionheld auf, eine legale Art, Gewalt zu inszenieren. Als Gouverneur war er sehr umstritten, u.a. weil er für die Todesstrafe stand und Gnadengesuche ablehnte.
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Alle vier vorgestellten Politiker sind sehr unterschiedliche Menschen und gingen sehr individuelle Wege. Alle vier stehen im ersten Moment, wo man sich mit ihnen befasst, nicht für Gewalttäter oder gar politischen Wahn. Trotzdem lassen sich bei allen deutliche Folgen der Kindheitserfahrungen erkennen, bei jedem auf seine Weise und auch in unterschiedlichen Lebensabschnitten. (Um über weitere mögliche Folgen etwas sagen zu können, müsste man diese Menschen näher kennen.)
Kindesmisshandlung hat immer (destruktive) Folgen, die sich von Mensch zu Mensch unterschiedlich gestalten. Die Folgen hängen dabei vor allem auch von dem Ausmaß und dem erlitten „Gewaltmix“ ab. Die unterschiedlichen Ausformungen und Ausdrucksformen dieser Folgen sind ein wichtiger Grund dafür, warum stets argumentiert wird, dass die meisten Menschen, die als Kind misshandelt wurden, nicht zu Amokläufern, Massenmördern oder Gewalttätern werden. Auf Grund dieser Feststellung wird dann routinemäßig angezweifelt, dass die Kindheit von Gewalttätern eine bedeutsame Rolle spielt. Das Ausblenden der komplexen Folgen von Kindesmisshandlung und der Komplexität von menschlichen Lebenswegen ist etwas, dem ich demnächst einen eigenen Beitrag widmen werde.
Noch ein Nachgedanke: Eines ist bisher unbeantwortet. Entsprechen die Kindheiten von PolitikerInnen denen der Normalbevölkerung (was in vielen Teil der Welt auch heute noch bedeutet, dass die Mehrheit der politschen Klasse als Kind Gewalt erfuhr) oder gibt es Unterschiede, vielleicht sogar in der Hinsicht, dass einst ungeliebte Kinder besonders häufig nach politischer Macht streben? Aussagenkräftige Befragungen von Parlamentsangehörigen in diesem Sinne sind mir bisher nicht bekannt, aber vielleicht kommt ja mal ein Forschender darauf, dahingehend eine Befragung durchzuführen.
Donnerstag, 16. Januar 2014
Montag, 13. Januar 2014
Ehrenpreis für Woody Allen als Zeichen für Täteridentifikation
Woody Allen wurde der diesjährige Golden-Globe-Ehrenpreis für sein Lebenswerk verliehen. Diese Nachricht ließ mich heute Morgen - als ich sie im Radio hörte – kurz zusammenzucken.
Missbrauchsvorwürfe gegen Allen gibt es schon seit Jahren. Aber gerade Ende letzten Jahres machte seine Adoptivtochter Dylan Schlagzeilen, weil sie über ihre Kindheitserinnerungen und den erlittenen Missbrauch durch ihren Stiefvater berichtete. Ebenso wurde öffentlich, dass auch weitere Kinder von Allen den Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen haben. „Der jetzt 39-jährige Sohn Fletcher Previn (…) nahm sich sogar die Zeit, um aus jedem Familienfoto Allen mit Photoshop zu entfernen. Auch die Videos seien bearbeitet worden: `Wir können sie uns anschauen und das Gute sehen, ohne an das Böse erinnert zu werden`, erklärte er.“, berichtet die WELT.
Einen sehr deutlichen und hintergründigen Artikel findet man auch bei EMMA.
Für Allens Kinder ist es sicher nichts Neues, dass ihr Vater gesellschaftlich hoch geschätzt und geehrt wird. Der Golden-Globe-Ehrenpreis kommt zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt, kurz nach den Enthüllungen durch Dylan. Dieser Preis unterstreicht somit ganz besonders, dass sich viele Menschen lieber mit dem Aggressor identifizieren, als den Wahrheiten ins Gesicht zu schauen. Das ist etwas, was nicht nur im Fall Allen gesellschaftlich wie auch politisch relevant ist. Das „mit dem Täter identifiziert sein“ und „das Opfer nicht sehen wollen“ ist ein Grundproblem vieler Gesellschaften. Dieses Problem ist wiederum eine Folge der weit verbreiteten Gewalt gegen Kinder.
Missbrauchsvorwürfe gegen Allen gibt es schon seit Jahren. Aber gerade Ende letzten Jahres machte seine Adoptivtochter Dylan Schlagzeilen, weil sie über ihre Kindheitserinnerungen und den erlittenen Missbrauch durch ihren Stiefvater berichtete. Ebenso wurde öffentlich, dass auch weitere Kinder von Allen den Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen haben. „Der jetzt 39-jährige Sohn Fletcher Previn (…) nahm sich sogar die Zeit, um aus jedem Familienfoto Allen mit Photoshop zu entfernen. Auch die Videos seien bearbeitet worden: `Wir können sie uns anschauen und das Gute sehen, ohne an das Böse erinnert zu werden`, erklärte er.“, berichtet die WELT.
Einen sehr deutlichen und hintergründigen Artikel findet man auch bei EMMA.
Für Allens Kinder ist es sicher nichts Neues, dass ihr Vater gesellschaftlich hoch geschätzt und geehrt wird. Der Golden-Globe-Ehrenpreis kommt zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt, kurz nach den Enthüllungen durch Dylan. Dieser Preis unterstreicht somit ganz besonders, dass sich viele Menschen lieber mit dem Aggressor identifizieren, als den Wahrheiten ins Gesicht zu schauen. Das ist etwas, was nicht nur im Fall Allen gesellschaftlich wie auch politisch relevant ist. Das „mit dem Täter identifiziert sein“ und „das Opfer nicht sehen wollen“ ist ein Grundproblem vieler Gesellschaften. Dieses Problem ist wiederum eine Folge der weit verbreiteten Gewalt gegen Kinder.
Montag, 6. Januar 2014
Aage Borchgrevink: "A Norwegian Tragedy". Ein Lehrstück über die tieferen Ursachen von Terror.
"Violence is the mother of change."
(Anders Behring Breivik in seinem "Manifest")
Das Buch des Autors Aage Borchgrevink über das Massaker von Utøya und Anders Breivik ist Ende letzten Jahres auch in englisch unter dem Titel „A Norwegian Tragedy. Anders Behring Breivik and the Massacre on Utøya“ im Polity Verlag, Cambridge (UK) / Malden (USA) erschienen. Die erste Veröffentlichung war in norwegischer Sprache im Jahr 2012 (Ich selbst konnte bisher das Buch nur indirekt an Hand eines Medienartikels besprechen, was sich jetzt dank der englischen Übersetzung ändert.)
Seit dem ist einige Zeit vergangen und man möchte meinen, dass die deutsche Presse zumindest nach der englischen Veröffentlichung das in Norwegen mit dem "Kritikerpreis" ausgezeichnete Buch ausführlich bespricht. Aber fehl gedacht. Online hat einzig die Bild unter dem gewohnt reißerischen Titel „Der Hass kommt von der Mutter“ einigermaßen ausführlich berichtet. Außerdem gibt es noch einen kurzen Bericht unter shortnews. Das war es.
Ich bin insofern hoch motiviert, das deutschsprachige Internet um die wesentlichen Rechercheergebnisse des Autors zu bereichern. Der Fall Breivik ist einzigartig und ein Lehrstück für die Gewaltforschung, da dieser Massenmörder im Alter von knapp vier Jahren Anfang 1983 - nachdem seine Mutter, Wenche Behring, das „State Centre for Child an Youth Psychiatry“ (SSBU) erneut um Hilfe ersucht hatte – zusammen mit seiner Mutter drei Wochen lang stationär aufgenommen und von einen Fach-Team bestehend aus ganzen acht Personen beobachtetet und analysiert wurde.
Bereits Mitte 1981 hatte Breiviks Mutter das Sozialamt um Hilfe mit ihrem ca. 2 ½ Jahre alten Sohn gebeten, da sie überfordert war und ihren kleinen Sohn als ruhelos, gewalttätig und voller Eigenarten empfand. Anders wurde daraufhin für einige Zeit an den Wochenenden fremduntergebracht, bis die Mutter dies wieder auflöste. Mit ihrer Tochter dagegen war Wenche eng verbunden, attackierte aber ihren Sohn. (S. 28+29) Bereits während der Schwangerschaft wollte die Mutter Anders abtreiben, da sich bereits Probleme in ihrer Partnerschaft abzeichneten, sie verpasste aber den Stichtag. (S. 262) Während der Schwangerschaft empfand sie den Fötus bereits als schwieriges Kind, das rastlos war und sie trat. (Anmerkung: Sichwort "Fötales Drama" nach Lloyd deMause) Nach 10 Monaten Stillzeit stoppte sie diese, weil sie meinte, das starke und aggressive Saugen würde sie zerstören. (S. 262)
Der SSBU Bericht zeigte weiterhin folgendes:
Der vier Jahre alte Enders Breivik wusste in einem Spielzimmer nichts mit Spielsachen anzufangen, im Spiel mit anderen Kindern fehlte ihm Vorstellungskraft und Empathie und er konnte seine Gefühle nicht ausdrücken. (S. 29)
Seine Mutter pflegte eine doppelte Kommunikation mit ihrem Sohn, stieß ihn von sich weg und zog ihn hinterher wieder eng an sich heran. Dies ging soweit, dass sie ihrem Sohn sagte, sie wünschte, er wäre tot und einem Mitarbeiter der Sozialbehörde ebenfalls sagte, dass sie ihren kleinen Sohn loswerden wolle, was auch immer sie damit meinte. Die Mutter dachte in schwarz und weiß, sah alles als Fehler Anderer, konnte nicht über sich selbst reflektieren, konnte ihrem Sohn keine deutlichen Grenzen setzen, ließ diesen oft alleine zu Hause, konnte nicht mit ihm umgehen, fühlte sich durch ihn provoziert usw. (S. 28+31+32+259+263) Aage Borchgrevink kommentiert all dies mit dem Begriff „Emotionale Misshandlung“ (S. 31) und stellt dem Gutachten folgend die Vermutung in den Raum, dass Wenche Behring an einer Borderline Persönlichkeitsstörung leidet. (S. 33) Sie selbst war als Kind schwer belastet. Ihr Vater verstarb früh, sie selbst erlebte emotionale und körperliche Misshandlung und eine sehr gestörte Mutter-Tochter-Beziehung. (S. 264) Außerdem musste sie einige Jahre in einem Kinderheim verbringen. (S. 265)
Borchgrevink fasst noch mal die gestörte Mutter-Sohn-Beziehung zusammen: „Together, Anders and his mother wandered arround like aliens on Earth, visitors from another planet who could not understand what they should feel or what they should do in the playroom. They were united in a deeply ambivalent relationship, occasionally escaping restlessly to seek confirmation from the outside world, but always finding their way back to each other.” (S. 34)
Diese ambivalente oder auch symbiotische Beziehung beinhaltete auch, dass Anders durch seine Mutter sexualisiert wurde bzw. sie – dem Bericht des SSBU folgend – ihre "paranoiden aggressiven und sexualisierten Ängste vor Männern auf ihren Sohn projizierte." (S. 259+260; eigene Übersetzung) Sexueller Missbrauch konnte nicht nachgewiesen werden, steht aber im Raum. Borchgrevink zitiert dabei auch einen Medienbericht, der sich auf zwei unterschiedliche Quellen bezieht, die beide sexuellen Missbrauch nahelegen. (S. 256)
Wenche Behring berichtete den Mitarbeitern des SSBU auch, dass sie ihren Sohn schlug und er dann rief: „Es tut nicht weh, es tut nicht weh.“ (S. 262) Das Ausmaß der körperlichen Gewalt ist nicht belegt. Ich selbst vermute aber, dass das Kind sich schon früh emotional abschalten musste, um in dieser allgemeinen Atmosphäre der Gewalt und Vernachlässigung zu überleben. Ein solches Kind kann dann in der Tat keinen Schmerz mehr empfinden.
Das Team des SSBU war nach der Begutachtung der Familie extrem beunruhigt, machte sich Sorgen um mögliche ernsthafte psychische Folgen für Anders und forderte, dass der Junge von seiner Mutter getrennt werden müsse, etwas, das zur damaligen Zeit in Norwegen nur in extrem schwierigen Fällen gefordert wurde. (S. 26+27+32)
Nachdem Anders - von der Familie getrennt lebender - Vater sorgenvolle Warnmeldungen durch Nachbarn und auch den Bericht des SSBU erhalten hatte, wollte er gerichtlich das Sorgerecht erstreiten. Dies scheint ein Wendepunkt gewesen zu sein. Anders Mutter mobilisierte all ihre Kraft, um gegen ihren Ex-Mann zu kämpfen (S. 34), den sie schon vorher als Monster beschrieben hatte, weil er sie für verrückt hielt. (S. 27) Um es kurz zu fassen. Die Mutter gewann vor Gericht, behielt das Sorgerecht, eine staatliche Kinderschutzstelle besuchte die Familie noch einige male und fand nichts Ungewöhnliches vor, was Grund zur Sorge gab. Borchgrevink fragt sich zu Recht, ob die Mutter damals gezielt eine Fassade aufbaute. (S. 36)
Nach den Taten ihres Sohnes wurde sie befragt und gab falsche Angaben zu den damaligen Abläufen. Sie sagte u.a. aus, dass es keinerlei Befürchtungen bzgl. Anders Entwicklungen als Kind gab und dass die Begutachtung des SSBU ein Resultat des Sorgerechtsstreites mit ihrem EX-Mann war, obwohl es genau umgekehrt war. (S. 140) . Borchgrevink befasst sich am Ende des Buches u.a. mit den aktuellen Kinderschutzauffassungen in Norwegen und meint, dass Anders Breivik nach einem Gutachten wie des der SSBU Anfang der 80er Jahre heute von seiner destruktiven Mutter getrennt worden wäre. (S. 270) Doch damals waren die Zeiten und Einstellungen zu Kindern und Familie noch anders.
Anders Breivik selbst sagte nach seiner Inhaftierung, dass er sich nicht an seine frühe Kindheit und auch nicht an die Zeit der Begutachtung durch den SSBU erinnern könne. (S. 266) ("I haven´t really had any negative experiences in my childhood in any way.”, schrieb der norwegische Attentäter auch in einem mit sich selbst geführten Interview innerhalb seines kranken „Manifestes“ auf Seite ca. 1387. Was letztlich nur eine klassische Folge von Kindesmisshandlung ist, da diese schmerzlichen Erinnerungen abgespalten werden.) Soweit ich mich an Medienberichte erinnere, hat Breivik auch vor Gericht nichts über seine traumatische Kindheit gesagt und seine Mutter zog – nach erster Einwilligung – die Entbindung von der Schweigepflicht der SSBU zurück, so dass die oben genannten Details vor Gericht nicht ausgeführt werden konnten.
Soweit ich es medial verfolgen konnte, hat auch Breiviks Schwester weitgehend geschwiegen und nichts über Details aus der Kinderzeit erzählt. Es drängt sich die Frage auf, was gewesen wäre, wenn es in diesem Fall nicht diese besonderen Ereignisse und Begutachtungen Anfang der 80er Jahre gegeben hätte? Die Antwort ist einfach: Wir hätten das Bild eines relativ normal aufgewachsenen Jungen, der in einer ganz normalen Trennungsfamilie aufwuchs, wie so viele. All die Gewalt, Vernachlässigung und pathologischen Familienstrukturen wären niemals öffentlich geworden. Und die Öffentlichkeit hätte genauso wie unzählige Fachleute, die nach der Tat zu Wort kamen, mit offenen Mund und einem breiten „Wie konnte das geschehen?“ dagestanden. Aber halt, erinnern wir uns wieder daran, dass in den deutschen Medien das besprochene Buch und Breiviks Kindheit weitgehend ausgeblendet wurden (Im Gegensatz zum englischsprachigen und norwegischen Raum). Dies ist für mich absolut unverständlich und ich hoffe, dass noch manche Medien nachträglich berichten.
Interessant ist abschließend noch, dass (die Anfang 2013 verstorbene) Wenche Behring zusammen mit einer Journalistin Ende 2013 eine Biografie mit dem norwegischen Titel „Moren“ („Die Mutter“) über sich als Mutter herausgebracht hat. Kurz vor ihrem Tod soll sie noch entschieden haben, das Buch doch nicht zu veröffentlichen. (was nicht verwundert, wenn man dem oben besprochenen Buch folgt. Sie traf andauernd wechselende Entscheidungen, was typisch für Borderliner ist.) „Viel Neues erfährt der Leser nicht. Wie Breivik zum Terroristen wurde, bleibt auch nach der Lektüre unklar.“ beschrieb die WELT das Buch.
Breiviks Mutter kommentierte das Buch auf dem Sterbebett u.a. wie folgt: „Ich hatte mir ein Buch gewünscht, dass schlicht und einfach die Geschichte von mir und meinem Leben erzählen sollte, so dass niemand herumgehen und erzählen könnte, was für grausame Menschen wir gewesen seien", schreibt die WELT. Es ging ihr offensichtlich um Entlastung, nicht um Wahrheit, wenn man diese Zeilen liest.
Sind es nicht genau diese Mütter und Väter von Mördern und Gewalttätern, die u.a. dazu beitragen, dass die Öffentlichkeit im Dunkeln darüber gehalten wird, welche Abgründe sich in der Kindererziehung auftun, die einst praktiziert wurden? Der Fall Breivik ist in vieler Hinsicht ein Lehrstück. Vor allem sollte er eine Mahnung für Medien und Fachleute sein, Eltern von Mördern nicht alles einfach unhinterfragt zu glauben, wenn sie öffentlich erklären, wie gut es ihre Kinder bei ihnen doch hatten.
Das Buch des Autors Aage Borchgrevink ist für mich auch von einer besonderer Bedeutung, weil er am Ende selbst sagt, dass er nach der Recherche einen veränderten Blick auf die Ursachen von Terror bekommen hat. (S. 267) Und er wird noch mal besonders konkret, wie sich solche Terrorakte präventiv verhindern lassen:
“In my opinion, however, the most important lesson from this tragedy is not about integration policy, the Internet, ideology or the police`s operating methods and resources (…). It is about child and family welfare policy. (…) The banality of evil in the case Breivik is the significance of childhood trauma in the hatred of a grown man. Countering hatred, radicalization und terrorism is also a matter of preventing children from being abused by their parents – a banal insight, perhaps, possibly so banal that it has been overlooked.” (S. 269)”
Siehe ergänzend:
Attentäter Breivik: Natural born Killer?
Breiviks Vater gibt ein langes, aufschlussreiches Interview
Neues Buch über Anders Breivik mit ausführlichen Infos über seine Kindheit
Gedankliche Anmerkung: Manchmal ist es schon merkwürdig im Leben. Die vorsitzende Richterin -Wenche Elisabeth Arntzen -, die über Anders Breivik urteilte, hat den selben Vornamen wie dessen Mutter.
Freitag, 13. Dezember 2013
Kindheit und Prostitution. Eine "Branche", die auf verschüttete Emotionen und Selbsthass aufbaut
"Eigentlich ist es ganz einfach." schreibt Alice Schwarzer am Ende ihres Textes mit dem Titel "Freiwllig? Es reicht!" (06.12.2013) "Stellen Sie es sich nur einen Moment lang vor: Sie liegen nackt auf einem Bett im "Laufhaus" oder "Studio". Oder sie stehen halbnackt an einen Baum gelehnt im Gebüsch an einer Ausfallstraße. Der Mann wird Ihnen danach einen Schein geben. 50 Euro , wenn es viel ist. 10 Euro, wenn es wenig ist. Er sagt "Na, Schätzchen" zu ihnen. Oder auch "Du alte Fotze". Er kann Sie anfassen. Am ganzen Körper. In Sie eindringen. In jede Öffnung. Das heißt: Anal kostet extra. Ins Gesicht abspritzen auch."
Es ist eigentlich wirklich ganz einfach zu verstehen, dass sich niemand wirklich freiwillig prostituiert. Prostitution ist eine große menschliche Niederlage für alle Beteiligten, für die Prostituierten, aber auch für Freier und Bordellbesitzer/Zuhälter. Und sie kann in meinen Augen nur funktionieren, weil Emotionen ausgeblendet werden, weil entmenschlicht wird, weil verdrängt wird und weil es unglückliche Menschen gibt. Wenn einem dies einmal klar geworden ist, muss Mann fragen, wie es denn eigentlich von Grund auf dazu kommt, dass Menschen Emotionen ausblenden, entmenschlichen und verdrängen können und unglücklich sind? Wer sich mit den Folgen von destruktiven Kindheitserfahrungen befasst, der wird schnell auf einen möglichen Zusammenhang kommen. Die möglichen Folgeschäden von Kindesmisshandlung sind der ideale Nährboden für Prostitution: Fehlendes Selbstbewusstsein/schwammige Identität, Fähigkeit belastende Erfahrungen psychisch abzuspalten, Selbsthass, selbstverletzende Tendenzen, Drogenkonsum, Verlust von Empathie, Fügen in die Opferrolle, schwammiges Bild von eigenen Grenzen, Selbstverleugnung u.a.
Zu diesem Themengebiet gibt es mittlerweile auch eine Vielzahl von wissenschaftlichen Arbeiten, von denen ich die vorstelle, die ich gefunden habe:
854 Prostituierte (die meisten davon Frauen) in 9 Ländern (Kanada, Kolumbien, Deutschland, Mexico, Südafrika, Thailand, Türkei, USA und Sambia) wurden für eine Studie befragt:
Farley, M.; Cotton, A.; Lynne, J.; Zumbeck, S.; Spiwak, F.; Reyes, M. E.; Alvarez, D.; Sezgin, U. (2003): Prostitution and Trafficking in Nine Countries: An Update on Violence and Posttraumatic Stress Disorder. In: Journal of Trauma Practice. 2(3/4): 33-74.
Ergebnisse u.a.:
59 % wurden als Kind körperlich durch Elternfiguren/Pflegepersonen misshandelt bis es zu Verletzungen oder Prellungen kam.
63 % wurden als Kind sexuell missbraucht
68 % erfüllten Kriterien für eine Posttraumatische Belastungsstörung
(Anmerkung: Wobei kindliche Gewalterfahrungen sicherlich eine gewichtige Ursache sind, aber auch Gewalterfahrungen während der Prostitution: 64 % wurden beispielsweise mit einer Waffe in die Prostitution gezwungen, 73 % wurden als Prostituierte körperlich angegriffen und 57 % vergewaltigt, von Letzteren 59 % mehr als fünf mal)
Von den vier Gewalttypen: Sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung in Kindheit, Vergewaltigung als Prostituierte und körperlicher Angriff als Prostituierte erlebte nur 13 % aller Befragten keine einzige Gewaltform. (S. 45) Leider wurde nicht dargestellt, wie viel Prozent keine körperliche Misshandlung und/oder sexuellen Missbrauch erlitten haben. Auf jeden Fall ja diese 13 %. 25 % erlebten alle vier Gewaltformen, 26 % drei Formen, 20 % zwei und 16 % eine.
Interessant ist, dass in den drei westlichen Ländern sehr viel weniger Prostituierte über keine einzige erlebte Gewaltform berichteten (Kanada 2 %, Deutschland 6 %, USA 6 %). Dies lässt zwei gegensätzliche Dinge vermuten: 1. Vermutlich gibt es in anderen Regionen der Welt viel öfter existenzbedrohende Armut, so dass dieser Faktor mehr Gewicht hat, während im Westen Gewalterfahrungen in der Kindheit eine größere Rolle auf dem Weg in die Prostitution spielen 2. In anderen Regionen der Welt herrscht ein weit aus größeres Tabu über kindliche Gewalterfahrungen zu sprechen – dabei vor allem auch der sexuelle Missbrauch – als in Ländern wie Kanada, den USA und Deutschland, so dass diese Gewalt evtl. z.T. verschwiegen wurde und das Ergebnis verwässert wird.
In Deutschland wurden für diese Studie 54 Prostituierte befragt. 48 % wurden als Kind sexuell missbraucht und ebenfalls 48 % körperlich misshandelt. (S. 43)
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110 Prostituierte wurden für eine deutsche Studie befragt:
Schröttle, M. ; Müller, U. (2004): II. Teilpopulationen – Erhebung bei Prostituierten. „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (Hrsg.), S. 78-81.
(Besonders aufschlussreich ist, dass diese gesonderten Ergebnisse mit denen der größeren BMFSFJ- Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ verglichen wurden bzw. die Studie bzgl. Prostituierten war ein Teil der größeren Studie. Die Ergebnisse der Hauptuntersuchung – die repräsentativ für die deutsche Frauenbevölkerung sind - sind zum Vergleich in Klammern angegeben. )
56 % hatten in ihrer Kindheit körperliche Übergriffe zwischen den Eltern/Pflegeeltern miterlebt. (18 % bei den Befragten der Hauptuntersuchung)
73 % erlebten körperliche Züchtigungen durch Eltern/Pflegepersonen, 52 % sogar häufig oder gelegentlich. (63 % bei den Befragten der Hauptuntersuchung; 20 % häufig oder gelegentlich)
36% gaben an, sie seien häufig oder gelegentlich von den Erziehungspersonen lächerlich gemacht oder gedemütigt worden (8% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),
52%, sie seien häufig oder gelegentlich so behandelt worden, dass es seelisch verletzend war (10% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),
55%, sie seien häufig oder gelegentlich niedergebrüllt worden (11% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),
37%, sie seien häufig oder gelegentlich leicht geohrfeigt worden (17% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),
30%, sie hätten häufig oder gelegentlich schallende Ohrfeigen mit sichtbaren Striemen bekommen (6% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),
39%, sie hätten häufig/gelegentlich einen strafenden Klaps auf den Po bekommen (20% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),
40%, sie hätten häufig/gelegentlich mit der Hand kräftig den Po versohlt bekommen (10% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),
20%, sie seien häufig/gelegentlich mit einem Gegenstand auf den Finger geschlagen worden (3% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),
34%, sie seien häufig/gelegentlich mit einem Gegenstand kräftig auf den Po geschlagen worden (6% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),
37%, sie hätten häufig/gelegentlich heftige Prügel bekommen (5% bei den Befragten der Hauptuntersuchung)
Insgesamt berichteten 43 % über mindestens eine Form der nachstehend genannten Varianten von sexuellem Missbrauch.
39% in ihrer Kindheit und Jugend durch eine erwachsene Person sexuell berührt oder an intimen Körperstellen angefasst worden (Hauptuntersuchung 8%),
16% gezwungen worden, die erwachsene Person an intimen Körperstellen zu berühren (Hauptuntersuchung 3%),
7% gezwungen worden, sich selbst an intimen Körperstellen zu berühren (Hauptuntersuchung 1%),
13% zum Geschlechtsverkehr gezwungen worden (Hauptuntersuchung 2%) und 13% zu anderen sexuellen Handlungen gedrängt oder gezwungen worden (Hauptuntersuchung 2%).
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In Hamburg wurde eine weitere Studie durchgeführt:
Zumbeck, S. (2001): Die Prävalenz traumatischer Erfahrungen, posttraumatische Belastungsstörung und Dissoziation bei Prostituierten: eine explorative Studie. Dr. Kovac, Hamburg. Ergebnis.‘
54 weibliche Prostituierte
Interviews
65 % als Kind körperlich misshandelt mit Verletzungsfolgen)
50 % sexuell missbraucht (vor dem 13. Lebensjahr)
Als Selbsteinschätzung nannten 83% der Befragten, in ihrer Kindheit traumatisiert worden
zu sein.
Zumbeck (2001) hat in ihrer Arbeit (S. 34-36) auch Ergebnisse diverser Studien (meist aus den USA) zusammengetragen, die ich hier ebenfalls kurz wiedergebe:
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Silbert & Pines (1981) USA
200 Prostituierte und ehemalige Prostituierte
Interviews
60 % sexuell missbraucht (vor dem 16. Lebensjahr); davon 47 % durch die Gewalt schwer verletzt.
50 % körperlich misshandelt
70 % emotional misshandelt
48 % erlebten Alkoholismus der Eltern
54 % erlebten häufig Streit zwischen den Eltern
Diana (1985) USA
Interviews
487 Prostituierte verschiedener Arbeitsfelder
38 % sexuell missbraucht
Earls & David (1990) USA
Interviews
50 jugendliche Straßenprostituierte
26 % sexuell missbraucht
46 % körperlich misshandelt
Farley & Barkan (1998) USA
130 Straßenprostituierte (75 % Frauen, 13 % Männer, 12 % transgender)
Fragebogen
57 % sexuell missbraucht
49 % körperlich misshandelt
Bagley (1991) Kanada
Interviews
45 Ehemalige Prostituierte im Alter von 18 – 36
73 % schwerer sexueller Missbrauch
Perkins (1991) Australien
Fragebogen
128 Prostituierte verschiedener "Arbeitsfelder"
30,1 % sexueller Missbrauch
Yates, Macenzie, Pennbridge & Swofford (1991) USA
153 Jugendliche, die sich prostituierten (68 % Mädchen, 32 % Jungen)
Interviews
55,6 % sexueller Missbrauch
24,6 % körperliche Misshandlung
Quelle für alle o.g. Daten: Zumbeck, S. (2001): Die Prävalenz traumatischer Erfahrungen, posttraumatische Belastungsstörung und Dissoziation bei Prostituierten: eine explorative Studie. Dr. Kovac, Hamburg.
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Eine weitere deutsche Studie (Brückner, M. & Oppenheimer:, C. (2006): Lebenssituation Prostitution. Sicherheit, Gesundheit und soziale Hilfen. Königstein: Helmer.) liegt mir nicht direkt vor. Ich habe in diesem Fall auf die entsprechende Forschungsprojektbeschreibung der Autorinnen und auf eine Rezension zurückgegriffen.
Im Zentrum der Studie stand die Befragung von 72 Prostituierten.
53 % wurden als Kind sexuell missbraucht
74% der Befragten hatten bis zu ihrem 16. Lebensjahr Gewalt erlebt, sei es als selbst erlittener Übergriff oder zwischen den erwachsenen Bezugspersonen.
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Zunächst einmal fällt auf, dass sich die Wissenschaft mit den Kindheitserfahrungen von Prostituierten umfassend befasst. Es wird zu Recht ein Zusammenhang zwischen Gewalterfahrungen in der Kindheit und dem Weg in die Prostitution vermutet. Die Forschenden drücken sich bei der Besprechung der Ergebnisse meist vorsichtig aus. Ich persönlich bin da etwas weniger zurückhaltend. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Sexueller Missbrauch wurde meist signifikant häufiger berichtet, als dies für die Allgemeinbevölkerung gilt. Das gleiche gilt für die körperliche Misshandlung (Man bedenke, dass „Misshandlung“ die schwersten Formen von körperlicher Gewalt meint.) Eine repräsentative deutsche Studie für die Normalbevölkerung zeigte, dass u.a. 12 % über körperlichen Missbrauch bzw. Misshandlung und 12,6 % über sexuellen Missbrauch berichteten. Die vier oben besprochenen deutschen Studien bzgl. Prostituierten zeigen deutlich höhere Zahlen. (zwischen 43 % und 53 % sexuell missbraucht und 48 % bis 65 % körperlich misshandelt, bzgl. letzteren Zahlen ohne Daten von Brückner & Oppenheimer (2006), die mir nicht komplett vorliegen.) Leider wurde in den meisten Studien zu wenig auf die Gebiete Vernachlässigung, emotionale Misshandlung, Drogen/Alkoholkonsum in der Familie und Gewalt zwischen den Eltern oder gegen Geschwister eingegangen. Um ein umfassendes Bild zu bekommen, müssten alle möglichen belastenden Kindheitserfahrungen einbezogen werden. Nur die Studie Silbert & Pines (1981) aus den USA und die deutsche Studie vom BMFSFJ (2004) fragten etwas breiter ab. Beide Studien zeigten, dass Prostituierte erheblich von verschiedenen Formen von Gewalt in der Kindheit belastet sind. Dieser „Gewaltmix“ wirkt sich erwiesener Maßen besonders destruktiv auf die Entwicklung von Menschen aus.
Was in der Diskussion um Kindheitseinflüsse bzgl. Prostituierten auffällt ist, dass sich viele Berichte (vor allem in den Medien) rein auf den sexuellen Missbrauch konzentrieren und den erwähnten „Gewaltmix“ außen vor lassen. Zudem ist mir keine Untersuchung bekannt, die die Kindheiten von (männlichen) Zuhältern, Bordellbetreibern, Menschenhändler und auch von Freiern* unter die Lupe nimmt. Dabei ist diese Gruppe ebenfalls von Interesse und auch die entsprechenden Kindheiten sind vermutlich alles andere als liebevoll verlaufen.
Insgesamt betrachtet komme ich zu dem Schluss, dass Kinderschutz und Förderung von Familien gewichtige Maßnahmen sind, um nachhaltig und langfristig gesehen etwas gegen Prostitution zu unternehmen.
* Nachtrag: Indirekt wurde in einer großen Studie, für die über 10.000 asiatische Männer befragt wurden und die im Kern eigentlich das Verbrechen Vergewaltigung erforschen wollte, ein Zusammenhang zwischen gewaltvollen Kindheiten von Männern und deren Gang zu Prostituierten festgestellt. 64 % der Vergewaltiger und 77 % der Gruppenvergewaltiger waren Freier, dagegen nur 30,8 % der Nicht-Vergewaltiger. Die Nicht-Vergewaltiger hatten allerdings auch die im Vergleich zu den Vergewaltigern deutlich gewaltfreieren Kindheiten. Beispielsweise hatten als Kind 58,7 % der Vergewaltiger und 60,5 % der Gruppenvergewaltiger körperliche Misshandlungen (also schwere Gewalt gegen das Kind) erlebt, dagegen "nur" 31,4 % der Nicht-Vergewaltiger. Ähnliche Zahlenverhältnisse zeigten sich beim Sexuellen Missbrauch, emotionaler Misshandlung/Vernachlässigung und dem Beobachten von körperlicher Gewalt in der Familie. (siehe ausführlich zu dieser Studie hier)
Es ist eigentlich wirklich ganz einfach zu verstehen, dass sich niemand wirklich freiwillig prostituiert. Prostitution ist eine große menschliche Niederlage für alle Beteiligten, für die Prostituierten, aber auch für Freier und Bordellbesitzer/Zuhälter. Und sie kann in meinen Augen nur funktionieren, weil Emotionen ausgeblendet werden, weil entmenschlicht wird, weil verdrängt wird und weil es unglückliche Menschen gibt. Wenn einem dies einmal klar geworden ist, muss Mann fragen, wie es denn eigentlich von Grund auf dazu kommt, dass Menschen Emotionen ausblenden, entmenschlichen und verdrängen können und unglücklich sind? Wer sich mit den Folgen von destruktiven Kindheitserfahrungen befasst, der wird schnell auf einen möglichen Zusammenhang kommen. Die möglichen Folgeschäden von Kindesmisshandlung sind der ideale Nährboden für Prostitution: Fehlendes Selbstbewusstsein/schwammige Identität, Fähigkeit belastende Erfahrungen psychisch abzuspalten, Selbsthass, selbstverletzende Tendenzen, Drogenkonsum, Verlust von Empathie, Fügen in die Opferrolle, schwammiges Bild von eigenen Grenzen, Selbstverleugnung u.a.
Zu diesem Themengebiet gibt es mittlerweile auch eine Vielzahl von wissenschaftlichen Arbeiten, von denen ich die vorstelle, die ich gefunden habe:
854 Prostituierte (die meisten davon Frauen) in 9 Ländern (Kanada, Kolumbien, Deutschland, Mexico, Südafrika, Thailand, Türkei, USA und Sambia) wurden für eine Studie befragt:
Farley, M.; Cotton, A.; Lynne, J.; Zumbeck, S.; Spiwak, F.; Reyes, M. E.; Alvarez, D.; Sezgin, U. (2003): Prostitution and Trafficking in Nine Countries: An Update on Violence and Posttraumatic Stress Disorder. In: Journal of Trauma Practice. 2(3/4): 33-74.
Ergebnisse u.a.:
59 % wurden als Kind körperlich durch Elternfiguren/Pflegepersonen misshandelt bis es zu Verletzungen oder Prellungen kam.
63 % wurden als Kind sexuell missbraucht
68 % erfüllten Kriterien für eine Posttraumatische Belastungsstörung
(Anmerkung: Wobei kindliche Gewalterfahrungen sicherlich eine gewichtige Ursache sind, aber auch Gewalterfahrungen während der Prostitution: 64 % wurden beispielsweise mit einer Waffe in die Prostitution gezwungen, 73 % wurden als Prostituierte körperlich angegriffen und 57 % vergewaltigt, von Letzteren 59 % mehr als fünf mal)
Von den vier Gewalttypen: Sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung in Kindheit, Vergewaltigung als Prostituierte und körperlicher Angriff als Prostituierte erlebte nur 13 % aller Befragten keine einzige Gewaltform. (S. 45) Leider wurde nicht dargestellt, wie viel Prozent keine körperliche Misshandlung und/oder sexuellen Missbrauch erlitten haben. Auf jeden Fall ja diese 13 %. 25 % erlebten alle vier Gewaltformen, 26 % drei Formen, 20 % zwei und 16 % eine.
Interessant ist, dass in den drei westlichen Ländern sehr viel weniger Prostituierte über keine einzige erlebte Gewaltform berichteten (Kanada 2 %, Deutschland 6 %, USA 6 %). Dies lässt zwei gegensätzliche Dinge vermuten: 1. Vermutlich gibt es in anderen Regionen der Welt viel öfter existenzbedrohende Armut, so dass dieser Faktor mehr Gewicht hat, während im Westen Gewalterfahrungen in der Kindheit eine größere Rolle auf dem Weg in die Prostitution spielen 2. In anderen Regionen der Welt herrscht ein weit aus größeres Tabu über kindliche Gewalterfahrungen zu sprechen – dabei vor allem auch der sexuelle Missbrauch – als in Ländern wie Kanada, den USA und Deutschland, so dass diese Gewalt evtl. z.T. verschwiegen wurde und das Ergebnis verwässert wird.
In Deutschland wurden für diese Studie 54 Prostituierte befragt. 48 % wurden als Kind sexuell missbraucht und ebenfalls 48 % körperlich misshandelt. (S. 43)
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110 Prostituierte wurden für eine deutsche Studie befragt:
Schröttle, M. ; Müller, U. (2004): II. Teilpopulationen – Erhebung bei Prostituierten. „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (Hrsg.), S. 78-81.
(Besonders aufschlussreich ist, dass diese gesonderten Ergebnisse mit denen der größeren BMFSFJ- Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ verglichen wurden bzw. die Studie bzgl. Prostituierten war ein Teil der größeren Studie. Die Ergebnisse der Hauptuntersuchung – die repräsentativ für die deutsche Frauenbevölkerung sind - sind zum Vergleich in Klammern angegeben. )
56 % hatten in ihrer Kindheit körperliche Übergriffe zwischen den Eltern/Pflegeeltern miterlebt. (18 % bei den Befragten der Hauptuntersuchung)
73 % erlebten körperliche Züchtigungen durch Eltern/Pflegepersonen, 52 % sogar häufig oder gelegentlich. (63 % bei den Befragten der Hauptuntersuchung; 20 % häufig oder gelegentlich)
36% gaben an, sie seien häufig oder gelegentlich von den Erziehungspersonen lächerlich gemacht oder gedemütigt worden (8% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),
52%, sie seien häufig oder gelegentlich so behandelt worden, dass es seelisch verletzend war (10% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),
55%, sie seien häufig oder gelegentlich niedergebrüllt worden (11% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),
37%, sie seien häufig oder gelegentlich leicht geohrfeigt worden (17% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),
30%, sie hätten häufig oder gelegentlich schallende Ohrfeigen mit sichtbaren Striemen bekommen (6% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),
39%, sie hätten häufig/gelegentlich einen strafenden Klaps auf den Po bekommen (20% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),
40%, sie hätten häufig/gelegentlich mit der Hand kräftig den Po versohlt bekommen (10% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),
20%, sie seien häufig/gelegentlich mit einem Gegenstand auf den Finger geschlagen worden (3% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),
34%, sie seien häufig/gelegentlich mit einem Gegenstand kräftig auf den Po geschlagen worden (6% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),
37%, sie hätten häufig/gelegentlich heftige Prügel bekommen (5% bei den Befragten der Hauptuntersuchung)
Insgesamt berichteten 43 % über mindestens eine Form der nachstehend genannten Varianten von sexuellem Missbrauch.
39% in ihrer Kindheit und Jugend durch eine erwachsene Person sexuell berührt oder an intimen Körperstellen angefasst worden (Hauptuntersuchung 8%),
16% gezwungen worden, die erwachsene Person an intimen Körperstellen zu berühren (Hauptuntersuchung 3%),
7% gezwungen worden, sich selbst an intimen Körperstellen zu berühren (Hauptuntersuchung 1%),
13% zum Geschlechtsverkehr gezwungen worden (Hauptuntersuchung 2%) und 13% zu anderen sexuellen Handlungen gedrängt oder gezwungen worden (Hauptuntersuchung 2%).
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In Hamburg wurde eine weitere Studie durchgeführt:
Zumbeck, S. (2001): Die Prävalenz traumatischer Erfahrungen, posttraumatische Belastungsstörung und Dissoziation bei Prostituierten: eine explorative Studie. Dr. Kovac, Hamburg. Ergebnis.‘
54 weibliche Prostituierte
Interviews
65 % als Kind körperlich misshandelt mit Verletzungsfolgen)
50 % sexuell missbraucht (vor dem 13. Lebensjahr)
Als Selbsteinschätzung nannten 83% der Befragten, in ihrer Kindheit traumatisiert worden
zu sein.
Zumbeck (2001) hat in ihrer Arbeit (S. 34-36) auch Ergebnisse diverser Studien (meist aus den USA) zusammengetragen, die ich hier ebenfalls kurz wiedergebe:
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Silbert & Pines (1981) USA
200 Prostituierte und ehemalige Prostituierte
Interviews
60 % sexuell missbraucht (vor dem 16. Lebensjahr); davon 47 % durch die Gewalt schwer verletzt.
50 % körperlich misshandelt
70 % emotional misshandelt
48 % erlebten Alkoholismus der Eltern
54 % erlebten häufig Streit zwischen den Eltern
Diana (1985) USA
Interviews
487 Prostituierte verschiedener Arbeitsfelder
38 % sexuell missbraucht
Earls & David (1990) USA
Interviews
50 jugendliche Straßenprostituierte
26 % sexuell missbraucht
46 % körperlich misshandelt
Farley & Barkan (1998) USA
130 Straßenprostituierte (75 % Frauen, 13 % Männer, 12 % transgender)
Fragebogen
57 % sexuell missbraucht
49 % körperlich misshandelt
Bagley (1991) Kanada
Interviews
45 Ehemalige Prostituierte im Alter von 18 – 36
73 % schwerer sexueller Missbrauch
Perkins (1991) Australien
Fragebogen
128 Prostituierte verschiedener "Arbeitsfelder"
30,1 % sexueller Missbrauch
Yates, Macenzie, Pennbridge & Swofford (1991) USA
153 Jugendliche, die sich prostituierten (68 % Mädchen, 32 % Jungen)
Interviews
55,6 % sexueller Missbrauch
24,6 % körperliche Misshandlung
Quelle für alle o.g. Daten: Zumbeck, S. (2001): Die Prävalenz traumatischer Erfahrungen, posttraumatische Belastungsstörung und Dissoziation bei Prostituierten: eine explorative Studie. Dr. Kovac, Hamburg.
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Eine weitere deutsche Studie (Brückner, M. & Oppenheimer:, C. (2006): Lebenssituation Prostitution. Sicherheit, Gesundheit und soziale Hilfen. Königstein: Helmer.) liegt mir nicht direkt vor. Ich habe in diesem Fall auf die entsprechende Forschungsprojektbeschreibung der Autorinnen und auf eine Rezension zurückgegriffen.
Im Zentrum der Studie stand die Befragung von 72 Prostituierten.
53 % wurden als Kind sexuell missbraucht
74% der Befragten hatten bis zu ihrem 16. Lebensjahr Gewalt erlebt, sei es als selbst erlittener Übergriff oder zwischen den erwachsenen Bezugspersonen.
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Zusammenfassende Besprechung
Zunächst einmal fällt auf, dass sich die Wissenschaft mit den Kindheitserfahrungen von Prostituierten umfassend befasst. Es wird zu Recht ein Zusammenhang zwischen Gewalterfahrungen in der Kindheit und dem Weg in die Prostitution vermutet. Die Forschenden drücken sich bei der Besprechung der Ergebnisse meist vorsichtig aus. Ich persönlich bin da etwas weniger zurückhaltend. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Sexueller Missbrauch wurde meist signifikant häufiger berichtet, als dies für die Allgemeinbevölkerung gilt. Das gleiche gilt für die körperliche Misshandlung (Man bedenke, dass „Misshandlung“ die schwersten Formen von körperlicher Gewalt meint.) Eine repräsentative deutsche Studie für die Normalbevölkerung zeigte, dass u.a. 12 % über körperlichen Missbrauch bzw. Misshandlung und 12,6 % über sexuellen Missbrauch berichteten. Die vier oben besprochenen deutschen Studien bzgl. Prostituierten zeigen deutlich höhere Zahlen. (zwischen 43 % und 53 % sexuell missbraucht und 48 % bis 65 % körperlich misshandelt, bzgl. letzteren Zahlen ohne Daten von Brückner & Oppenheimer (2006), die mir nicht komplett vorliegen.) Leider wurde in den meisten Studien zu wenig auf die Gebiete Vernachlässigung, emotionale Misshandlung, Drogen/Alkoholkonsum in der Familie und Gewalt zwischen den Eltern oder gegen Geschwister eingegangen. Um ein umfassendes Bild zu bekommen, müssten alle möglichen belastenden Kindheitserfahrungen einbezogen werden. Nur die Studie Silbert & Pines (1981) aus den USA und die deutsche Studie vom BMFSFJ (2004) fragten etwas breiter ab. Beide Studien zeigten, dass Prostituierte erheblich von verschiedenen Formen von Gewalt in der Kindheit belastet sind. Dieser „Gewaltmix“ wirkt sich erwiesener Maßen besonders destruktiv auf die Entwicklung von Menschen aus.
Was in der Diskussion um Kindheitseinflüsse bzgl. Prostituierten auffällt ist, dass sich viele Berichte (vor allem in den Medien) rein auf den sexuellen Missbrauch konzentrieren und den erwähnten „Gewaltmix“ außen vor lassen. Zudem ist mir keine Untersuchung bekannt, die die Kindheiten von (männlichen) Zuhältern, Bordellbetreibern, Menschenhändler und auch von Freiern* unter die Lupe nimmt. Dabei ist diese Gruppe ebenfalls von Interesse und auch die entsprechenden Kindheiten sind vermutlich alles andere als liebevoll verlaufen.
Insgesamt betrachtet komme ich zu dem Schluss, dass Kinderschutz und Förderung von Familien gewichtige Maßnahmen sind, um nachhaltig und langfristig gesehen etwas gegen Prostitution zu unternehmen.
* Nachtrag: Indirekt wurde in einer großen Studie, für die über 10.000 asiatische Männer befragt wurden und die im Kern eigentlich das Verbrechen Vergewaltigung erforschen wollte, ein Zusammenhang zwischen gewaltvollen Kindheiten von Männern und deren Gang zu Prostituierten festgestellt. 64 % der Vergewaltiger und 77 % der Gruppenvergewaltiger waren Freier, dagegen nur 30,8 % der Nicht-Vergewaltiger. Die Nicht-Vergewaltiger hatten allerdings auch die im Vergleich zu den Vergewaltigern deutlich gewaltfreieren Kindheiten. Beispielsweise hatten als Kind 58,7 % der Vergewaltiger und 60,5 % der Gruppenvergewaltiger körperliche Misshandlungen (also schwere Gewalt gegen das Kind) erlebt, dagegen "nur" 31,4 % der Nicht-Vergewaltiger. Ähnliche Zahlenverhältnisse zeigten sich beim Sexuellen Missbrauch, emotionaler Misshandlung/Vernachlässigung und dem Beobachten von körperlicher Gewalt in der Familie. (siehe ausführlich zu dieser Studie hier)
Samstag, 16. November 2013
SPD Parteitag und die "schallenden Ohrfeigen"
„Schallende Ohrfeigen für deutsche Spitzensozis“, auf diesen Titel der Schweizer Handelszeitung wies mich kürzlich ein Leser hin. Diese „Prügelsprache“ in Medienkommentaren bzgl. politischer Ereignisse wie in diesem Fall zum SPD Parteitag in Leipzig ist keine Seltenheit, sondern taucht immer wieder auf. (Ich habe darüber bereits hier ausführlich geschrieben) Im aktuellen Fall fällt allerdings doch die Häufigkeit der entsprechenden Wortwahl auf. Einige Beispiele:
„Wer wird abgewatscht?“ schrieb die ZEIT fragend am 15.11. bereits kurz vor der Wahl der stellvertretenden SPD-Vorsitzenden
„Ohrfeige für SPD-Generalsekretärin Nahles“ titelte der Focus.
In diesem Stile geht es weiter:
„Ohrfeige für die Führungsriege“ (MDR)
„Schallende Ohrfeige für Andrea Nahles auf SPD-Parteitag“ (Der Westen)
„Schallende Ohrfeige für SPD-Spitze“ (Rhein-Zeitung)
„Ohrfeige für SPD-Spitzen“ (tagesschau)
„Sigmar Gabriel in Leipzig abgewatscht“ (BZ-Berlin)
„Andrea Nahles und Olaf Scholz wurden gestern von den Delegierten des SPD-Parteitags geradezu abgewatscht“ (Weser-Kurier, im Bilduntertitel),
„Wahlklatsche für Partei-Spitze„ (Bild, im bilduntertitel)
„Watsche für Gabriel bei Wiederwahl zum Parteichef“ (NWZ-Online)
„Die Delegierten watschen alle ab“ (Welt)
"SPD-Parteitag: Klatsche für Hannelore Kraft" (express.de)
Dies sind nur einige Beispiele, ich habe noch weit mehr gefunden.
Mensch erkennt deutlich die "schallenden" Nachwirkungen der Prügel gegen die füheren Generationen. Unreflektiert wird die Prügelsprache gegenüber dem Kind in die bildliche politisch-journalistsiche Sprache übernommen.
„Wer wird abgewatscht?“ schrieb die ZEIT fragend am 15.11. bereits kurz vor der Wahl der stellvertretenden SPD-Vorsitzenden
„Ohrfeige für SPD-Generalsekretärin Nahles“ titelte der Focus.
In diesem Stile geht es weiter:
„Ohrfeige für die Führungsriege“ (MDR)
„Schallende Ohrfeige für Andrea Nahles auf SPD-Parteitag“ (Der Westen)
„Schallende Ohrfeige für SPD-Spitze“ (Rhein-Zeitung)
„Ohrfeige für SPD-Spitzen“ (tagesschau)
„Sigmar Gabriel in Leipzig abgewatscht“ (BZ-Berlin)
„Andrea Nahles und Olaf Scholz wurden gestern von den Delegierten des SPD-Parteitags geradezu abgewatscht“ (Weser-Kurier, im Bilduntertitel),
„Wahlklatsche für Partei-Spitze„ (Bild, im bilduntertitel)
„Watsche für Gabriel bei Wiederwahl zum Parteichef“ (NWZ-Online)
„Die Delegierten watschen alle ab“ (Welt)
"SPD-Parteitag: Klatsche für Hannelore Kraft" (express.de)
Dies sind nur einige Beispiele, ich habe noch weit mehr gefunden.
Mensch erkennt deutlich die "schallenden" Nachwirkungen der Prügel gegen die füheren Generationen. Unreflektiert wird die Prügelsprache gegenüber dem Kind in die bildliche politisch-journalistsiche Sprache übernommen.
Freitag, 15. November 2013
Die strenge Mutter von John F. Kennedy
Aktuell wird häufig über Kennedy berichtet, da es wohl neue Buchveröffentlichungen über ihn gab. Seine Schwester, Jean Kennedy-Smith, wurde im hohen Alter von 85 Jahren von SPIEGEL-TV interviewt. Und sie erwähnte auch die "Erziehungsmaßnahmen" ihrer Mutter:
"Unsere Mutter war streng. Wenn wir ungehörig waren, sperrte sie uns in ihren Kleiderschrank. Einmal saß ich schon eine ganze Weile drinnen, ich hatte ihre Schuhe und ihre Kleider längst durchgezählt, als die Tür aufging und Teddy dazu kam. Sie hatte mich einfach vergessen. Also saßen wir zusammen im Dunkeln und unterhielten uns darüber, was für eine gemeine Mutter wir haben." (SPIEGEL-Online, 15.11.2013)
Ich habe diesen Auszug den Schilderungen über Kennedys Kindheit hinzugefügt. Es ist unglaublich, wie die Kinder der Kennedys traumatisiert wurden. JFKs Doppelleben wird dadurch u.a. erklärbar.
"Unsere Mutter war streng. Wenn wir ungehörig waren, sperrte sie uns in ihren Kleiderschrank. Einmal saß ich schon eine ganze Weile drinnen, ich hatte ihre Schuhe und ihre Kleider längst durchgezählt, als die Tür aufging und Teddy dazu kam. Sie hatte mich einfach vergessen. Also saßen wir zusammen im Dunkeln und unterhielten uns darüber, was für eine gemeine Mutter wir haben." (SPIEGEL-Online, 15.11.2013)
Ich habe diesen Auszug den Schilderungen über Kennedys Kindheit hinzugefügt. Es ist unglaublich, wie die Kinder der Kennedys traumatisiert wurden. JFKs Doppelleben wird dadurch u.a. erklärbar.
Samstag, 9. November 2013
Reichspogromnacht vor 75 Jahren: Hasse Deinen Nächsten wie Dich selbst
Pfarrer Stephan Krebs aus Darmstadt hielt heute Morgen die Morgenandacht im Deutschlandfunk, die ich zufällig hörte. Er erinnerte an die Reichspogromnacht der Nazis vor genau 75 Jahren und begann seine Andacht gleich mit dem Satz: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.“ Im Verlauf sagte er u.a. weiter:
„Wer sich selbst nicht mag, wird auch andere kaum mögen können. Der lässt sich auch viel leichter verleiten andere zu hassen oder ihnen zumindest gleichgültig gegenüber zu stehen. So muss es vor 75 Jahren in Deutschland vielen ergangen sein. Damals unter der Herrschaft der Nazis (….) In weiten Teilen der Bevölkerung fehlte es an Mitgefühl und an Rechtsempfinden. Von Nächstenliebe keine Spur. (…)“
Diese uralte christliche Weisheit ist letztlich auch eine psychologische Wahrheit. Kaum einer hat dies so gut dargestellt und erläutert wie der Psychoanalytiker Arno Gruen. Auf diesen bin ich vor über 10 Jahren mit voller Wucht gestoßen, weil ich ein einziges Zitat in einem Buch eines Soziologen von ihm las, in dem es genau darum ging, dass Selbsthass auch die Ursache von Hass gegen Menschen ist. Und dieser Selbsthass entsteht wiederum dadurch, dass Kinder nicht sie selbst sein dürfen, sondern durch Gewalt, Erniedrigungen und Gehorsamsforderungen ihr eigenes Selbst abspalten und von da an von einem inneren Fremdsein und mehr oder weniger (offenen oder verdecktem) Selbsthass bestimmt sind. Das bedeutet umgekehrt (was wir heute mehr den je in der Gesellschaft beobachten und nachweisen können): Je weniger Gewalt, Erniedrigungen und Gehorsamsforderungen gegenüber Kindern stattfinden und desto mehr (elterliche) Liebe und Geborgenheit erfahren wird, desto weniger Selbsthass, desto mehr Selbstbewusstsein, Glück, Zufriedenheit und friedliche Gedanken, Verhaltensweisen und Wege. Was vor 75 Jahren in Deutschland stattfand, wird sich hierzulande nicht wiederholen, weil sich die Kindererziehungspraxis derart positiv weiterentwickelt hat, dass heute einfach die Basis für einen derartigen Massenhass fehlt.
„Wer sich selbst nicht mag, wird auch andere kaum mögen können. Der lässt sich auch viel leichter verleiten andere zu hassen oder ihnen zumindest gleichgültig gegenüber zu stehen. So muss es vor 75 Jahren in Deutschland vielen ergangen sein. Damals unter der Herrschaft der Nazis (….) In weiten Teilen der Bevölkerung fehlte es an Mitgefühl und an Rechtsempfinden. Von Nächstenliebe keine Spur. (…)“
Diese uralte christliche Weisheit ist letztlich auch eine psychologische Wahrheit. Kaum einer hat dies so gut dargestellt und erläutert wie der Psychoanalytiker Arno Gruen. Auf diesen bin ich vor über 10 Jahren mit voller Wucht gestoßen, weil ich ein einziges Zitat in einem Buch eines Soziologen von ihm las, in dem es genau darum ging, dass Selbsthass auch die Ursache von Hass gegen Menschen ist. Und dieser Selbsthass entsteht wiederum dadurch, dass Kinder nicht sie selbst sein dürfen, sondern durch Gewalt, Erniedrigungen und Gehorsamsforderungen ihr eigenes Selbst abspalten und von da an von einem inneren Fremdsein und mehr oder weniger (offenen oder verdecktem) Selbsthass bestimmt sind. Das bedeutet umgekehrt (was wir heute mehr den je in der Gesellschaft beobachten und nachweisen können): Je weniger Gewalt, Erniedrigungen und Gehorsamsforderungen gegenüber Kindern stattfinden und desto mehr (elterliche) Liebe und Geborgenheit erfahren wird, desto weniger Selbsthass, desto mehr Selbstbewusstsein, Glück, Zufriedenheit und friedliche Gedanken, Verhaltensweisen und Wege. Was vor 75 Jahren in Deutschland stattfand, wird sich hierzulande nicht wiederholen, weil sich die Kindererziehungspraxis derart positiv weiterentwickelt hat, dass heute einfach die Basis für einen derartigen Massenhass fehlt.
Montag, 28. Oktober 2013
US-Drohnenkämpfer und der "Zombie-Modus"
Bei jedem Einsatz schaltet der Drohnenpilot Brandon Bryant auf „Zombie-Modus“ um, wie er sagte.
Die Berichte über schwer belastete bis hin zu traumatisierten Drohnenkämpfern häufen sich. Bryant hat 1.626 Menschen getötet, mehr als ein normaler Frontkämpfer je töten könnte...
Ich habe schon Berichte über diese Drohnenkämpfer gelesen, die deutlich machen, dass diese Art des Krieges den Feind nicht unsichtbarer und ferner macht, sondern diese Piloten ihnen manchmal näher kommen, als dies ein Kämpfer je könnte. Manchmal werden die „Ziele“ wochenlang beobachtet, die Drohnenkämpfer lernen sie kennen, sehen ihre Gewohnheiten, ihre Besuche, ihren Tagesrhythmus und dann kommt der Befehl zum Abschuss… Das besonders verrückte dabei ist zudem, dass diese Kämpfer tagsüber aus ihrem zivilen Leben heraus zu ihrem „Job“ gehen, dort töten und anschließend zu Hause gemeinsam mit Kind und Frau zu Abend essen. Dies kann in der Tat (wie letztlich auch jede andere Art von gezieltem Tötungsakt) nur funktionieren, wenn diese Menschen auf innerliche abgespaltene Elemente zurückgreifen oder gar in eine andere Persönlichkeit wechseln können. Auf „Zombie-Modus“ umschalten nannte dies Bryant. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass dieser Soldat als Kind elterliche Gewalt erfahren hat, wahrscheinlich sogar in schwerer Form. Gesund aufgewachsene, als Kind geliebte Menschen haben keinen „Zombie-Modus“ auf den sie zurückgreifen können.
Die Berichte über schwer belastete bis hin zu traumatisierten Drohnenkämpfern häufen sich. Bryant hat 1.626 Menschen getötet, mehr als ein normaler Frontkämpfer je töten könnte...
Ich habe schon Berichte über diese Drohnenkämpfer gelesen, die deutlich machen, dass diese Art des Krieges den Feind nicht unsichtbarer und ferner macht, sondern diese Piloten ihnen manchmal näher kommen, als dies ein Kämpfer je könnte. Manchmal werden die „Ziele“ wochenlang beobachtet, die Drohnenkämpfer lernen sie kennen, sehen ihre Gewohnheiten, ihre Besuche, ihren Tagesrhythmus und dann kommt der Befehl zum Abschuss… Das besonders verrückte dabei ist zudem, dass diese Kämpfer tagsüber aus ihrem zivilen Leben heraus zu ihrem „Job“ gehen, dort töten und anschließend zu Hause gemeinsam mit Kind und Frau zu Abend essen. Dies kann in der Tat (wie letztlich auch jede andere Art von gezieltem Tötungsakt) nur funktionieren, wenn diese Menschen auf innerliche abgespaltene Elemente zurückgreifen oder gar in eine andere Persönlichkeit wechseln können. Auf „Zombie-Modus“ umschalten nannte dies Bryant. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass dieser Soldat als Kind elterliche Gewalt erfahren hat, wahrscheinlich sogar in schwerer Form. Gesund aufgewachsene, als Kind geliebte Menschen haben keinen „Zombie-Modus“ auf den sie zurückgreifen können.
Samstag, 19. Oktober 2013
Martin Miller: Das wahre "Drama des begabten Kindes". Eine kritische Besprechung
Ich habe jetzt das Buch „Das wahre `Drama des begabten Kindes`. Die Tragödie Alice Millers – wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken“ von ihrem Sohn Martin Miller veröffentlich 2013 im Kreuz Verlag gelesen. Der Hauptgrund für mich, das Buch zu lesen, war letztlich der Untertitel und einige Interviews, die Martin Miller gab. Der Untertitel macht bereits die Sicht des Sohnes deutlich (was er auch in Interviews wiederholte). Er sieht Alice Miller und deren destruktiven Umgang mit ihm vor allem vor dem Hintergrund ihrer Traumatisierungen im Krieg. Diese Konzentration auf diesen Punkt sehe ich hingegen kritisch. Aber dazu im Textverlauf mehr. Ein weiterer Grund für mich, das Buch durchzusehen, war, dass die Gefahr besteht, dass das Buch dahingehend missbraucht wird, Alice Millers Bücher und ihre Thesen grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Nach dem Motto: Einer die derart bösartig mit ihren Kindern umging, kann mensch doch eh nichts glauben, schon gar nicht, wenn sie über Kindheit und Kinderschutz schreibt.
Martin Miller bringt mit einem Satz sein ganzes Anliegen auf den Punkt: „Es war nicht schön, der Sohn von Alice Miller zu sein. Im Gegenteil. Und trotzdem war meine Mutter eine große Kindheitsforscherin.“ (S. 25) Ihm geht es vor allem um seine ganz persönliche Geschichte, darum, die Schweigemauer darum abzubrechen und endlich öffentlich zu machen, wie schlimm es ihn als Kind mit dieser hoch verehrten Frau erging. Dazu hat er das volle Recht. Gleichzeitig betont er, dass das Werk seiner Mutter von enormer Bedeutung ist (auch für seine eigene Arbeit als Psychotherapeut). Wer Millers Werk auf Grund dieses Buches nun grundsätzlich ablehnt, der hat weder den Wahrheitsgehalt ihrer Thesen noch das Anliegen ihres Sohnes verstanden.
Ich möchte nur kurz skizzieren, was Martin Miller als Kind erlitten hat, da es mir vordergründig darum geht, den Untertitel des Buches zu kritisieren. Um es zusammenzufassen: Martin Millers Kindheit war ein Albtraum. Sein Vater war ihm gegenüber verachtend, cholerisch, autoritär und misshandelte ihn körperlich. Zudem fühlt sich Martin durch seinen Vater in sehr verschleierter Weise auch sexuell missbraucht. Alice Miller schützte ihren Sohn nicht vor den Quälereien durch den Vater. Zwischen den Eltern herrschte zudem fast immer Streit bzw. geradezu ein Ehekrieg. Alice scheint als Mutter oft abwesend, sehr beschäftigt, vernachlässigend und herzlos gewesen zu sein. Am ersten Schultag ihres Sohnes kam sie nicht auf die Idee, ihn zu begleiten, was er ihr später vorwarf. Die Eltern sprachen miteinander nur polnisch, was Martin nicht verstand, er hatte nur (Schweizer-)Deutsch gelernt, was seine Isolation noch verstärkte.
Seine Mutter gab Martin sofort nach der Geburt zu einer Bekannten zur Pflege. Nach zwei Wochen holte seine Tante ihn zu sich, da Martin sich in einem sehr schlechten Zustand befand; rückblickend sagte eine Verwandte: „Wenn wir dich nicht geholt hätten, wärest du gestorben.“ (S. 117) Dort blieb er ca. ein halbes Jahr, seine Eltern blieben Fremde für ihn. Mit ca. 6 Jahren wurde Martin für zwei Jahre in ein Kinderheim gegeben, nachdem seine Schwester mit einem Downsyndrom geboren worden war und die Familie daraufhin förmlich explodierte, wie Martin schreibt. (S. 72). Auch als Martin erwachsen war, verfolgte ihn seine Mutter weiter. „Sie gab mir tatsächlich das Gefühl, ein Monster zu sein, das sie vernichten wollte.“ (S. 24) Alice Miller hatte ihren erwachsenen Sohn später zudem in eine Therapie gedrängt. Sie bekam Tonbandaufnahmen der Therapiestunden geschickt und versuchte auf deren Grundlage wiederum ihren Sohn zu manipulieren. Ein ungeheuerlicher Verrat. Nachdem der Konflikt mit seiner Mutter weiter eskalierte, stand Martin schließlich kurz vor dem Suizid.
Alice Miller war als Mutter eine Katastrophe und hat total versagt, was sie in späteren Briefen an ihren Sohn auch zugestand. Der Sohn betrachtet all die Familienprobleme vor allem vor dem Hintergrund des Holocaust (Alice Miller war Jüdin und wurde in Polen verfolgt. Ihr Vater starb im Getto) und ihrer Traumatisierung im Krieg. Daher auch der Untertitel des Buches. Ich sehe dies kritisch. Mehr noch, ich fühle mich geradezu verpflichtet, etwas dazu zu schreiben, weil Martin Miller als Sohn von Alice Miller durch diese Tendenz in seinem Buch etwas ausblendet, worüber seine Mutter ihr Leben lang geforscht und geschrieben hat: Die ungemein destruktiven Folgen von elterlicher Destruktivität.
Das Buch beginnt mit einem Brief von Alice Miller an ihren Sohn im Jahr 1987. Sie schrieb:
„Warum brauchte ich 30 Jahre, um die Augen zu öffnen? Warum brauchte ich 60 Jahre, um zu sehen, wie grausam, zerstörerisch, ausbeuterisch, durch und durch verlogen und lieblos meine Mutter war? Dass sie systematisch die Liebe und das Leben in mir zerstörte und später das Gleiche mit meiner Schwester und meinem Neffen tat? Weil die Verdrängung der Schmerzen aus der Kindheit so unheimlich stark + weil ich, um sie aufrechtzuerhalten, lernen musste, nichts zu merken, nicht zu fühlen + den verlogenen Versicherungen, sie würden mich `lieben`, zu glauben. (…) Meine Mutter war ein grausamer Mensch, sie hat das Leben ihrer beiden Kinder ohne eine Spur des schlechten Gewissens zerstört und hielt sich für liebend und sorgend. “ (S. 10, 11) Nur wenige Seiten weiter schreibt ihr Sohn Martin: „Heute bin ich davon überzeugt, dass die Unfähigkeit Alice Millers, für mich eine liebende Mutter zu sein, in dem fest abgekapselten Trauma der Verfolgungsjahre von 1939 bis 1945 begründet liegt.“ (S. 22) Ab Seite 31 geht er dann auf ihre Familie und Kindheit etwas vertiefend ein und bleibt dabei zunächst auf der Ebene, die seine Mutter ihn immer vermittelte. Die streng religiöse jüdische Erziehung, die von Alice Miller als autoritär und stumpf erlebt wurden, beschreibt auch der Sohn. Und er schreibt, wie bei ihm Wut und Verbitterung ankam, wenn seine Mutter darüber berichtete. (vgl. S. 32) Erst ab Seite 42 kommt Martin etwas mehr auf den Punkt, dass seine Mutter als Kind einsam war, ihre Eltern als schlimm empfand und Züchtigungen (was auch immer das genau an Gewalt bedeutet haben mag) der Mutter ausgeliefert war. Gleich danach beginnt das Kapitel „Verleugnetes Trauma- die Überlebende“ (S. 47ff), in dem es um die Holocaust-Erfahrungen seiner Mutter geht.
Und auch im restlichen Teil des Buches nimmt die schlimme Kindheit von Alice Miller kaum oder eigentlich gar keinen Platz mehr ein. Und das, obwohl er erneut einen Brief seiner Mutter abdruckt, der deutlicher nicht sein könnte und, in dem sie u.a. schreibt:
„Ich habe mich in viele Menschen einfühlen können, nur in meinen Sohn konnte ich es nicht . (…) Hätte ich mich in seine Lage einfühlen können, dann hätte ich mich so erkennen müssen, wie ich zu ihm war: ahnungslos, kalt, hart, kritisierend, korrigierend, erzieherisch (…). Ich musste sehen, dass ich mit meinem ersten Kind fast genauso war wie meine Mutter mit mir. Trotz meiner Ausbildung ist es mir nicht gelungen, diesem Schicksal zu entgehen.“ (S. 132) Martin kommentiert dies nicht, sondern eröffnet gleich auf der nächsten Seite 133 das Kapitel „Der Sohn als Verfolger – die Macht des Kriegstraumas“ (Auf der Buchrückseite hat der Verlag übrigens die Inhaltsangabe mit dem groß gedruckten Satz "Im Schatten des Krieges" kommentiert; eigentlich hätte es heißen müssen: Im Schatten der Eltern und des Krieges.) Das Buch endet schließlich nach weiteren diversen Ausführungen mit einem Nachwort des Traumatherapeuten Oliver Schubbe, der sich getreu der Aufmachung des Buches auf die Nachwirkungen kriegsbedingter Traumatisierungen auf die nächste Generation konzentriert und nur allgemein auf Kinderschutz und die entsprechenden Mahnungen von Alice Miller hinweist.
Es ist zusammenfassend absolut erstaunlich und geradezu nachlässig, dass nun gerade der Sohn von Alice Miller die destruktive Kindheit seiner Mutter nicht nur nicht in den Mittelpunkt stellt, sondern sie an die Seite schiebt, zugunsten ihrer Kriegstraumatisierungen. (Auf Seite 65 + 66 fragt sich Martin auch, warum sein Vater ihm Gewalt antat und fügt an, dass dieser wohl die Spannungen in der Beziehung zu seiner Mutter auf diese Art an ihm ausagierte. Er kommt gar nicht auf die Frage, ob sein Vater als Kind auch misshandelt worden ist, was mehr als wahrscheinlich ist.) Komplett fehlt auch ein verknüpfender Hinweis oder Gedanke. Die Frage, wie sich kindliche Traumatisierungen im Elternhaus UND Kriegstraumatisierungen miteinander zu einer gefährlichen Masse verknüpfen können, taucht gar nicht auf. Alice Miller erlebte den Holocaust ab ihrem 16. Lebensjahr. Ihre Psyche und ihr Gehirn waren in sofern schon sehr weit entwickelt. Der Holocaust traf allerdings auf einen Menschen, der als Kind ungeliebt war. Alice Miller muss das Leben und die Welt als einen einzig dunklen und grausamen Ort erfahren haben. Kaum ein Forschender, der sich mit den Folgen von Kriegstraumatisierungen befasst, stellt die Frage, wie als Kind geliebte Menschen traumatische Erfahrungen wie Krieg verarbeiten. Ich persönlich vermute sehr stark, dass es deutliche Unterschiede bzgl. den Menschen gibt, die als Kind durch Eltern ungeliebt waren. Wer als Kind elterliche Liebe, Geborgenheit und Glück und keine elterliche Gewalt erfahren hat, besitzt einen unschätzbaren Schatz und ein Gefühlsleben, an das sich auch nach z.B. Kriegserfahrungen wieder erinnert werden bzw. auf das erneut aufgebaut werden kann. Hätte eine als Kind geliebte Alice Miller, die allerdings zum Holocaust-Opfer wurde, ihren Sohn genauso destruktiv behandelt? Meine Vermutung; Nein, das hätte sie nicht. Erst der Misch aus beiden traumatischen Erfahrungen tötete ihr Gefühlsleben in so weit ab, dass sie ihren Sohn derart psychisch misshandeln konnte und sein Leiden nicht sah, nicht nachfühlen konnte.
Abschließend möchte ich noch schreiben, dass Alice Miller und ihr Verhalten gegenüber ihren Kindern ein weiteres Lehrstück dafür ist, wie aus Opfern TäterInnen werden können. Dass eine so bedeutsame Kindheitsforscherin ihre eigene Geschichte an ihren Kindern wiederaufführte, zeigt die ungeheure destruktive Kraft von Lieblosigkeitserfahrungen. Alice Miller und das Zeugnis ihres Sohnes haben in tragischer Weise die Thesen belegt (Entwicklung vom Opfer zum Täter), die Miller ihr Leben lang bearbeitet und veröffentlicht hat. Das Buch ihres Sohnes ist wiederum bzgl. dem starken Einfluß von Kindheitserfahrungen auf eine Weise blind geblieben.
Martin Miller bringt mit einem Satz sein ganzes Anliegen auf den Punkt: „Es war nicht schön, der Sohn von Alice Miller zu sein. Im Gegenteil. Und trotzdem war meine Mutter eine große Kindheitsforscherin.“ (S. 25) Ihm geht es vor allem um seine ganz persönliche Geschichte, darum, die Schweigemauer darum abzubrechen und endlich öffentlich zu machen, wie schlimm es ihn als Kind mit dieser hoch verehrten Frau erging. Dazu hat er das volle Recht. Gleichzeitig betont er, dass das Werk seiner Mutter von enormer Bedeutung ist (auch für seine eigene Arbeit als Psychotherapeut). Wer Millers Werk auf Grund dieses Buches nun grundsätzlich ablehnt, der hat weder den Wahrheitsgehalt ihrer Thesen noch das Anliegen ihres Sohnes verstanden.
Ich möchte nur kurz skizzieren, was Martin Miller als Kind erlitten hat, da es mir vordergründig darum geht, den Untertitel des Buches zu kritisieren. Um es zusammenzufassen: Martin Millers Kindheit war ein Albtraum. Sein Vater war ihm gegenüber verachtend, cholerisch, autoritär und misshandelte ihn körperlich. Zudem fühlt sich Martin durch seinen Vater in sehr verschleierter Weise auch sexuell missbraucht. Alice Miller schützte ihren Sohn nicht vor den Quälereien durch den Vater. Zwischen den Eltern herrschte zudem fast immer Streit bzw. geradezu ein Ehekrieg. Alice scheint als Mutter oft abwesend, sehr beschäftigt, vernachlässigend und herzlos gewesen zu sein. Am ersten Schultag ihres Sohnes kam sie nicht auf die Idee, ihn zu begleiten, was er ihr später vorwarf. Die Eltern sprachen miteinander nur polnisch, was Martin nicht verstand, er hatte nur (Schweizer-)Deutsch gelernt, was seine Isolation noch verstärkte.
Seine Mutter gab Martin sofort nach der Geburt zu einer Bekannten zur Pflege. Nach zwei Wochen holte seine Tante ihn zu sich, da Martin sich in einem sehr schlechten Zustand befand; rückblickend sagte eine Verwandte: „Wenn wir dich nicht geholt hätten, wärest du gestorben.“ (S. 117) Dort blieb er ca. ein halbes Jahr, seine Eltern blieben Fremde für ihn. Mit ca. 6 Jahren wurde Martin für zwei Jahre in ein Kinderheim gegeben, nachdem seine Schwester mit einem Downsyndrom geboren worden war und die Familie daraufhin förmlich explodierte, wie Martin schreibt. (S. 72). Auch als Martin erwachsen war, verfolgte ihn seine Mutter weiter. „Sie gab mir tatsächlich das Gefühl, ein Monster zu sein, das sie vernichten wollte.“ (S. 24) Alice Miller hatte ihren erwachsenen Sohn später zudem in eine Therapie gedrängt. Sie bekam Tonbandaufnahmen der Therapiestunden geschickt und versuchte auf deren Grundlage wiederum ihren Sohn zu manipulieren. Ein ungeheuerlicher Verrat. Nachdem der Konflikt mit seiner Mutter weiter eskalierte, stand Martin schließlich kurz vor dem Suizid.
Alice Miller war als Mutter eine Katastrophe und hat total versagt, was sie in späteren Briefen an ihren Sohn auch zugestand. Der Sohn betrachtet all die Familienprobleme vor allem vor dem Hintergrund des Holocaust (Alice Miller war Jüdin und wurde in Polen verfolgt. Ihr Vater starb im Getto) und ihrer Traumatisierung im Krieg. Daher auch der Untertitel des Buches. Ich sehe dies kritisch. Mehr noch, ich fühle mich geradezu verpflichtet, etwas dazu zu schreiben, weil Martin Miller als Sohn von Alice Miller durch diese Tendenz in seinem Buch etwas ausblendet, worüber seine Mutter ihr Leben lang geforscht und geschrieben hat: Die ungemein destruktiven Folgen von elterlicher Destruktivität.
Das Buch beginnt mit einem Brief von Alice Miller an ihren Sohn im Jahr 1987. Sie schrieb:
„Warum brauchte ich 30 Jahre, um die Augen zu öffnen? Warum brauchte ich 60 Jahre, um zu sehen, wie grausam, zerstörerisch, ausbeuterisch, durch und durch verlogen und lieblos meine Mutter war? Dass sie systematisch die Liebe und das Leben in mir zerstörte und später das Gleiche mit meiner Schwester und meinem Neffen tat? Weil die Verdrängung der Schmerzen aus der Kindheit so unheimlich stark + weil ich, um sie aufrechtzuerhalten, lernen musste, nichts zu merken, nicht zu fühlen + den verlogenen Versicherungen, sie würden mich `lieben`, zu glauben. (…) Meine Mutter war ein grausamer Mensch, sie hat das Leben ihrer beiden Kinder ohne eine Spur des schlechten Gewissens zerstört und hielt sich für liebend und sorgend. “ (S. 10, 11) Nur wenige Seiten weiter schreibt ihr Sohn Martin: „Heute bin ich davon überzeugt, dass die Unfähigkeit Alice Millers, für mich eine liebende Mutter zu sein, in dem fest abgekapselten Trauma der Verfolgungsjahre von 1939 bis 1945 begründet liegt.“ (S. 22) Ab Seite 31 geht er dann auf ihre Familie und Kindheit etwas vertiefend ein und bleibt dabei zunächst auf der Ebene, die seine Mutter ihn immer vermittelte. Die streng religiöse jüdische Erziehung, die von Alice Miller als autoritär und stumpf erlebt wurden, beschreibt auch der Sohn. Und er schreibt, wie bei ihm Wut und Verbitterung ankam, wenn seine Mutter darüber berichtete. (vgl. S. 32) Erst ab Seite 42 kommt Martin etwas mehr auf den Punkt, dass seine Mutter als Kind einsam war, ihre Eltern als schlimm empfand und Züchtigungen (was auch immer das genau an Gewalt bedeutet haben mag) der Mutter ausgeliefert war. Gleich danach beginnt das Kapitel „Verleugnetes Trauma- die Überlebende“ (S. 47ff), in dem es um die Holocaust-Erfahrungen seiner Mutter geht.
Und auch im restlichen Teil des Buches nimmt die schlimme Kindheit von Alice Miller kaum oder eigentlich gar keinen Platz mehr ein. Und das, obwohl er erneut einen Brief seiner Mutter abdruckt, der deutlicher nicht sein könnte und, in dem sie u.a. schreibt:
„Ich habe mich in viele Menschen einfühlen können, nur in meinen Sohn konnte ich es nicht . (…) Hätte ich mich in seine Lage einfühlen können, dann hätte ich mich so erkennen müssen, wie ich zu ihm war: ahnungslos, kalt, hart, kritisierend, korrigierend, erzieherisch (…). Ich musste sehen, dass ich mit meinem ersten Kind fast genauso war wie meine Mutter mit mir. Trotz meiner Ausbildung ist es mir nicht gelungen, diesem Schicksal zu entgehen.“ (S. 132) Martin kommentiert dies nicht, sondern eröffnet gleich auf der nächsten Seite 133 das Kapitel „Der Sohn als Verfolger – die Macht des Kriegstraumas“ (Auf der Buchrückseite hat der Verlag übrigens die Inhaltsangabe mit dem groß gedruckten Satz "Im Schatten des Krieges" kommentiert; eigentlich hätte es heißen müssen: Im Schatten der Eltern und des Krieges.) Das Buch endet schließlich nach weiteren diversen Ausführungen mit einem Nachwort des Traumatherapeuten Oliver Schubbe, der sich getreu der Aufmachung des Buches auf die Nachwirkungen kriegsbedingter Traumatisierungen auf die nächste Generation konzentriert und nur allgemein auf Kinderschutz und die entsprechenden Mahnungen von Alice Miller hinweist.
Es ist zusammenfassend absolut erstaunlich und geradezu nachlässig, dass nun gerade der Sohn von Alice Miller die destruktive Kindheit seiner Mutter nicht nur nicht in den Mittelpunkt stellt, sondern sie an die Seite schiebt, zugunsten ihrer Kriegstraumatisierungen. (Auf Seite 65 + 66 fragt sich Martin auch, warum sein Vater ihm Gewalt antat und fügt an, dass dieser wohl die Spannungen in der Beziehung zu seiner Mutter auf diese Art an ihm ausagierte. Er kommt gar nicht auf die Frage, ob sein Vater als Kind auch misshandelt worden ist, was mehr als wahrscheinlich ist.) Komplett fehlt auch ein verknüpfender Hinweis oder Gedanke. Die Frage, wie sich kindliche Traumatisierungen im Elternhaus UND Kriegstraumatisierungen miteinander zu einer gefährlichen Masse verknüpfen können, taucht gar nicht auf. Alice Miller erlebte den Holocaust ab ihrem 16. Lebensjahr. Ihre Psyche und ihr Gehirn waren in sofern schon sehr weit entwickelt. Der Holocaust traf allerdings auf einen Menschen, der als Kind ungeliebt war. Alice Miller muss das Leben und die Welt als einen einzig dunklen und grausamen Ort erfahren haben. Kaum ein Forschender, der sich mit den Folgen von Kriegstraumatisierungen befasst, stellt die Frage, wie als Kind geliebte Menschen traumatische Erfahrungen wie Krieg verarbeiten. Ich persönlich vermute sehr stark, dass es deutliche Unterschiede bzgl. den Menschen gibt, die als Kind durch Eltern ungeliebt waren. Wer als Kind elterliche Liebe, Geborgenheit und Glück und keine elterliche Gewalt erfahren hat, besitzt einen unschätzbaren Schatz und ein Gefühlsleben, an das sich auch nach z.B. Kriegserfahrungen wieder erinnert werden bzw. auf das erneut aufgebaut werden kann. Hätte eine als Kind geliebte Alice Miller, die allerdings zum Holocaust-Opfer wurde, ihren Sohn genauso destruktiv behandelt? Meine Vermutung; Nein, das hätte sie nicht. Erst der Misch aus beiden traumatischen Erfahrungen tötete ihr Gefühlsleben in so weit ab, dass sie ihren Sohn derart psychisch misshandeln konnte und sein Leiden nicht sah, nicht nachfühlen konnte.
Abschließend möchte ich noch schreiben, dass Alice Miller und ihr Verhalten gegenüber ihren Kindern ein weiteres Lehrstück dafür ist, wie aus Opfern TäterInnen werden können. Dass eine so bedeutsame Kindheitsforscherin ihre eigene Geschichte an ihren Kindern wiederaufführte, zeigt die ungeheure destruktive Kraft von Lieblosigkeitserfahrungen. Alice Miller und das Zeugnis ihres Sohnes haben in tragischer Weise die Thesen belegt (Entwicklung vom Opfer zum Täter), die Miller ihr Leben lang bearbeitet und veröffentlicht hat. Das Buch ihres Sohnes ist wiederum bzgl. dem starken Einfluß von Kindheitserfahrungen auf eine Weise blind geblieben.
Samstag, 12. Oktober 2013
Eine Kritik an Volker Ullrichs Biografie über Adolf Hitler
Der Publizist Volker Ullrich hat eine große Hitler Biografie (mit über 1000 Seiten) vorgelegt, die aktuell in vielen Medien besprochen wird: „Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs 1889 – 1939“ erschienen 2013 im Fischer Verlag, Frankfurt am Main.
Hinweis vorweg: Da ich das Buch als E-Book durchgesehen habe und bei meiner Ausgabe keine Möglichkeit der Seitenanzeige vorliegt, zitiere ich nachfolgend leider ohne genaue Seitenangabe...
Wesentliches Ziel dieser Biografie ist erklärter Maßen, die Leere um Hitlers Leben/Privatleben und seine privaten Eigenschaften zu füllen. Ullrich beschreibt zunächst, wie viele Autoren die Person Hitler als eine Art leere Hülle beschreiben, als einen Menschen, der privat nicht greifbar zu sein scheint. „In diesem Buch soll nun versucht werden, dieses Bild zu korrigieren. Es bemüht sich um den Nachweis, dass die behauptete Leere von Hitlers Existenz jenseits seiner politischen Aktivitäten ein Trugschluss ist.“, schreibt er.
Ich folge bekanntlich den Gedanken von Arno Gruen (in seinem Buch "Der Fremde in uns"), der Hitler als eine „Nicht-Identität“ sieht, als einen Menschen, der in der Tat innerlich absolut leer ist und der als Kind keinen empathischen Kern herausbilden konnte. Insofern sind die grundsätzlichen Beobachtungen und Einschätzungen anderer Biografen im Kern (sie erkennen die menschliche Leere aber nicht die Ursachen dafür) absolut richtig: Jemand, der im Grunde keine ganze und eigene Identität besitzt, der wird auch nicht greifbar. Menschen ohne Identität sind zudem oftmals gute Rollenspieler (was Hitler in Perfektion betrieb), weil sie ihr innere leeres Blatt je nach Belieben und Situation „bemalen“ können. Ullrich sieht dies offensichtlich anders. Und es verwundert insofern auch nicht, dass er sehr bemüht ist, Hitlers Kindheit als durchaus normal und als nicht sonderlich traumatisch zu beschreiben. Er braucht einen möglichst normalen, nicht persönlichkeitsgestörten Hitler, um ihm ein privates, menschliches Leben einzuhauchen (etwas, dass Hitler in meinen Augen nie besessen hat)
Ullrich befasst sich entsprechend nur kurz (in Kapitel 1 „Der junge Hitler“) mit der gewaltvollen Familienatmosphäre bei den Hitlers. Das ist das eine. Aber mehr noch, er interpretiert die Gewalterfahrungen klein. „Im Kreis seiner Familie wirkte Alois Hitler als strenger, leicht aufbrausender Hausvater. Von seinen Kindern forderte er unbedingten Respekt und Gehorsam und Griff, wenn sie ihm nicht entgegengebracht wurden, gern zum Rohrstock.“, schreibt Ullrich zunächst.
Vor allem der älteste Sohn hatte unter dem Jähzorn zu leiden, so der Autor weiter, „aber auch der sieben Jahre jüngere Adolf scheint gelegentlich geschlagen worden zu sein. Dass er `jeden Tag eine richtige Tracht Prügel` bekommen habe, wie seine Schwester Paula bei einem Verhör im Mai 1946 berichtete, dürfte indes eine Übertreibung sein.“ Warum er dies als „Übertreibung“ interpretiert, erklärt er gleich im nächsten Satz; nämlich, weil Hitlers Vater sich „im Grunde wenig um die Erziehung der Kinder“ kümmerte und sich nach seiner Arbeit lieber mit anderen Dingen außerhalb der Familie befasste. Aha. Ein oft abwesender Vater ist also gleich auch ein Vater, der seine Kinder nicht täglich misshandeln kann? Dieser Gedankengang scheint mir wenig logisch. Faktisch wohnte und schlief Hitler Vater zu Hause. Wenn er seine Kinder misshandeln wollte, dann reichten dafür auch täglich 15 Minuten. Zudem schreibt Bavendamm (2009, S. 100) dass sich Alois sen. (Hitlers Vater) 1895 pensionieren ließ und dadurch „die innerfamilären Spannungen eskalierten“, da er sich jetzt auch tagsüber zeitweise zu Hause aufhielt. Adolf war zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt!
Grundsätzlich finde ich aber auch die Zweifel an der Aussage von Hitlers Schwester unangebracht.
Erstens: Warum sollte sie bei so etwas lügen? Ich sehe da kein Motiv. Außerdem sei angemerkt, dass sie in einem späteren Zeitungsartikel ihrer Mutter und deren Erziehung die Schuld an Adolf Hitlers Werdegang zuschob. „Wenn ich ehrlich sein soll, dann ist mein Bruder vor allem durch unsere Mutter verdorben worden.“ (Zdral 2005, S. 201) Paula machte die Schuld der Mutter darin aus, dass in ihrer Erziehung eine „festere Hand“ und „ein paar kräftige Ohrfeigen“ gegenüber Adolf gefehlt hätten. (ebd., 201+202) Stattdessen habe die Mutter in Adolf immer nur den Stärksten und Größten von allen gesehen. Paula war also selbst stark mit dem Aggressor identifiziert (wie so Viele ihrer Zeit) und sah in Schlägen gegen Kinder eine Möglichkeit, diese von bösem Verhalten abzubringen. Dazu passt auch, was Paula vor dem o.g. Auszug über tägliche Prügel sagte: „Mein Bruder Adolf forderte meinen Vater zu extremer Strenge heraus und erhielt dafür jeden Tag eine richtige Tracht Prügel.“ (ebd., S. 39) Die Schuld für die Prügel liegen dieser Aussage nach also im Verhalten des Kindes Adolf, dass dazu „herausforderte“. Paula hatte offensichtlich kein Problem mit der Erziehung durch Schläge. Nochmal: Warum sollte sie bei so etwas also lügen? Warum sollte sie eine schwere Misshandlungsgeschichte als „Übertreibung“, wie Ulrich schreibt, den Interviewern auftischen?
Zweitens: Es gibt hinreichend andere Belege für die väterliche Gewalt. (siehe z.B. online ausführlich hier, wobei es schon erstaunlich oder auch bezeichnend ist, dass dieser quellenbasierte und in sich logische Text in einem nur halb-seriösen Verlag wie Kopp erscheinen musste und nicht woanders.) Ullrich selbst fügt den o.g. Zweifeln die Fußnote 79 an. Er zitiert darin Kubizek – einen Freund Hitlers-, der berichtete, Hitler hätte gesagt, dass Auseinandersetzungen mit seinem Vater „oftmals“ mit Prügeln endeten. Ullrich zitiert in der selben Fußnote auch die Aussage einer Hitler Sekretärin (die ich ebenfalls hier ausführlich zitiert habe), die Hitlers Erzählung von 32 väterlichen Schlägen in einer Misshandlungssituation wiedergab. Dann fügt Ullrich noch den Autor Bavendamm als "relativierende" Quelle an und verweist auf Seite 114f.
Schaut man sich diese relativierende Quelle genau an, kommt man vom einen Erstaunen zum nächsten. Der Historiker Bavendamm beginnt seine Schilderungen damit, dass er von „angeblich reichlichen und harten Körperstrafen“ spricht. (Bavendamm 2009, S. 114) Wohlgemerkt, er schreibt „angeblich“. Die Zweifel des Autors rühren her von sich widersprechenden Aussagen – wie er schreibt - von Adolfs Stiefgeschwistern, seiner Schwester Paula und dem späteren Vormund Adolfs Josef Mayrhofer. Letzterer hat geäußert, dass er nicht daran glaube, dass die Kinder durch Alois sen. geschlagen worden seien. Der Zeitzeuge bestätigt aber im selben Satz, dass oft geschimpft, gepoltert und mit Schlägen gedroht wurde. „Aber Sie wissen ja selber, bellende Hunde beißen nicht.“, fügte er dann noch an. (ebd.). Die Vermutung dieses Zeugen, dass nicht geschlagen wurde, obwohl er selber Hinweise für sehr bedrohliche Situationen gab, wird von Bavendamm als Indiz für weniger handfeste Misshandlungen genommen. Das finde ich mehr als fragwürdig. Zudem, selbst in der damaligen Zeit war es unangebracht, Schläge – dabei auch gerade schwere Misshandlungen - in der Gegenwart von Gästen zu verabreichen. Diese erfolgten, wenn die Familie wieder unter sich war. Was Familienmitglieder berichteten fügt der Zweifler Bavendamm gleich im Anschluss an:
Adolfs Halbschwester Angela Hammitzsch berichtete 1945, ihr Vater habe seinen Sohn Adolf „zwei- bis dreimal pro Woche verhauen“. (ebd.) Paula berichtete, wie schon oben erwähnt, von täglichen Prügel, auch dies wird hier vom Autor zitiert. William Patrick Hitler sprach davon, dass Adolf „oft von seinem Vater verprügelt“ wurde, allerdings nicht so oft und heftig, wie der Bruder Alois Hitler jr. (ebd.) Danach zitiert Bravendamm noch Hitlers Sekretärin, die von den schon oben erwähnten 32 Schlägen und davon berichtete, dass Hitler zufolge sein Vater ihn bei „jeder sich bietenden Gelegenheit“ geschlagen habe. (ebd.) Abschließend schreibt der Autor. „Angesichts all dieser Aussagen fällt es schwer, Dauer und Gewicht der körperlichen Misshandlungen, die Adolf durch seinen Vater erlitten hat, richtig einzuschätzen und zuverlässige Aussagen darüber zu machen, welche psychischen Folgen diese Züchtigungen für den Bub möglicherweise gehabt haben.“ (ebd., S. 115)
Ich weiß nicht wie es anderen LeserInnen geht, aber mir kommen diese Schilderungen so vor, als ab ein Sehender sich blind stellt. Aus Aussagen wie „zwei- bis dreimal pro Woche“, „täglich“, „oft“ und „bei jeder Gelegenheit“ bis hin zu 32 Schlägen und einmal „ich glaube nicht“ von einem Nicht-Familienmitglied wird sich „widersprechende Aussagen“, die Grund zu Zweifeln lassen. Das verstehe wer will, ich verstehe es nicht. Alle o.g. Quellen bzw. Zeugenaussagen von Familienmitgliedern belegen den Tatbestand der nicht seltenen sondern häufigen Misshandlung. Ob dies nun täglich oder wöchentlich war, oder manchmal einige Wochen täglich und einige nur einige Tage pro Woche, spielt dabei keine all zu wesentliche Rolle. Häufige Misshandlungen haben immer schwere Schäden für das Kind zur Folge. Bavendamm schreibt zwei Seiten weiter auch: „Ein oder zweimal kam es wohl auch zu echten Gewaltexzessen.“ (ebd., S. 116) und „Als Adolf von seinem Vater dabei erwischt wurde, wie er sich für seinen Fluchtversuch zusammen mit zwei Freunden ein Floß baute, wurde er so schlimm zusammengeschlagen, dass man wohl befürchten musste, er sei getötet worden.“ (ebd., S. 117) Letztere Aussage stammte wiederum von William Patrick Hitler, der an anderer und oben zitierter Stelle sagte, Adolf sei nicht so hart geschlagen worden, wie Alois jun. Immerhin relativiert sich Havenmann an einer Stelle selbst. "Narzisstische Kränkungen (...) und hin und wieder auch eine heftige Tracht Prügel musste Adolf gewiss einstecken, das raue Klima, das Alois zu Hause um sich verbreitete, soll nicht grundsätzlich in Abrede gestellt werden." (ebd., S. 117) Ja was denn nun? Also war Adolf doch ein schwer misshandeltes Kind, wenn auch nur durch eine Quelle belegt täglich geprügelt? Streiten wir jetzt um tägliche oder wöchentliche Prügel?
Um hier abzuschließen und wieder auf den eigentlichen zu kritisiernden Autor Volker Ullrich zurückzukommen: Eine so merkwürdige Fußnote wie die Nr. 79 ist mir noch nie untergekommen. Sie unterstützt zunächst die These, dass Hitler ein schwer misshandeltes Kind ist, obwohl sie Zweifeln bzgl. der Schwere und Häufigkeit der Misshandlungen im Text angefügt ist. Diese Fußnote hätte Sinn gemacht, wenn nur der Autor Bavendamm genannt worden wäre, da dieser die Zweifel teilt. Eine genaue Durchsicht der Argumente Bavendamms wiederum bringt mich zu den gleichen Fragezeichen, die sich schon bei Ullrich auftaten. Insofern muss ich mich gleich wieder verbessern: Auch der Hinweis auf den Autor Bavendamm macht kaum Sinn, um Zweifel an der Misshandlungsgeschichte Hitlers zu stützen.
Nach Volker Ullrichs Besprechung der Vater-Sohn-Beziehung folgt in seinem Buch dann die Darstellung, dass Hitlers Mutter liebevoll war und sie ihm einen Ausgleich zu der Strenge des Vaters bot. Ich verweise dabei erneut auf Arno Gruen ("Der Fremde in uns"), der diese Mutter-Kind-Beziehung als deutlich gestört analysiert hat. Schließlich wird Ullrich nochmal überdeutlich in seiner Ablehnung von zu viel Kindheitseinflüssen auf die Entwicklung von Menschen wie Hitler. Er schreibt:
„Die ersten Lebensjahre gelten nach den Annahmen der Psychoanalyse als entscheidend für die Entwicklung der Persönlichkeit. Nur wenige Historiker, Psychohistoriker zumal, haben daher der Versuchung widerstanden, im jungen Hitler bereits Züge des späteren Monsters entdecken zu wollen. So hat man etwa die Gewalterfahrung, der das Kind durch den Vater ausgesetzt gewesen sei (Persönliche Anmerkung: Er schreibt hier nicht „ist“, zweifelt also erneut), als eine der Ursachen für die mörderische Politik des Diktators interpretiert. „ (Persönliche Anmerkung: Diesem Satz schließt er die Fußnote 85 an und verweist u.a. auf Alice Millers „Am Anfang war Erziehung“ und Christa Mulacks „Klara Hitler“. ) Doch sollten sich Biographen hüten, zu weitreichende Schlüsse aus frühen Kindheitserlebnissen zu ziehen. Körperliche Züchtigung war damals als Erziehungsmittel durchaus noch an der Tagesordnung. Ein autoritär-repressiver Vater und eine liebevoll-ausgleichende Mutter – diese Konstellation war in Mittelstandsfamilien um die Jahrhundertwende keineswegs ungewöhnlich. Nach allem, was wir wissen, scheint Hitler eine ziemlich normale Kindheit verbracht zu haben. Jedenfalls gibt es keine gesicherten Hinweise auf eine abnorme Persönlichkeitsbildung, aus der sich die späteren Verbrechen ableiten ließen. Wenn es ein Problem gab, dann war es wohl nicht ein Zuwenig, sondern ein Zuviel an mütterlicher Zuwendung und Nachsicht. (…)“
Diesen Abschnitt muss man erst einmal sacken lassen. Irgendwie scheint Ullrich ja doch deutlich anzuerkennen, dass Adolf Hitler einen autoritären, gewaltvollen Vater hatte, die besondere Schwere der Gewalt zweifelt er allerdings wie oben beschrieben an. Und da Gewalt gegen Kinder und eine autoritäre Erziehung damals „normal“ waren, war also auch Hitler „normal“, ein ganz „normal“ misshandeltes Kind eben. Ja, so war das damals.
Ullrich hat Millers „Am Anfang war Erziehung“ gelesen. Insofern trifft doch die Feststellung über die Normalität der Gewalt gegen Kinder um 1900 genau eben die Thesen von Alice Miller. Denn Hitler konnte nur Erfolg haben, weil auch die Massen keine liebevolle, sondern eher eine gewaltvolle und lieblose Kindheit erlitten hatten. Ullrich scheint dies hier auszublenden. Weil fast alle Menschen damals Gewalt erlebten, waren alle normal, sprich der Norm entsprechend. Also sprechen wir bitteschön nicht weiter über die Kindheitseinflüsse auf politisches Verhalten. Und außerdem waren da ja noch die ganz „normalen“ Mütter um 1900, die „liebevoll-ausgleichend“ agierten. Dem entgegen stehen psychohistorische Forschungen von deMause (2005, S.212-255), die belegen, dass Frauen die gesamte Geschichte hindurch brutal und grausam zu Kindern waren. In diesem Blog habe ich etliche Zahlen zusammengestellt, die deutlich zeigen, dass Mütter in vielen Ländern sogar häufiger Gewalt gegen Kinder anwenden, als Väter. Und dies ist nicht ein moderner Trend, sondern letztlich ein deutlicher Ausläufer der Geschichte, denn Kinder waren historisch diejenigen, über die Frauen routinemäßig viel Macht hatten.
Abschließend möchte ich meinen Eindruck wiederholen, dass Ullrich (genau wie der Historiker Bravendamm) sich obwohl er sehen kann, blind stellt. Ich habe bisher viele Bücher von Historikern gelesen, die sich mit Diktatoren und ähnlichen Akteuren befassen und die entweder Berichte über eine gewaltvolle Kindheit ganz auslassen oder sie kurz erwähnen ohne diesen besondere Bedeutung zukommen zu lassen oder die Gewalt erwähnen, aber sie im Sinne der Zeit als wohlgemeinte Erziehung umdeuten. Ich habe noch nie Bücher wie die vonn Ullrich und Bravendamm in den Händen gehabt, in denen die Autoren verhältnismäßig ausführlich auf kindliche Gewalterfahrungen eingehen und diese dann mit Zweifeln und Geringwertung überschütten. Beides sind zudem aktuelle Bücher. Beide Autoren hätten heute die Möglichkeiten gehabt, sich mit den gut erforschten Folgen der Kindesmisshandlung auseinanderzusetzen. Das solche Biografien auch heute noch in dieser Art Kindheitseinflüsse gering reden, ist niederschmetternd. Zu hoffen ist, dass die jüngere Historikergeneration dies zuzkünftig anders händelt (Bavendamm ist Jahrgang 1938 und Ullrich 1943).
Ergänzend verwendete Quelle:
Bavendamm, Dirk (2009): Der junge Hitler. Korrekturen einer Biographie 1889-1914. Ares Verlag, Graz.
Restlichen siehe Links und Hinweise im Text
Hinweis vorweg: Da ich das Buch als E-Book durchgesehen habe und bei meiner Ausgabe keine Möglichkeit der Seitenanzeige vorliegt, zitiere ich nachfolgend leider ohne genaue Seitenangabe...
Wesentliches Ziel dieser Biografie ist erklärter Maßen, die Leere um Hitlers Leben/Privatleben und seine privaten Eigenschaften zu füllen. Ullrich beschreibt zunächst, wie viele Autoren die Person Hitler als eine Art leere Hülle beschreiben, als einen Menschen, der privat nicht greifbar zu sein scheint. „In diesem Buch soll nun versucht werden, dieses Bild zu korrigieren. Es bemüht sich um den Nachweis, dass die behauptete Leere von Hitlers Existenz jenseits seiner politischen Aktivitäten ein Trugschluss ist.“, schreibt er.
Ich folge bekanntlich den Gedanken von Arno Gruen (in seinem Buch "Der Fremde in uns"), der Hitler als eine „Nicht-Identität“ sieht, als einen Menschen, der in der Tat innerlich absolut leer ist und der als Kind keinen empathischen Kern herausbilden konnte. Insofern sind die grundsätzlichen Beobachtungen und Einschätzungen anderer Biografen im Kern (sie erkennen die menschliche Leere aber nicht die Ursachen dafür) absolut richtig: Jemand, der im Grunde keine ganze und eigene Identität besitzt, der wird auch nicht greifbar. Menschen ohne Identität sind zudem oftmals gute Rollenspieler (was Hitler in Perfektion betrieb), weil sie ihr innere leeres Blatt je nach Belieben und Situation „bemalen“ können. Ullrich sieht dies offensichtlich anders. Und es verwundert insofern auch nicht, dass er sehr bemüht ist, Hitlers Kindheit als durchaus normal und als nicht sonderlich traumatisch zu beschreiben. Er braucht einen möglichst normalen, nicht persönlichkeitsgestörten Hitler, um ihm ein privates, menschliches Leben einzuhauchen (etwas, dass Hitler in meinen Augen nie besessen hat)
Ullrich befasst sich entsprechend nur kurz (in Kapitel 1 „Der junge Hitler“) mit der gewaltvollen Familienatmosphäre bei den Hitlers. Das ist das eine. Aber mehr noch, er interpretiert die Gewalterfahrungen klein. „Im Kreis seiner Familie wirkte Alois Hitler als strenger, leicht aufbrausender Hausvater. Von seinen Kindern forderte er unbedingten Respekt und Gehorsam und Griff, wenn sie ihm nicht entgegengebracht wurden, gern zum Rohrstock.“, schreibt Ullrich zunächst.
Vor allem der älteste Sohn hatte unter dem Jähzorn zu leiden, so der Autor weiter, „aber auch der sieben Jahre jüngere Adolf scheint gelegentlich geschlagen worden zu sein. Dass er `jeden Tag eine richtige Tracht Prügel` bekommen habe, wie seine Schwester Paula bei einem Verhör im Mai 1946 berichtete, dürfte indes eine Übertreibung sein.“ Warum er dies als „Übertreibung“ interpretiert, erklärt er gleich im nächsten Satz; nämlich, weil Hitlers Vater sich „im Grunde wenig um die Erziehung der Kinder“ kümmerte und sich nach seiner Arbeit lieber mit anderen Dingen außerhalb der Familie befasste. Aha. Ein oft abwesender Vater ist also gleich auch ein Vater, der seine Kinder nicht täglich misshandeln kann? Dieser Gedankengang scheint mir wenig logisch. Faktisch wohnte und schlief Hitler Vater zu Hause. Wenn er seine Kinder misshandeln wollte, dann reichten dafür auch täglich 15 Minuten. Zudem schreibt Bavendamm (2009, S. 100) dass sich Alois sen. (Hitlers Vater) 1895 pensionieren ließ und dadurch „die innerfamilären Spannungen eskalierten“, da er sich jetzt auch tagsüber zeitweise zu Hause aufhielt. Adolf war zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt!
Grundsätzlich finde ich aber auch die Zweifel an der Aussage von Hitlers Schwester unangebracht.
Erstens: Warum sollte sie bei so etwas lügen? Ich sehe da kein Motiv. Außerdem sei angemerkt, dass sie in einem späteren Zeitungsartikel ihrer Mutter und deren Erziehung die Schuld an Adolf Hitlers Werdegang zuschob. „Wenn ich ehrlich sein soll, dann ist mein Bruder vor allem durch unsere Mutter verdorben worden.“ (Zdral 2005, S. 201) Paula machte die Schuld der Mutter darin aus, dass in ihrer Erziehung eine „festere Hand“ und „ein paar kräftige Ohrfeigen“ gegenüber Adolf gefehlt hätten. (ebd., 201+202) Stattdessen habe die Mutter in Adolf immer nur den Stärksten und Größten von allen gesehen. Paula war also selbst stark mit dem Aggressor identifiziert (wie so Viele ihrer Zeit) und sah in Schlägen gegen Kinder eine Möglichkeit, diese von bösem Verhalten abzubringen. Dazu passt auch, was Paula vor dem o.g. Auszug über tägliche Prügel sagte: „Mein Bruder Adolf forderte meinen Vater zu extremer Strenge heraus und erhielt dafür jeden Tag eine richtige Tracht Prügel.“ (ebd., S. 39) Die Schuld für die Prügel liegen dieser Aussage nach also im Verhalten des Kindes Adolf, dass dazu „herausforderte“. Paula hatte offensichtlich kein Problem mit der Erziehung durch Schläge. Nochmal: Warum sollte sie bei so etwas also lügen? Warum sollte sie eine schwere Misshandlungsgeschichte als „Übertreibung“, wie Ulrich schreibt, den Interviewern auftischen?
Zweitens: Es gibt hinreichend andere Belege für die väterliche Gewalt. (siehe z.B. online ausführlich hier, wobei es schon erstaunlich oder auch bezeichnend ist, dass dieser quellenbasierte und in sich logische Text in einem nur halb-seriösen Verlag wie Kopp erscheinen musste und nicht woanders.) Ullrich selbst fügt den o.g. Zweifeln die Fußnote 79 an. Er zitiert darin Kubizek – einen Freund Hitlers-, der berichtete, Hitler hätte gesagt, dass Auseinandersetzungen mit seinem Vater „oftmals“ mit Prügeln endeten. Ullrich zitiert in der selben Fußnote auch die Aussage einer Hitler Sekretärin (die ich ebenfalls hier ausführlich zitiert habe), die Hitlers Erzählung von 32 väterlichen Schlägen in einer Misshandlungssituation wiedergab. Dann fügt Ullrich noch den Autor Bavendamm als "relativierende" Quelle an und verweist auf Seite 114f.
Schaut man sich diese relativierende Quelle genau an, kommt man vom einen Erstaunen zum nächsten. Der Historiker Bavendamm beginnt seine Schilderungen damit, dass er von „angeblich reichlichen und harten Körperstrafen“ spricht. (Bavendamm 2009, S. 114) Wohlgemerkt, er schreibt „angeblich“. Die Zweifel des Autors rühren her von sich widersprechenden Aussagen – wie er schreibt - von Adolfs Stiefgeschwistern, seiner Schwester Paula und dem späteren Vormund Adolfs Josef Mayrhofer. Letzterer hat geäußert, dass er nicht daran glaube, dass die Kinder durch Alois sen. geschlagen worden seien. Der Zeitzeuge bestätigt aber im selben Satz, dass oft geschimpft, gepoltert und mit Schlägen gedroht wurde. „Aber Sie wissen ja selber, bellende Hunde beißen nicht.“, fügte er dann noch an. (ebd.). Die Vermutung dieses Zeugen, dass nicht geschlagen wurde, obwohl er selber Hinweise für sehr bedrohliche Situationen gab, wird von Bavendamm als Indiz für weniger handfeste Misshandlungen genommen. Das finde ich mehr als fragwürdig. Zudem, selbst in der damaligen Zeit war es unangebracht, Schläge – dabei auch gerade schwere Misshandlungen - in der Gegenwart von Gästen zu verabreichen. Diese erfolgten, wenn die Familie wieder unter sich war. Was Familienmitglieder berichteten fügt der Zweifler Bavendamm gleich im Anschluss an:
Adolfs Halbschwester Angela Hammitzsch berichtete 1945, ihr Vater habe seinen Sohn Adolf „zwei- bis dreimal pro Woche verhauen“. (ebd.) Paula berichtete, wie schon oben erwähnt, von täglichen Prügel, auch dies wird hier vom Autor zitiert. William Patrick Hitler sprach davon, dass Adolf „oft von seinem Vater verprügelt“ wurde, allerdings nicht so oft und heftig, wie der Bruder Alois Hitler jr. (ebd.) Danach zitiert Bravendamm noch Hitlers Sekretärin, die von den schon oben erwähnten 32 Schlägen und davon berichtete, dass Hitler zufolge sein Vater ihn bei „jeder sich bietenden Gelegenheit“ geschlagen habe. (ebd.) Abschließend schreibt der Autor. „Angesichts all dieser Aussagen fällt es schwer, Dauer und Gewicht der körperlichen Misshandlungen, die Adolf durch seinen Vater erlitten hat, richtig einzuschätzen und zuverlässige Aussagen darüber zu machen, welche psychischen Folgen diese Züchtigungen für den Bub möglicherweise gehabt haben.“ (ebd., S. 115)
Ich weiß nicht wie es anderen LeserInnen geht, aber mir kommen diese Schilderungen so vor, als ab ein Sehender sich blind stellt. Aus Aussagen wie „zwei- bis dreimal pro Woche“, „täglich“, „oft“ und „bei jeder Gelegenheit“ bis hin zu 32 Schlägen und einmal „ich glaube nicht“ von einem Nicht-Familienmitglied wird sich „widersprechende Aussagen“, die Grund zu Zweifeln lassen. Das verstehe wer will, ich verstehe es nicht. Alle o.g. Quellen bzw. Zeugenaussagen von Familienmitgliedern belegen den Tatbestand der nicht seltenen sondern häufigen Misshandlung. Ob dies nun täglich oder wöchentlich war, oder manchmal einige Wochen täglich und einige nur einige Tage pro Woche, spielt dabei keine all zu wesentliche Rolle. Häufige Misshandlungen haben immer schwere Schäden für das Kind zur Folge. Bavendamm schreibt zwei Seiten weiter auch: „Ein oder zweimal kam es wohl auch zu echten Gewaltexzessen.“ (ebd., S. 116) und „Als Adolf von seinem Vater dabei erwischt wurde, wie er sich für seinen Fluchtversuch zusammen mit zwei Freunden ein Floß baute, wurde er so schlimm zusammengeschlagen, dass man wohl befürchten musste, er sei getötet worden.“ (ebd., S. 117) Letztere Aussage stammte wiederum von William Patrick Hitler, der an anderer und oben zitierter Stelle sagte, Adolf sei nicht so hart geschlagen worden, wie Alois jun. Immerhin relativiert sich Havenmann an einer Stelle selbst. "Narzisstische Kränkungen (...) und hin und wieder auch eine heftige Tracht Prügel musste Adolf gewiss einstecken, das raue Klima, das Alois zu Hause um sich verbreitete, soll nicht grundsätzlich in Abrede gestellt werden." (ebd., S. 117) Ja was denn nun? Also war Adolf doch ein schwer misshandeltes Kind, wenn auch nur durch eine Quelle belegt täglich geprügelt? Streiten wir jetzt um tägliche oder wöchentliche Prügel?
Um hier abzuschließen und wieder auf den eigentlichen zu kritisiernden Autor Volker Ullrich zurückzukommen: Eine so merkwürdige Fußnote wie die Nr. 79 ist mir noch nie untergekommen. Sie unterstützt zunächst die These, dass Hitler ein schwer misshandeltes Kind ist, obwohl sie Zweifeln bzgl. der Schwere und Häufigkeit der Misshandlungen im Text angefügt ist. Diese Fußnote hätte Sinn gemacht, wenn nur der Autor Bavendamm genannt worden wäre, da dieser die Zweifel teilt. Eine genaue Durchsicht der Argumente Bavendamms wiederum bringt mich zu den gleichen Fragezeichen, die sich schon bei Ullrich auftaten. Insofern muss ich mich gleich wieder verbessern: Auch der Hinweis auf den Autor Bavendamm macht kaum Sinn, um Zweifel an der Misshandlungsgeschichte Hitlers zu stützen.
Nach Volker Ullrichs Besprechung der Vater-Sohn-Beziehung folgt in seinem Buch dann die Darstellung, dass Hitlers Mutter liebevoll war und sie ihm einen Ausgleich zu der Strenge des Vaters bot. Ich verweise dabei erneut auf Arno Gruen ("Der Fremde in uns"), der diese Mutter-Kind-Beziehung als deutlich gestört analysiert hat. Schließlich wird Ullrich nochmal überdeutlich in seiner Ablehnung von zu viel Kindheitseinflüssen auf die Entwicklung von Menschen wie Hitler. Er schreibt:
„Die ersten Lebensjahre gelten nach den Annahmen der Psychoanalyse als entscheidend für die Entwicklung der Persönlichkeit. Nur wenige Historiker, Psychohistoriker zumal, haben daher der Versuchung widerstanden, im jungen Hitler bereits Züge des späteren Monsters entdecken zu wollen. So hat man etwa die Gewalterfahrung, der das Kind durch den Vater ausgesetzt gewesen sei (Persönliche Anmerkung: Er schreibt hier nicht „ist“, zweifelt also erneut), als eine der Ursachen für die mörderische Politik des Diktators interpretiert. „ (Persönliche Anmerkung: Diesem Satz schließt er die Fußnote 85 an und verweist u.a. auf Alice Millers „Am Anfang war Erziehung“ und Christa Mulacks „Klara Hitler“. ) Doch sollten sich Biographen hüten, zu weitreichende Schlüsse aus frühen Kindheitserlebnissen zu ziehen. Körperliche Züchtigung war damals als Erziehungsmittel durchaus noch an der Tagesordnung. Ein autoritär-repressiver Vater und eine liebevoll-ausgleichende Mutter – diese Konstellation war in Mittelstandsfamilien um die Jahrhundertwende keineswegs ungewöhnlich. Nach allem, was wir wissen, scheint Hitler eine ziemlich normale Kindheit verbracht zu haben. Jedenfalls gibt es keine gesicherten Hinweise auf eine abnorme Persönlichkeitsbildung, aus der sich die späteren Verbrechen ableiten ließen. Wenn es ein Problem gab, dann war es wohl nicht ein Zuwenig, sondern ein Zuviel an mütterlicher Zuwendung und Nachsicht. (…)“
Diesen Abschnitt muss man erst einmal sacken lassen. Irgendwie scheint Ullrich ja doch deutlich anzuerkennen, dass Adolf Hitler einen autoritären, gewaltvollen Vater hatte, die besondere Schwere der Gewalt zweifelt er allerdings wie oben beschrieben an. Und da Gewalt gegen Kinder und eine autoritäre Erziehung damals „normal“ waren, war also auch Hitler „normal“, ein ganz „normal“ misshandeltes Kind eben. Ja, so war das damals.
Ullrich hat Millers „Am Anfang war Erziehung“ gelesen. Insofern trifft doch die Feststellung über die Normalität der Gewalt gegen Kinder um 1900 genau eben die Thesen von Alice Miller. Denn Hitler konnte nur Erfolg haben, weil auch die Massen keine liebevolle, sondern eher eine gewaltvolle und lieblose Kindheit erlitten hatten. Ullrich scheint dies hier auszublenden. Weil fast alle Menschen damals Gewalt erlebten, waren alle normal, sprich der Norm entsprechend. Also sprechen wir bitteschön nicht weiter über die Kindheitseinflüsse auf politisches Verhalten. Und außerdem waren da ja noch die ganz „normalen“ Mütter um 1900, die „liebevoll-ausgleichend“ agierten. Dem entgegen stehen psychohistorische Forschungen von deMause (2005, S.212-255), die belegen, dass Frauen die gesamte Geschichte hindurch brutal und grausam zu Kindern waren. In diesem Blog habe ich etliche Zahlen zusammengestellt, die deutlich zeigen, dass Mütter in vielen Ländern sogar häufiger Gewalt gegen Kinder anwenden, als Väter. Und dies ist nicht ein moderner Trend, sondern letztlich ein deutlicher Ausläufer der Geschichte, denn Kinder waren historisch diejenigen, über die Frauen routinemäßig viel Macht hatten.
Abschließend möchte ich meinen Eindruck wiederholen, dass Ullrich (genau wie der Historiker Bravendamm) sich obwohl er sehen kann, blind stellt. Ich habe bisher viele Bücher von Historikern gelesen, die sich mit Diktatoren und ähnlichen Akteuren befassen und die entweder Berichte über eine gewaltvolle Kindheit ganz auslassen oder sie kurz erwähnen ohne diesen besondere Bedeutung zukommen zu lassen oder die Gewalt erwähnen, aber sie im Sinne der Zeit als wohlgemeinte Erziehung umdeuten. Ich habe noch nie Bücher wie die vonn Ullrich und Bravendamm in den Händen gehabt, in denen die Autoren verhältnismäßig ausführlich auf kindliche Gewalterfahrungen eingehen und diese dann mit Zweifeln und Geringwertung überschütten. Beides sind zudem aktuelle Bücher. Beide Autoren hätten heute die Möglichkeiten gehabt, sich mit den gut erforschten Folgen der Kindesmisshandlung auseinanderzusetzen. Das solche Biografien auch heute noch in dieser Art Kindheitseinflüsse gering reden, ist niederschmetternd. Zu hoffen ist, dass die jüngere Historikergeneration dies zuzkünftig anders händelt (Bavendamm ist Jahrgang 1938 und Ullrich 1943).
Ergänzend verwendete Quelle:
Bavendamm, Dirk (2009): Der junge Hitler. Korrekturen einer Biographie 1889-1914. Ares Verlag, Graz.
Restlichen siehe Links und Hinweise im Text
Dienstag, 17. September 2013
Alice Miller - eine destruktive Mutter
Martin Miller – der Sohn von Alice Miller – hat kürzlich das Buch „Das wahre ,Drama des begabten Kindes’, Untertitel: "Die Tragödie Alice Millers – wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken.“ veröffentlicht. Die ZEIT berichtet ausführlich darüber.
Es entsteht das Bild, dass Alice Miller selbst eine sehr destruktive Mutter war, die ihren Sohn u.a. mehrfach abschob. Dies ändert nichts an dem Wahrheitsgehalt ihrer Bücher (was ihr Sohn auch betont).
Für mich ist dies nicht verwunderlich. Ich wäre selbst auch ungern z.B. das Kind von Sigmund Freud gewesen, den ich persönlich als sehr psychisch krank empfinde. Ich selbst habe in meinem Leben einige psychiatrische Mitarbeiter und Therapeuten kennengelernt (privat oder auch während meiner Zivi-Zeit) und mein Eindruck ist: Es ist nur logisch, dass sich in diesem Bereich vermehrt Menschen tummeln, die ihren Weg auf Grund eigener destruktiver Kindheitserfahrungen eingeschlagen haben und die beruflich vielleicht gut sein können (oder manches mal auch eher nicht), aber privat sehr beschädigt sind, sofern dies nicht ausreichend aufgearbeitet wurde.
Im ZEIT Artikel wurde am Schluss eindrücklich formuliert:
„Die Vermutung drängt sich auf, dass gerade die motiviertesten Anwälte der Kinder aus ihrer eigenen Kindheit extreme Traumata mit sich herumtragen – Erfahrungen, die sie zu ihrer Arbeit besonders befähigen, die sie aber zugleich als Übergepäck "abladen", vor allem bei denen, die sie am meisten mit dem Eigenen identifizieren: den eigenen Kindern, Schülern, Schützlingen.“ Dem ist nichts weiter hinzuzufügen.
Ergänzend: http://kriegsursachen.blogspot.de/2010/06/alice-millers-sohn-martin-uber-eine.html
Es entsteht das Bild, dass Alice Miller selbst eine sehr destruktive Mutter war, die ihren Sohn u.a. mehrfach abschob. Dies ändert nichts an dem Wahrheitsgehalt ihrer Bücher (was ihr Sohn auch betont).
Für mich ist dies nicht verwunderlich. Ich wäre selbst auch ungern z.B. das Kind von Sigmund Freud gewesen, den ich persönlich als sehr psychisch krank empfinde. Ich selbst habe in meinem Leben einige psychiatrische Mitarbeiter und Therapeuten kennengelernt (privat oder auch während meiner Zivi-Zeit) und mein Eindruck ist: Es ist nur logisch, dass sich in diesem Bereich vermehrt Menschen tummeln, die ihren Weg auf Grund eigener destruktiver Kindheitserfahrungen eingeschlagen haben und die beruflich vielleicht gut sein können (oder manches mal auch eher nicht), aber privat sehr beschädigt sind, sofern dies nicht ausreichend aufgearbeitet wurde.
Im ZEIT Artikel wurde am Schluss eindrücklich formuliert:
„Die Vermutung drängt sich auf, dass gerade die motiviertesten Anwälte der Kinder aus ihrer eigenen Kindheit extreme Traumata mit sich herumtragen – Erfahrungen, die sie zu ihrer Arbeit besonders befähigen, die sie aber zugleich als Übergepäck "abladen", vor allem bei denen, die sie am meisten mit dem Eigenen identifizieren: den eigenen Kindern, Schülern, Schützlingen.“ Dem ist nichts weiter hinzuzufügen.
Ergänzend: http://kriegsursachen.blogspot.de/2010/06/alice-millers-sohn-martin-uber-eine.html
Donnerstag, 29. August 2013
Deutscher Bundestag nimmt meinen Text in seine Bibliothek auf
Wie ich gerade durch Zufall beim googeln entdeckt habe, hat der Deutsche Bundestag mein Arbeitspapier "Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an" im Juli diesen Jahres in seine Bibliothek (Neuerwerb, unter "Gesellschaft - Bevölkerung" Seite 26) aufgenommen. Das freut mich natürlich sehr! Ob der Text denn auch teilweise gelesen wird, steht auf einem anderen Blatt; aber zumindest besteht eine Wahrscheinlichkeit dafür (oder die Abgeordneten geben u.a. einfach mal das Wort "kriegsursachen" bei googel ein und sehen sich den ersten Treffer an).
Dienstag, 27. August 2013
Geplanter Angriff auf Syrien scheint wenig rational.
Merkwürdiges geht derzeit vor. Seit Wochen werden die USA medial an die Wand gedrückt, da ihre Spähprogramme öffentlich wurden. Am 21.08. gab es einen Giftgasangriff in Syrien, für den Assad verantwortlich gemacht wird (und es kursieren Bilder von getöteten Kindern) . Zwei Tage später veröffentlicht die UN Zahlen bzgl. syrischer Kinder, die auf der Flucht sind und zwar ganze 3 Millionen. Am 26.08. wurde nun bekannt, dass Obama einen Militärschlag gegen Syrien erwägt. Mittlerweile berichten Medien, dass nur kurze Militärschläge im Rahmen von ca. zwei Tagen geplant sind.
Erstaunlich finde ich, dass das Zögern Obamas bzgl. Syrien als Schwäche ausgelegt wird.
„Seit Wochen wird Barack Obama in Washington verhöhnt. Während die einen Obama als "lahme Ente" bezeichnen, verunglimpfen ihn die anderen als neuen "Oblomow", als einen Berufszauderer, der "rote Linien" zieht, um sie – wenn sie überschritten sind – wegzuradieren und einige Hundert Meter weiter erneut einzuzeichnen.“ schreibt Jacques Schuster aktuell für die Welt in einem Artikel, auf den ich gleich noch zurückkommen werde. Im Internet findet man unzählige Kommentare die Obama als „Wimp“ (Weichei/Warmduscher) bezeichnen, weil er Assad keine militärische Lektion erteilt. Zudem finden sich unzählige Karikaturen, die sich mit Obamas „roter Linie“ befassen. (Z.B. hier, hier oder hier)
Die aktuellen militärischen Überlegungen erfüllen im Grunde hauptsächlich emotionale Zwecke: Es geht um die Abwendung von Gesichtsverlust; der Angst davor, als schwach dazustehen, weil man nicht militärisch reagiert und um das Bedürfnis, Assad zu bestrafen. Real werden Angriffe auf irgendwelche militärischen Ziele in Syrien (und wer entscheidet überhaupt, dass dort "die Richtigen" getroffen werden?) keine positiven Wendungen bewirken, schon gar nicht für die Zivilbevölkerung.
In dem o.g. Welt Artikel stellt der Autor als erste von vielen Fragen folgende auf:
„Aus welchem Grund sollte Syriens Präsident Baschar al-Assad gerade in diesen Tagen Chemiewaffen einsetzen? Die meisten Sicherheitsexperten gehen seit Wochen davon aus, dass der Diktator von Damaskus im Begriff ist, den Bürgerkrieg zu gewinnen.“ Assad selbst kommentierte die Vermutung, er hätte chemische Waffen eingesetzt, damit, dass solche Äußerungen "eine Beleidigung des gesunden Menschenverstandes" und "Unsinn" seien. (welt, 26.08.2013 )
„Neues Deutschland“ (die ich bisher noch nie zitiert habe) berichtete bereits am 23.08., dass nach russischen Erkenntnissen eine Giftgasrakete von syrischen Rebellen abgefeuert worden sei (selbige wären im Falle eines US-Angriffes als Strafaktion auch die Nutznießer einer solchen Aktion). Fakt scheint: Wir wissen bis heute nicht eindeutig, wer für den Giftgasanschlag verantwortlich ist.
Ich glaube, dass die Rationalität von Politik überschätzt wird. Derzeitige Militärplanungen seitens der USA. Frankreichs und Englands ( übrigens alles Ländern, in denen es kein elterliches Gewaltverbotgesetz gibt und wo hohe Gewaltraten gegen Kinder festzustellen sind.) können auch als „aus dem Bauch heraus“ gedeutet werden. Böses Verhalten gehört abgestraft, so lernten es viele bereits als Kind. In Konfliktsituationen wird auf diese einfache und wenig rationale Sicht auf die Dinge zurückgegriffen, auch in der Politik. Mir scheint, dass diese emotionalen Prozesse derzeit - vor allem in den USA - die politischen Diskussionen lenken. Deutschland erweist sich dagegen seitens der Politik als realistisch und sachlich. Man hat hierzulande erkannt, dass eine solche Militärakton in Syrien keinen Sinn macht (obwohl es auch hierzulande so einige Medienbeiträge gibt, die dies der deutschen Politik als Schwäche auslegen.)
Erstaunlich finde ich, dass das Zögern Obamas bzgl. Syrien als Schwäche ausgelegt wird.
„Seit Wochen wird Barack Obama in Washington verhöhnt. Während die einen Obama als "lahme Ente" bezeichnen, verunglimpfen ihn die anderen als neuen "Oblomow", als einen Berufszauderer, der "rote Linien" zieht, um sie – wenn sie überschritten sind – wegzuradieren und einige Hundert Meter weiter erneut einzuzeichnen.“ schreibt Jacques Schuster aktuell für die Welt in einem Artikel, auf den ich gleich noch zurückkommen werde. Im Internet findet man unzählige Kommentare die Obama als „Wimp“ (Weichei/Warmduscher) bezeichnen, weil er Assad keine militärische Lektion erteilt. Zudem finden sich unzählige Karikaturen, die sich mit Obamas „roter Linie“ befassen. (Z.B. hier, hier oder hier)
Die aktuellen militärischen Überlegungen erfüllen im Grunde hauptsächlich emotionale Zwecke: Es geht um die Abwendung von Gesichtsverlust; der Angst davor, als schwach dazustehen, weil man nicht militärisch reagiert und um das Bedürfnis, Assad zu bestrafen. Real werden Angriffe auf irgendwelche militärischen Ziele in Syrien (und wer entscheidet überhaupt, dass dort "die Richtigen" getroffen werden?) keine positiven Wendungen bewirken, schon gar nicht für die Zivilbevölkerung.
In dem o.g. Welt Artikel stellt der Autor als erste von vielen Fragen folgende auf:
„Aus welchem Grund sollte Syriens Präsident Baschar al-Assad gerade in diesen Tagen Chemiewaffen einsetzen? Die meisten Sicherheitsexperten gehen seit Wochen davon aus, dass der Diktator von Damaskus im Begriff ist, den Bürgerkrieg zu gewinnen.“ Assad selbst kommentierte die Vermutung, er hätte chemische Waffen eingesetzt, damit, dass solche Äußerungen "eine Beleidigung des gesunden Menschenverstandes" und "Unsinn" seien. (welt, 26.08.2013 )
„Neues Deutschland“ (die ich bisher noch nie zitiert habe) berichtete bereits am 23.08., dass nach russischen Erkenntnissen eine Giftgasrakete von syrischen Rebellen abgefeuert worden sei (selbige wären im Falle eines US-Angriffes als Strafaktion auch die Nutznießer einer solchen Aktion). Fakt scheint: Wir wissen bis heute nicht eindeutig, wer für den Giftgasanschlag verantwortlich ist.
Ich glaube, dass die Rationalität von Politik überschätzt wird. Derzeitige Militärplanungen seitens der USA. Frankreichs und Englands ( übrigens alles Ländern, in denen es kein elterliches Gewaltverbotgesetz gibt und wo hohe Gewaltraten gegen Kinder festzustellen sind.) können auch als „aus dem Bauch heraus“ gedeutet werden. Böses Verhalten gehört abgestraft, so lernten es viele bereits als Kind. In Konfliktsituationen wird auf diese einfache und wenig rationale Sicht auf die Dinge zurückgegriffen, auch in der Politik. Mir scheint, dass diese emotionalen Prozesse derzeit - vor allem in den USA - die politischen Diskussionen lenken. Deutschland erweist sich dagegen seitens der Politik als realistisch und sachlich. Man hat hierzulande erkannt, dass eine solche Militärakton in Syrien keinen Sinn macht (obwohl es auch hierzulande so einige Medienbeiträge gibt, die dies der deutschen Politik als Schwäche auslegen.)
Donnerstag, 22. August 2013
Ägypten. Weitere Zahlen zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder
Ägypten läßt mich derzeit nicht los. Ich habe weitere Zahlen zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder gefunden und zwar hier: National Council for Childhood and Motherhood & UNICEF Egypt Country Office & Social Research Center, American University in Cairo (2006): Towards Policies for Child Protection. A Field Study to Assess Child Abuse in Deprived Communities in Cairo and Alexandria.
Die Studie wurde mit Kindern und deren Eltern, Lehrern, Sozialarbeitern etc. in Kairo und Alexandria durchgeführt und ist explizit nicht repräsentativ für das ganze Land. Kinder in 1.200 Haushalten wurden erfasst, ebenso 1.200 Schulkinder.Die Studie ist also nicht gerade klein und hat sicherlich eine deutliche Aussagekraft bzgl. den Kindheiten in ägyptischen Großstädten (wobei allgemein viele Studien zeigen, dass im ländlichen Raum i.d.R. höhere Werte an Kindesmisshandlung zu finden sind, wodurch diese Studie wiederum auch nahelegt, dass es im ägyptischen ländlichen Raum zumindest ähnlich aussehen wird, wie hier unten im Text gezeigt).
Ergebnisse: Ca. 81 % der Kinder wurden zu Hause und 91 % in der Schule geschlagen. 27 % der Kinder, die arbeiten mussten, berichteten auch dort geschlagen worden zu sein. 90 % der Kinder erlebten emotionale Bestrafungen/Gewalt zu Hause und 70 % in der Schule, ebenso 50 % der arbeitenden Kinder an ihrem Arbeitsplatz. 40 % der Schulkinder zeigten Anzeichen für eine Entfremdung von ihren Familien. (S. 5-6)
Details:
51 % der Pflegepersonen (Haushaltsbefragung) berichteten, dass die Kinder in der Woche vor der Befragung geschlagen worden sind, 76 % berichteten von Schlägen innerhalb eines Monats vor der Befragung und 81 % von Schlägen innerhalb eines Jahres. (Dies bestätigt die Ergebnisse aus einer Befragung von ägyptischen Müttern, wo ebenfalls fast die Hälfte der Kinder mind. wöchentlich geschlagen wurden.) 16,5 % der Kinder wurden innerhalb eines Monats vor der Befragung mit zwei verschiedene Arten körperlicher Gewalt bestraft, 12 % mit drei und 19 % mit mindestens vier Arten.
Schaut man gesondert auf die Altersstufe der 5-8Jährigen, dann werden ganze 94,7 % in irgendeiner Form körperlich bestraft/geschlagen (also deutlich mehr als der Durchschnittswert von 81 %).
51 % dieser Altersgruppe wird mit einem harten Gegenstand wie Gürtel oder Stock geschlagen. 46,5 % wird ins Gesicht geschlagen, 21,3 % werden niedergeschlagen. 7,2 % mit einem Messer verletzt, 5,9 % verbrannt u.a. (S. 24-27)
Die Schulkinder berichteten über etwas weniger Gewalt in ihren Familien (was zeigt, dass kleinere Kinder mehr Gewalt erleben). 90,1 % der Jungen und 73,6 % der Mädchen berichteten über irgendeine Form körperlicher Elterngewalt. Und 82,4 % der Jungen und 81 % der Mädchen aus weiterführenden Schulen berichteten über irgendeine Form von körperlicher Elterngewalt.
Entsprechend der real ausgeführten Gewalt wurden sehr vielen Kindern auch Gewalt angedroht (z.B. 93,4 % der 5-8Jährigen) Aber auch andere Formen der emotionalen Gewalt wie Verfluchen/Fluchen (78,5 % der o.g. Altersgruppe), Anschreien (93,1 % der o.g. Altersgruppe) oder Beleidigen/kränkende Worte benutzen (72,4 % der o.g. Altersgruppe) sind laut den Haushaltsbefragungen weit verbreitet. (S. 29)
Mütter sind die Hauptstrafenden (nämlich zu 76 % bei den Mädchen und zu 68 % bei den Jungen). Erst bei den über 13 Jahre alten Kindern tauchen Väter als Strafende etwas gewichtiger auf (34 %).
Ergänzend: Ägypten. Die Ursachen der gescheiterten Revolution liegen im Verborgenen
Die Studie wurde mit Kindern und deren Eltern, Lehrern, Sozialarbeitern etc. in Kairo und Alexandria durchgeführt und ist explizit nicht repräsentativ für das ganze Land. Kinder in 1.200 Haushalten wurden erfasst, ebenso 1.200 Schulkinder.Die Studie ist also nicht gerade klein und hat sicherlich eine deutliche Aussagekraft bzgl. den Kindheiten in ägyptischen Großstädten (wobei allgemein viele Studien zeigen, dass im ländlichen Raum i.d.R. höhere Werte an Kindesmisshandlung zu finden sind, wodurch diese Studie wiederum auch nahelegt, dass es im ägyptischen ländlichen Raum zumindest ähnlich aussehen wird, wie hier unten im Text gezeigt).
Ergebnisse: Ca. 81 % der Kinder wurden zu Hause und 91 % in der Schule geschlagen. 27 % der Kinder, die arbeiten mussten, berichteten auch dort geschlagen worden zu sein. 90 % der Kinder erlebten emotionale Bestrafungen/Gewalt zu Hause und 70 % in der Schule, ebenso 50 % der arbeitenden Kinder an ihrem Arbeitsplatz. 40 % der Schulkinder zeigten Anzeichen für eine Entfremdung von ihren Familien. (S. 5-6)
Details:
51 % der Pflegepersonen (Haushaltsbefragung) berichteten, dass die Kinder in der Woche vor der Befragung geschlagen worden sind, 76 % berichteten von Schlägen innerhalb eines Monats vor der Befragung und 81 % von Schlägen innerhalb eines Jahres. (Dies bestätigt die Ergebnisse aus einer Befragung von ägyptischen Müttern, wo ebenfalls fast die Hälfte der Kinder mind. wöchentlich geschlagen wurden.) 16,5 % der Kinder wurden innerhalb eines Monats vor der Befragung mit zwei verschiedene Arten körperlicher Gewalt bestraft, 12 % mit drei und 19 % mit mindestens vier Arten.
Schaut man gesondert auf die Altersstufe der 5-8Jährigen, dann werden ganze 94,7 % in irgendeiner Form körperlich bestraft/geschlagen (also deutlich mehr als der Durchschnittswert von 81 %).
51 % dieser Altersgruppe wird mit einem harten Gegenstand wie Gürtel oder Stock geschlagen. 46,5 % wird ins Gesicht geschlagen, 21,3 % werden niedergeschlagen. 7,2 % mit einem Messer verletzt, 5,9 % verbrannt u.a. (S. 24-27)
Die Schulkinder berichteten über etwas weniger Gewalt in ihren Familien (was zeigt, dass kleinere Kinder mehr Gewalt erleben). 90,1 % der Jungen und 73,6 % der Mädchen berichteten über irgendeine Form körperlicher Elterngewalt. Und 82,4 % der Jungen und 81 % der Mädchen aus weiterführenden Schulen berichteten über irgendeine Form von körperlicher Elterngewalt.
Entsprechend der real ausgeführten Gewalt wurden sehr vielen Kindern auch Gewalt angedroht (z.B. 93,4 % der 5-8Jährigen) Aber auch andere Formen der emotionalen Gewalt wie Verfluchen/Fluchen (78,5 % der o.g. Altersgruppe), Anschreien (93,1 % der o.g. Altersgruppe) oder Beleidigen/kränkende Worte benutzen (72,4 % der o.g. Altersgruppe) sind laut den Haushaltsbefragungen weit verbreitet. (S. 29)
Mütter sind die Hauptstrafenden (nämlich zu 76 % bei den Mädchen und zu 68 % bei den Jungen). Erst bei den über 13 Jahre alten Kindern tauchen Väter als Strafende etwas gewichtiger auf (34 %).
Ergänzend: Ägypten. Die Ursachen der gescheiterten Revolution liegen im Verborgenen
Samstag, 17. August 2013
Ägypten. "Wir sind alle wie gehirngewaschen"
"Wir sind alle wie gehirngewaschen, ich erkenne mein Land nicht wieder", sagte laut ZEIT eine junge ägyptische Frau zu den aktuellen Ereignissen, "eine seltene Stimme dieser Tage, die ihren Namen dann auch nicht nennen will." schreibt die ZEIT weiter.
Deutlicher kann frau die Dinge nicht auf den Punkt bringen. Ägypten hat derzeit vor allem ein psychisches Problem...
Ergänzend: Ägypten. Die Ursachen der gescheiterten Revolution liegen im Verborgenen
Deutlicher kann frau die Dinge nicht auf den Punkt bringen. Ägypten hat derzeit vor allem ein psychisches Problem...
Ergänzend: Ägypten. Die Ursachen der gescheiterten Revolution liegen im Verborgenen
Freitag, 16. August 2013
Diagramme der menschlichen Destruktivität
Unter belastenden Kindheitserfahrungen (ACEs) wurde verstanden:
Emotionale Misshandlung, Körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch, emotionale Vernachlässigung, körperliche Vernachlässigung, Zeuge von Gewalt gegen die Mutter, Alkohol und Drogenmissbrauch in der Familie, Aufwachsen in einer Familie mit einem psychisch kranken oder chronisch depressiven oder suizidgefährdeten Familienmitglied, Verlust eines Elternteils durch Trennung oder Scheidung, Aufwachsen in einer Familie, in der eine Person im Gefängnis sitzt.
Je mehr belastende Kindheitserfahrungen erlebt wurden, desto deutlicher wurden die Zusammenhänge zu diversen Gesundheitsproblemen wie Alkoholismus, Drogenkonsum, Depressionen, Herzkrankheiten, Rauchen, Übergewicht, Selbstmordversuchen, Lungenerkrankungen (COPD), Fehlgeburten/ Tod des Fötus usw. aber auch bzgl. dem Erleben von Partnergewalt oder Promiskuität.
Unten habe ich drei Diagramme aus dem Text The Relationship of Adverse Childhood Experiences to Adult Health: Turning gold into lead von Vincent J. Felitti aus dem Jahr 2002 entnommen, die bildlich sehr gut darstellen, wie mit jeder weiteren Belastungsart (ACE) die Wahrscheinlichkeiten für diverse (sowohl individuell als auch gesellschaftlich bedeutsame) Probleme (in diesem Beitrag ausgewählt: Selbstmordversuche, Drogenkonsum und Rauchen) ansteigen.
KFN-Diagramm: Gewalttäterraten nach erlebter körperlichen Elterngewalt in Kindheit und Jugend
Leicht graue Balken zeigen an, ob innerhalb von 12 Monaten ein Gewaltdelikt begangen wurde
Die dunkelgrauen Balken zeigen die Mehrfachtäterschaft (mind. 5 Taten) an.
Balkengruppierung von links nach rechts: "keine Gewalt in der Kindheit"; "selten leichte Gewalt nur in Kindheit"; "selten leichte Gewalt in Kindheit und Jugend"; "schwere oder häufig leichte Gewalt nur in Kindheit"; "schwere oder häufig leichte Gewalt in Kindheit und Jugend"
Ich fasse zusammen:
Beide Studien und die ausgewählten Diagramme machen deutlich, dass destruktive Kindheitserfahrungen große destruktive Auswirkungen auf Menschen haben können. Die ACE Studie hat besonders herausgestellt, dass eine Kombination verschiedener Belastungserfahrungen auch die schwersten Folgen hat. Die größten Gesundheitsprobleme hatten diejenigen, die von fast allen Belastungsfaktoren betroffen waren. Die KFN Studie und das gezeigte Diagramm machen deutlich, dass auch innerhalb eines Belastungsfaktors (in diesem Fall körperliche Elterngewalt) die verschiedenen Abstufungen Folgen haben. Je schwerer und je häufiger Elterngewalt erlebt wurde, desto höher war die Wahrscheinlichkeit für eine eigene Täterschaft. Letztlich bin ich sicher, dass eine große Studie, die alle ACE Werte erfassen und in Zusammenhang mit eigenem Gewaltverhalten bringen würde, ein ähnliches Diagramm hervorbringen würde, wie oben gesehen. Zusätzlich könnte man dann noch innerhalb der einzelnen Belastungsfaktoren Abstufungen vornehmen (so wie beim KFN) und entsprechend ins Verhältnis zum eigenen Gewaltverhalten setzen. Kleinere Studien wie die von Pincus und Gilligan haben bereits gezeigt, dass grausame Mörder die denkbar schlimmsten Kindheiten hatten, die man sich vorstellen kann. Sie haben – um hier im Kontext dieses Beitrages zu bleiben – ACE Werte von wohl mindesten 5 und auch innerhalb der Belastungsfaktoren wie z.B. bei der körperlichen und emotionalen Misshandlung die denkbar schwersten Formen erlebt.
Im historischen Rückblick lassen sich schließlich und gedanklich ähnliche Diagramme zeichnen, wenn man sich Arbeiten von Lloyd deMause (zur Evolution der Kindheit u.a. hier und zum Rückgang menschlicher Gewalt hier ganz unten im Text) und auch von Steven Pinker anschaut. Beide stellen historisch einen stetigen Rückgang der Gewalt gegen Kinder (mit besonders rasanten Entwicklungen im 20. Jahrhundert) fest. Parallel dazu nahm menschliche Gewalt ab.
Montag, 5. August 2013
Aktualisierung des Beitrages "Kindheit in den USA"
Ich habe kürzlich den Beitrag „Kindheit in den USA“ etwas ergänzt. Und zwar um Daten aus der sogenannten ACE-Studie, Zahlen aus Befragungen - surveyusa - zur Akzeptanz von Gewalt gegen Kinder und um Zahlen aus der Studie „International Variations in Harsh Child Discipline“.
Besonders erwähnen möchte ich die Zahlen zur Akzeptanz der Gewalt (siehe Quelle hier):
Im Jahr 2005 wurden in allen 50 US-Bundesstaaten jeweils 600 Erwachsene befragt (surveyusa, Disciplining a Child). Im Schnitt sagten 72 % aller Befragten, dass es in Ordnung sei, ein Kind zu schlagen (um es zu disziplinieren). (In Alabama gab es dabei die höchste Zustimmung mit 87 %, die niedrigste mit 55 % in Vermont)
31 % meinten, dass es in Ordnung sei, den Mund eines Kindes mit Seife "auszuwaschen". (Etwas, dass in den USA als Bestrafungsform für z.B. das Benutzen von Schimpfwörtern benutzt wird. Auf Wikipedia gibt es sogar einen eigenen Artikel dazu.) Und 23 % meinten, dass es in Ordnung für einen Lehrer sei, Schüler körperlich zu bestrafen. Schaut man sich die Ergebnisse für alle Bundesstaten einzelnd an, stellt man ein starkes Gefälle fest. Die Gewaltbereitschaft gegen Kinder ist offensichtlich am höchsten in den südlichen Staaten. (dies zeigt auch eine Grafik auf Wikipedia; die rot gekennzeichneten Staaten sind die, in denen neben dem elterlichen Züchtigungsrecht auch noch Gewalt gegen Schüler erlaubt ist.) Interessant an den Ergebnissen der Umfrage ist u.a. auch, dass auch noch mal kenntlich gemacht wurde, in welchen Staaten 2004 für Bush oder für Kerry gestimmt wurden. Auf Grund der vorliegenden Zahlen könnte man auch formulieren, dass in den Staaten, in denen für Bush und damit seine kriegerische Politik gestimmt wurde, auch die höchste Akzeptanz von Gewalt gegen Kinder zu finden ist. Ich denke, dass diese oberflächlichen Daten ein Wink dahingehend sind, dass Erziehungsverhalten sich auch in politischen Neigungen wiederfindet.
Um so manche destruktive Entwicklungen in den USA von Grund auf verstehen zu können, muss mensch um die Kindheiten vor Ort wissen. Die irrationale Angst, die Amerika lähmt und u.a. dazu gebracht hat, die ganze Welt auszuspähen, könnte hier ihren Ursprung haben.
Besonders erwähnen möchte ich die Zahlen zur Akzeptanz der Gewalt (siehe Quelle hier):
Im Jahr 2005 wurden in allen 50 US-Bundesstaaten jeweils 600 Erwachsene befragt (surveyusa, Disciplining a Child). Im Schnitt sagten 72 % aller Befragten, dass es in Ordnung sei, ein Kind zu schlagen (um es zu disziplinieren). (In Alabama gab es dabei die höchste Zustimmung mit 87 %, die niedrigste mit 55 % in Vermont)
31 % meinten, dass es in Ordnung sei, den Mund eines Kindes mit Seife "auszuwaschen". (Etwas, dass in den USA als Bestrafungsform für z.B. das Benutzen von Schimpfwörtern benutzt wird. Auf Wikipedia gibt es sogar einen eigenen Artikel dazu.) Und 23 % meinten, dass es in Ordnung für einen Lehrer sei, Schüler körperlich zu bestrafen. Schaut man sich die Ergebnisse für alle Bundesstaten einzelnd an, stellt man ein starkes Gefälle fest. Die Gewaltbereitschaft gegen Kinder ist offensichtlich am höchsten in den südlichen Staaten. (dies zeigt auch eine Grafik auf Wikipedia; die rot gekennzeichneten Staaten sind die, in denen neben dem elterlichen Züchtigungsrecht auch noch Gewalt gegen Schüler erlaubt ist.) Interessant an den Ergebnissen der Umfrage ist u.a. auch, dass auch noch mal kenntlich gemacht wurde, in welchen Staaten 2004 für Bush oder für Kerry gestimmt wurden. Auf Grund der vorliegenden Zahlen könnte man auch formulieren, dass in den Staaten, in denen für Bush und damit seine kriegerische Politik gestimmt wurde, auch die höchste Akzeptanz von Gewalt gegen Kinder zu finden ist. Ich denke, dass diese oberflächlichen Daten ein Wink dahingehend sind, dass Erziehungsverhalten sich auch in politischen Neigungen wiederfindet.
Um so manche destruktive Entwicklungen in den USA von Grund auf verstehen zu können, muss mensch um die Kindheiten vor Ort wissen. Die irrationale Angst, die Amerika lähmt und u.a. dazu gebracht hat, die ganze Welt auszuspähen, könnte hier ihren Ursprung haben.
Freitag, 2. August 2013
Eine kritische Betrachtung der aktuellen UNICEF Initiative "End Violence"
UNICEF startet aktuell gemeinsam mit dem Schauspieler Liam Neeson eine weltweite Initiative gegen Gewalt gegen Kinder (Initiative „End Violence“).
Ich persönlich habe die Initiative mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Grundsätzlich finde ich natürlich alles gut, was sich öffentlichkeitswirksam gegen die Gewalt gegen Kinder richtet. Nach meinem Empfinden trifft das, was ich bisher gesehen und gelesen habe, allerdings nicht wirklich den Nerv.
UNICEF appelliert an die Menschen, hinzusehen und sich gegen Gewalt einzusetzen.
Das Problem dabei ist, dass in den meisten Ländern dieser Welt die Mehrheit der Erziehungspersonen Gewalt gegen Kinder anwendet und dies auch nicht als Problem ansieht (auch in westlichen Ländern wie den USA oder in Frankreich). Das bedeutet, dass sich der UNICEF Appell (speziell bzgl. der Gewalt in Familien) letztlich nur an eine Minderheit wendet, die überhaupt potentiell gegen Gewalt an Kindern ist. Diese Minderheit ist, sofern sie emotional und auch im Handeln Gewalt gegen Kinder ablehnt, eh schon gegen diese Gewalt. Insofern sehe ich hier nicht wirklich mögliche Effekte. Es sei denn, es würde gelingen, diese Minderheit zu vernetzen und gezielt zu Bündnissen und Aktionen zu gewinnen.
Das zweite Problem der Initiative sind die fehlenden Zahlen. UNICEF Deutschland schreibt z.B. aktuell zum Anlass der Initiative: „Gerade weil Gewalt gegen Kinder häufig nicht gesehen und nicht angezeigt wird, gibt es keine Zahlen über das genaue Ausmaß des Problems. Trotzdem geben vorsichtige Schätzungen von UNICEF und anderen Organisationen großen Anlass zur Sorge: Laut UNICEF-Haushaltsbefragungen erleben in Jemen oder Togo mehr als 90 Prozent der Kinder körperliche oder seelische Gewalt, in Weißrussland sind es 84 Prozent und in Vietnam 74 Prozent.“
Dass es keine klaren Zahlen zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in Familien und Schule gibt, ist einfach nicht wahr. (UNICEF selbst hat u.a. 2009 im „Progress for Children. A Report Card on Child Protection“ auf Seite 8 etliche Daten vorgelegt, die aus Befragungen von Erziehungspersonen stammen.) Es gibt viele Zahlen (vor allem aus Studien der letzten 10 Jahre), so viele, dass ich mich hier seit Jahren schwer damit tue, sie auszugsweise zusammenzustellen. Die Initiative endallcorporalpunishment hat etliche Zahlen unter „research“ aufgeführt und dabei längst nicht alle erfasst. (Hier fehlt letztlich eine gut ausgestattete Initiative, die mal wirklich ALLES systematisch zusammenfasst und die weltweit auch nur die kleinsten Studien auswertet.) Natürlich sind nicht alle Studien gleich aufgebaut, aber man sollte als Kinderhilfsorganisation schon mal den Mut fassen und klar sagen, was die aller meisten vorliegenden Studien zeigen: Gewalt in der Familie ist das, was die Mehrheit aller Kinder in den meisten Ländern auf der Welt erlebt haben und weiterhin erleben. Dieser Satz ist es letztendlich, der ins öffentliche Bewusstsein gehört! Die aktuelle Initiative ist da nicht gerade auf dem Weg, für mehr Bewusstsein zu sorgen. Ihr Kernslogan "Mach das Unsichtbare sichtbar!" verläuft im Sand, weil der Initiative keine weitreichenden Daten und Zahlen angehängt wurden, die von den Medien hätten aufgegriffen werden können.
Auf den englischsprachigen Hauptseiten (siehe Link ganz am Anfang) fehlt unter „Facts“ gar komplett das Hauptthema der meisten Kinder: Gewalt in den Familien. Es werden Zahlen zum sexuellen Missbrauch genannt, kurz einige Formen der Gewalt vorgestellt, es wird auf Sklaverei, Kinderprostitution, Gewalt gegen SchülerInnen und Mord hingewiesen ebenso wie auf die Akzeptanz von Gewalt zwischen Partner bzw. auf häusliche Gewalt. Zum Thema Kindesmisshandlung in Familien? Keine einzige Zahl!! UNICEF Deutschland hat ja auch beschrieben warum, weil es angeblich keine genauen Zahlen gibt.
Als jemand, der sich viel mit den Zahlen befasst, kann ich sagen, dass es natürlich keine ganz genauen Zahlen für alle Länder geben wird. Dies wäre nur möglich, wenn in jedem Land gleichzeitig mit der gleichen "Schablone" Befragungen durchgeführt werden. Aber: Es gibt ganz viele Einzelstudien. in diesen werden teils unterschiedliche Bewertungen bzgl. dem, was als Misshandlung/schwere Gewalt angesehen wird, vorgenommen. Bei macnhen werden Eltern befragt, bei manchen Kinder, bei manchen Erwachsene bzgl. ihrer Kindheitserinerungen. Aber alle Gewaltstudien haben doch gemein, dass sie Gewalthandeln abfragen. Körperliche Schläge sind einfach zu definieren und die Ergebnisse zeigen alle in die Richtung, dass Mehrheiten von körperlicher Gewalt betroffen sind. Ähnliche Problemlagen bzgl. Studien wird UNICEF übrigens auch bei anderer Gewaltformen haben, vor allem dem sexuellem Missbrauch. Aber bzgl. dieser Gewaltform hat man sich auf der englischsprachigen Hauptseite getraut, Zahlen zu nennen. Schade, dass dies nicht für elterliche Gewaltformen gegen Kinder galt.
- Ergänzend: Neue UNICEF Vergleichsstudie - Gewalt gegen Kinder wurde ausgeblendet
Ich persönlich habe die Initiative mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Grundsätzlich finde ich natürlich alles gut, was sich öffentlichkeitswirksam gegen die Gewalt gegen Kinder richtet. Nach meinem Empfinden trifft das, was ich bisher gesehen und gelesen habe, allerdings nicht wirklich den Nerv.
UNICEF appelliert an die Menschen, hinzusehen und sich gegen Gewalt einzusetzen.
Das Problem dabei ist, dass in den meisten Ländern dieser Welt die Mehrheit der Erziehungspersonen Gewalt gegen Kinder anwendet und dies auch nicht als Problem ansieht (auch in westlichen Ländern wie den USA oder in Frankreich). Das bedeutet, dass sich der UNICEF Appell (speziell bzgl. der Gewalt in Familien) letztlich nur an eine Minderheit wendet, die überhaupt potentiell gegen Gewalt an Kindern ist. Diese Minderheit ist, sofern sie emotional und auch im Handeln Gewalt gegen Kinder ablehnt, eh schon gegen diese Gewalt. Insofern sehe ich hier nicht wirklich mögliche Effekte. Es sei denn, es würde gelingen, diese Minderheit zu vernetzen und gezielt zu Bündnissen und Aktionen zu gewinnen.
Das zweite Problem der Initiative sind die fehlenden Zahlen. UNICEF Deutschland schreibt z.B. aktuell zum Anlass der Initiative: „Gerade weil Gewalt gegen Kinder häufig nicht gesehen und nicht angezeigt wird, gibt es keine Zahlen über das genaue Ausmaß des Problems. Trotzdem geben vorsichtige Schätzungen von UNICEF und anderen Organisationen großen Anlass zur Sorge: Laut UNICEF-Haushaltsbefragungen erleben in Jemen oder Togo mehr als 90 Prozent der Kinder körperliche oder seelische Gewalt, in Weißrussland sind es 84 Prozent und in Vietnam 74 Prozent.“
Dass es keine klaren Zahlen zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in Familien und Schule gibt, ist einfach nicht wahr. (UNICEF selbst hat u.a. 2009 im „Progress for Children. A Report Card on Child Protection“ auf Seite 8 etliche Daten vorgelegt, die aus Befragungen von Erziehungspersonen stammen.) Es gibt viele Zahlen (vor allem aus Studien der letzten 10 Jahre), so viele, dass ich mich hier seit Jahren schwer damit tue, sie auszugsweise zusammenzustellen. Die Initiative endallcorporalpunishment hat etliche Zahlen unter „research“ aufgeführt und dabei längst nicht alle erfasst. (Hier fehlt letztlich eine gut ausgestattete Initiative, die mal wirklich ALLES systematisch zusammenfasst und die weltweit auch nur die kleinsten Studien auswertet.) Natürlich sind nicht alle Studien gleich aufgebaut, aber man sollte als Kinderhilfsorganisation schon mal den Mut fassen und klar sagen, was die aller meisten vorliegenden Studien zeigen: Gewalt in der Familie ist das, was die Mehrheit aller Kinder in den meisten Ländern auf der Welt erlebt haben und weiterhin erleben. Dieser Satz ist es letztendlich, der ins öffentliche Bewusstsein gehört! Die aktuelle Initiative ist da nicht gerade auf dem Weg, für mehr Bewusstsein zu sorgen. Ihr Kernslogan "Mach das Unsichtbare sichtbar!" verläuft im Sand, weil der Initiative keine weitreichenden Daten und Zahlen angehängt wurden, die von den Medien hätten aufgegriffen werden können.
Auf den englischsprachigen Hauptseiten (siehe Link ganz am Anfang) fehlt unter „Facts“ gar komplett das Hauptthema der meisten Kinder: Gewalt in den Familien. Es werden Zahlen zum sexuellen Missbrauch genannt, kurz einige Formen der Gewalt vorgestellt, es wird auf Sklaverei, Kinderprostitution, Gewalt gegen SchülerInnen und Mord hingewiesen ebenso wie auf die Akzeptanz von Gewalt zwischen Partner bzw. auf häusliche Gewalt. Zum Thema Kindesmisshandlung in Familien? Keine einzige Zahl!! UNICEF Deutschland hat ja auch beschrieben warum, weil es angeblich keine genauen Zahlen gibt.
Als jemand, der sich viel mit den Zahlen befasst, kann ich sagen, dass es natürlich keine ganz genauen Zahlen für alle Länder geben wird. Dies wäre nur möglich, wenn in jedem Land gleichzeitig mit der gleichen "Schablone" Befragungen durchgeführt werden. Aber: Es gibt ganz viele Einzelstudien. in diesen werden teils unterschiedliche Bewertungen bzgl. dem, was als Misshandlung/schwere Gewalt angesehen wird, vorgenommen. Bei macnhen werden Eltern befragt, bei manchen Kinder, bei manchen Erwachsene bzgl. ihrer Kindheitserinerungen. Aber alle Gewaltstudien haben doch gemein, dass sie Gewalthandeln abfragen. Körperliche Schläge sind einfach zu definieren und die Ergebnisse zeigen alle in die Richtung, dass Mehrheiten von körperlicher Gewalt betroffen sind. Ähnliche Problemlagen bzgl. Studien wird UNICEF übrigens auch bei anderer Gewaltformen haben, vor allem dem sexuellem Missbrauch. Aber bzgl. dieser Gewaltform hat man sich auf der englischsprachigen Hauptseite getraut, Zahlen zu nennen. Schade, dass dies nicht für elterliche Gewaltformen gegen Kinder galt.
- Ergänzend: Neue UNICEF Vergleichsstudie - Gewalt gegen Kinder wurde ausgeblendet
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