Samstag, 31. Dezember 2022

Das Buch "Tyrannen" und die Kindheit des Sultans Ibrahim (1615-1648).

Das Buch „Tyrannen. Eine Geschichte von Caligula bis Putin“ (Krischer & Stollberg-Rilinger, Hrsg.), das 2022 bei C-H. Beck erschienen ist, brachte für mich nicht wirklich viele neue Erkenntnisse bzgl. Kindheits- und Traumahintergründen von Diktatoren und politischen Führern. 

Was haben diverse "Tyrannen" gemeinsam, wird im Klapptext gefragt. Nun, dass sie Tyrannen sind und sich ähnlich verhalten könnte - dem Buch folgend - die Antwort sein...

Der Blickwinkel im Buch ist stark klassisch historisch: Man erfährt schlicht, was war. 

Psychohistorisch wäre die Antwort auf die Frage nach Gemeinsamkeiten gewesen: "Destruktive Kindheiten". Bzgl. 11 der Akteure, die im Buch „Tyrannen“ besprochen wurden, habe ich bereits entsprechend deutliche Details recherchiert und zwar für: Nero, IvanIV., Napoleon, Franco, Mao, Pinochet, Mugabe, KimIlsung, Erdoğan, Trump und Putin. Für im Buch besprochene Akteure wie Idi Amin, Assad, und Kim Jong Un habe ich in der Vergangenheit Infos über die Kindheit gesucht, aber diese scheint fast gänzlich unbeleuchtet.

Neu für mich und interessant waren die Infos über die Kindheit des Sultans İbrahim (genannt "der Wahnsinnige"), der unter der ständigen Angst aufwuchs, so wie etliche seiner Brüder, umgebracht zu werden. Leider der einzige Akteur im Buch, dessen Kindheit etwas näher beleuchtet wurde. Es bestätigt sich erneut das Bild, dass klassische HistorikerInnen oftmals wenig Interesse für die Folgen von kindlichen Belastungen ihrer „Untersuchungsobjekte“ zeigen. 

Kommen wir aber zurück zur Kindheit von Sultan Ibrahim (1615-1648). Besprochen wird dieser Herrscher von Christine Vogel unter dem Titel „Ibrahim `der Wahnsinnige` - die osmanische Dynastie am Abgrund" (S. 106-120). 

Ibrahim hatte sein Dasein bis zu seinem 24. Lebensjahr im „Kafes, dem Prinzengefängnis, gefristet, einem abgeschlossenen und streng bewachten Bereich im Inneren des Topkapi-Palasts. (…). Im abgeschotteten Bereich des Kafes lebten die osmanischen Prinzen seit dem frühen 17. Jahrhundert (…) abseits von repräsentativem Prunk und weitgehend ohne Kontakte zur Außenwelt. Umgeben von Pagen, Eunuchen und Konkubinen, deren Schwangerschaften konsequent unterbunden wurden, um zu verhindern, dass die potentiellen Thronfolger Nachwuchs zeugten, blieben die Prinzen nahezu unsichtbar, fern von jeglicher politischen Funktion und Verantwortung“ (Vogel 2022, S. 109).

Ibrahim war der der jüngste von neun Söhnen Sultan Ahmeds I. Seit seiner frühsten Kindheit hatte er miterlebt, wie im Laufe der Jahre alle seine Brüder verschwanden. Anlass für das Verschwinden war in zwei Fällen die jeweilige Thronbesteigung. Beide Thronfolger ließen allerdings fünf ihrer Brüder erdrosseln, damit diese nicht den Thron besteigen konnten. Ein weiterer Bruder starb krankheitsbedingt. (Vogel 2022, S. 109). 

Dass im Palast potentielle Thronfolger von ihren jeweiligen Brüdern umgebracht wurden, hatte eine lange Tradition im Herrscherhaus. „Die als legale Maßnahme zur Herrschaftssicherung verstandene Praxis des Brudermords war gewissermaßen die blutige Kehrseite der durch Konkubinat verursachten `Überproduktion` männlicher Nachfahren“ (Vogel 2022, S. 110). Im historischen Verlauf setzte sich später durch, dass der jeweils Älteste Thronfolger wurde, wodurch der Brudermord schließlich obsolet wurde. 

Ibrahim wurde nur deshalb als Einziger am Leben gelassen, weil er als geistesschwach galt und daher nach allgemeiner Auffassung als Konkurrent um die Sultanswürde für Murad IV. keine ernstzunehmende Gefahr darstellte“ (Vogel 2022, S. 110). 

Nachdem Murad IV. gestorben war (und keine eigenen Nachkommen hinterlassen hatte) und die politischen Würdenträger seine Gemächer betraten, soll Ibrahim zunächst panisch reagiert haben. Er rechnete wohl damit, umgebracht zu werden und weigerte sich zunächst, das “Prinzengefängnis“ zu verlassen.
Dass die jahrzehntelange Haft unter ständiger Todesangst sich wohl negativ auf Ibrahims ohnehin labilen Geisteszustand ausgewirkt hatte, wird dabei von niemandem bezweifelt (…)“ (Vogel 2022, S. 112). 

Als Herrscher sicherte sich Ibrahim den Ruf eines grausamen Despoten, der zu irrationalen Entscheidungen neigte. Wenn wir auf seine potentiell traumatische Kindheit schauen, wird dies erklärbar. 


Dienstag, 13. Dezember 2022

Trotz viel Empirie: Kindheiten von Extremisten sind oft kein Thema in der Extremismusforschung

Für mich ist immer wieder erstaunlich, dass es kaum Übersichtsarbeiten bzw. fokussierte Fachbeiträge über den speziellen Bereich Kindheit & Extremismus gibt. Ganz im Gegenteil ist es oftmals so, dass entsprechende Handbücher und Sammlungen von Expertisen über Extremismus/Terrorismus keine Schwertpunktbeiträge über Kindheit/Trauma/Familie enthalten. Beispiele dafür sind:

  • Handbuch Extremismusprävention“ (Ben Slama & Kemmesies 2020)
  • Handbook of Terrorism Prevention and Preparedness“ (Schmid 2020)
  • "The Oxford Handbook of Terrorism" (Chenoweth et al. 2019)
  • Extremismusforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis“ (Jesse & Mannewitz 2018)
  • Handbuch Politische Gewalt: Formen - Ursachen - Legitimation – Begrenzung“ (Enzmann 2013
  • Terrorismusforschung in Deutschland“ (Spencer, Kocks & Harbrich 2011). 

Auch in titelstarken Einzelarbeiten wie z.B. „Extremismus und Radikalisierung - Kriminologisches Handbuch zur aktuellen Sicherheitslage“ (Dienstbühl 2019) findet sich – trotz umfassender und systematischer Struktur und Gliederung - kein eigenes Kapitel über Kindheit/Trauma/Familie und Extremismus. In dem genannten Band taucht nach meiner Suche (per E-Book Suchfunktion) sogar nicht ein einziges Mal das Wort „Kindheit“ auf. 

Im recht komplexen Handbuch über Rechtsextremismus von Armin Pfahl-Traughber (2019). „Rechtsextremismus in Deutschland - Eine kritische Bestandsaufnahme“ gibt es im Kapitel 24 "Erklärungsansätze" kurze Einlassung auf den Autoritarismus, aber Kindheit & Trauma ist wie so oft kein Thema, wenn es um Ursachen geht.

Der Extremismusforscher Matthias Quent (2020) hat eine Art populärwissenschaftliche Handreichung unter dem aussagekräftigen Titel „Rechtsextremismus: 33 Fragen - 33 Antworten“ abgeliefert. Nicht in einer einzigen Frage bzw. Antwort geht er auf Kindheitshintergründe der Extremisten ein, was auch für etliche andere Einzelarbeiten von entsprechend Forschenden gilt. 

Das aktuellste Beispiel (und Auslöser für diesen Blogbeitrag!) ist das Buch Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis“ (Rothenberger, Krause, Jost & Frankenthal 2022), das Mitte diesen Jahres erschienen ist. Im umfassenden Index taucht das Wort „Kindheit“ gar nicht auf, was an sich schon deutlich macht, wie wenig Bedeutung man diesem Bereich zukommen lässt. Dabei hätte der Index das Wort sogar aufnehmen können, denn an einer einzigen Stelle im Buch wird – innerhalb von zwei bis drei Sätzen - eine Verbindung hergestellt:
Eine entwicklungspsychologische Perspektive interessiert sich für die Auswirkungen ungünstiger früher Beziehungserfahrungen auf die spätere Identitätsentwicklung. Wenn in der Kindheit Vernachlässigung und Gewalt eine Rolle spielten, besteht ein erhöhtes Risiko für spätere psychosoziale Probleme (Schulabbrüche, Delinquenz, Substanz- und Alkoholmissbrauch, Risikoverhalten)“ (Sischka 2022, S. 360). Dass Kindheitseinflüsse nebenbei in kurzen Sätzen erwähnt werden und nicht als eine der zentralsten Ursachen hervorgehoben werden, erlebe ich immer wieder. 

Unter dem Begriff „Trauma“ finden sich im Index zwar sechs Stellen im Buch, aber keine von diesen bezieht sich auf mögliche Traumahintergründe der Terroristen/Extremisten.
Und wo wir gerade dabei sind: In dem Handbuch werden etliche Terroristen besprochen oder erwähnt, von Anders Breivik, Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Osama Bin Laden bis hin zu Timothy McVeigh. All diese genannten Akteure hatten nach meiner Recherche eine traumatische Kindheiten, nur scheint es keinen für das Handbuch gewonnenen Experten zu geben, der/die sich damit befasst hat. 

Ganz im Gegenteil findet sich an einer Stelle (Kapitel: „Prozesse und Faktoren von Radikalisierung: Ein Überblick“ von Daniela Pisoiu) sogar quasi die Negierung von Kindheitseinflüssen. Zunächst geht Pisoiu auf die psychische Situation von Anders Breivik ein und unterstreicht, dass dieser voll für seine Taten zur Rechenschaft gezogen bzw. als voll schuldfähig eingestuft wurde. Sie schließt dem an:
Die `Normalität` von Terroristen bezieht sich jedoch nicht nur auf den Aspekt der psychischen Gesundheit. Denn die Auffälligkeiten, die gegebenenfalls in ihren Lebensläufen auftauchen (z.B. problematische Kindheit, keine abgeschlossene Schulbildung) reichen nicht aus, um einen signifikanten Unterschied zur Gesamtbevölkerung aufzuzeigen und so eine bestimmte Teilmenge der Bevölkerung zu definieren, die für Terrorismus prädestiniert sein könnte – das sogenannte Spezifitätsproblem“ (Pisoiu 2022, S. 344). Einige Zeilen weiter zitiert sie dann noch eine Studie von Donatella della Porta über 29 ehemalige linke Militante, die die „Atmosphäre in ihrer Familie als gut oder sehr gut bezeichneten“ (ebd.).
Diese zitierte Quelle habe ich mir durchgesehen. Donatella della Porta schreibt kurz vor ihrem Hinweis auf die 29 Militanten sogar noch folgendes:  „(…) past research has found no sign of any typical pattern in the primary socialization of militants, no sign of particular family problems or of an authoritarian upbringing. (…)” (della Porta 2012, S. 233).  Die zitierte Studie über die 29 Militanten kann ich leider nicht bzgl. Methodik etc. überprüfen, da sie auf italienisch ist. Schaut man sich den Beitrag von della Porta aber genau an, dann greift sie rein auf Quellen zurück, die alle zwischen 1950 und 1990 veröffentlicht wurden. Für diesen Zeitraum stimmt ihr zuvor zitierter Satz, denn es gab noch viel zu wenig Material über Kindheitshintergründe von Extremisten. Heute sieht dies ganz anders aus und ich kritisiere erneut, dass dies in einem Handbuch aus dem Jahr 2022 über Terrorismus nicht deutlich aufgeführt wurde. Gleichzeitig wundere ich mich darüber, dass della Porta in dem Buch "Terrorism Studies. A Reader", das im Jahr 2012 erschienen ist, einen solchen Satz schreibt. Zwischen 1990 und 2012 liegen schließlich über 20 Jahre! Auch in diesem Zeitraum sind so einige Arbeiten erschienen, in denen es um Kindheiten von Extremisten geht.  

Merkwürdig ist auch - um wieder auf das Handbuch "Terrorismusforschung" zurückzukommen -, dass Pisoiu zusammen mit anderen AutorInnen (Srowig et al. 2018) in dem Heft „Radikalisierung von Individuen: Ein Überblick über mögliche Erklärungsansätze“ vor allem im Kapitel 4.2 Studien besprochen hat, die ein hohes Maß an Belastungen in der Kindheit von Extremisten aufzeigen. Auf diese Veröffentlichung wollte ich innerhalb meines Blogbeitrags hier sogar ursprünglich gesondert hinweisen: Als ein seltenes Positivbeispiel für das Hinsehen auf die Kindheitshintergründe von Extremisten! Erst dann entdeckte ich, dass Pisoiu ja sogar Mitautorin war. Vor diesem Hintergrund verwundert es umso mehr, dass sie nun gerade im Handbuch „Terrorismusforschung“ Kindheitseinflüsse quasi beiseiteschiebt.

Es bleibt Fakt, dass es auf der anderen Seite viele Einzelstudien und Arbeiten gibt, die zusammengetragen ein sehr aussagekräftiges Gesamtbild ergeben. Dies sieht man z.B. in meinem Beitrag „Kindheitsursprünge von Rechtsextremismus: DIE gesammelten Studien“ bzw. im Inhaltsverzeichnis meines Blogs.
Man kann auf der einen Seite also nicht sagen, dass sich DIE Extremismusforschung blind gegenüber Kindheitseinflüssen stellt. Sonst hätte ich ja nicht all die Daten und Fakten zusammentragen können, die ich fand. Auf der anderen Seite wird das Thema immer wieder ausgeblendet oder offensichtlich als zu "banal" zur Seite geschoben (was die Inhalte bzw. nicht vorhandenen Inhalte dazu in den kritisierten Übersichtsarbeiten zeigen). Das Missverhältnis zwischen auf der einen Seite viel empirischem Material (durch diverse Einzelarbeiten oder auf Grund von Biografieforschung wie von mir in meinem Blog vielfach gezeigt) und fehlender Zentriertheit vieler Forschender auf Kindheitseinflüsse ist also an sich erklärungsbedürftig. 

Die fehlende Zentriertheit der Extremismusforschung auf Kindheitserfahrungen findet ihren Widerhall auch bei der Bereitstellung von Mitteln für die Prävention. Die Bundesregierung hat beispielsweise am 25.11.2020 den „Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2020) veröffentlicht. Insgesamt werden 89 Maßnahmen aufgeführt, die wiederum verschiedenen Ministerien zugeordnet wurden. Eine Milliarde Euro wurde zur Verfügung gestellt, um die Maßnahmen umzusetzen. In dem Katalog gibt es keine einzige Maßnahme, die in Richtung Kinderschutz als Extremismusprävention geht. Würde Kinderschutz bzgl. der Maßnahmen der Regierung als Extremismusprävention verstanden, dann würde eine Milliarde Euro allerdings wohl kaum ausreichen. Große Investitionen würden sich hier allerdings lohnen und dies nicht nur im Kampf gegen Extremismus. Eine wirkliche und nachhaltige Zentriertheit der Gesellschaft auf den Schutz und die Unterstützung von Kindern hätte insgesamt viele positive Effekte, was der Gesellschaft am Ende eine Menge an Folgekosten für Gesundheit, Jugendhilfe, Sozialhilfe, Polizei, Verfassungsschutz und Justiz sparen würde.

Dass es in der Forschung auch anders gehen kann, zeigt der herausragende und wegweisende Beitrag „From Childhood Trauma to Violent Extremism: Implications for prevention“ von Lundesgaard & Krogh (2018) in dem Handbuch „Violent extremism in the 21st century: International perspectives“. Beiträge wie dieser sind eine Seltenheit. Offensichtlich gibt es kaum etablierte Fachleute, die sich auf den Bereich Kindheit und Extremismus fokussiert haben und überhaupt als BeitragsautorInnen für entsprechende Fachbücher infrage kommen. 

Insofern wünsche ich mir für die kommenden Jahre eine Öffnung der Extremismusforschung für Kindheitseinflüsse beim Thema Extremismus, eine Öffnung für Psychohistorie, Psychoanalyse, Traumaforschung und ganz besonders auch die Adverse Childhood Experiences Forschung. Nur dann werden wir die Ursachen umfassend verstehen und langfristig betrachtet nachhaltige Prävention möglich machen können. 


Quellen:

Ben Slama, B. & Kemmesies, U. (Hrsg.) (2020). Handbuch Extremismusprävention. Gesamtgesellschaftlich. Phänomenübergreifend. (Polizei + Forschung, Band-Nummer 54) Bundeskriminalamt Wiesbaden. 

Chenoweth, E., English, R., Gofas, A. & Kalyvas, S. (Hrsg.) (2019). The Oxford Handbook of Terrorism. Oxford University Press, Oxford.

Della Porta, D. (2012). On individual motivations in underground political organizations. In: Horgan, J. & Braddock, K. (Hrsg.). Terrorism Studies. A Reader. Routledge, London & New York.

Dienstbühl, D. (2019). Extremismus und Radikalisierung - Kriminologisches Handbuch zur aktuellen Sicherheitslage. Richard Boorberg Verlag, Stuttgart. Kindle E-Book Version.

Enzmann, B. (Hrsg.) (2013). Handbuch Politische Gewalt: Formen - Ursachen - Legitimation – Begrenzung. Springer VS, Wiesbaden. Kindle E-Book Version. 

Jesse, E. & Mannewitz, T. (Hrsg.) (2018). Extremismusforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden.

Lundesgaard, A. & Krogh, K. (2018). From Childhood Trauma to Violent Extremism: Implications for prevention. In: Overland, G., Andersen, A. J., Førde, K. E., Grødum, K. & Salomonsen, J. (Hrsg.). Violent extremism in the 21st century: International perspectives. Cambridge Scholars Publishing, Newcastle-upon-Tyne, S. 180-198.

Pfahl-Traughber, A. (2019). Rechtsextremismus in Deutschland - Eine kritische Bestandsaufnahme. Springer VS, Wiesbaden.

Pisoiu, D. (2022). Prozesse und Faktoren von Radikalisierung: Ein Überblick. In: Rothenberger, L., Krause, J., Jost, J. & Frankenthal, K. (Hrsg.). Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos, Baden-Baden. S. 343-350.

Presse und Informationsamt der Bundesregierung (2020, 25. Nov.). Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus

Quent, M. (2020). Rechtsextremismus: 33 Fragen - 33 Antworten. Piper Verlag, München. 

Rothenberger, L., Krause, J., Jost, J. & Frankenthal, K. (Hrsg.) (2022). Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos, Baden-Baden.

Schmid, A. P. (Hrsg.) (2020). Handbook of Terrorism Prevention and Preparedness. ICCT Press, Den Haag. (freie Onlineversion), https://icct.nl/handbook-of-terrorism-prevention-and-preparedness/.

Sischka, K. (2022). Identitätsprozesse und Radikalisierung. In: Rothenberger, L., Krause, J., Jost, J. & Frankenthal, K. (Hrsg.). Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos, Baden-Baden. S. 359-366.

Spencer, A., Kocks, A. & Harbrich, K. (Hrsg.) (2011). Terrorismusforschung in Deutschland. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Sonderheft 1.

Srowig, F., Roth, V., Pisoiu, D., Seewald, K. & Zick, A. (2018). Radikalisierung von Individuen: Ein Überblick über mögliche Erklärungsansätze. PRIF Report 6/2018. Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) & Peace Rresearch Institute Frankfurt (PRIF), Frankfurt am Main. https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK/hsfk_publikationen/prif0618.pdf

Wahl, K. & Wahl, M. R. (2013). Biotische, psychische und soziale Bedingungen für Aggression und Gewalt. In: Enzmann, B. (Hrsg.). Handbuch Politische Gewalt: Formen - Ursachen - Legitimation – Begrenzung. Springer VS, Wiesbaden. Kindle E-Book Version. 





Sonntag, 11. Dezember 2022

Fallstudie über den Nazi "Tom"

Ich habe erneut eine Fallstudie über einen Nazi gefunden:

Smith, A. F. & Sullivan, C. R. (2022). Exiting far-right extremism: a case study in applying the developmental core need framework. Behavioral Sciences of Terrorism and Political Aggression. Onlineveröffentlichung vom 13.06.2022. https://doi.org/10.1080/19434472.2022.2076718

Tom war fast 20 Jahre Teil einer sehr bekannten und gewalttätigen Neo-Nazi Organisation in den USA. Die Forschenden trafen ihn für ein langes Interview. Fragen waren vorbereitet, das Gespräch verlief aber auch offen. In dem Forschungsbericht werden auch einige Details aus seiner Kindheit erwähnt.

Tom traf im Alter von elf Jahren erstmals auf die rechtsextreme Gruppe, genau zu der Zeit, als sein Vater gestorben war. Was ihn an der Gruppe sofort beeindruckte, war der – wie er sagt – „Respekt“, den die Gruppe durch ihr Auftreten bekam. Man könnte auch einfach sagen: Die Leute hatten Angst vor ihnen. „I liked that people feared me … I liked it when people saw me coming, they crossed the street” (S. 8)

Tom wuchs in einer Nachbarschaft auf, wo er und seine Familie die einzigen „Weißen“ waren. Als Kind hatte er zunächst viele „Schwarze“ als Freunde. Mit den Jahren fühlte er sich aber als „Weißer“ nicht gleich und auch rassistisch behandelt. „In addition to his feelings of social and racial alienation, Tom’s home life was characterized by conflict. He described his biological father as hard-working but largely absent. Tom noted, ‘ … there wasn’t a lot of communication with him [his father], except for when we [Tom and his brother] got in trouble.’ Tom described his father as a former Navy-man, who was a physically abusive disciplinarian. (Tom described being given ‘twenty-five to thirty spanks with a big-ass leather belt’ by his father for relatively minor infractions and childhood pranks.)” (S. 9).
Er entschuldigte seinen Vater sogleich für dessen Gewalt und Verhalten, weil dieser ganz ähnlich aufgewachsen sei (sprich mit Gewalt).

Später trat noch ein Stiefvater in Toms Leben. Tom spricht bewundernd von seiner Mutter. Die Beziehung zu ihr oder ihr Erziehungsverhalten wird aber nicht deutlich. An einer Stelle wird erwähnt, dass seine Mutter Brustkrebs hatte und behandelt werden musste. Es wird leider nicht deutlich, ob diese Situation noch in Toms Kindheit eintraf (was eine weitere schwere Belastung für das Kind bedeuten würde, das ja bereits seinen Vater früh verloren hatte).

Als er der Nazi-Szene beitrat wurde er innerhalb seiner Familie zum Außenseiter. Da er bereits ab dem 11. Lebensjahr in Kontakt mit der Szene kam, wird es – so meine Vermutung - zu etlichen Konflikten mit Mutter und Stiefvater gekommen sein.

Schwere traumatische Erlebnisse (väterliche Misshandlungen, Tod des Vaters) sind deutlich belegt, weitere Belastungen sind nicht ausgeschlossen. 

Innerhalb der Nazi Gruppe machte Tom dann sowohl als Täter als auch als Opfer weitere traumatische Erfahrungen. 


Sonntag, 4. Dezember 2022

Childhood is political!

This text (slightly updated version) is the English translation of:

Fuchs, Sven (2021). Die Kindheit ist politisch! Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Interdisziplinäre Fachzeitschrift für Prävention und Intervention (DGfPI), Jahrgang 24, Heft 1, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S. 80-85.


Abstract: Do childhood experiences have consequences? If this question is put into relation to politics and society or even to collective things such as war, extremism, terrorism or social developments towards dictatorial regimes, then quite a few people would respond, “No, childhood has nothing to do with it!” People answer in this direct way quite promptly, but most of the time they don’t engage or really get involved to talk about these connections. I will use among other things biographies to show that childhood is indeed political and that childhood experiences itself can have political consequences.


Please imagine, dear reader, that you are a psychotherapist. In the following, I present five individual cases, anonymized at first. You will learn the real names of the “patients” afterwards. Patients come to your practice, we imagine, because of a range of mental and health conditions (addictions, mood disorders, sleep disorders, suicidal thoughts, self-loathing, etc.). In the course of anamnesis and therapy, their childhood backgrounds become clear, which I will present briefly: 

Case A: A was the first surviving child after two miscarriages; at the age of five he almost died of smallpox; after an accident suffered in childhood, his left arm was also injured and remained crippled; the father was a violent alcoholic who beat his wife and children; A’s father beat him almost every day (after one assault the child had blood in his urine for days); one day the father even tried to strangle A’s mother; when A was 11 or 12 years old, his parents separated; the father later became a vagrant; A’s mother also abused her son and she forced him into training to become a priest; A spent five years of his adolescence in a seminary which was characterized by rituals of submission to authority, humiliation by the clergy, powerlessness and punishment.

Case B: The mother had originally wanted to abort the fetus; during pregnancy, she already perceived the fetus as a difficult child who was restless and kicked her; for the infant, the mother did only what was necessary and was uncaring; early separation of parents; single mother was overwhelmed early on and asked the authorities for help; as a two-year-old, B was therefore accommodated in out-of-home care at the weekends for some time; the mother neglected and beat her son + emotional abuse; the mother behaved in a “sexualized” manner toward her son; the mother told her son she wished he were dead; the mother probably suffered from borderline personality disorder; three-week inpatient admission to a psychiatric facility as a four-year-old (along with his single mother); psychiatric team was extremely concerned after the assessment and demanded that the mother and son be separated; the father then attempted to gain custody, but failed. 

Case C and D: This is about two brothers; the father was physically violent towards the children and died early of cancer; the now single mother neglected the children, who also grew up in poverty and appeared neglected; finally, the mother became seriously ill, she asked the authorities for help, whereupon the two sons were placed in a children’s home; however, the home chosen by the authorities was very far away, which meant that neither the mother nor the other siblings could visit the brothers, they could only phone them; a few month after being placed in the home, the mother died, presumably of a drug overdose. 

Case E: E was rejected as a fetus, his mother tried to abort him, but this failed; E lost his father early and went to live with an uncle who regularly beat him and called him the “son of a cur”; the uncle was considered an argumentative and moody person and an obstinate admirer of Adolf Hitler; the uncle was eventually imprisoned for his veneration of the Nazis and E had to go back and live with his mother who had found a new husband in the meantime; he was not welcomed; the new stepfather was also brutal and beat E; in the family home there was neither running water nor electricity, and humans and animals lived together under one roof; at night, the family slept crowded together on the dirt floor to keep each other warm; since E was fatherless and an outsider, he was also teased mercilessly by the other children in the village and often beaten up.

Case F: War childhood (including escape from Jena from the Red Army), orphan: The father died when F was five, the mother died when she was 14, severe conflict and marital crisis in the parental home after mother's affair, then suicidal moods of the mother; abandonment by the mother on several occasions (children's home + relatives); the first time, F’s mother passed her to the children’s home at the age of six for about half a year (later, F wrote the screenplay for the German film “Bambule”, which depicted the hardship and attempted resistance of female adolescents in institutions); the mother had fallen in love with a fellow female student and seems to have devoted herself entirely to this relationship and her university education; after the mother's death, the whole world died for her, F later said; the mother's girlfriend became a foster mother but neglected the adolescent.  

Please remember that you are still imagining that you “are” a psychotherapist. Do you see a connection between these childhoods and the patients’ suffering and mental state, or do you rule it out? I can imagine that you recognize a connection and you are also quite right with regard to the general research situation.

Internationally, since the pioneering work of Dr. Vincent Felitti in the late 1990s, research into so-called Adverse Childhood Experiences (ACEs) has expanded tremendously. ACEs typically include stress factors such as sexual, physical and emotional abuse; neglect; parental separation; witnessing domestic violence; growing up with mentally ill or addicted family members; and witnessing the incarceration of family members. 789 professional articles that focused on various consequences of adverse childhood experiences (ACEs) were published between 1998 and 2018 (Struck et al. 2021). In addition, a full 38,411 English-language professional articles thematically related to child maltreatment emerged between the years 2000 and 2018 (Tran et al. 2018). The large meta-study by Gershoff & Grogan-Kaylor (2016) is worth highlighting: 111 studies were evaluated. The studies evaluated included data for a total of 160,927 children. 99 % of studies found harmful effects of physical violence against children and no positive effects. 17 negative effects were recorded, including, for example, aggression, antisocial behavior, mental health problems, low self-esteem, lower cognitive ability, lower internalized morals, alcohol and drug abuse, and approval of corporal punishment against children. 

Analysis of ACEs (review and meta-analysis; 253,719 respondents from 37 international studies) has found that adults who were exposed to four or more ACEs were seven to eight times more likely to be involved in interpersonal violence (violence victimization or perpetration), and 30 times more likely to attempt suicide than adults with no ACE exposure (Hughes et al. 2017). 

Adverse Childhood Experiences were also found to a strikingly high extent in the particular population of (violent) offenders (Baglivio et al. 2021, Cannon et al. 2016, Dermody et al. 2020, Graf et al. 2021, Messina & Grella 2006, Reavis et al. 2013). In one study, particularly young murderers (N = 25, mean age = 14.7) were also found to have clearly destructive childhood backgrounds: dysfunctional family (96 %), emotionally abused at home (83 %), physically abused (55 %), sexually abused (10 %); in addition, 52 % of these children/murderers had suicidal thoughts (Myers et al. 1995).

Meanwhile, the costs associated with adverse childhood experiences are also coming into focus. A 2019 study, funded by WHO, calculates the annual cost due to adverse childhood experiences (ACEs) to be US$ 581 billion in Europe and US$ 748 billion in North America (Bellis et al. 2019). “How Much More Data Do We Need? Making the Case for Investing in Our Children” is the title of a recent specialist article that makes the case that the consequences of child maltreatment are finally extensively researched and that it is time to invest heavily in children (Berger et al. 2021). 

I believe that you are a good “psychotherapist” if you recognize the connections and do long-term trauma therapy with your above-mentioned patients. However, my experience is that these relationships are often faded out or even denied when it comes to the political realm, when it comes to dictatorial/authoritarian forms of government, extremism, terrorism, war and hostile/destructive politics. All these things are most rarely associated with adverse childhood experiences. 

But now we come to the resolution (sources for each of the childhoods discussed above are in parentheses): Patient A is the mass murderer and dictator Josef Stalin (Fuchs 2019), patient B is the Norwegian right-wing terrorist and mass murderer Anders Breivik (Borchgrevink 2013, Fuchs 2019), patients C and D are the Islamist terrorists Chérif and Saïd Kouachi (Fuchs 2019, Smith 2019) who carried out the attack on the editorial office of the satirical magazine Charlie Hebdo on January 7, 2015. Patient E is the Iraqi mass murderer and dictator Saddam Hussein (Fuchs 2019) and patient F is Red Army Faction (RAF) founding member and German far-left terrorist Ulrike Meinhof (Fuchs 2019).  

I could imagine that your assessment of these personalities might now change somewhat. There is a danger, you may think, that the actions of these people would be excused if we relate them to correspondingly destructive childhoods. There is an equal danger of losing sight of the victims of the perpetrators when we focus on the victim that these perpetrators once were. An essential thought may also be that most people abused and traumatized as children do not become mass murderers and terrorists (however, I assume that you as a “psychotherapist” would not hold against your “patients” that, after all, many other people with similar childhood backgrounds do not have an addiction problem or suicidal thoughts, just a thought). The influences that must come together for a person to become a perpetrator, even a mass murderer, are undoubtedly always complex and not just dependent on childhood. And yes, certainly the step to commit the crime is also a decision of the respective perpetrator and these people have to answer for this, no matter what their childhood was like. We do not have to excuse their actions, but we should understand so that prevention can take effect. 

The much more essential and central question for me is: Would these personalities have become this kind of perpetrator if they had experienced a largely loving and violence-free childhood? Or also: with the horrors of childhood remaining the same, would they have become these perpetrators if they had received help, support, positive compensatory experiences and psychotherapy early on? 

In 2019, I published my book, “Die Kindheit ist politisch!“ (Childhood is Political!”) (Fuchs 2019; the book was reviewed in English by Peter Petschauer (2020) ). In it, I showed that the countries and regions (e.g. Iraq, Syria, Afghanistan, Egypt, Palestine, Cambodia, El Salvador, but also the USA) that strike us as “problem children” in terms of world politics (or that represent this in a shorter historical retrospect) and that represent severe political conflicts, social imbalances, war, terror and/or recruitment regions for terrorists, at the same time show an enormously high level of violence against children in various forms and, in addition, often other stress factors for children. I have conducted extensive studies and case analyses/biographies on extremists/terrorists (e.g. Andreas Baader, Zacarias Moussaoui, Osama Bin Laden), (violent) criminals, dictators (e.g. Adolf Hitler, Benito Mussolini, Francisco Franco, Nicolae Ceauşescu, Slobodan Milosevic, Josip Broz Tito, Mao Zedong, Augusto Pinochet, Manuel Noriega, Fidel Castro), belligerent politicians (e.g. Lyndon B. Johnson, Ronald Reagan, George W. Bush, Bill Clinton, Recep Tayyip Erdoğan, Wladimir Putin) NS perpetrators (including Rudolf Hess, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Rudolf Höß, Adolf Eichmann) and soldiers. The conclusions from all my research come to a head in the title of the book. What all of the named personalities have in common is that their childhoods were often anything but free of violence, loving and happy. In the overall picture, it becomes clear that the above-mentioned case studies are not isolated cases or outliers. 

After the book was published, I also compiled all the studies/individual papers I could find in which right-wing perpetrators of violence / right-wing extremists had been interviewed about their childhoods. To date, I have found a total of 37 papers for which a minimum of one and a maximum of 115 right-wing personalities were interviewed. It turns out that right-wing perpetrators of violence or right-wing extremists usually had a very destructive childhood. I refer here to my abstract, which can be viewed online (Fuchs 2021). In my opinion, the empirical data is almost overwhelming and it is surprising that child protection as an essential branch of prevention of extremism has not been / is not widely discussed. 

One of these works is presented here as an example. 91 (70 male, 21 female) former US extremists / racists (from Ku Klux Klan, Christian Identity, neo-Nazi, racist skinheads groups) were interviewed. Results regarding ACE values (experiences before the age of 18): 48 % experienced physical abuse in the home, 46 % experienced emotional neglect in the home, 46 % experienced emotional abuse in the home, 23 % experienced sexual abuse in the home, 15 % experienced physical neglect in the home; 68 % experienced parent abandonment, 66 % reported parental substance abuse, 47 % witnessed domestic violence, 47 % reported parent/caregiver mental illness, and 32 % reported parent incarceration (Windisch et al. 2020). 

I advocate that we look at the possible political consequences of childhood without blinkers and that the prevention of child abuse or ACEs is also communicated as the prevention of violence, terrorism and extremism.  If this view succeeds across society as a whole, then this would subsequently necessitate one thing above all: more worldwide child protection.  

I would like to add my favorite quote (from the former director of the Clinic for Child and Adolescent Psychiatry at the University Medical Center Hamburg-Eppendorf and expert in psychotraumatology Prof. Peter Riedesser): “The more children here and around the world are neglected, beaten, humiliated and slide into hopelessness and hatred, the higher the destructive potential in our own country and worldwide. Against this background, child protection has become a question of survival. Worldwide child protection is the ideal way to prevent not only mental suffering, but also crime, militarism and terrorism. It ensures democracy and peaceful cultural and economic exchange. It takes all of our creativity and determination to make this happen. If we all wanted this in a unique act of solidarity, we would also have the knowledge and the means” (Riedesser 2002, p. 32). 


Bibliography

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Windisch, S., W., Simi, P., Blee, K. & DeMichele, M. (2020). Measuring the Extent and Nature of Adverse Childhood Experiences (ACE) among Former White Supremacists. Terrorism and Political Violence. https://doi.org/10.1080/09546553.2020.1767604


Samstag, 26. November 2022

Kindheit in Russland - Teil 2

Die in Kiew geborenen Politikerin und Publizistin Marina Weisband (2022) hat mit Blick auf den aktuellen Krieg in der Ukraine auf ihrer Homepage folgendes geschrieben:
Eigentlich seit dem 13. Jahrhundert lebten sämtliche Generationen in Russland in Knechtschaft. Sie wurden in Knechtschaft geboren und starben in Knechtschaft. Sei es das zaristische Regime mit der Leibeigenschaft oder der Stalinismus. Persönliche Würde war einfach kein Ding. Meine Mutter erzählte mir gestern: „Ich habe, als ich nach Deutschland gekommen bin, fünf Jahre gebraucht, um zum ersten Mal sowas wie Selbstwert zu fühlen. Davor hatte ich keine Vorstellung, was das ist.“ Was bedeutet das? In der Sowjetunion war der Mensch staub. (…) Wo Menschen Staub waren, hielten sie sich schon immer an etwas, das größer war, als sie selbst. Die Idee Gottes. Die Idee des Imperiums. Die schiere Größe des Landes und seines Geistes, wo das eigene Leben klein und unbedeutend war.“

Geschichte ist nicht einfach nur Geschichte. Sie wirkt fort (Stichwort u.a.: transgenerationales Trauma). Das hat Weisband in ihrem eindrucksvollen Text „Russland verstehen“ im Grunde deutlich beschrieben. 

Wie sah also Kindheit in Russland aus? Dieser Frage bin ich bereits in dem Blogbeitrag "Kindheit in Russland" vom 03.04.2014 nachgegangen. Diesen Beitrag möchte ich heute ergänzen.
Meine neue Hauptquelle, die mich vor allem dazu veranlasste, ist das Buch „Children's World: Growing Up in Russia, 1890–1991“ von Catriona Kelly; eine wahre Fundgrube für Kindheit in Russland. Ergänzen werde ich diese neue Quelle um einzelne, kurze Informationen aus anderen Quellen, die ich hier verarbeiten werde. 

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Kindheit in Russland

Wenn beispielsweise um das Jahr 1900 herum Essen serviert wurde, kamen die Kinder zuletzt und bekamen die schlechtesten Stücke. Der Hausherr nahm sich zuerst. Am Ende mussten sich die Kinder beim Hausherren für das bedanken, was sie erhalten hatten (Kelly 2007, S. 366) "Family law still enshrined the patriarch as mini-tsar in his own household, with his wife and progeny perceived  as dependants" (Kelly 2007, S. 27). Im Kleinen wie im Großen herrschten zaristische Verhältnisse und sicherlich steht beides auf eine Art in einem Zusammenhang bzw. stützte sich gegenseitig.
Oder wie Lloyd deMause es drastischer formulierte: „Die politischen Alpträume des zaristischen und stalinistischen Russlands waren exakte Abbilder der Alpträume einer gewöhnlichen russischen Kindheit. Weitverbreiteter Kindesmord, heftige Schläge und andere Arten physischer Misshandlung waren Vorbilder für physische Gewalt des Kremls, das KGB und des Gulag" (deMause 2000, S. 455f.).

Im 17. Jahrhundert besaß die junge Frau in Russland keinerlei Vorrechte. Zu ihren Aufgaben gehörte es, sich um das Haus zu kümmern, Kinder zu gebären und für ihren Mann zu sorgen. „Wenn der Mann mit seiner Frau nicht zufrieden war, hatte er die Möglichkeit, sie zu züchtigen. Wenn nur eine leichte Strafe notwendig war, konnte er sie schlagen. Der Domostroi, der Kodex für die Haushaltsführung (…), diente den Oberhäuptern der russischen Familien als Leitfaden für die verschiedenen häuslichen Angelegenheiten, wie dem Konservieren von Pilzen bis hin zur Züchtigung von Ehefrauen. In Bezug auf letzteres empfahl er, 'ungehorsame Frauen streng, jedoch nicht zornerfüllt auszupeitschen'. Sogar eine gute Frau sollte von ihrem Mann belehrt werden, 'indem er von Zeit zu Zeit die Peitsche gebraucht, wobei er aber freundlich bleibt, niemanden anderen zusehen lässt, vorsichtig vorgeht und Fausthiebe vermeidet, welche blaue Flecken verursachen'. In den unteren Gesellschaftsschichten pflegten russische Männer ihre Frauen auch bei den geringsten Anlässen zu schlagen. 'Einige von diesen Barbaren hängen ihre Frauen an den Haaren auf und peitschen sie ganz nackt', schrieb Dr. Collins. Manchmal starben die Frauen an den Folgen der Züchtigungen; dann waren die Männer frei und konnten wieder heiraten“ (Massie 1982, S. 38).

Eine weitere Möglichkeit, sich seiner Ehefrau zu entledigen, war, sie in ein Kloster zu stecken. Für die Außenwelt galt sie dann als „tot“, der Mann durfte erneut heiraten. „Die gesellschaftliche Verachtung der Frauen hatte grausame Folgen für die russischen Männer des 17. Jahrhundert. Ein echtes Familienleben gab es nicht, das intellektuelle Leben stagnierte, die rohesten Sitten herrschten vor, und die Männer fanden nur Ablenkung im Alkohol.“ (Massie 1982, S. 39).
Noch viel mehr, das möchte ich hier diesem Zitat anmerken, hatten die Frauen zu leiden und mit ihnen die Kinder, die all diese Rohheiten von Beginn an miterleben mussten. Aus diesen Kindern wurden dann die Erwachsenen, die die "Traditionen" fortführten. Man kann auch nicht erwarten, dass sich aus furchtbar missbrauchten, unterworfenen und gedemütigten Mädchen/Frauen gute Mütter entwickeln. Als Mütter hatten und haben Frauen stets Macht über Kinder. Traumatisierte Mütter werden auf die eine oder andere Art mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auch zu einer Belastung oder sogar zu einer Gefahr für die eigenen Kinder, gerade auch in einer Zeit wie dem 17. Jahrhundert. 

Ein Bericht in der New York Times zeigt, dass diese "Geschichte der häuslichen Gewalt" bis heute fortwirkt: "A fifth of all Russian women have been physically abused by a partner, and an estimated 14,000 women in the country die as a result of domestic violence each year—more than nine times the number of deaths in the U.S., though Russia’s population is less than half the size. At least 155 countries have passed laws criminalizing domestic violence. But in Russia, there is no such law; the government has even made it easier for domestic violence to go unpunished" (Roache 2021). 

Nun ist es sicherlich so, dass z.B. im 17. Jahrhundert auch in (West-)Europa raue Sitten herrschten. Allerdings spricht einiges dafür, dass Russland allgemein rückständiger war und sich Fortschritt langsamer vollzog (u.a. zu sehen am Beispiel der Leibeigenschaft, Alphabetisierungsrate, Kindersterblichkeitsrate, Kleinkindbetreuung, Wickelpraxis). 

"Etwas mehr als die Hälfte der Bauern waren Leibeigene. Ihre Eigentümer, die Grundherren, gehörten gewöhnlich dem Adel an. Zu einer Zeit, da die Leibeigenschaft nahezu überall in Westeuropa verschwunden war, um die Mitte des 17. Jahrhunderts, hatte man sie in Russland gesetzlich festgeschrieben" (de Madariaga 2006, S. 25). Noch im Jahr 1858 lebten ca. 40 % der Russen als Leibeigene. Sie wurden erst am 19.02.1861 durch die Aufhebung der Leibeigenschaft in die Freiheit entlassen (d'Encausse 1998, S, 18).

Auch die Alphabetisierung vollzog sich langsamer. 1870 lag die Alphabetisierungsrate im russischen Reich bei gerade einmal bei 15 % (im Vergleich zur gleichen Zeit z.B.: Schweden = 80%, Vereinigtes Königreich = 76%, Frankreich 69%) (Roser & Ortiz-Ospina 2018).

Auch die Kindersterblichkeit war verhältnismäßig hoch. Im Jahr 1913 lag die Säuglingssterblichkeitsrate (0-1 Lebensjahre) im europäischen Teil Russlands bei 26,5%. In zentralrussischen Gebieten (darunter u.a. die Region Moskau, Nowgorod oder Kaluga) lag die Sterblichkeitsrate sogar zwischen 34 und 38,6%. „The discrepancy between these rates and those in some European countries – 13.9 in Britain, 16.7 in France, 19.9 in Germany, and 21.3 in Austro-Hungary – was regularly cited in order to point to Russia`s backwardness and to the need of change” (Kelly 2007, S. 294).  Im frühen 20. Jahrhundert lag die Kindersterblichkeit der unter Dreijährigen im russisch-ländlichen Raum bei 50% (Kelly 2007, S. 306). Ab Ende der 1920er Jahre begannen die Kindersterblichkeitsraten deutlich zu sinken. Im Jahr 1957 lag die Säuglingssterblichkeitsrate (0-1 Jährige) bereits bei 4,5 % (Kelly 2007, S. 323). 

Die hohe Säuglingssterblichkeit hing u.a. auch mit traditionellen Vorstellungen vom Umgang mit dem Kind zusammen. „Even where it was detrimental, traditional care often 'killed with kindness' rather than neglect or indifference. Feeding solids early came from the conviction that 'milk isn`t a real food'. Enormous efforts were expended to protect children, though in the first instance from malevolent spirits and the 'evil eye' rather than from infections or microbes” (Kelly 2007, S. 294). Dass die Autorin Vernachlässigung als Ursache für die Sterblichkeitsraten zur Seite schiebt, erstaunt.
Dunn (1980, S. 537) folgend kamen die Sterblichkeitsraten in Russland zwar auch durch Bedingungen wie unzureichende Ernährung und medizinische Versorgung, klimatische Bedingungen etc. zu Stande, aber: „Wichtig ist meiner Meinung nach die Tatsache, dass russische Eltern Kinder und Kinderaufzucht für unwichtig hielten. Zwar musste man sich um die Kinder kümmern, doch im Grunde genommen vernachlässigten die Eltern ihre Kinder, ja, waren ihnen gegenüber sogar feindlich gesonnen.“

Kelly neigt außerdem dazu, Vorzüge des traditionellen straffen Wickelns der Säuglinge in Russland (Bewegungsfreiheit wird monatelang gänzlich eingeschränkt) hervorzuhaben (Kelly 2007, S. 288), obwohl sie sehr wohl wahrgenommen hat, dass die Expertenmeinungen zwischen Russen und Europäern bzgl. des straffen Wickelns schon damals deutlich auseinandergingen (Kelly 2007, S. 330). Die Praxis des traditionellen, straffen Wickelns hielt sich in Russland in manchen Arbeiterfamilien bis in die 1930er Jahre. Auf dem Land gab es bis in 1960er Jahre keinerlei Bestrebungen, von dieser Praxis abzurücken (Kelly 2007, S. 330). 

Babybücher der frühen Sowjetzeit betonten die Notwendigkeit zur Selbstbeherrschung und Disziplin von Anfang an, wozu u.a. das Baden in kaltem Wasser zur „Abhärtung“ gehörte (Kelly 2007, S. 326). Lloyd deMause meint mit Blick auf bis ins 20. Jahrhundert praktizierte „Abhärtungsrituale“ von Säuglingen (die es früher auch in Westeuropa gab), dass sich Reformen der Kindererziehung in Russland im Vergleich zu Westeuropa um ca. 200 Jahre verzögerten (deMause 2000, S. 455).

Schon die Geburt verlief noch Anfang des 20. Jahrhunderts nicht selten alles andere als erfreulich:
In communities where women had to work right through pregnancy, elaborate preparation was ruled out for many, and it was fairly common for women to go through labour unaided, in field or by a road. As one Soviet obstetrician was to comment, a pregnant women could expect less considerate treatment than a draught horse. In such situations, one may assume, the ritual procedures of birthing were delayed or truncated, and the infant arrived in life uncelebrated and unwelcomed” (Kelly 2007, S. 292). 

Aber auch Kindestötungen kamen vor: “Infanticide was not an uncommon event in the countryside (…)” (Kelly 2007, S. 292). "Among the lowest social level in seventeenth century Russia, female infanticide seems to have been widespread" (Milner 2000, S. 232).
Säuglingstötungen wurden Anfang des 18. Jahrhunderts seitens der politischen Führung zum Thema (was klar macht, dass die Tötungen eine bekannte Realität waren). Zunächst ging es vor allem darum, das Töten von illegitimen Kindern zu verhindern. 1716 wurden dann durch Peter I. Strafen für das Töten von sowohl illegitimen wie auch legitimen Kindern verhängt. Doch die russischen Väter fühlten sich durch diese Verordnung in ihren traditionell absoluten Rechten über ihren Nachwuchs zu bestimmen beschnitten. Peter I. reagierte darauf so, dass es keine Strafen gegen Elternteile gab, wenn deren Kinder "versehentlich" während elterlicher Strafmaßnahmen starben. In der Folge wurde es schwierig, den Eltern strafbares Fehlverhalten nachzuweisen. (Milner 2000, S. 107). 

Ab den 1930er Jahren gab es Bestrebungen, die Krippenbetreuung massiv auszuweiten. In den Folgejahren wurde die maximale Anzahl von zu betreuenden Kleinkindern auf 35 bis 40 pro Betreuungsperson angehoben (Kelly 2007, S. 344). In der Realität sei laut Kelly die Zahl der zu betreuenden Kinder zweifellos höher gewesen. 
Wir können uns vorstellen, dass die Bedingungen für die Kinder entsprechend miserabel waren, wovon auch einzelne Berichte zeugen, die Kelly zitiert. Der Standardaufenthalt der Kinder in den Krippen lag in den 1940er Jahren bei zwölf Stunden.  „'Hospitalisation', in the sense of institutionalised psychological trauma and emotional deprivation, must have been widespread among many 'graduates' of such crèches” (Kelly 2007, S. 349).
Aber nicht nur die Bedingungen waren rückständig, auch die Anzahl von Kindergärten (also Einrichtungen für etwas ältere Kinder) zeigt, dass Russland ganz anders aufgestellt war: "In 1911 there were only 100 kindergartens in operation across Russia, a figure that was strikingly low compared with the figures for France (5,863), the US (4,363), or Austro-Hungary (3,150)" (Kelly 2007, S. 369)

Bezogen auf Arbeiter- oder Bauernkinder um 1900 war das Hauptbestreben der Eltern sie durch die frühe Kindheit zu bringen. Enger Kontakt zur Mutter war begrenzt auf die ersten frühen Jahre. Sobald die Kinder sprechen und gehen konnten, wurden sie der Aufsicht von älteren Geschwistern überlassen oder gar nicht beaufsichtigt. Manchmal konnte aus Vernachlässigung auch Kindesmisshandlung werden, betont die Autorin (Kelly 2007, S. 361). 

Ein Bericht aus dem ländlichen Russland im 19. Jahrhundert zeigte vielfältige Gewalt gegen Kinder: „Dmitrii Ivanovich Rostilavov (b. 1809), raised as the son of a priest in a Russian village, noted the widespread resort to corporal punishment at all levels of society. Whereas landowners, the clergy and merchants adopted a grim ritual with birch rods or leather straps, peasants seized whatever was to hand, including sticks, ropes and horse whips, with the result that children were »beaten, pummeled, and even maimed«” (Heywood 2018, S. 114).

Um das Jahr 1900 herum war in Russland auch in den Mittel- bis Oberklassefamilien Körperstrafen gegen Kinder keineswegs unüblich. Auch das Einsperren von Kindern in dunklen Räumen waren mögliche Strafmaßnahmen (Kelly 2007, S. 362). In Arbeiter- oder Bauernfamilien galt: “Generally, the attitude to children, once they had reached the age of seven, was strict. Misdemeanours were punished by beatings or by sharp scoldings, disobedience was not tolerated" (Kelly 2007, S. 366) Manchmal wurden Kinder halbtot geschlagen, wie laut Kelly Einzelberichte zeigten. 

Ende des 19. Jahrhunderts waren auch Körperstrafen an Schulen gängige Praxis in Russland, wobei in religiösen Schulen am brutalsten geschlagen wurde (Kelly 2007, S. 521f.)
Gewalt gegen Kinder hielt sich auch in der Sowjetzeit: „Corporal Punishment was, by all accounts, used almost universally in working-class and peasant families. Strict control was still exercised in some families over how children behaved at table, and over the way they acted in the presence of visitors – interrupting and clamouring for attention were definitely not allowed. A standard method of behaviour regulation was the withdrawal of love: 'I don`t have a granddaughter any more', as a visiting grandmother said to her Leningrad granddaughter in 1960” (Kelly 2007, S. 390). 

Es mag entsprechend wenig verwundern, dass auch die Schüler untereinander oftmals nicht gerade zimperlich miteinander umgingen. Kinder, die anders oder schwächer waren, wurden schnell zur Zielscheibe (Kelly 2007, S. 562f.) Heute würden wir dazu Mobbing sagen. 

Vor allem nach den Jahren des Ersten Weltkriegs und der Oktoberrevolution stieg in Russland die Zahl der Kinder, die in Waisenhäuser untergebracht werden mussten, rasant an. Von 30.000 im Jahr 1917 auf 540.000 im Jahr 1921 (Kelly 2007, S. 193). Nach der Hungersnot 1920/1921 lag ergänzend die Zahl der Kinder, die ins Elend und totale Not gestürzt wurden bei mindestens vier Millionen. Diese Kinder wurden zu Erwachsenen und gestalteten die russische Gesellschaft mit. 

Dunn spitzt die Lebenssituation vieler russischer Kinder im historischen Rückblick wie folgt zu:
In der Zeit von 1760 bis 1860 in Russland ein Kind zu sein, war eine Qual, ein ungesichertes Dasein voll von Hindernissen für die körperliche wie die seelische Entwicklung. Vielleicht weniger als die Hälfte der Kinder erreichte das Erwachsenenalter. (…) Nur wenige von denen, die trotz allem körperlich überlebten, wurden in unserem heutigen Sinn erwachsen, nämlich autonome eigenverantwortliche Persönlichkeiten“ (Dunn 1980, S. 537).

Inna Hartwich (2022) hat für die taz den Artikel "Erziehung in Russland. Gewalt von Kindesbeinen an" verfasst und diese auf allen Ebenen zu findende Gewalt in der russischen Gesellschaft in Bezug zu Gräueltaten der russischen Armee und auch dem Krieg in der Ukraine an sich gesetzt. 
Ihr großartiger Artikel erspart mir hier das ausführliche Schlusswort! Wir müssen die aktuellen Kindheiten in Russland allerdings - dies soll dieser Blogbeitrag hier deutlich machen - im Kontext der Geschichte von Kindheit in Russland betrachten. 

Langfristig gilt: Russland verändern heißt, russische Kindheit verändern und verbessern. Ein Projekt, das nicht von heute auf morgen realisiert werden kann. Ein Bewusstsein für dieses grundlegende Problem wäre ein Anfang. 


(Siehe ergänzend die Kindheiten etlicher russischer Zaren und die Kindheit von Putin, Lenin, Stalin und Trotzki in meinem Blog)


Quellen:

de Madariaga, I. (2006). Katharina die Grosse. Das Leben der russischen Kaiserin. Hugendubel Verlag, Kreuzlingen / München.

deMause, L. (2000). Was ist Psychohistorie? Eine Grundlegung. Psychosozial Verlag, Gießen.

d'Encausse, H. C. (1998). Nikolaus II.: Das Drama des letzten Zaren. Paul Zsolnay Verlag, Wien. 

Dunn, P. P. (1980). »Der Feind ist das Kind«: Kindheit im zaristischen Russland. In: DeMause, L. (Hrsg.) (1980). Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main. S. 535-564.

Hartwich, I. (2022, 05. Juli). Erziehung in Russland. Gewalt von Kindesbeinen an. taz. 

Heywood, C. (2018). A History of Childhood. Polity Press, Medford. (Second Edition)

Massie, R. (1982). Peter der Grosse und seine Zeit. Athenäum Verlag, Königstein/Ts.

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Roser, M. & Ortiz-Ospina, E. (2018, 20. Sep.). Literacy. Our World in Data. 

Weisband, M. (2022, 07. März). Russland verstehen

Freitag, 4. November 2022

Kindheit von Xi Jinping

Xi Jinping wurde am 15. Juni 1953 in Peking geboren. Sein Vater, Xi Zhongxun, hat während der Kriege gegen Japan und gegen die Nationalisten eine steile Karriere im Militär gemacht. Während der 1950er Jahre arbeitete er im Propagandaministerium. Die Mutter war ebenfalls Teil des Parteikaders und arbeitete in der frühen Kindheit von Xi Jinping von montags bis freitags im marxistischen-leninistischen Institut. Der Vater war in dieser Zeit für das Kind zuständig (Brown 2016, S. 51). 

Aust & Geiges (2021, S. 35f.) schreiben, dass Xi Zhongxun als Guerillaführer schon im Langen Marsch an der Seite Maos kämpfte. Nach dem Sieg der Revolution wurde er stellvertretender Premierminister. Auch seine Frau Qi Xin, die Mutter von Xi Jinping, hatte an Kampfeinsätzen während des Krieges teilgenommen.
Xi Zhongxun war als Weggefährte der ersten Stunde beliebt bei Mao und gehörte wie gezeigt der Parteielite an. Sein Sohn wuchs insofern anfangs privilegiert auf und gehörte zum sogenannten „roten Adel“.

 Wohl bedingt durch eine Feindschaft mit dem Gründer der chinesischen Geheimpolizei geriet Xi Zhongxun Anfang der 1960er Jahre ins Abseits und es kam zum Bruch. Seine Karriere in der Partei war beendet und er wurde zunächst Hausmann (Brown 2016, S. 52f.). „Als Xi Jinping neun Jahre alt ist, 1962, wird sein Vater verhaftet und eingesperrt“ (Aust & Geiges 2021, S. 37). Danach wird er unter Hausarrest gestellt, was sein Leben als „Hausmann“ wie zuvor durch Brown gezeigt erklärt. 

Beide Elternteile waren deutlich auf Parteilinie und hatten durch ihre Kampfeinsätze sicherlich auch einige Rohheiten erlebt, um es vorsichtig auszudrücken. Ich gehe davon aus, dass dieser Hintergrund auch ihren Umgang mit den Kindern geprägt hat. Vor allem der Vater war auf Grund der abwesenden Mutter und dem späteren Ausschluss für die Kinder zuständig. Der Biograf und ehemalige Diplomat Kerry Brown sagte: „Es heißt, sein Vater sei ein harter Mann gewesen, der ihm kalte Bäder verordnete und sehr streng mit ihm war“ (Lepauld & Franklin 2021).
Fahrion & Giesen (2022, S. 12) fassen knapp zusammen: Xi Jinping „wurde in die abgeschirmten Quartiere der Führungselite in Peking hineingeboren, wuchs dort zunächst mit seinen Geschwistern auf. Die Eltern erzogen sie autoritär.“ Eine strenge und autoritäre Erziehung sind hier wie gezeigt die Schlüsselworte, was genau sich alles darunter verbirgt, bleibt allerdings unserer Fantasie überlassen. In den Quellen finden sich ansonsten keine weiteren Hinweise über den Erziehungsalltag. 

Der Abstieg der Familie geht weiter und spitzt sich während der Kulturrevolution noch zu. Der Vater von Xi Jinping gilt als Konterrevolutionär und wird verfolgt. Bei Massensitzungen wird er öffentlich zur Selbstkritik genötigt. Auch sein Sohn wird vom privilegierten Kind zum Verräter degradiert: Er muss bei Selbstkritiksitzungen seinen eigenen Vater denunzieren und leidet unter der Brutalität der roten Garden. „Ein Martyrium, über das die offizielle Biografie kein Wort verliert, das die Persönlichkeit des künftigen Staatspräsidenten jedoch nachhaltig prägen wird“ (Lepauld & Franklin 2021). Xi Jinping in einem Interview: „Die roten Garden sagten mir hundert Mal, dass sie mich erschießen würden. Sie drohten, mich hinzurichten, und dann musste ich von morgens bis abends Mao-Zitate vorlesen“ (Aust & Geiges 2021, S.41). Die Rotgardisten sperren den Jungen auch ein, „geben ihm tagelang nichts zu essen“ (Aust & Geiges 2021, S.41). Seine Mutter wird ebenfalls unter Druck gesetzt und von den Rotgardisten angegangen. 

Die Angriffe gegen den Vater werden immer heftiger und er wird mit Schmäh-Schildern um den Hals vorgeführt. „Er wird dabei so brutal geschlagen, dass er beinahe stirbt“ (Aust & Geiges 2021, S.42).
Ein alter Parteifreund kann schließlich bewirken, dass Xi Zhongxun für acht Jahre in Peking ins Gefängnis kommt. Es ist der einzige Weg, sein Leben zu retten. Sein Sohn wurde entsprechend lange Zeit von ihm getrennt.
Die Halbschwester von Xi Jinping konnte indes nicht gerettet werden. Sie nahm sich infolge der Demütigungen während der Kulturrevolution das Leben (Aust & Geiges 2021, S.44). 

Der Junge macht während all dieser Ereignisse einen erstaunlichen Schritt. Er hegt keinen Groll gegen die Kommunisten, sondern identifiziert sich absolut mit ihnen und dem Führer Mao. Er möchte die Schande seines Vaters wiedergutmachen, indem er ein extrem guter Kommunist wird.
Der chinesische Redakteur Li Datong kommentiert. „Da sein Vater als Konterrevolutionär verurteilt wird, muss er sich noch kommunistischer und noch revolutionärer geben als die anderen, wenn er überleben will. Um zu beweisen, dass er `ein gutes Kind` Maos ist, verdoppelt er seine Anstrengungen beim Studium von Maos Werken. Er lernt seine Reden auswendig, bis Maos Erbe tief in ihm verwurzelt ist. Sobald er den Mund öffnet, spricht Mao" (Aust & Geiges 2021, S. 38). 

Als 15-Jähriger wird Xi Jinping - wie die anderen Jugendlichen aus den Städten - aufs Land geschickt. „Der Ruf seines Vaters verfolgt ihn. Er wird als Volksfeind abgestempelt. Xi Jinping wurde von seiner Familie und seinen Freunden getrennt und in ein Umfeld versetzt, wo er als Elitekind galt, das man verprügeln und ausgrenzen musste. Die Menschen waren keineswegs mitfühlend. Sie behandelten ihn fast wie einen Sklaven“ (Lepauld & Franklin 2021). Auch der Biograf Kerry Brown (2016, S. 56). berichtet von harten Bedingungen auf dem chinesischen Land für die dort hingeschickten Jugendlichen.

Einige Monate nach seiner Ankunft auf dem Land gelingt ihm die Flucht. Zurück in Peking „wird er gefasst und für ein halbes Jahr eingesperrt. Der jetzt 16-Jährige will um jeden Preis zurück zu seiner Familie. Doch inzwischen sind auch seine Mutter und seine Geschwister aus der Hauptstadt verbannt worden“ (Aust & Geiges 2021, S. 43). Tante und Onkel raten dem Jungen nach seiner Haftentlassung zur Rückkehr aufs Dorf und er folgt ihrem Rat.
Sieben Jahre blieb er dort (Aust & Geiges 2021, S. 45).
Alles, was danach kam, ist Legende. 


Quellen:

Aust, S. & Geiges, A. (2021). Xi Jinping – der mächtigste Mann der Welt. Piper Verlag, München. 

Brown, K. (2016). CEO, China: The Rise of Xi Jinping. L.B. Tauris, London / New York. 

Fahrion, G. & Giesen, C. (2022, 15. Okt.). Der Allmächtige. DER SPIEGEL, Nr. 42. 

Lepauld, S. & Franklin, R. (2021). Die neue Welt des Xi Jinping. ARTE Dokumentation. (Produziert von Arnaud Xainte) 


Samstag, 22. Oktober 2022

Das weltweite Ausmaß der Gewalt gegen Kinder. Ein Kommentar und eine Übersicht

Wir wissen heute sehr viel über das enorme weltweite Ausmaß der Gewalt gegen Kinder, ebenso um die möglichen Folgen. Das sah vor nicht allzu langer Zeit noch ganz anders aus.

Es ist etwas über 20 Jahre her, als ich (damals noch Student der Soziologie) erstmals damit begann, mich auf die Suche nach Daten über das (weltweite) Ausmaß von Kindesmisshandlung zu machen. Die Suche nach Zahlen war müßig und die Rechercheergebnisse oft frustrierend (wenig). Bzgl. Deutschland gab es schon einige aussagekräftige Daten, international sah dies allerdings deutlich schlechter aus. 

In meinem Blog habe ich den Bereich „Ausmaß der Gewalt gegen Kinder / Länderreports“ mittlerweile vernachlässigt. Die meisten Blogbeiträge darin sind zwischen 2010 und 2015 entstanden. 

Diese Vernachlässigung hat einen Grund: Es gibt mittlerweile derart viele Daten und Studien zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder (und auch sonstiger Belastungsfaktoren, wie sie z.B. in der Adverse Childhood Experiences Forschung zu finden sind), dass die ständige Besprechung der Studien mich zum einen überfordern bzw. zu viel Zeit kosten würde, zum anderen ist meine Motivation dahingehend auch zurückgegangen, weil es kaum noch eine „Entdeckungsreise“ für mich ist, sondern nur noch eine Bestätigung der mir bekannten Faktenlage, die da lautet: 

1. Die Mehrheit der Kinder in den meisten Weltregionen erlebt Gewalt (vor allem auch in der Familie). 

 2. Regionen oder Länder, die zu den „Sorgenkindern“ der Welt gehören (also u.a. durch Kriege, Terror, Korruption, soziale Schieflagen, politische Spaltungen, destruktive Politik/politische Systeme, viel Gewalt usw. auffallen) stechen oftmals durch überdurchschnittlich hohe Gewaltraten gegen Kinder heraus.

Auf Grund der aktuellen Proteste im Iran habe ich beispielsweise kürzlich etwas recherchiert und stieß u.a. auf die Übersichtsstudie „Child Abuse in Iran: a systematic review and meta-analysis“ (Mohammadi et al. 2014). Im Durschnitt erlebten im Iran 44% der Kinder körperliche Misshandlungen, 65% emotionale Misshandlungen und 41% Kindesvernachlässigung.
Bei diesen Zahlen wundert es mich nicht, dass der Iran so lange diktatorisch geführt werden konnte! Die neue junge Generation ist eine Chance für das Land, sie wird vermutlich unbelasteter aufgewachsen sein, als ihre Eltern. Früher hätte ich solche Studien sofort im Blog besprochen. Heute erwähne ich sie nur noch kurz auf meinem Twitteraccount (aus o.g. Gründen). 

Seit der Jahrtausendwende hat sich die Kindheitsforschung massiv beschleunigt. Alleine zwischen den Jahren 2000 und 2018 wurden ganze 38.411 englischsprachige Fachartikel mit thematischem Bezug zur Kindesmisshandlung veröffentlicht, so viele wie nie zuvor in der Wissenschaftsgeschichte (Tran et al. 2018: A Bibliometric Analysis of the Global Research Trend in Child Maltreatment). Wir wissen heute entsprechend auch darum, dass diese Gewalt vielfältige negative Folgen haben kann.

Ich möchte heute darauf hinweisen, dass ich natürlich nie aufgehört habe, mich für Daten zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder zu interessieren und dass ich diese teils auch noch sammle. Ich produziere nur einfach selten Blockbeiträge dazu. 

In meinem Buch habe ich ein umfassendes Kapitel (7. Das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in der Welt – Kindheiten der Allgemeinbevölkerung) dazu erstellt.
Ergänzend ist auch das Projekt „Global Initiative to End All Corporal Punishment of Children” eine wahre Fundgrube für Zahlen: Für die meisten Länder werden am Ende der entsprechenden Länderreports Daten zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder genannt. 

Abschließend möchte ich unten auf einige zentrale Studien hinweisen, die eine gute Übersicht bieten. Wer diese Studien gelesen hat, der weiß was in der Welt der Kinder (leider) los ist…

Diese Übersicht hier zu geben, war mir heute ein echtes Anliegen! Somit schließe ich den Bereich Ausmaß der Gewalt gegen Kinder / Länderreports hiermit ein Stück weit ab. Vielleicht werde ich gelegentlich diese Übersicht etwas ergänzen. Wer mag kann auch auf entsprechende Studien im Kommentarbereich hinweisen. 

Einige Übersichtsarbeiten:

African Partnership to End Violence Against Children (APEVAC) & African Child Policy Forum (ACPF) (2021). Violence Against Children in Africa: A Report on Progress and Challenges. Addis Ababa, Ethiopia.

Barth, J., Bermetz, L., Heim, E., Trelle, S. & Tonia, T. (2013). The current prevalence of child sexual abuse worldwide: a systematic review and meta-analysis. International Journal of Public Health, 58(3), S. 469-483.

Cuartas, J., McCoy, D., Rey-Guerra, C., Britto, P. R.,  Beatriz, E. & Salhi, C. (2019). Early childhood exposure to non-violent discipline and physical and psychological aggression in low- and middle-income countries: National, regional, and global prevalence estimates. Child Abuse & Neglect, Vol. 92, S. 93-105.

Fang, Z., Cerna-Turoff. I., Zhang, C., Lu, M., Lachman, J. M. & Barlow, J.  (2022). Global estimates of violence against children with disabilities: an updated systematic review and meta-analysis. The Lancet Child & Adolescent Health, 6(5), S. 313-323.

Franchek-Roa, K. M. & Tiwari, A. & Lewis-O'Connor, A. & Campbell, J. (2017). Impact of Childhood Exposure to Intimate Partner Violence and Other Adversities. Journal of the Korean Academy of Child and Adolescent Psychiatry. 28(3). S: 156-167. 

Fry, D., Padilla, K., Germanio, A., Lu, M., Ivatury, S. & Vindrola, S. (2021). Violence against children in Latin America and the Caribbean 2015-2021: A systematic review. United Nations Children’s Fund (UNICEF), Panama City.

Fry, D., McChesney, S., Padilla, K. & Ivantury, S. (2015). Violence against Children in South Asia: A systematic review of evidence since 2015. UNICEF, Kathmandu.

Gershoff E.T. (2017). School corporal punishment in global perspective: Prevalence, outcomes, and efforts at intervention. Psychology, Health & Medicine. 22(Suppl. S1), S. 224–239.

Gilbert, R., Widom, C. S., Browne, K., Fergusson, D., Webb, E. & Janson, S. (2009). Burden and consequences of child maltreatment in high-income countries. The Lancet, 373(9657), S. 68-81.

Hillis, S., Mercy, J., Amobi, A., & Kress, H. (2016). Global Prevalence of Past-year Violence Against Children: A Systematic Review and Minimum Estimates. Pediatrics. 137(3), e20154079. https://doi.org/10.1542/peds.2015-4079.

Know Violence in Childhood (2017). Ending Violence in Childhood. Global Report 2017. New Delhi, India. 

Merrick et al. (2018). Prevalence of Adverse Childhood Experiences From the 2011-2014 Behavioral Risk Factor Surveillance System in 23 StatesJAMA Pediatr. 172(11): S. 1040-1043

Moody, G., Cannings-John, R., Hood, K., Kemp, S. & Robling, M. (2018). Establishing the international prevalence of self-reported child maltreatment: a systematic review by maltreatment type and gender. BMC Public Health, 18:1164. 

Runyan, D.K., Shankar, V., Hassan, F., Hunter, W. M., Jain, D., Paula, C. S., Bangdiwala, S. I., Ramiro, L. S., Muñoz, S. R., Vizcarra, B. & Bordin, I. A. (2010). International Variations in Harsh Child Discipline. Pediatrics, 126(3), e701-11. 

Solehati, T., Pramukti, I., Hermayanti, Y., Kosasih, C. E. & Mediani, H. S. (2021). Current of Child Sexual Abuse in Asia: A Systematic Review of Prevalence, Impact, Age of First Exposure, Perpetrators, and Place of Offence. Open Access Macedonian Journal of Medical Sciences, 9(T6), S. 57-68.

Stoltenborgh, M., Bakermans-Kranenburg, M. J.  & van IJzendoorn, M. H. (2013). The neglect of child neglect: a meta-analytic review of the prevalence of neglect. Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology, Volume 48, S. 345–355.

Stoltenborgh, M., Bakermans-Kranenburg, M. J., Alink, L. R. A.  & van IJzendoorn, M. H. (2012). The Universality of Childhood Emotional Abuse: A Meta-Analysis of Worldwide Prevalence. Journal of Aggression, Maltreatment & Trauma, 21(8), S. 870–890.

UNICEF (2014). Hidden in Plain Sight: A statistical analysis of violence against children. New York.

UNICEF - United Nations Children’s Fund (2017). A familiar face: violence in the lives of children and adolescents. New York. 


Freitag, 14. Oktober 2022

Kindheit von Leo Trotzki

Lew Dawidowitsch Bronstein, später Leo Trotzki, wurde am 25.10. oder 07.11.1879 geboren (Broué 2003, S. 27). 

So beginnt er seine eigenen Kindheitserinnerungen: 

Die Kindheit gilt als die glücklichste Periode des Lebens. Ist das immer so? Nein, die Kindheit der wenigsten ist glücklich. (…) Meine Kindheit war nicht eine Kindheit des Hungers und der Kälte. Zur Zeit meiner Geburt kannte meine elterliche Familie schon Wohlstand. Doch war es ein herber Wohlstand von Menschen, die sich aus der Not erheben und den Wunsch haben, nicht auf halbem Wege stehenzubleiben. Alle Muskeln waren gespannt, alle Gedanken auf Arbeit und Anhäufung gerichtet. In dieser Häuslichkeit war den Kindern nur ein bescheidener Platz zugewiesen. Wir kannten keine Not, wir kannten aber auch nicht die Freigebigkeit des Lebens, seine Liebkosungen. Meine Kindheit erscheint mir weder als die sonnige Wiese der kleinen Minderheit noch als düstere Hölle des Hungers, des Zwangs und der Beleidigungen, wie die Kindheiten der Vielen, wie die Kindheit der Mehrheit. Es war eine farblose Kindheit in einer kleinbürgerlichen Familie, in einem Dorfe, in einem finsteren Winkel, wo die Natur reich ist, die Sitten, Ansichten und Interessen aber dürftig und eng“ (Trotzki 1990, S. 15). 

Die eigene Autobiographie in dieser Art mit Blick auf die Kindheit zu beginnen, ist schon erstaunlich, aber wohl auch bezeichnend. Gleich in den ersten Zeilen macht er gezielt klar, dass er keine glückliche Kindheit hatte.
Der Biograf Robert Service zitiert Trotzki - ins obige Bild passend - wie folgt: "Meine Geburt war nicht gerade ein freudiges Ereignis für die Familie. Das Leben war allzusehr von intensiver Arbeit ausgefüllt" (Service 2012, S. 36).

Als Kleinkind wurde er von einem Kindermädchen bereut, das gerade einmal sechzehn Jahre alt war (Trotzki 1990, S. 16). Dass die Eltern sich nicht viel kümmerten, wird auch im weiteren Textverlauf deutlich werden.
Sein Vater war Gutsherr und die Familie entsprechend wohlhabend und privilegiert (Trotzki 1990, S. 19). 

Die Sitten in Trotzkis Umfeld waren rau, wie er eingangs bereits deutlich machte. So schildert er eine Szene aus seiner früheren Kindheit, in der ein Sohn eines Bauern eines kleinen Diebstahls bezichtigt wurde. Der Vater wurde von den Leuten zur Rede gestellt und schwor daraufhin, dass er nichts davon gewusst habe. Dann schlug der Vater vor den Augen Aller auf seinen Sohn ein. „Der Junge schrie und schwur, er werde es nicht wieder tun. Ringsherum standen die Onkelchen, hörten gleichgültig das Heulen des Halbwüchsigen mit an, rauchten selbstgedrehte Zigaretten und brummten in den Bart, dass der Bauer nur aus List, nur zur Ablenkung den Bengel peitschte und dass man gleichzeitig auch den Vater auspeitschen sollte“ (Trotzki 1990, S. 22). 

Eine weitere Erinnerung bezieht sich auf die Tochter eines im Ort als Dieb verschrienen Mannes. Die Ehefrau eines Nachbarn bezichtigte eines Tages diese Tochter, ihr den Mann ausspannen zu wollen bzw. ein Verhältnis mit diesem zu haben. „Als ich einmal aus der Schule zurückkehrte, sah ich, wie eine schreiende, heulende, spuckende Menge eine junge Frau, die Tochter des Pferdediebs, über die Straße schleifte“ (Trotzki 1990, S. 46). 

Später, als er bei Onkel und Tante lebte (siehe dazu mehr unten), wurde er erneut Zeuge von Gewalt. In dem dortigen Umfeld herrschte ein „derbes Benehmen“ und er fügt dem an, dass „der Verwalter einmal den Hirten mit einer langen Peitsche züchtigte, weil der die Pferde bis zum Abend an der Tränke gelassen hatte“ (Trotzki 1990, S. 49). 

In seiner Kindheit kam Trotzki teils auch selbst in die Schusslinie: „Als Herrensohn machte er auch die grausame Erfahrung, von den Bediensteten und Lehrlingen verspottet zu werden, die frech und auf Vergeltung aus waren und ihn oft zur Zielscheibe ihrer Sticheleien und Scherze machten“ (Broué 2003, S. 30).
All diese Erfahrungen werden nicht spurlos an dem Kind vorübergegangen sein! 

Auch Trotzkis Vater hatte offensichtlich eine strenge Seite. Sein Sohn "ertrug es nicht", wie der Vater "seine Arbeiter disziplinierte" (Service 2012, S. 42).
Einen Kutscher, der etwas gestohlen hatte, ließ der Vater einst verfolgen, um Rache zu üben. Man fand ihn allerdings nicht, schreibt Service und hängt dem an: Alle hätten es gebilligt wenn der Vater "mehr getan hätte, als ihn den Behörden zu übergeben: Viele setzten ihre Eigentumsrechte durch, ohne Polizei oder Justiz in Anspruch zu nehmen. Auf dem Dorf herrschte das Faustrecht" (Service 2012, S. 44).  
Bezogen auf die Kinder sei dieser Vater "grob" gewesen (Service 2012, S. 37), Was genau sich hinter diesem Wort verbirgt, erschließt sich in der Quelle leider nicht. 

Seine Eltern waren offensichtlich viel beschäftigt und wenig auf die Kinder fokussiert. So berichtet Trotzki: „An Wintertagen blieben wir häufig allein im Haus, besonders während der Reisen des Vaters, wo dann die ganze Wirtschaft auf der Mutter lastete. Manchmal saß ich in der Dämmerung mit dem Schwesterchen eng aneinandergeschmiegt auf dem Sofa mit weit geöffneten Augen; wir hatten Angst, uns zu rühren. (…)  Am Abend blieben wir gewöhnlich im Esszimmer, bis wir einschliefen. Man kam und ging, holte und brachte Schlüssel, am Tische wurden Befehle erteilt, man traf Vorbereitungen für den morgigen Tag. Ich, die jüngere Schwester Olija und die ältere, Lisa, teils auch das Stubenmädchen führten in diesen Stunden ein von den Erwachsenen abhängiges und von ihnen unterdrücktes eigenes Leben“ (Trotzki 1990, S. 26).
Weiter führt er aus, wie sie als Kinder manchmal in Anwesenheit der Erwachsenen ins Lachen verfielen. Die müde Mutter habe dann gefragt, was los sei. Dem hängt er direkt an: „Zwei Lebenskreise, der obere und der untere, kreuzten sich für einen Augenblick. Die Erwachsenen betrachteten die Kinder, manchmal wohlwollend, häufiger gereizt“ (Trotzki 1990, S. 27).
Diese Formulierungen sind schon bemerkenswert. Eltern und Kinder scheinen irgendwie in sehr getrennten Sphären gelebt zu haben, obwohl sie sich im gleichen Gebäude/Raum aufhielten. Man „kreuzte“ sich halt nur einen „Augenblick“ und dabei „häufiger gereizt“. 

Diese Art der Schilderungen über seine Kindheit und sein Umfeld durchziehen seine gesamten Kindheitserinnerungen: Er schreibt stets sehr distanziert. Diese Distanziertheit fiel Trotzki auch selbst auf. So schreibt er einleitend: „Bei der ersten Skizzierung dieser Erinnerungen kam es mir wiederholt vor, als beschreibe ich nicht meine eigene Kindheit, sondern eine alte Reise durch ein fernes Land. Ich versuchte sogar, die Erzählung von mir in dritter Person zu führen“ (Trotzki 1990, S. 15). 

Trotzki beschreibt keine konkreten Erziehungserlebnisse mit seinen Eltern. So wissen wir z.B. nicht, wie sich diese verhielten, als sie „gereizt“ waren. Überdeutlich wird allerdings die Beziehungsdistanz zu Elternfiguren und Erwachsenen an sich. Emotionale Vernachlässigung deutet sich hier klar an. „Farblos“, „ohne Liebkosungen“ sei seine Kindheit gewesen, so begann er wie oben zitiert seine Erinnerungen. Auch dies passt hier ins Bild. 

An einer Stelle wird er dann doch etwas deutlicher, obgleich er auch hier keine Details bzgl. des Verhaltens der Eltern Preis gibt: „Als die Kinder noch klein waren, behandelte sie der Vater nachsichtiger und gleichmäßiger. Die Mutter war oft gereizt, manchmal ohne Grund, sie ließ an den Kindern einfach ihre Müdigkeit oder schlechte Laune über wirtschaftliche Misserfolge aus. In jener Zeit war es ratsamer, den Vater um etwas anzugehen. Mit den Jahren wurde der Vater strenger. Die Gründe lagen in den Schwierigkeiten des Lebens, den Sorgen, die mit dem Wachsen des Geschäfts zunahmen, besonders unter den Verhältnissen der Agrarkrise der achtziger Jahre, um den Enttäuschungen durch die Kinder“ (Trotzki 1990, S. 30).
Die Mutter ließ Frust an den Kindern aus und der Vater wurde strenger, je älter die Kinder wurden. Wir dürfen vermuten (der Zeit und Sitte entsprechend), dass hier evtl. auch Körperstrafen gemeint sind. Die Nachworte "Enttäuschungen durch die Kinder" sind wiederum bemerkenswert. Trotzki scheint als Kind Verhaltensweisen der Eltern auf sich bezogen zu haben, nach dem Motto: weil sie von uns Kindern enttäuscht waren, wurden wir schlecht behandelt. Dies wäre ein ganz klassische Reaktion von Kindern auf destruktives Verhalten von Elternteilen: die Schuld für das elterliche Verhalten nimmt in der Fantasie des Kind auf sich. 

Von den acht in dieser Ehe geborenen Kindern blieben vier am Leben. Ich war das fünfte in der Geburtenreihe. Vier starben in frühen Jahren, an Diphterie, an Scharlach, sie starben fast unmerklich, wie die am Leben Gebliebenen unmerklich lebten. Das Land, das Vieh, das Geflügel, die Mühle erforderten restlos die gesamte Aufmerksamkeit. Die Jahreszeiten wechselten sich ab, und die Wellen der landwirtschaftlichen Arbeit gingen über die Familienbeziehungen hinweg. In der Familie gab es keine Zärtlichkeiten, besonders nicht in den weiter zurückliegenden Jahren“ (Trotzki 1990, S. 29).
Die Kindersterblichkeitsrate in dieser Familie lag bei 50% und viel Aufsehen um diese Todesfälle scheint es nicht gegeben zu haben. Wie viele dieser vier Geschwister Trotzki hat sterben sehen bzw. ob einzelne Geschwister vor seiner Geburt starben wird nicht deutlich. Der Tod von Geschwisterteilen ist eine schwere Belastung für ein Kind, das in diesem Fall ganz offensichtlich damit alleine gelassen wurde, denn „die am Leben Gebliebenen“ lebten „unmerklich“. Ergänzend wir die ganze Trostlosigkeit dieser Kindheit in dem gesamten Zitat deutlich. 

Die fehlenden familiären Bindungen wurden bereits erwähnt. Dazu passt auch, dass Trotzki zur Einschulung zu einer Tante in einem anderen Ort gebracht wurde und somit für einige Monate von seiner Familie getrennt lebte. „Ich wohnte bei der guten Tante Rachil, ohne sie zu bemerken. Im gleichen Hof, im Hauptgebäude, herrschte Onkel Abram. Gegen seine Neffen und Nichten verhielt er sich völlig gleichgültig“ (Trotzki 1990, S. 45). Die gewohnte Trostlosigkeit scheint sich bei Onkel und Tante fortgesetzt zu haben. In den Schulferien lebte er dann Zuhause. Der kurze Aufenthalt in dieser jüdischen Schule brachte ihm schulisch allerdings nicht viel, weil er kein jüdisch sprach, insofern fand er auch keine Freunde. 

1888 gab es erneut eine große Veränderung im Leben des nun neunjährigen Jungen; er wurde nach Odessa in die Familie des Neffen der Mutter geschickt, um dort zur Schule zu gehen (Trotzki 1990, S. 48). Über 300 Kilometer entfernt lag Odessa von seinem Heimatdorf, für damalige Verhältnisse kam dies für den Jungen "einer Reise über einen unbekannten Ozean gleich" (Service 2012, S. 47).
Im Esszimmer wird mir eine Ecke hinter einem Vorhang zugewiesen. Hier verbrachte ich die ersten vier Jahre meines Schullebens“ (Trotzki 1990, S. 50). Hier wurde dem Jungen erstmals das Stadt-/Landgefälle bewusst. Er merkte, dass es in Odessa kultivierter und anders zuging als in seinem Dorf.
Im vorgenannten Zitat spricht er von den ersten vier Jahren Abwesenheit. An einer anderen Stelle schreibt er allerdings zusammenfassend: „Im Dorfe verbrachte ich ohne Unterbrechung die ersten neun Jahre meines Lebens. Während der folgenden sieben Jahre kam ich alljährlich im Sommer, manchmal auch zu Weihnachten oder zu Ostern hin“ (Trotzki 1990, S. 79). Insofern war er mindestens sieben Jahre von seiner Familie getrennt. 

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass dieser Junge die ersten Lebensjahre in einem engen, emotional kargen Rahmen groß wurde, ohne enge Bindung an seine Eltern. Danach wurde er für seine schulische Ausbildung weggeschickt und wuchs im Prinzip (bis auf ca. jährliche Heimbesuche) ohne seine Herkunftsfamilie auf. Der Junge war sehr intelligent und wollte offensichtlich mehr in seinem Leben sehen und erreichen, als ihm das Dorf bot. Wir können uns allerdings vorstellen, dass auf diesem Wege das emotionale Leben und die entsprechende Entwicklung des Kindes weitgehend auf der Strecke blieb, mit Folgen auch für den später Erwachsenen.
Mehrfache Zeugenschaft von Gewalt ist zudem belegt. Der Tod von vier Geschwistern ist ergänzend eine schwere Belastung. Gewaltvolles Erziehungsverhalten durch Elternfiguren ist nicht belegt, aber auch nicht ausgeschlossen bzw. deutet sich leicht an, wie im Textverlauf gezeigt. 


Quellen:

Broué, P. (2003). Trotzki. Eine politische Biographie. Band 1. ISP Verlag, Köln. 

Service, R. (2012). Trotzki. Eine Biographie. Suhrkamp Verlag, Berlin. 

Trotzki, L. (1990). Mein Leben. Versuch einer Autobiographie. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main.


Freitag, 23. September 2022

Kindheit von Ruhollah Khomeini

Nirumand & Daddjou (1987, S. 24) und Moin (2009, S. 2) schreiben, dass Ruhollah Khomeini im Jahr 1902 geboren wurde. Riyahi (1986, S. 10) schreibt ebenfalls, dass Khomeini am 24.11.1902 geboren wurde, hängt aber in Klammern an, dass andere Quellen als Geburtsjahr 1900 angeben. Auch Thoß & Richter (1991, S. 33) beziffern das Geburtsjahr je nach Quelle zwischen 1900 und 1902. 

Das Geburtsjahr ist für diesen Beitrag insofern von Bedeutung, da Khomeinis Vater (ein Geistlicher und eine Führungsperson in seinem Ort) im Alter von ca. 47 Jahren umgebracht wurde (wobei es verschiedene Versionen gibt, wodurch er starb). Riyahi (1986, S. 10) schreibt in Orientierung an das Geburtsjahr 1902, dass Ruhollah zum Zeitpunkt dieser Tragödie fünf Monate alt war. Nirumand & Daddjou (1987, S. 24) und Amirpur (2021, S. 20) schreiben, dass er zu diesem Zeitpunkt sechs Monate alt war. Thoß & Richter (1991, S. 35) legen den Zeitraum des Säuglingsalters von Ruhollah für dieses Ereignis zwischen drei und neun Monaten fest.
Sollte Ruhollah allerdings im Jahr 1900 geboren worden sein, dann wäre er am Tag des Todes seines Vaters bereits ein Kleinkind gewesen und hätte folglich viel bewusster und direkter die Tragödie erlebt, was eine ganz andere (wohl auch schwerere) Belastung für das Kind bedeuten würde. 

Ab dem siebten Lebensjahr besuchte Ruhollah die örtliche Koranschule („maktab“). „Regulations in the maktab were very harsh und punishment for mispronouncing a Qor`anic word was by today`s standards torture. The suffering of children who attended them was legendary. One oft he nursery rhymes of those days was: `Wednesday I think. Thursday I enjoy. Friday I play. Oh unhappy Saturday: my legs are bleeding from the strokes of cherry-tree branches`” (Moin 2009, S. 14). Der Biograf geht offensichtlich davon aus, dass auch Ruhollah dieser Belastung in den Schulen nicht entging. 

Amirpur (2021, S. 28) erwähnt, dass Ruhollah als Kind Zeuge von einer "gesetzlosen Atmosphäre" und Ungerechtigkeiten gegen die Bevölkerung war. So musste er u.a. einmal mitansehen, wie ein Händler von Leuten der Regierung mit einem Hammer misshandelt wurde. Was mit dem Mann danach passiert ist, blieb unklar. 

Die Familie lebte nach Nirumand & Daddjou (1987, S. 26) in bescheidenen Verhältnissen und hatte insgesamt sechs Kinder zu versorgen, von denen Ruhollah das jüngste Kind war. Moin (2009, S. 4) und Amirpu (2021, S. 21) schreiben dagegen, dass die Familie wohlhabend war. 

Dass es bzgl. biografischer Details je nach Quelle Widersprüche gibt, durchzieht meine Recherchen über Khomeini. Auch bzgl. der Lebenssituation nach dem Tod des Vaters gibt es unterschiedliche Versionen.

Über seine Mutter erfährt man nicht viel in den verwendeten Quellen. Sie wird als „energische Mutter“ beschrieben (Riyahi 1986, S. 10), was auch immer dies bedeuten mag. Nach dem Tod des Vaters hätten die Mutter und eine gottesfürchtige Tante die Erziehung des Jungen übernommen (Riyahi 1986, S. 10),). Die Mutter sei eine „sehr lebendige, fröhlich gestimmte und gesellige Frau“ gewesen, blieb ihrem Sohn aber verwehrt, „er wuchs als Waisenkind auf“ (Nirumand & Daddjou 1987, S. 26).

Nirumand & Daddjou bieten folgende Version der Zeit nach dem Tod des Vaters:
„(…) Ruhollahs Geburt wurde von der abergläubischen Bevölkerung Chomeins mit dem Tod des Vaters in Zusammenhang gebracht und als schlechtes Omen aufgefasst. Es sei ein Unglückskind, so raunten die Bewohner der Stadt, es werde Unglück über die Stadt bringen. Die Mutter geriet durch solche Gerüchte in Panik, versteckte das Kind. Eine Tante gewährte ihm Zuflucht. Bei ihr blieb er bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr (Nirumand & Daddjou 1987, S. 24f).
Die Tante, die Schwester seines Vaters (…) war ziemlich wohlhabend. Ihr Mann, der schon in fortgeschrittenem Alter war, kümmerte sich kaum um den ungewollten Adoptivsohn. So war die Tante die einzige Person, bei der Ruhollah sein kindliches Verlangen nach Wärme und Geborgenheit befriedigen konnte. Dennoch wuchs der Junge in der Einsamkeit auf“ (Nirumand & Daddjou 1987, S. 26). 

Moin (2009, S. 13) schreibt dagegen, dass Ruhollah nach dem Tod des Vaters zusammen mit Mutter, seiner Amme und seiner Tante aufwuchs. Amirpu (2021, S. 21) ergänzt, dass auch noch Wachen, Bedienstete und die Zweitfrau von Ruhollahs Vater Teil des Haushalts waren. Eine Zweitfrau mag damals nicht unüblich in dieser Region gewesen sein, belegt aber andererseits auch die stark patriarchalen Strukturen, in denen Ruhollah aufwuchs. 

Moin und Amirpu folgend war zumindest die Umgebung des Jungen mit Personen und Leben gefüllt. Von Einsamkeit des Jungen berichten sie nicht. 

Nirumand & Daddjou führen dagegen aus, dass die triste Umgebung, die Einsamkeit und der Tod des Vaters Ruhollah zu „einem melancholischen, einsamen und mystisch veranlagten Menschen“ gemacht hätten, „Freunde hatte er keine. Nach der Schule ging er geradewegs nach Hause, verkroch sich in sein Zimmer, wanderte allein durch die Wüste oder setzte sich im Schatten eines Baumes nieder, las den Koran oder die Gedichte von Hafiz, dem großen persischen Dichter, der vielen iranischen Mystikern als Vorbild dient. (…) Selten konnte man seinen strengen Gesichtszügen ein Lächeln entlocken. Er sprach von sich aus kaum jemanden an und begnügte sich, wenn man ihm Fragen stellte, mit knappen Antworten (…). Dieses Verhalten schuf zwischen ihm und seinen Mitmenschen eine Distanz, die niemand, nicht einmal seine Pflegeeltern, zu überwinden vermochten. Er wurde als Sonderling angesehen, geachtet, bewundert, ja, obwohl er noch so jung war, manchmal auch gefürchtet“ (Nirumand & Daddjou 1987, S. 27),
Zu seinen Mitschülern habe er kaum Kontakt gehabt. „Nur einem einzigen öffnete er sein Herz und seine Seele ohne Einschränkung: seinem Schöpfer, dem er grenzenlose Liebe entgegenbrachte. All die Zuneigung, die man gewöhnlich in diesem Alter den Eltern, Geschwistern, Freunden und einer Jugendliebe entgegenbringt, richtete sich bei ihm einzig auf Gott, dem er sich voll hinzugeben bereit war. Als seine Tante und kurz darauf die Mutter starben – er hatte gerade das siebzehnte Lebensjahr erreicht -, da wusste er, dass er in Chomein nichts mehr zu suchen hatte“ (Nirumand & Daddjou 1987, S. 28). 

Moin (2009, S. 13) schreibt dagegen, dass Ruhollah sehr wohl Freunde hatte, mit denen er draußen spielte.
Eine weitere Quelle nennt zudem als Alter von Ruhollah zum Zeitpunkt des Todes von Tante und Mutter fünfzehn (Riyahi (1986, S. 11). Moin (2009, S. 18) und Amirpur (2021, S. 45) geben als Alter sechszehn Jahre an. Thoß & Richter (1991, S. 51) geben gleich den Zeitraum zwischen dem 15. und 17. Lebensjahr an. Laut Moin (2009, S. 18) war die Ursache des Todes von Mutter und Tante eine Cholera-Epidemie.

Ruhollah zog nach dem Tod von Mutter und Tante als ca. Siebzehnjähriger alleine in eine Stadt und schlug - der Tradition der religiös geprägten Familienlinie getreu - die Laufbahn eines Geistlichen ein.

Thoß & Richter (1991, S. 37) mahnen generell zur Vorsicht, wenn es um Khomeini frühen Jahre und Herkunft geht. Widersprüche in den biografischen Details würden auf die „mythische Herkunft“ des späteren Imam Khomeini hinweisen. Sie breiten verschiedene Versionen aus, die allerdings ganz ähnliche Elemente wie oben gezeigt beinhalten. Insbesondere die „frühe Verwaisung“ würde an den Propheten Mohammed erinnern (Thoß & Richter 199, S. 40), schreiben sie. Allerdings führen sie keinerlei Belege dafür an, dass der Tod von Vater, Mutter und Tante nicht stattgefunden hätte bzw. zweifeln dies auch gar nicht an. 

Mit den Differenzen in den Details muss man hier wohl einfach leben! Fakt bleibt nach allen Quellen, dass der Vater von Khomeini ermordet wurde, als sein Sohn noch sehr klein war und dass Mutter und Tante starben, als Khomeini Jugendlicher war. Diese drei Todesfälle sind schwere Belastungen für einen jungen Menschen und werden ganz sicher Folgen gehabt haben. 

Laut Amipur (2021, S. 20f.) nahm die Mutter den Mord an ihren Mann damals nicht einfach hin, sondern reiste mit ihren drei Söhnen nach Tehran. Dort habe sie erwirkt, dass der Mörder ihres Mannes hingerichtet wurde. Nach zwei Jahren Kampf für Gerechtigkeit sei sie dann mit den Söhnen wieder in den Heimatort zurückgekehrt. Wir erinnern uns, dass Ruhollah zum Zeitpunkt des Todes seines Vaters noch ein Säugling war. Die folgenden zwei Jahre seines jungen Kleinkindlebens verbrachte er an der Seite einer Mutter, die für die Bestrafung des Mörders des Vaters kämpfte. Wie mag diese Zeit das Kleinkind geprägt haben?

Amipur (2021, S. 28f.) meint, dass Ruhollah nach dem Tod des Vaters in einer etwas trostlosen Atmosphäre von seiner Mutter, einer Amme und seiner Tante großgezogen wurde. Vor allem die Tante sei eine sehr starke und dominante Persönlichkeit gewesen, die in der Familie großen Einfluss ausübte. Auch im Ort strahlte sie Charisma und Macht aus. Das entsprechende Kapitel hat der Biograf Amipur mit „Unter den Fittichen starker Frauen“ betitelt. Doch wie passt dieses Bild unabhängiger, starker Frauen mit dem späteren Agieren des Religionsführers zusammen? Seine Frauenfeindlichkeit (oder sein Frauenhass) ist ja legendär und gefürchtet.
Wie diese Frauen den Jungen und die anderen Kinder behandelten, scheint nicht belegt zu sein. Insofern muss ich diesen Text mit einigen Daten unterfüttern:
Bis heute sind Kinder im Iran in vielen Lebensbereichen gesetzlich nicht vor Körperstrafen geschützt: “Prohibition is still to be achieved in the home, alternative care settings, some day care, schools and as a sentence for crime” (End Violence Against Children & End Corporal Punishment 2021).

Eine Review and Metaanalyse (Mohammadi et al. 2014). zeigt außerdem ein hohes Ausmaß von Gewalt gegen und Vernachlässigung von Kindern in dem Land auf. Körperliche Misshandlungen erleben ca. 44% und emotionale Misshandlungen ca. 65% aller Kinder. Ca. 41 % der Kinder wurden vernachlässigt. 

Speziell bzgl. der körperlichen Gewalt geht es wohlgemerkt um Misshandlungen, das Ausmaß an körperlicher Gewalt an sich dürfte im Iran (wie in vielen Teilen des Mittleren Ostens) entsprechend deutlich höher sein. Die analysierten Studien wurden außerdem zwischen 2004 und 2013 erstellt. Die Ergebnisse beziehen sich also auf jüngere Geburtsjahrgänge. Ruhollah Khomeini wurde allerdings ca. 1902 geboren, einer Zeit, in der das Ausmaß an Gewalt gegen Kinder weltweit deutlich höher war. Rein statistisch und historisch betrachtet wurde Ruhollah Khomeini mit hoher Wahrscheinlichkeit sowohl in der Familie (in seinem Fall durch Frauen) als auch in der Schule geschlagen, sehr wahrscheinlich sogar misshandelt. Auch Vernachlässigung ist der Metaanalyse nach nicht unwahrscheinlich, zumal das Kind ja auch noch vaterlos und im Kreise von fünf weiteren Geschwistern aufwuchs. 

Traumatische Erfahrungen (vor allem der Tod von Elternfiguren) in der Kindheit von Ruhollah Khomeini sind belegt und weitere Belastungen deuten sich wie gezeigt klar an. 


Quellen.

Amirpur, K. (2021). Khomeini. Der Revolutionär des Islams. Eine Biographie. C. H. Beck, München. 

End Violence Against Children & End Corporal Punishment (2021, April). Corporal punishment of children in Iran

Mohammadi, M. R., Zarafshan, H. & Khaleghi, A. (2014). Child Abuse in Iran: a systematic review and meta-analysis. Iranian Journal of Psychiatry, 9(3), S. 118-124.

Moin, B. (2009). Khomeini. Life of the Ayatollah. I. B. Tauris, New York.

Nirumand, B. & Daddjou, K. (1987). Mit Gott für die Macht. Eine politische Biographie des Ayatollah Chomeini. Rowohlt, Reinbek. 

Riyahi, F. (1986). Ayatollah Khomeini. Lebensbilder, Frankfurt/M – Berlin. 

Thoß, G. & Richter, F.-H. (1991). Ayatollah Khomeini. Zur Biographie und Hagiographie eines islamischen Revolutionsführers. Wurf Verlag, Münster.