Sonntag, 26. Oktober 2008

6. Das einst misshandelte Volk identifiziert sich mit dem Aggressor

Albert Speer – ehemaliger NS-Rüstungsminister, Lieblingsarchitekt und Vertrauter von Adolf Hitler – sagte in einem Interview in der ZEIT im Jahr 1979 mit dem Hitler Biografen Alan Bullock:
„Ich bin auch der Meinung, dass er (Anmerk.: gemeint ist Adolf Hitler) nicht einfach uns getrieben hat, sondern dass ihn etwas getrieben hat. Unerklärlich ist für mich immer noch der Einfluss, den Hitler auf die Menschen ausüben konnte. Ich rege immer wieder an, dass doch irgendwann einmal ein guter Psychoanalytiker dieses Problem durch die ganze Geschichte hindurch verfolgt, um einmal dem nahezukommen, was da eigentlich vor sich geht, (…) an all den vielen Erscheinungen in der Geschichte, einschließlich Hitler. Dieses Phänomen wird von der Geschichtsschreibung, soviel ich weiß, zwar berührt, aber es wird nicht als ein Kardinalspunkt betrachtet.“ (Michalka, 1980)
Was Hitler getrieben hat, habe ich versucht im Kapitel 3.2 an Hand der Beschreibung dessen traumatischer Kindheit darzustellen. Doch was hat das Volk getrieben, diesem Schlächter bedingungslos zu folgen?
Benz (1992b) geht von einer „Disposition zur Radikalität“ aus, die, wenn ungünstige individuelle und soziale Bedingungen zusammentreffen, von gesellschaftlichen Kräften instrumentalisiert werden kann. (vgl. Benz, 1992b, S. 28) Um gegen Kränkungen und Verletzungen[1] unempfindlich zu werden, machen sich Kinder immun gegen die eigenen Gefühle und vernachlässigen auf diese Weise ihr emotionales Empfinden auch gegenüber Dritten. Solche Kinder haben am eigenen Leibe gelernt, Schmerzen grundsätzlich zu ignorieren und überschreiten somit auch leichter die Schmerzgrenzen anderer. Die Fähigkeit zu Mitgefühl geht verloren.[2] Dazu kommt, dass für diese Kinder z.B. physische Stärke als Garant der ersehnten Überlegenheit und Unversehrtheit übermäßige Bedeutung bekommen kann bzw. sie sich auf die Seite des Starken und Mächtigen fantasieren und träumen können, hin zum Sieg über alle – Eltern, Erwachsene oder Kameraden -, die Anlass zu Enttäuschung, Verwirrung oder Kränkung boten.[3] Diese Kinder haben schlechte oder keine Voraussetzungen für die Überwindung ihrer radikalen Disposition. Kinder, die dagegen selbst Zugang zu eigenen Gefühlen haben (dürfen) und ggf. einzelnen Verletzungen ein positives Kräftereservoirs entgegenstellen können, statt entsprechende Gefühle verleugnen/verdrängen und abspalten zu müssen, sind grundsätzlich fähig, sich in die Lage anderer einzufühlen und bereit, gewisse Grenzen einzuhalten und ggf. radikales Freund-Feind-Denken zu modifizieren. Sie haben aus der erworbenen Fähigkeit, sich an eigenen Gefühlen zu orientieren, gute innere Voraussetzungen dafür, für radikale Ziele weniger oder nicht empfänglich zu sein. (vgl. ebd., S. 26ff)
Wie oben aufgezeigt wurden Kinder in der Vergangenheit – Ute Benz betont in ihrem Text vor allem die Wilhelminische und Weimarer Zeit, sowie den Nationalsozialismus - vor allem zur Härte gegen sich und andere erzogen (Jungen noch mehr, als Mädchen). Dabei geht es nicht nur um erfahrene rohe, körperliche Gewalt, sondern allgemein um die Erfahrung des Kindes, wie mit seiner Hilflosigkeit und Abhängigkeit, seiner Macht oder Ohnmacht und mit seiner Würde umgegangen wurde – gewalttätig, feindselig oder liebevoll und freundlich. In der NS-Zeit war das ideale Kind das ruhige, pflegeleichte Kind, das ggf. stundenlang sich selbst überlassen war, gleich ob es schrie oder still war und das vor allem sauber, ordentlich, tapfer, schmerzunempfindlich und absolut Gehorsam sein musste. So erlernten Kinder den spaltenden Umgang mit sich und der Welt als einzig dauerhafte Lösung, um sich zu retten bzw. zu überleben.
„Beim angepassten, pflegeleichten Kind vermutet später niemand die treibenden Kräfte aus abgespaltenen, vernichtenden Wutgefühlen und mörderischem Zorn, die gleichwohl ihren Niederschlag im sozialen und politischen Verhalten finden. Kinder, deren individuelle Impulse gehäuft übergangen werden, die nicht essen dürfen, wenn sie hungrig sind, und nicht weinen dürfen, wenn sie traurig sind, oder die nicht zornig werden dürfen, wenn sie sich geärgert haben, begreifen, längst ehe sie sich dessen bewusst werden, dass es aussichtslos ist, sich mit anderen als den erlaubten Bedürfnissen und Gefühlen zu zeigen. Sie sind beständig zur Vermeidung ihrer Empfindungen genötigt und vielfach zu rigoroser Abspaltung abweichender Bedürfnisse und unerwünschter Gefühle gezwungen. Rücksichtslosigkeit gegenüber sich selbst wird jedoch unvermeidlich auch im Umgang mit anderen Menschen zur Grundhaltung. Wo Anpassungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft verfrüht durch Unterdrückung individueller Bedürfnisse entwickelt werden muss, gewinnt Zukunft eine besondere, politisch ausnutzbare Bedeutung: als Sammelbecken der Hoffnung auf Lohn für das Aushalten der gegenwärtigen Misere und der Hoffnung auf Gewinn von eigener Macht“ (ebd., S. 34)

DeMause (2005) meint: „(...) wenn man festhält, dass die deutsche Kindheit um 1900 ein Alptraum von Mord, Vernachlässigung, prügeln und Folter von unschuldigen, hilflosen menschlichen Wesen war, dann ist die Wiederaufführung dieses Alptraums vier Jahrzehnte später im Holocaust und im Zweiten Weltkrieg letztlich zu verstehen.“ (deMause, 2005, S. 140) Er weist an Hand einer Fülle von Datenmaterial auch nach, dass die Gewalt und Vernachlässigung von Kindern im Deutschland um die Jahrhundertwende im Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten um einiges erheblicher war. Das Motto deutscher Eltern gegen Ende des 19..Jahrhunderts wäre simpel gewesen: „Kinder können nie genug geschlagen werden.“ Anfang des 20. Jahrhunderts wurden in Deutschland 89 % aller Kinder geschlagen, über die Hälfte mit Ruten, Peitschen oder Stöcken (vgl. ebd., S. 146ff) Die deutschen Kinder waren persönliche Sklaven ihrer Eltern. „Die strafende Atmosphäre deutscher Haushalte war so umfassend, dass man mit Überzeugung sagen kann, der Totalitarismus in den Familien führte zum Totalitarismus in der Politik.“ (ebd., S. 148) DeMause spricht in Folge dieser Gewalterfahrungen von abgespaltenen „Alter Egos“ (mehrere andere Ichs), diese sind letztlich wie (explosive) Koffer, in die die Menschen ihre traumatischen, abgespaltenen und urerträglichen Ängste und ihren Ärger packen. „Mit Ausnahme einiger Psychopathen und Psychotiker bewahren die meisten von uns ihre Koffer im Schrank hinter verschlossener Tür auf, scheinbar abseits unseres täglichen Lebens – aber dann verleihen wir die Schlüssel an emotional Delegierte, von denen wir abhängig sind, um die Inhalte ausagieren zu können und die es uns möglich machen, die Identifikation mit den Handlungen zu verleugnen.“ (ebd., S. 79) Hier sind einige interessante Aspekte benannt. Die sogenannten Verrückten sind demnach näher an ihrer echten psychischen Realität und Verzweiflung dran, sie haben - so man will - ihre Koffer ausgepackt. Dadurch können sie im Alltag nicht mehr so funktionieren, wie die ganz „normalen“ Menschen. (Arno Gruen beschreibt dies auch sehr anschaulich und ausführlich in seinem Buch „Der Wahnsinn der Normalität“ (1990), in dem – wie der Titel schon sagt – auch deutlich wird, dass diese „Koffer“ nicht wirklich verschlossen sind, sondern aus ihnen heraus beständige Destruktivität in den normalen Alltag wirkt.) Wenn allerdings die Umstände und vor allem emotional Delegierte (die Führer) das massenhafte Auspacken der Koffer legitimieren und ein Feind gefunden wird, kommt es zur Wiederaufführung des Traumas und letztlich zum Krieg. Dann werden plötzlich unzählige scheinbar ganz normalen Menschen zu offenen Wahnsinnigen.
Sozialpsychologische Experimente wie die Klassiker „Stanford-Prison-Experiment“ (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Stanford-Prison-Experiment) und das „Milgram-Experiment“ (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Milgram-Experiment) werden mit diesem Wissen verstehbar. Durchschnittlich ausgewählte VersuchsteilnehmerInnen, ohne besondere Auffälligkeiten, werden zu sadistischen Taten und bedingungslosem Gehorsam fähig, wenn durch den Versuchsaufbau ein Wechsel in ihr abgespaltenes Selbst ermöglicht wird. „Diejenigen, die damit fortfahren, Milgrams Experiment zu replizieren, und die immer noch darüber verblüfft sind, warum “banalste und oberflächlichste Erklärungen ausreichen, bei Menschen destruktives Verhalten auszulösen“, unterschätzen ganz einfach die Menge an Traumata, die die meisten Menschen erlebt haben, und die Effektivität von sozialer Trance, die es ihnen erlaubt, diese Schmerzen wiederaufzuführen.“ (deMause, 2005, S.84ff)[4]

Gruen ( 2002a) beschreibt die weiter oben bereits angedeuteten spaltenden Prozess als Folge destruktiver Erziehung sehr anschaulich und erweiternd. Kein Kind kann in dem Bewusstsein existieren, dass die Menschen, auf die es physisch und psychisch existentiell angewiesen ist (die Eltern), seinen Bedürfnissen kalt und gleichgültig oder gar grausam und unterdrückend gegenüberstehen. Diese Angst wäre, so Gruen, unerträglich, ja sogar tödlich. Ein Kind, das von seinen Eltern angegriffen wird und dessen Bedürfnisse frustriert werden, muss sich, um zu überleben, mit den Eltern arrangieren. Dazu wird das Eigene (vor allem eigene Empfindungen, Sicht und Empathie) als etwas Fremdes abgespalten, denn das Kind kann die Eltern nur unter der Voraussetzung als liebevoll erleben, wenn es ihre Grausamkeit als Reaktion auf sein eigenes Wesen interpretiert – die Eltern sind grundsätzlich gut; wenn sie einmal schlecht sind, dann ist dies die eigene Schuld des Kindes und der Angriff geschieht zu dessen „Wohle“.[5] Alles, was dem Kind eigen ist, wird somit abgelehnt und entwickelt sich zur potentiellen Quelle eines inneren Terrors (das Eigene wird gehasst). Die eigenen Gefühle, Bedürfnisse und die eigene Wahrnehmung werden zu einer existentiellen Bedrohung, weil sie die Eltern veranlassen könnten, dem Kind die lebensnotwendige Fürsorge zu entziehen. Die Folge ist die Identifikation mit den Eltern (bzw. den Aggressoren), das Übernehmen deren Werte, die Unterwerfung unter deren Erwartungen und eine schwammige, ungefestigte und unsichere Identität, die durch das Fremde, nicht das Eigene bestimmt ist. Unsere Menschlichkeit wird so letztlich zum Feind, sagt Gruen, der unsere Existenz bedroht und der überall – in uns selbst wie auch in anderen – bekämpft und vernichtet werden muss. (vgl. Gruen, 2002a, S. 14ff)
Gruen vertritt die These, dass es die Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten sind, die Menschen dazu bringen, einander zu bekämpfen, nicht die Unterschiede. Das Eigene musste einst als fremd von sich gewiesen werden, dies wird zum Auslöser für die Notwendigkeit, Feinde zu finden und sie zu bekämpfen.[6] Alles, was beim Anderen/dem Feind an das verleugnete (abgespaltene) Eigene erinnert und die damit verbundene Scham, die Schmerzen, die Not oder kurz gesagt das eigene Opfersein, muss zerstört werden. Dagegen benötigt laut Gruen ein Selbst, das auf inneren Identitätsbezügen ruht und aus einer liebenden Beziehung zwischen Eltern und Kind entsteht, keine Feindbilder, um sich aufrechtzuerhalten. (ebd., S. 30+72)
Gleiches wie oben erwähnt gilt für erduldeten Schmerz, den man sich nicht zugestehen, den man nicht ausdrücken und fühlen durfte (der aber trotzdem nicht verloren geht). Dieser muss externalisiert und in Anderen gesucht werden (oder er wird nach Innen gerichtet; man tut sich selbst etwas an, verletzt sich selbst, wird krank, depressiv, verstrickt sich in Unfälle usw.). Hier liegt nach Gruen die wesentliche Ursache für den beeindruckenden Erfolg von Hitler. Das wahre Opfersein ihrer individuellen Geschichte konnten (oder wollten) Millionen Menschen nicht wahrhaben; sie waren aber bereit, sich als Opfer Anderer (als den Eltern) zu sehen und zu inszenieren. Diese Menschen konnten nur über den vermeintlichen Schmerz „schreien“, der ihnen angeblich von den „Fremden“, den Feinden angetan wurde. „Menschen bleiben solange für einen Hitler anfällig, wie sie nicht über ihren wahren Schmerz schreien konnten.“ (ebd., S. 30)
Der Mythos Hitler, ist – nach Gruen - nur durch das Bedürfnis der Vielen nach einem solchen Mythos und nach Erlösung von ihrem Opfersein zu erklären.
„Die Identifikation mit dem Aggressor führt dazu, dass Menschen (...) sich von dem Erlösung erhoffen, der sie zum Leiden brachte. Sie suchen jedoch nicht einen wirklich starken Führer, sondern eine Fiktion von Stärke. Diese war ja auch der Vater, auch der Mutter eigen, als sie das Kind unterdrückten, um sich selbst stark und bedeutsam zu fühlen. Deshalb hoffen solche Menschen, Erlösung bei dem zu finden, der Stärke verspricht, sie jedoch nicht besitzt. Was sie suchen, ist der grausame König oder die grausame Königin.“ (ebd., S. 106)

Miller (1983) spricht davon, dass man einen „unerlaubten Hass“ in sich trägt und begierig darauf ist, ihn zu legitimieren. Ein Hitler verstand es wie kein Zweiter, dem seit Kindheit aufgestauten Hass der Menschen ein Ventil zu bieten bzw. diesen zu legitimieren. Der „Fremde“ und Feind – in NS-Zeit vor allem der Jude - wurde dann schuld an allem, und die wirklichen ehemaligen Verfolger, die eigenen, oft wirklich tyrannischen Eltern, konnten in Ehren geschützt und idealisiert bleiben. (vgl. Miller, 1983, S. 196ff) In einem Artikel findet Miller weitere deutliche Wort zu diesem Themenkomplex: “Millionen einst gekränkter, gedemütigter Kinder, die sich nie bei ihren Eltern gegen die Zerstörung, gegen die Verletzungen ihrer Integrität wehren durften, werden durch den Krieg an die mehr oder weniger gut abgewehrte Geschichte ihrer eigenen Bedrohung erinnert. Sie fühlen sich aufgewühlt und verwirrt. Da ihnen aber die frühen Erinnerungen meistens und die dazugehörenden Gefühle immer fehlen, fehlt ihnen der Durchblick. Sie greifen, auf ihrer Flucht von der eigenen schmerzhaften Geschichte, zu den einzigen Mitteln, die sie als Kinder gelernt haben: zerstören oder sich quälen lassen, aber um jeden Preis blind bleiben. Blind fliehen sie vor etwas, das längst geschehen ist.“ (Miller, 1991)
Sehr deutlich wird die Identifikation mit dem Aggressor und die Suche nach äußeren Feinden (anstatt die eigenen Eltern anzuklagen) auch am Beispiel Balkankrieg. Wie im Kapitel 4. kurz dargestellt, waren und sind die Menschen im ehemaligen Jugoslawien als Kinder oftmals massiver Gewalt durch Eltern und Verwandte ausgesetzt. Slobodan Milosevic, selbst schwer traumatisiert wie schon beschrieben, wurde nun 1987 der große Führer der Serben, als er eine politische Rede hielt, in der er einen großen Aufschwung versprach: "Niemand hat das Recht, meine Leute zu schlagen! Ich verspreche Euch, mich darum zu kümmern: Niemand wird noch einmal geschlagen!" (Puhar, 2000b, S. 170) Es verwundert kaum, dass diese Botschaft bei den einst real geschlagen Menschen deutlich ankam und die Suche nach angeblichen äußeren Feinden gerade in dieser Region seine verheerende Wirkung fand. Puhar schreibt: „Diese markige Botschaft machte ihn im Nu zum Helden, zum charismatischen Führer, zum Kreuzfahrer, der versprach, zurückzuschlagen — und seine Leute liebten und bewunderten ihn dafür. Innerhalb weniger Monate war Serbien buchstäblich mit seinen Bildern bedeckt, Tausende von Leuten skandierten seinen Namen, begrüßten ihn als ihren Retter und versprachen ihm, ihm bis ans Ende der Welt zu folgen.“ (ebd.) Puhar beschreibt, wie dies ein perfektes Beispiel für wechselseitige Hypnose sei: der Führer verzauberte die Menschen, die Menschen verzauberten ihren Führer. In der weiteren Folge inszenierten sich die Serben insbesondere als Opfer; Opfer der Slowenen, der Kroaten, der Albaner, des Westens usw. usf. Der weitere Verlauf ist bekannt....

Richter (1996) beschreibt weitere psychischen Entlastungsmomente auf der kollektiven Ebene. Feindeshass entlastet nicht nur von persönlichen, sondern auch von nationalen Selbstwertkonflikten und Niederlagen. Kränkungen, die ein Kollektiv erlitten hat, addieren sich zu den spezifischen individuellen Niederlagen und Minderwertigkeitserlebnissen und überformen den Projektionsvorgang. Richter macht dies u.a. am Beispiel der Niederlage der USA in Vietnam fest. Der spätere sowjetische Afghanistan-Überfall bot die Gelegenheit, die kränkenden nationalen Selbstzweifel und Verletzungen zu tilgen und „das Böse“ erneut im Außen festzumachen und dort zu bekämpfen. (vgl. Richter, 1996, S. 116ff)
Der ursprüngliche „Feind“ im Inneren des Menschen und der Gesellschaft soll durch den äußeren Feind vergessen gemacht werden. Mentzos (1995) spricht in diesem Zusammenhang von Pseudostabilisierung des Ich und von Gruppen. Seit dem „11. September“ wiederholte sich dies erneut, indem der amerikanische Präsident George W. Bush ungezügelt den erwähnten, gefährlichen Abwehrmechanismus vornahm: Die Spaltung der Welt in „gut“ und „böse“.
(Diese Spaltung der Umwelt ist auf der individuellen Ebene übrigens u.a. eine typische Folge von Kindesvernachlässigung und natürlich allen anderen Misshandlungsformen. - vgl. Motzkau, 2002, S. 715 - )
Ich möchte an dieser Stelle noch einen weiteren Aspekt ansprechen, der auch auf gesamtgesellschaftliche Weise Bedeutung hat. Menschen wurden in der Vergangenheit (und werden auch heute noch) wie oben bereits dargelegt zum Still-Halten und Stil-Schweigen bzw. zum Gehorsam erzogen. Selbst offensichtlichem Unrecht (gegen Andere oder sich selbst) wird dann mit dem Erziehungsmotto: „Nur nichts beanstanden“, „kritiklos Bestehendes gutheißen“ oder „Immer ruhig sein und schweigen“ entgegnet. Die Realität wird somit letztlich verleugnet, was in einer potentiell bedrohlichen individuellen wie auch gesellschaftlichen Situation eine erhebliche Gefahr darstellt, da keine (rechtszeitige) Gegenwehr/-maßnahme erfolgt.( vgl. Bassyouni, 1990, S. 151) Eine typische Folge der Gewalt gegen Kinder ist der Verlust des Vertrauens in die eigene Wahrnehmung. Wird dieses Vertrauen (später) nicht wieder aufgebaut, werden diese Menschen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auch in ihrem weiteren Leben als Erwachsene Probleme damit haben, Realitäten richtig einzuschätzen bzw. einfach sich selbst und den eigenen Gefühlen zu vertrauen. Dies wurde von destruktiven Machtmenschen stets ausgenutzt (und wird es auch weiterhin, sowohl in individuellen Beziehungen[7] als auch auf gesellschaftlicher Ebene, wie ich meine). Deren destruktiven Ziele und Persönlichkeit wird von Menschen mit einer gestörten (Selbst-)Wahrnehmung) nicht (rechtzeitig) wahrgenommen.
Dazu kommt, dass Menschen, deren Grenzen oft überschritten wurden, laut Kraemer (2003) auch zu „chronischen Opfern“ werden können, indem sie sich mit der Opferrolle abfinden. Gesunde Aggressionen werden dann gänzlich nicht genutzt, dem Leben wird aus einer Haltung der Angst, Unsicherheit und Unzulänglichkeit heraus begegnet und eigene Grenzen werden nicht verteidigt bzw. der traumatisierte Mensch ist nicht in der Lage zu sehen, wer neue oder zusätzliche Grenzverletzungen begeht. Traumatisierte Menschen, die sich mit der Opferrolle arrangiert haben, werden sich in bedrohlichen Situationen tendenziell erneut als ohnmächtig erleben und Gegenwehrpotentiale nicht nutzen können. Sie erleben die Machtausübung und Grenzüberschreitung durch Andere (schlimmstenfalls) als „normal“, gerade wenn sie schon früh und häufig Machtmissbrauch erlitten haben. Menschen mit Ohnmachterfahrungen sind besonders anfällig, willkürlich operierenden Machtmenschen ausgeliefert zu sein. (vgl. Kraemer, 2003; S. 169ff) Insofern erklärt sich hieraus evtl. auch das massenhafte, stillschweigende Mitläufertum aus der NS-Zeit.
Somit ist hier im Kontext von Verletzungen im Kindesalter und Krieg neben den Täterpotentialen die zweite Seite angesprochen. Mit dem Aggressor identifiziert sein bedeutet entweder eine Entwicklung hin zum Täter oder ein resigniertes Verharren in der Opferrolle (die Grenzen zwischen beiden Polen können in der Realität natürlich auch fließend sein).
Diepold (1998) beschreibt diese zwei Grundmuster als Reaktion auf frühkindliche, schwere Traumatisierungen bzgl. Kindern wie folgt:
1. Aggressives-destruktives Verhalten: Das Aggressionspotential ist in ständiger Aktionsbereitschaft. Die Kinder sind auf Kampf eingestellt und greifen an, bevor sie selbst verletzt werden können.
2. Erstarrung, Depression und anklammerndes Verhalten: Vorherrschend ist z.B. eine eingefrorene Gestik und Mimik. Bei diesen Kindern ist das reiche Gefühlsleben mit den angeborenen Affekten erstarrt. Sie haben den emotionalen Dialog mit äußeren Objekten abgebrochen. (vgl. Diepold, 1998, S. 134ff)

Beide Seiten können letztlich unter gewissen Umständen gewalttätige bzw. kriegerische Entwicklungen und Machtmissbrauch bedingen. An dieser Stelle sei auch an das Kapitel 2. erinnert: Gewalt gegen Kinder ist keine Ausnahme, sie war und ist eher die Regel.
Diepold beschreibt bildlich und wahrlich erschreckend die innere Welt schwer traumatisierter Kinder. „Die innere Welt traumatisierter Kinder ist so, wie Hieronymus Bosch sie gemalt und Dante sie in seinem „Inferno“ beschrieben hat, oder der Mythos der Medusa sie erzählt: Gespenster und Geister, brennendes Feuer, Eiseskälte, Leichenstarre, von Kopf bis Fuss gespaltene Menschen, deren Fragmente sich zu ganzen Menschen zusammensetzen, Menschenleere und Einsamkeit, Spiele mit Leichenteilen, Unfälle und mörderische Aggressivität“ (ebd., S. 136)
Vielleicht liegt hier ein wesentlicher Teil der Antwort auf die im Zusammenhang von Krieg und Terror oft gestellte Frage, wie aus (scheinbar) ganz normalen Menschen aller sozialer Schichten, aus Nachbarn und Freunden in Kriegszeiten ganz plötzlich und über Nacht wahre menschliche Monster werden können. Und vielleicht sah auch die innere Welt des Kindes Adolf Hitler so aus. Hellhörig macht jedenfalls, dass über Hitler berichtete wird, er hätte das Bild der Medusa an seinen Wänden hängen gehabt und gesagt: „Diese Augen! Es sind die Augen meiner Mutter!“ (deMause, 2005, S. 154) Und wir wissen natürlich, dass Hitler als Erwachsener mit aller Gewalt die äußere Welt (mit Hilfe anderer Menschen) letztlich so formte, wie in Diepolds schrecklicher bildlicher Darstellung geschildert. Wenn man das „Phänomen Hitler“ (das ja nur ein Paradebeispiel für so viele andere ist) an Hand dessen traumatischer Kindheit erklärt, dann wird erfahrungsgemäß abwehrend geantwortet: „Das ist zu vereinfacht. Viele andere Menschen haben ja als Kind ähnliches erlebt, damit kann man Hitler also nicht erklären.“ Ich sage dann: „Eben, so viele haben ähnliches erlebt, genau das erklärt das „Phänomen Hitler“!

In Anbetracht dieser möglichen Folgen bzgl. schwer traumatisierter Kinder sollte dabei nicht vergessen werden, dass es in der Bevölkerung eine große Bandbreite von mehr oder weniger traumatischen Erfahrungen gibt (deren Auswirkung zusätzlich von vielen Faktoren wie z.B. Alter, Häufigkeit der Verletzungen, Nähe zum Täter/Täterin usw. abhängen). Es geht um „alltägliche Formen“ der Gewalt gegen Kinder bis hin zu Formen der Gewalt, die wir ohne weiteres als Folter und Terror bezeichnen können. Entsprechend unterschiedlich sind die Folgen. Arno Gruen spricht bzgl. der „Identifikation mit dem Aggressor“ stets davon, dass wir Menschen alle „mehr oder weniger“ von diesem psychischen Phänomen betroffen sind. Es geht mir in diesem Text hier nicht um die Stigmatisierung von schwer traumatisierten Menschen! Wir sitzen alle im gleichen Boot. Und wir Menschen sind durch diese Erkenntnisse aufgefordert, individuell entsprechende innere Prozesse und Blockaden zu bearbeiten und aufzudecken. (der „individuelle Gewinn“ kann dabei mit Verlaub ein Mehr an innerer Freiheit, Authentizität und Gefühlsleben sein) In unserer Gesellschaft geschieht dies i.d.R. mit Hilfe einer Psychotherapie. Die Politik wäre zusätzlich gefordert, diese „individuellen Prozesse“ in jeglicher Form zu fördern und zu unterstützen. Eine Streichung der Gelder für Beratungsstellen, soziale und psychologische Dienste usw. usf. ist nicht nur für den Einzelnen ein Fiasko, sondern kommt der Gesellschaft langfristig u.U. sehr teuer zu stehen.
„Was für ein Glück für die Regierenden, dass die Menschen nicht denken“, so Adolf Hitler wörtlich. Ich möchte diesen Diktator mit meinen Worten als Abschluss dieses Kapitels verbessern: „Was für ein Unglück für die Welt, dass viele Menschen nichts fühlen.“


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[1] Hier geht es weniger um einmalige Verletzungen, sondern vor allem um eine Fülle von verletzenden Erfahrungen in den alltäglichen Beziehungen zur Umwelt. Ob schmerzliche Erfahrungen als vorübergehend und erträglich erlebt werden, hängt zusätzlich vom Reifegrad des Kindes und vor allem davon ab, ob dem Kind hinreichend angenehme Erfahrungen (besonders seitens der Eltern) als positives Kräftereservoir zur Verfügung stehen.

[2] Dazu ergänzend: „Empathie, normalerweise eine Facette der emotionalen Entwicklung des Kindes, wird in der emotional kargen Landschaft der vernachlässigenden Familie nicht vermittelt. Kinder entwickeln Empathie, indem sie dem Beispiel ihrer Eltern folgen. Sie werden Mitgefühl und Verständnis ausbilden, wenn ihre eigenen Bedürfnisse nach Mitgefühl und Verständnis befriedigt worden sind. Ohne Empathie können Kinder keinerlei dauerhafte Bindungen eingehen, und als Eltern tragen sie ein hohes Risiko, die eigenen Kinder zu vernachlässigen oder zu misshandeln.“ (Cantwell, 2002, S. 542) Oder eben u.a. auch kriegerisch zu handeln.

[3] „Wenn ich selbst ganz mächtig und böse bin, kannst du mir nicht schaden! Dann musst du vor mir Angst haben!“ Dies ist u.a. die Reaktion in der Fantasie des Kindes auf die Erfahrung lebensbedrohlicher Gewalt durch die Eltern. (vgl. Bassyouni, 1990, S. 44)

[4] Groß ist allgemein die Überraschung darüber, dass z.B. die NS-Täter oftmals ganz normale Menschen waren, manches mal sogar hoch gebildet wie z.B. die Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamt (RSHA) – eine Behörde, die den Judenmord maßgeblich organisierte. "Keine Alterskohorte, kein soziales und ethnisches Herkunftsmilieu, keine Konfession, keine Bildungsschicht erwies sich gegenüber der terroristischen Versuchung als resistent", resümiert der Täterforscher Gerhard Paul im SPIEGEL 11/2008 zur NS-Zeit. Nur wenn verstanden wird, dass Kindesmisshandlung in allen Schichten der Gesellschaft in erheblichem Umfang vorkommt, wird auch verstanden werden, warum auch TäterInnen aus allen Schichten stammen. Der SPIEGEL hat sich in seinem Titelthema über „Die Täter“ übrigens mit keinem Wort mit der Psychologie und destruktiver Erziehung befasst und das Feld mal wieder den HistorikerInnen überlassen.

[5] Destruktive Eltern stützen diesen Prozess i.d.R., in dem sie dem Kind direkt vermitteln, dass es selbst schuld sei, wenn es gedemütigt, misshandelt oder missbraucht wird oder das dies aus Liebe zu ihm geschehe. Schon in der Bibel steht: „Wen der Herr liebt, den züchtigt er, wie ein Vater seinen Sohn, den er gern hat.“ (Spr 3,12) Die Forderung nach bedingungslosem Gehorsam ist zusätzlich eng mit diesem Prozess verknüpft. Der Gehorsam gegenüber der (elterlichen) Autorität macht es fast unmöglich, die Wahrheit des ganzen Vorgangs (auch im späteren) Leben zu erkennen.

[6] Sehr anschaulich wird dieser Prozess auch von Bassyouni (1990) beschrieben; sie spricht u.a. von einem „Ur-Hass gegen einen gnadenlosen Feind“, der in Kindern durch Strafe, Unterwerfungs- und Gehorsamsforderung schon früh (in den ersten drei Lebensjahren) verankert wird. (vgl. Bassyouni, 1990, 35ff)[7] Die von Mantell (1978) untersuchten Kriegsfreiwilligen machen dies anschaulich. Die überwiegende Mehrheit idealisierte ihre Eltern, hielten sie sogar für „immer gerecht“. Im Krieg konnten sie dagegen ihre Hass- und Rachegefühle frei und „legal“ ausleben.

[7] Im „Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland“ wird z.B. berichtet, dass Frauen, die in ihrer Kindheit und Jugend körperliche Auseinandersetzungen zwischen den Eltern miterlebt haben, später mehr als doppelt so häufig selbst Gewalt durch (Ex-)Partner erlitten wie Frauen ohne solche Erlebnisse. Frauen, die in Kindheit und Jugend selbst häufig oder gelegentlich Opfer von körperlicher Gewalt durch Erziehungspersonen wurden, waren dreimal so häufig wie andere Frauen später von Gewalt durch Partner betroffen. Frauen, die Opfer von sexuellem Missbrauch vor dem 16. Lebensjahr geworden waren, wurden in ihrem Erwachsenenleben doppelt so häufig wie andere Frauen Opfer von häuslicher Gewalt durch Partner und viermal so häufig Opfer von sexueller Gewalt. (vgl. Deutsches Jugendinstitut e.V., 2005, S. 659)



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7. Das Gesicht des Krieges ist männlich, aber der Frieden ist nicht weiblich

Um die wesentliche Bedeutung von Kindheitserfahrungen herauszustellen, habe ich sozusagen als Exkurs das Thema Geschlecht hier mit einbezogen.
Krieg war in der Geschichte stets männlich geprägt.[1] Das verwundert kaum, denn das kriegerische Heldentum war und ist in patriarchalen Gesellschaften ein männliches Ideal. Männer werden während ihrer Sozialisation idealtypisch zu Härte, Dominanz, Tapferkeit, Unempfindlichkeit, Konkurrenzdenken, Rationalität usw. erzogen und letztlich „kriegstauglich“ gemacht.[2] Gefühlsäußerungen sind für einen „richtigen“ Mann, wenn schon die „weiblichen“ Gefühle tabuisiert sind, zumindest in aggressiver und (schlimmstenfalls) kriegerischer Form erlaubt. Kompensatorische Lösungsstrategien bzgl. innerer Konflikte und Ängste bieten Angebote aus dem (patriarchalen) kulturellen System, in dem der Konflikt Außen durch Aggressivität, Dominanz und Machtstreben „gelöst“ wird.
Arno Gruens Ausführungen (siehe oben) über das „Fremde in uns“ passen auch hier. Eigene, grundlegend menschliche Gefühle und Anteile müssen verleugnet werden. Bedürftigkeit, Hilflosigkeit, Unsicherheit, Abhängigkeit, Schwäche usw. werden als „unmännlich“, fremd und verachtenswert von sich gewiesen und schlimmstenfalls aktiv auch bei Anderen bekämpft. Jungen und Männer leben eine Art Selbstbehinderung, die einer Verarmung, Blockade und Hemmung der emotionalen und sozialen Entwicklung gleichkommt. Stoklossa (2001) spricht in diesem Zusammenhang von einer Art „Krankheit Männlichkeit“ oder „patriarchalischem Syndrom“, in das Jungen hineinwachsen und durch das sie natürlich auch Mädchen, Frauen und Schwächere benachteiligen und abwehren, weil sie das sogenannte mädchenhafte in sich selbst zu verleugnen versuchen müssen. (vgl. Stoklossa, 2001, S. 39)
Der Zusammenhang zwischen Männlichkeit und (kriegerischer) Gewalt ist in der Literatur letztlich von vielen AutorInnen bereits ausführlich und nachvollziehbar dargestellt worden. (nur einige Beispiele: siehe z.B. Roß, 2002; Stoklossa, 2001; Schmölzer, 1996)
Die Frage ist nun dagegen, ob der Frieden weiblich ist? Mentzos (2002) meint, dass Frauen auf Grund der ihnen zugewiesenen Rolle ihre prosozialen Tendenzen, ihr emotionales Potential und ihre menschenfreundlichen Tendenzen weniger verdrängen brauchen und ihr Verhalten somit einen Pro-Frieden-Faktor darstellt. Die Frage ist aber auch, ob Frauen ein solcher „Faktor“ wären, wenn sie die Herrschaft ausüben würden. (vgl. Mentzos, 2002, S. 185)

Die weibliche Sozialisation fördert idealtypisch und tendenziell Eigenschaften wie Aufopferungsbereitschaft, Fürsorglichkeit, Rücksichtnahme, Weichheit, Nachgiebigkeit, Bedürftigkeit, Emotionalität, Passivität usw. und Frauen wird eher ein depressiv-autoaggressiver oder kommunikativer Umgang mit Frustrationen und Konflikten „angetragen“. Wenn Frauen destruktiv-aggressiv, gar kriegerisch handeln dann verhalten sie sich entgegen ihrer Sozialisation und entgegen dem klassischen Rollenbild in der Gesellschaft (Für Männer gilt der Umkehrschluss).
Es gibt allerdings viele Belege dafür, dass Frauen durchaus dazu in der Lage sind destruktiv-aggressiv und im wahrsten Sine kriegerisch zu handeln bzw. dies auch tun, wenn sie über entsprechende Möglichkeiten bzw. Macht verfügen. Die bekannte Feministin Alice Schwarzer schrieb auf ihrer alten Homepage passend: „Ich glaube nicht daran, dass Frauen das bessere Geschlecht sind (und Männer das schlechtere). Es sind einfach die (Macht)Verhältnisse, die den einen mehr Gelegenheiten zu Übergriffen geben als den anderen.“ (http://www.aliceschwarzer.de/124.html) (Seit 2010 hat sie den Text leicht verändert. Dort steht jetzt: "Ich glaube nicht, dass Frauen von Natur aus das bessere Geschlecht sind und Männer das destruktivere. Es ist die Macht bzw. die Ohnmacht, die die Menschen verformt.")

Heyne (1993) hat die Gewalt von Frauen eindrücklich dokumentiert. Frauen beteiligten sich in der Geschichte, wenn starre Geschlechtsrollen durchlässiger wurden und/oder staatliche Ideologie dies erlaubte, aktiv an Kämpfen. In Titos Nationaler Befreiungsarmee schlugen sich z.B. zwischen 1941 und 1944 mehr als 100.000 Partisaninnen, 2.000 Frauen kämpften im Offiziersrang und 20 % der Jugendkampfbrigaden bestanden aus Frauen. Soldatinnen im moderneren Sinne gab es am häufigsten in der Sowjetunion. Während des 2. Weltkrieges wurde dort die militärische Ausbildung für Frauen zur Pflicht erhoben und es gab selbstständige Fraueneinheiten. Die Gesamtzahl der Frauen, die für die Sowjetunion an der Front, im Hinterland und bei den Partisaninnen kämpften betrug mehr als eine Million. (vgl. Heyne, 1993, S. 129)
Auch der „lange Marsch“ der roten Armee Mao Tse Tungs in China wurde zwar mehrheitlich von männlichen Soldaten getragen, unter diesen waren allerdings auch ca. 2.000 Frauen. (vgl. Dokumentation „Feed Unbound – Der lange Marsch“ zitiert nach 3Sat „Kulturzeit“-Magazin, Sendung vom 09.10.2007) Was für das damalige, sehr traditionelle China, in dem Frauen die Füße im wahrsten Sinne gebunden wurden, schon eine recht hohe Zahl darstellt.
Sobald sich ein gesellschaftlich gewollter Rahmen (Israel ist auf Grund historischer Entwicklungen sehr offen für Frauen im Militär) für „Frauen an der Waffe“ ergibt, greifen diese auch zu, was das aktuelle Beispiel der israelischen Armee zeigt: 31% aller Rekruten sind weiblich, gleichzeitig sind 26 % aller Offizierstellen mit Frauen besetzt. (vgl. Deutsch-Israelische Gesellschaft e.V., http://www.deutsch-israelische-gesellschaft.de/arbeitsgruppen/frauen_in_der_israelischen_armee%20.htm)
Am Beispiel des Nationalsozialismus zeigt Heyne auch auf, dass viele Frauen durchaus an Machtpositionen und an der Formulierung und Umsetzung von NS-Ideen interessiert waren (und somit auch stärker als Täterinnen aufgefallen wären), dies allerdings nur selten erreichen konnte, weil ihnen einfach der Zugang dazu verstellt war. (vgl. Heyne, 1993, S. 149ff+154)[3]
Bewegten sich Frauen in einem Handlungsfeld, in dem die Ausübung offener Gewalt nicht nur möglich war, sondern von ihnen erwartet wurde - z.B. bzgl. am Euthanasie-Programm beteiligte Krankenschwestern und KZ-Aufseherinnen -, so waren sie zu jeder nur vorstellbaren Form der Gewalthandlung fähig. (ebd., S. 240)[4] Außerdem bedienten sich Frauen entsprechend ihrer Rolle „leiseren“, delegierenden Formen der Gewaltausübung, wie z.B. dem Denunziantentum in der NS-Zeit, das für den Denunzierten tödlich enden konnte (ebd.) oder sie fungierten z.B. während des Völkermordes in Ruanda als „Cheerleader des Genozids“ in dem sie massenweise die (vorwiegend männlichen) Mörder mit Gesang und Geschrei zu zerstörerischen Aktionen antrieben (vgl. Zdunnek, 2002. S. 150)
Auch bzgl. des islamischen Fundamentalismus tauchen Frauen aktiv auf, was folgendes Zitat aus dem „al-Qaida-Frauenmagazin“ al-Khansa deutlich macht: „Wir werden uns am Kampf beteiligen, bedeckt mit unseren Schleiern und umhüllt von unseren langen Gewändern, Waffen in der Hand, unsere Kinder im Schoss, wobei der Koran und die Lehre des Propheten Allahs uns den richtigen Weg weisen werden. Das Blut unserer Ehemänner und die Körperteile unserer Kinder sind die Opfer, mit denen wir uns Allah annähern. Mit unserer Hilfe wird Allah dafür sorgen, dass das Märtyrertum zu seinem Ruhm ein Erfolg wird.“ (EMMA, 09./10. 2007, S. 46)
Ein Einzelbeispiel bzgl. politischer, destruktiver Einstellungen möchte ich auch aus der demokratischen, westlichen Welt nennen, das für sich spricht: Als Madeleine Albright (erste Frau im Amt der Außenministerin in den USA 1997-2001) am 20.05.1996 gefragt wurde, ob der Tod der vielen irakischen Kinder (Seit Bestehen des Embargos gegen den Irak kamen damals je nach Schätzung ca. eine halbe bis eine Million Kinder (!) ums Leben) durch die Sanktionen, die eigentlich Saddam Hussein schwächen sollten, nötig wäre, antwortete sie: „Ich denke, es ist eine sehr schwere Wahl, aber der Preis, wir denken, es ist den Preis wert.“ (zit. nach deMause, 2005, S. 38)

Am anschaulichsten wird der Einfluss von Macht auf das Gewalthandeln am Beispiel der Kindesmisshandlung. Frauen haben als Mütter traditionell ein hohes Maß an Macht gegenüber ihren Kindern. In der Literatur schwanken die Zahlen über den Anteil der Täterinnen bei der körperlichen Kindesmisshandlung entsprechend zwischen 40 % und 70 %. (vgl. Heyne, 1993, S. 257) Eine andere Quelle nennt Zahlen zwischen 50 % und 60 % weiblicher Täterinnen. (vgl. Kantonale Fachkommission für Gleichstellungsfragen, 2006, S. 23) Im "Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland" steht: "Die meisten Studien der Familiengewaltforschung kommen zu dem Ergebnis, dass Mütter in gleich hohem oder höherem wie Väter Ausmaß elterliche körperliche Gewalt gegenüber ihren Kindern ausüben. Auch eine geschlechtsspezifische Auswertung von Bussmann (2002) zeigt für Deutschland ein durchweg leicht höheres Sanktionsniveau auf Seiten der Mütter auf; bei schwereren Gewaltformen gleichen sich die Erziehungsstile zwischen den Geschlechtern allerdings an." (Deutsche Jugendinstitut e.V., 2005, S. 656) Beim sogenannten Hellfeld zeigt sich, dass bei Misshandlung von Kindern mehr als zwei von fünf Tatverdächtigen (43,1 %) weiblich sind. (vgl. Bundeskriminalamt, 2007, S. 149)
Bzgl. des sexuellen Missbrauchs beträgt der Anteil der Täterinnen ca. 10-25 % (wenn man von Dunkelfelduntersuchungen ausgeht), auch in diesem Bereich sind Frauen durchaus zu äußerst sadistischen Taten fähig. (vgl. Enders, 2001, S. 106)
Zu erwähnen ist an dieser Stelle auch, dass Frauen vermutlich auf Grund ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisationen und auf Grund struktureller Gegebenheiten häufig Formen der Gewalt gegen Kinder anwenden, die weniger offensichtlich sind und weniger aktenkundig werden. Ich denke dabei an psychische Gewalt, narzisstischen Missbrauch, Kindesvernachlässigung oder auch das Münchhausen-by-Proxy. (Diese Themengebiete ausführlich zu behandeln, würde hier den Rahmen sprengen)

Neuere Forschungsansätze bringen außerdem immer mehr Licht ins Dunkel der häuslichen Gewalt und beschäftigen sich u.a. mit dem Tabuthema „Frauengewalt gegen Männer“ (vgl. ausführlich Kantonale Fachkommission für Gleichstellungsfragen, 2006)
Auch der Blick in die Geschichte zeigt, dass Frauen im erheblichen Umfang Kinder als „Giftcontainer“ für ihre Gefühle benutzten. DeMause hat darauf hingewiesen, dass bis zur Moderne vor allem Frauen (als Mütter, Großmütter, Tanten, Ammen, weibliche Dienerschaft, Hebammen usw.) für Kinder verantwortlich waren und Männer beim Heranziehen der Kinder meist gar keine Rolle spielten.[5] Der Psychohistoriker zeigt an Hand einer Fülle von Beispielen auf, wie Frauen in der Geschichte routinemäßig ihre Kinder getötet, vernachlässigt, missbraucht und misshandelt haben. Diese Gewalt gegen die Kinder stand wiederum im engen Verhältnis zu eigenen, erheblichen Gewalterfahrungen der Frauen. (vgl. deMause, 2005, S.212ff)

Die hohen o.g. Zahlen bei den Frauen als Täterinnen bzgl. der körperlichen Gewalt begründen Forschende übrigens unter anderem damit, dass Frauen mehr mit den Kindern zusammen sind und mehr Verantwortung für deren Erziehung tragen als die Väter. Demnach dürfe man das Ausmass von Gewaltausübung durch Väter bzw. Mütter nur vergleichen, wenn beide zu gleichen Teilen Zeit und Verantwortung für ihre Kinder investieren, was derzeit kaum der Fall ist. (vgl. Kantonale Fachkommission für Gleichstellungsfragen, 2006, S. 23) Ich finde es fragwürdig, wenn in vielen Analysen zum Patriarchat auf die erhebliche Macht von Männern/Vätern in ihren Familien hingewiesen wird und dann, wenn es um schlagende Mütter geht, diese Analysen plötzlich vergessen werden. Nachdem könnte man genau so gut auch sagen, dass Männer bzgl. kriegerischer Gewalt nur so häufig als Täter auftauchen, weil sie den Großteil der Soldaten und der Politiker stellen und man somit geschlechtsspezifisch erst etwas eindeutiges rückschließen könnte, wenn Frauen in diesen Bereichen auch zur Hälfte mit agieren würden... (Wobei ich davon ausgehe, dass eine Gesellschaft, in der Frauen partnerschaftlich zur Hälfte an der Macht beteiligt wären - was ich für wünschenswert halte -, bereits so weit emotional entwickelt wäre, dass man in einer solchen Gesellschaft auch insgesamt weniger kriegerische Gewalt beobachten würde. Die Ursache für das friedlichere Miteinander wäre dann also nicht die Beteiligung von Frauen an der Macht, sondern der allgemeine emotionale Fortschritt.) Insofern ist hier der Knackpunkt beschrieben, um den es mir geht. Kindliche Gewalterfahrungen finden ihren Ausdruck auf der gesellschaftlichen Bühne oder auch im Privaten. Wie diese Bühne oder die Form und Farbe der Gewalt aussieht, das scheint von gesellschaftlichen Strukturen gelenkt zu werden. Die gesellschaftlichen Strukturen sind demnach aber im Grunde nicht der Hauptgrund für das beobachtete Auftreten von Gewalt. (siehe dazu auch Kapitel 9.)

Sieht man sich die hier kurz skizzierten Daten und Beispiele an, scheint die traditionelle weibliche Sozialisation und Rollenerwartung nicht der entscheidende Faktor für einen friedvollen, mitfühlenden und gewaltlosen Umgang miteinander zu sein (und auch nicht das biologische Geschlecht). Der Frieden ist also auch nicht „weiblich“. Entscheidender scheint die Disposition zu Radikalität und Gewalt zu sein, die sich wie oben aufgezeigt wesentlich aus destruktiven Kindheitserfahrung (der „Wurzel des Übels“) ergibt und die in Kombination mit Macht (und ggf. zusätzlich verstärkend unter sozial ungünstigen Bedingungen wie z.B. in der NS-Zeit) die Gefahr destruktiv-aggressiven und kriegerischen Handelns erhöht.
Wenn wir davon ausgehen, dass unsere Menschlichkeit sich wesentlich auf Grundlage von Einfühlungsvermögen und Mitgefühl definiert, so scheint der Frieden eben menschlich (also mitfühlend) zu sein. Dort wo das Mitgefühl für sich und andere auf Grund von destruktiven Kindheitserfahrungen verloren geht, erhöht sich somit die Gefahr hin zu Destruktivität und Krieg.

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[1] Man könnte zumindest sagen: Das offene „Gesicht des Krieges“ war männlich. Im Hintergrund gestalten Frauen aktiv als Helfende, (Soldaten-)Mütter, Ehefrauen, Arbeiterinnen, Handeltreibende usw. den Krieg gemäß ihrem Rollenbild. Denn Krieg als gesellschaftliche Institution und kollektives Handlungsmuster kann nur funktionieren, wenn Männer und Frauen entsprechend ihren Rollenvorgaben handeln. Siehe dazu ausführlicher Wasmuht (2002), Mathis (2002) und auch Zdunnek (2002) Sehr deutlich wird das komplementäre Zusammenwirken beider Geschlechter u.a. am Slogan der Vaterländischen Frauenvereine des 19. Jahrhunderts: „Er mit der Waffe, sie mit Herz und Hand.“ (de Visser, 1997. S. 76), die ihren Soldatenmännern „vorbildlich“ zur Seite standen.

[2] Stoklossa (2001) hat dies ausführlich in seinem Buch mit dem passenden Titel „Wut im Bauch. Wider der Zurichtung des Jungen zum Krieger“ dargestellt. Ich selbst betrachte die traditionelle männliche Sozialisation mit ihrer unterdrückerischen Ausformung und mit ihren Anforderungen bereits als verdeckte Gewalt, die den Menschen spaltet. Insofern kumulieren sich diese Erfahrungen mit Opfererfahrungen aus der Kindheit und steigern das destruktive Potential bei Männern.

[3] Frauen beteiligten sich allerdings in der NS-Zeit im Rahmen ihrer Möglichkeiten in NS-Frauenorganisationen (6-8 Millionen Frauen) und in der NS-Frauenschaft (2 Millionen). (vgl. Hyne, 1993, S. 152)

[4] siehe auch Kretzer (2002)

[5] Die Vernachlässigung von Kindern durch ihre Väter war also Alltag.


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8. Der Krieg, die nachfolgenden Generationen und „Der Kreislauf der Gewalt“


Bisher habe ich in dieser Arbeit auf verschiedenen Ebenen herauszustellen versucht, wie destruktive Kindheitserfahrungen ursächlich mit kriegerischem Handeln zusammenhängen können. In diesem Abschnitt möchte ich das ganze jetzt von der umgekehrten Seite aufziehen und stelle die Frage: In wie weit entsteht durch Krieg, Terror und Leid ggf. wiederum Gewalt gegen Kinder? Ist hier gar ein „Kreislauf der Gewalt“ zu erkennen?
Der idealtypische Kreislauf [1], an den ich hier denke, sieht folgendermaßen aus: Die destruktiven Kindheitserfahrungen und die Psychopathologie der Machthaber scheinen in einem ursächlichen Verhältnis zu deren kriegerischer Politik zu stehen, wie weiter oben ausgeführt. Das einst misshandelte Volk identifiziert sich wiederum mit den Aggressoren und unterstützt diese destruktive, kriegerische Politik aktiv und/oder durch Mitläufertum bzw. dem Verharren in der Opferrolle. Aus diesem „willigen“ Volk rekrutieren sich bei einem gesamtgesellschaftlichen Krieg (wie z.B. im 1. und 2. Weltkrieg) auch die SoldatInnen. Berufsarmeen rekrutieren ihrerseits (ob nun bewusst oder unbewusst) Menschen, die bereits im Vorfeld eine problematische Sozialisation hatten bzw. die schlimmstenfalls Exzesse von Gewalt in ihren Herkunftsfamilien erleiden mussten. Durch die verletzende Ausbildung wird ihnen zusätzlich ihr Mitgefühl „abtrainiert“. Im Krieg machen dann alle – vor allem das Volk und die Soldaten – zusätzlich traumatische Erfahrungen (als Opfer ebenso wie als Täter, denn auch jemand der tötet, traumatisiert sich dadurch selbst), so dass dann im Extremfall wie nach den Weltkriegen ein kollektiv traumatisiertes bzw. durch die individuellen Vorerfahrungen „multi-traumatisiertes“ Volk zurückbleibt. Ich denke, es leuchtet ein, dass sich diese destruktiven Erfahrungen nach einem Friedensschluss nicht einfach in Luft auflösen und ohne Nachwirkungen auf die nunmehr zivile Gesellschaft bleiben. Diese möglichen „Nachwirkungen“ möchte ich an Hand einiger ausgewählter Indizien andeuten. Die vier ausgewählten Beispiele scheinen auf den ersten Blick nicht gerade homogen zu sein. Die Parallelen sehe ich dabei vor allem in den möglichen Folgen für die Familie und die nachfolgende Generation, denn Leid erzeugt letztlich oftmals wiederum Leid.



[1] Die Realität ist sehr komplex. „Idealtypisch“ meint, dass das Vorgestellte nur ein Gedankenmodell ist, dem sich die Realität so annähern kann bzw. das die Realität nie absolut erfüllen wird.



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8.1 (demoralisierte) Soldaten und ihre Familien

Hauser (2003) weist darauf hin, dass in Nachkriegszeiten vor allem durch politische Instabilität, Kriegszerstörungen und ihren sozialen Folgen und der ökonomischen Perspektivlosigkeit eine erhöhte Inzidenz von Gewalt wie beispielsweise häuslicher Gewalt und Inzest. (in allen Ländern von Ex-Jugoslawien, Ruanda, etc.) zu verzeichnen wäre. (vgl. Hauser, 2003)
Dieser Erklärungsansatz für ein Ansteigen häuslicher Gewalt verharrt auf der gesellschaftlich-politischen Ebene, was fehlt sind die Zusammenhänge bzgl. den Folgen erlittener psychischer Kriegstraumatisierungen. Die Heinrich-Böll-Stiftung stellt dazu fest: In Zeiten kriegerischer Auseinandersetzungen nimmt die „private Gewalt“ extrem zu und sie endet auch nach dem Abschluss offizieller Friedensverhandlungen meist nicht. Die Heimkehr demobilisierter Soldaten lässt das Ausmaß häuslicher Gewalt häufig drastisch ansteigen (vgl. Heinrich-Böll-Stiftung, 2003)
Häusliche Gewalt tritt laut einem Medienbericht nach unterschiedlicher Schätzungen zwischen zwei und fünf mal so häufig in der US-Armee auf, wie im Rest der Gesellschaft. (vgl. Netzeitung, 2002) Diese Einschätzungen müsste wissenschaftlich auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden, um mehr Gültigkeit zu haben. (Die Frage dabei ist, in wie weit das Militär ein Interesse hat, solche Studien überhaupt zu unterstützen)

Kümmel / Klein (2002) schreiben bzgl. Berufssoldaten passend zu diesem Kapitel: „Bei Gewalt in Soldatenfamilien können die weit verbreitete Kultur des Machismo, der hierarchisch-autoritäre, dem Prinzip von Befehl und Gehorsam folgende Charakter des Militärs als Institution, das Training in Gewaltanwendung, die soziale und geographische Isolation in Folge von zahlreichen Versetzungen und einsatzbedingten Abwesenheitszeiten, die immer von Neuem das Gleichgewicht im Familiensystem stören, und die potentiell wie aktuell lebensbedrohende Tätigkeit des Soldaten eine Gewalt unterstützende Rolle als Stressoren spielen.“ (Kümmel / Klein, 2002, S. 223) Die Autoren weisen auch darauf hin, dass der häuslichen Gewalt auch einige Faktoren entgegen spielen könnten wie z.B. der „soldatische Ethos“. Letztlich weisen Kümmel / Klein (2002) auf den Forschungsbedarf für das weitgehend unbeleuchtete Themenfeld „Gewalt in Soldatenfamilien“ hin, um weitere Antworten geben zu können.
Im Rahmen der Studie „Gewalt gegen Männer“ äußert sich in der Expertenbefragung ein Berater einer Initiative gegen Zwangsdienste aufschlussreich :„Ich weiß, dass diese Prägung, die du beim Militär selbst er fährst, wenn du normalerweise durchmarschierst, sich fortsetzt für den Rest deines Lebens. Dieses Befehl- und Gehorsamsprinzip verfestigt sich [...] und das setzt sich ins Familienleben fort. Jemand der gewöhnt ist, Befehle auszuführen, das für sich selbst verinnerlicht hat, der geht später mal auf seine Kinder so zu und sagt: Warum hast du das jetzt nicht gemacht – und wenn du das jetzt nicht machst, dann bestrafe ich dich dafür! Das sind Sachen, die ich selbst bei mir noch merke. (...) Ich merke es bei Männern, die seit längerer Zeit in der Armee sind, und das hört man auch immer wieder von Angehörigen, von Freunden, von Freundinnen: ‚Innerhalb der ersten zwei Monaten hat der Typ sich so verändert, dass ich den teilweise gar nicht wieder erkenne.‘ Das äußert sich in der Sprache und in der Verhaltensweise. Natürlich auch in der Gewaltbereitschaft, in der direkten Gewaltbereitschaft, die wird nämlich logischerweise trainiert. (...)“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004a, S. 177ff)
Der weiter o.g. Medienbericht schildert außerdem eine Serie tödlicher häuslicher Gewalt im US-Armeestützpunkt Fort Bragg. Mehrere Soldaten hatten ihre Ehefrauen brutal ermordet. Experten haben darauf hingewiesen, dass es in allen der Fälle von Fort Bragg bereits vorher Probleme mit häuslicher Gewalt gegeben habe, und durchweg lehnten sie einen engen kausalen Zusammenhang mit den Einsätzen in Afghanistan ab. (vgl. Netzeitung, 2002)

Sicherlich endet die häusliche Gewalt durch Soldaten nicht immer tödlich. Man sollte allerdings die Frage stellen, was mit einem Menschen passiert, der erst durch eine verletzende, demütigende und ggf. traumatische Ausbildung zum Töten anderer Menschen gebracht werden soll und anschließend ggf. real tötet und/oder selbst traumatische Erfahrungen durch das Kriegsgeschehen machen muss. (und ggf. auch noch als Kind verschiedene Formen von Gewalt erlebt hat, so dass sich die Traumatisierungen zu einer gefährlichen Masse addieren)?
Erschreckend und aufschlussreich sind auch folgende Daten: Im Jahr 2009 starben mehr US-Soldaten durch Suizid (334) als auf dem Schlachtfeld im Irak (149). Schon 2008 stellten Militärärzte fest, dass jeden Monat 1000 Veteranen versuchen, sich das Leben zu nehmen. Weit über 100 Ex-Kämpfer aus dem Irak und aus Afghanistan sind durchgedreht und haben Menschen getötet; ein Drittel der Opfer waren Freundinnen, Ehefrauen oder andere Familienmitglieder. (vgl. SPIEGEL-Online, 25.03.2010)

Folgendes Zitat (Gesprächsauszug der bosnischen Journalistin Jasna Bastic mit Anton Golik, einem ehemaligen Major der kroatischen Armee) bringt noch mal einige Kerngedanken zu diesem Thema auf den Punkt. „Soldaten waren Zivilisten, bevor sie Soldaten wurden, und sie werden nach dem Krieg meistens wieder zu Zivilisten. Sie haben Eltern, vielleicht eine Ehefrau und Kinder, sie sollten einer zivilen Arbeit nachgehen und sie bewegen sich in einem Netz von FreundInnen und Bekannten. Wenn sie aus dem Krieg psychische Probleme mitbringen, die es ihnen unmöglich machen, im gewohnten zivilen Umfeld zu funktionieren, so wird ihr Trauma zum Problem für ihr ganzes Umfeld. Sie bedrohen die psychische Stabilität ihrer Bezugspersonen, indem sie sich nun in der einen oder anderen Form «kriegsgerecht» verhalten oder indem sie sich umbringen. Manchmal - wenn sie zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen neigen - gefährden diese Leute sogar die physische Sicherheit ihrer Mitmenschen.“ (Gruppe für eine Schweiz ohne Armee)
Die Soldaten bringen sich und ihre Erlebnisse mit nach Hause, in die zivile Gesellschaft. Im Irak beispielsweise hielten sich im Jahr 2006/2007 beständig ca. 150.000 Soldaten und Soldatinnen der US-Armee auf (Die Gesamtzahl der dort stationierten SoldatInnen erhöht sich noch erheblich, wenn man die Ablösungen dazurechnet). Wenn ein gewisser Teil davon traumatische Erfahrungen machen musste (Vorsichtig wird geschätzt, dass jeder fünfte US-Soldat mit psychischen Störungen von den fernen Kriegsschauplätzen zurückkehrt – vgl. Ärzte Zeitung, 09.03.2005 - andere Schätzungen gehen davon aus, dass jeder dritte Heimkehrer aus dem Irak oder Afghanistan langfristige psychologische Betreuung braucht - vgl. ZDF „auslandsjournal“, 13.12.07 - ), bleibt dies sicherlich nicht ohne Folgen für die amerikanische Gesellschaft. Ewas überspitzt könnte man formulieren, dass die Gefahr einer „Militarisierung des Zivilen“ besteht, wenn dergleichen viele SoldatInnen in Kriegseinsätze geschickt werden.
In der Fernsehdokumentation „Gezeichnet fürs Leben“ kommen – um hier ein weiteres Fallbeispiel anzuführen – einige deutsche Soldaten zu Wort, die die Folgen für ihr persönliches, ziviles Leben nach den Einsätzen beschreiben. „In ergreifender Art schilderte ein junger Vater, wie er das Grauen des Krieges nicht verarbeiten konnte und über längere Zeit keinerlei Gefühl für seine Frau und seine beiden kleinen Kinder mehr empfinden konnte. Er sei wie abgestorben gewesen, er habe gar nichts mehr fühlen und sich seinen Kindern nicht mehr zuwenden können. Heute nach längerer therapeutischer Behandlung seien Gefühle wieder am Entstehen. Doch die lange Zeit seines totalen Rückzuges habe dazu geführt, dass auch der ältere der beiden Söhne therapeutisch behandelt werden müsse. Der kleine Sohn sei verzweifelt gewesen, dass dies nicht mehr der Vater war, den er vor dem Einsatz in Afghanistan gekannt hatte.“ (Zeit-Fragen, 27.11.2006)
Und in einem anderen Fernsehbericht über traumatisierte Soldaten heißt es:
„Zurück in Deutschland ist Martin J. ein anderer Mensch. Er schottet sich ab. Stundenlange, einsame Läufe. Seine Familie erkennt ihn nicht mehr wieder. Im Keller kämpft er weiter – am PC. Er ist voller Aggressionen. Doch es wird alles noch viel schlimmer. Martin J. fühlt nichts mehr, er wird unkontrolliert brutal, trinkt. Lange versucht er, den Schein zu wahren: Gute Soldaten sind keine Weicheier – und er ist ein besonders stolzer Soldat.“ (Panorama, 31.08.2006)
Auch das ZDF Magazin „Mona Lisa“ widmete sich am 18.11.2007 unter dem Titel „Von der Bundeswehr alleingelassen? Nach Einsatz traumatisiert“ diesem Thema. Die Geschichte hier gleicht denen der anderen „Einzelfälle“. Den Krieg, sagt der vorgestellte deutsche Kriegsheimkehrer, habe er mit nach Hause genommen: Aus dem ehemaligen Soldaten ist ein Jahr nach dem Einsatz "Enduring Freedom" ein psychisch kranker Mann geworden. Er hatte sich nach dem Einsatz verändert, war ständig gereizt, seine langjährige Beziehung ist zerbrochen. Alltägliche Geräusche wie ein Rasenmäher, ein Flugzeug, oder das Brummen seines Eisschranks versetzten ihn in höchste Alarmbereitschaft: Herzrasen, Schweißausbrüche, Panik, die Muskeln bis zur Verkrampfung angespannt. (siehe http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/4/0,1872,7125732,00.html)
"fritz1949" berichtet bei SPIEGEL-Online: "Mein Vater war Teilnehmer des zweiten Weltkrieg und kam bis zu seinem Tot bei jedem Gespräch, das länger als ein paar Sätze dauerte, auf das Thema Krieg. Seine Erlebnisse haben ihn sein Leben lang verfolgt. Ich habe als Kind von angreifenden Flugzeugen und fallenden Bomben geträumt, obwohl ich den Krieg selber gar nicht erlebt habe." Auch an diesem Beispiel wird deutlich, wie sich ein Kriegstrauma auf die nachfolgende Generation auswirken kann.
Einen Gedanken möchte ich hier noch anbringen. Ich erinnere mich an einzelne Fernsehberichte über heimkehrende Soldaten (die ich leider aus der Erinnerung nicht mehr betiteln kann). Und einen Satz hörte ich dabei so oder so ähnlich mehr als einmal: „Einen anderen Menschen zu töten, das war für mich so, als ob ich selbst mich ein Stück weit tötete.“ Oder „Mit jedem getöteten Gegner, starb auch ich ein Stück mehr.“ Konkrete Sätze: "Nach dem Kriegseinsatz geht der Kampf erst richtig los", berichtet ein traumatisierter, deutscher Kriegsheimkehrer und er spricht von "Narben im Kopf", die immer wieder aufreißen würden. (vgl. DIE ZEIT-Online, 21.4.2010) Die Witwe eines traumatisierten US-Soldaten, der Selbstmord begang, sagte, ihr Mann habe sich oft gewünscht, dass er im Krieg ein Bein verloren hätte. Und nicht die Seele. "Joseph hat nicht Selbstmord begangen", sagte sie. "Er ist an seinen Kampfwunden im Kopf gestorben." (SPIEGEL-Online, 25.03.2010)
Diese (und ähnliche) Sätze machen die möglichen individuellen und gesellschaftlichen Folgen deutlich, die aus Kriegseinsätzen heraus entstehen können.

An dieser Stelle möchte ich noch ein Zitat des amerikanischen Psychologen und Ex-Offiziers David Grossman anbringen, der dazu ermahnt, die „psychologischen Kosten“ von Krieg nicht zu vergessen: „Individuelles Leid wird nicht als „Kosten“ des Krieges erfasst. Man rechnet in Geld, Menschenleben, Verwundeten. Doch allein die Teilnahme an Kriegshandlungen ist seelisch extrem zerstörerisch. In jedem Krieg des 20. Jahrhunderts war die Wahrscheinlichkeit, psychisch krank zu werden, größer als die, getötet zu werden. Zwei Monate nach der Landung in der Normandie 1943 waren 98 Prozent aller US-Soldaten psychisch krank. Beim Töten selbst hängt es vom Einzelnen ab, manche können damit leben, manche entwickeln eine dauerhafte Amnesie, manche leiden ihr Leben lang unter posttraumatischem Stress (PTSD)“ (Greenpeace Magazin, 01/2004) (Nach David Grossman haben sich ca. 150.000 Vietnam-Veteranen das Leben genommen – dreimal mehr, als während des Krieges gefallen sind.)

Dass nach traumatischen Kriegserfahrungen die Gefühle abstumpfen oder gar komplett verschwinden ist menschlich. Dies ist letztlich eine wichtige Überlebensstrategie für uns Menschen, um dergleichen Erlebnisse psychisch erst einmal aushalten zu können. Doch dieses „Ausschalten der Gefühle“ belastet - wie oben geschildert - nicht nur den Soldaten, sondern auch sein Umfeld und vor allem seine Familie. Gerade Kinder brauchen glückliche, lebendige Eltern, die sich selbst fühlen, eigene Grenzen und die der anderen wahrnehmen und dem Kind ein Vorbild sind. Was mit Kindern passiert, die ihren heimkehrenden Vater plötzlich als innerlich leer, kalt und abgestumpft erleben, lässt sich nur erahnen. Zu vermuten ist auch, dass dort, wo das Gefühl für sich selbst verloren ging, auch die Gefühle und Wahrnehmung bzgl. der Mitmenschen getrübt wird. Hier liegt der Nährboden und die Gefahr für destruktives Verhalten gegen Andere und Familienmitglieder.



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8.2 Nazi-Täter und ihren Familien

Noch deutlicher werden die möglichen Auswirkungen von Krieg und Terror für „das Private“ im Zusammenhang von Nazi-Tätern und ihren Familien. Auch wenn die nachfolgenden Forschungsansätze natürlich nicht verallgemeinerbar sind, machen sie doch hellhörig. Müller-Hohagen (1996) geht auf Grundlage seiner Forschungen (und derer anderer AutorInnen wie z.B. Alice Miller, Ursula Wirtz und Jacqueline Spring), die sich mit Aus- und Fortwirkungen der Nazizeit bei seinen KlientInnen einschließlich der jeweiligen Familien befasst, davon aus, dass auch nach 1945 „der Terror im Schoße deutscher Familien weiterging“, dass ein direkter Zusammenhang zwischen politischer Gewalt[1] und sexuellem Missbrauch bestehen kann. „Viele Täter und Tatbeteiligte haben nach der „Stunde Null“ weitergemacht, haben weiterhin Schwächere und Wehrlose „fertiggemacht“, vorausgesetzt, sie liefen dabei keine Gefahr, entdeckt oder bestraft zu werden. Der Missbrauch der „eigenen“ Kinder war die optimale Gelegenheit für solchen Terror, denn wo sonst, außer in der Folter, sind Menschen so schutzlos ausgeliefert? Und wo sonst ist die Gefahr des Entdecktwerdens geringer?“ (Müller-Hohagen, 1996, S. 37)
Die Kontinuitäten der NS-Gewalt haben sich, so Müller-Hohagen, natürlich nicht nur im sexuellen Missbrauch manifestiert. „Vielmehr gibt es eine ganze Reihe von Hinweisen, die belegen, dass Täter und Beteiligte von NS-Verbrechen ihre Taten nach 1945 in vielfältiger Weise innerhalb der Familie fortgesetzt haben: Kindesmisshandlung, versuchter oder ausgeführter Totschlag und Mord.“ (ebd., S. 39) Der Autor weißt auch auf ein zentrales Ergebnis seiner Forschung hin, nämlich auf die ständige Verleugnung dieser möglichen Zusammenhänge, die nicht verallgemeinerbar seien (sprich: nicht jeder NS-Täter misshandelte und missbrauchte später seine eigenen Kinder), aber in untersuchten Fällen eben real.
Dass diese Erkenntnisse offensichtlich vielfältige Abwehrmechanismen der Menschen bzw. der Gesellschaft hervorrufen, deute ich als Hinweis dafür, dass hier ein wunder Punkt getroffen wurde, ein Punkt, der vielleicht ein ganzes Stück deutscher Nachkriegsgeschichte bzw. -realität bedeutet und der u.U. Folgen auch für die 2. Generation nach dem Krieg haben konnte und kann (sprich NS-Täter misshandelten und terrorisierten ihre Familien und Kinder, die wiederum Kinder bekamen und ggf. ihrerseits die erlittene Gewalt auf die ein oder andere Weise weitergaben; somit befinden wir uns bzgl. den Folgen des 2. Weltkrieges im Hier und Jetzt.).



[1] zusätzlich setzt der Autor noch die Folter in diesen Zusammenhang, deren Ziel die Zerstörung als Person sei, ähnlich wie beim sexuellen Missbrauch und die von den Herrschenden angewandt wird, um eben diese Herrschaft zu sichern.



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8.3 Die Kriegskinder

Ich möchte ein weiteres Indiz für die Folgen von Krieg bzw. den Zusammenhang bzgl. dem „Kreislauf der Gewalt“ hinzufügen, denn auch Kinder erleiden in Kriegssituationen u.U. vielfältige Traumata. Psychologische Untersuchungen, die an Kindern in Sarajevo nach dem (Bürger-)Krieg vorgenommen wurden, ergaben beispielsweise, dass 5 % so extrem traumatisiert waren, dass sie klinisch behandelt werden mussten, 15 % wiesen schwere und 50 % mittelschwere Traumatisierungen auf. (vgl. amnesty journal, 11/2006) Andere Quellen geben bzgl. der Folgen des Bosnienkrieges an, dass 64 % der Kinder an traumatischen Störungen leiden, 24 % davon an schweren psychosomatischen Folgen. Im Kinderberatungszentrum der zweitgrößten bosnischen Stadt Banja Luka waren von 1992 bis 1994 insgesamt 14.995 Kinder in Behandlung. Sie zeigten
Sprach- und Verhaltensstörungen, Neurosen, Apathie, Angst,
Lernschwierigkeiten sowie emotionale Störungen. (vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung, 2003, S. 57)
Der Krieg endete 1995, doch die Folgen sind immer noch spürbar. Die Hilfsorganisation „Wings of Hope“ beobachtete eine Veränderung der Symptome bei Kindern und Jugendlichen. Unmittelbar nach dem Krieg litten die Kinder u.a. unter Alpträumen, Bettnässen und Trennungsängsten. Jahre danach äußerte sich die Traumatisierung durch Lern- und Konzentrationsstörungen, aggressiven Verhalten, psychosomatischen Störungen, Drogenproblemen usw. (vgl. amnesty journal, 11/2006) Es gibt laut diesem Bericht also eine Veränderung der Folgen bei diesen untersuchten „Kriegskindern“ hin zu selbst- und fremdschädigendem Verhalten. Und. „Die Psychologen beobachten inzwischen sogar die Weitergabe nicht verarbeiteter Traumata der Erwachsenen an die nächste Generation – so zum Beispiel bei Kindern, die erst nach dem Krieg geboren sind, und die voller Hass auf andere Bevölkerungsgruppen reagierten.“ (ebd.)

Ein daueraktuelles Beispiel ist auch der Israel-Palästina-Konflikt. (Im Folgenden werde ich mich an Hand der Quelle auf palästinensische Kinder konzentrieren, was natürlich nicht bedeutet, dass nicht auch auf der israelischen Seite Kinder schweres Leid erfahren.) Die palästinensischen Kinder sind einer ständigen Angst ausgesetzt. Sie werden Zeugen der Bombardements und des panikartigen Verhaltens ihrer Eltern. Das Ergebnis dieser Situation ist, dass 40 % der Kinder glauben, ihre Eltern könnten sie nicht mehr schützen. Von 3.000 befragten Heranwachsenden bestätigten außerdem 55 %, dass sie hilflose Zeugen waren, wie ihr Vater von israelischen Soldaten geschlagen wurde. Fast 32 % der Kinder haben starke posttraumatische Störungen. Von 945 untersuchten Kindern litten alle an einem direkten oder indirekten Trauma sowie den Folgen posttraumatischer Störungen (vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung, 2003, S.51ff)
„Besonders beunruhigend ist, dass 24 % der palästinensischen Kinder davon träumen als Märtyrer zu sterben, also Selbstmordattentäter zu werden. Das ist beängstigend, denn jeder Selbstmordattentäter von heute ist ein Kind der ersten Intifada. Und wenn die Kinder der ersten Intifada schon so traumatisiert sind, dass allein 24 % von ihnen Märtyrer werden wollen, dann kann man sich vorstellen, was für zukünftige Politiker, Lehrer und Richter wir in diesem Land haben werden.“ (ebd., S.55) (Interessant wäre es, die palästinensischen Kinder zusätzlich zu Gewalterfahrungen in ihren Familien zu befragen und evtl. Zusammenhänge zwischen kumulierten traumatischen Erfahrungen und eigenen Gewaltfantasien und –handlungen herauszufinden.)
Ich möchte hier nicht unterstellen, dass alle Kinder, die Krieg erlebt haben, wiederum zu Gewalt (gegen sich und andere) neigen werden. Eine solche These würde das menschliche Potential und die Komplexität der Wirklichkeit verleugnen. Dass Kriegskinder allerdings schwerwiegende Folgen für den Rest ihres Lebens mit sich tragen werden, ist wahrscheinlich. Wenn dieses Leid nicht aufgearbeitet und bestenfalls verarbeitet wird, erhöht sich – so meine ich – auch die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich eine gewisse Destruktivität im Leben der späteren Erwachsenen ausbreitet, die sich schlimmstenfalls auch auf die Kinder der Kriegskinder auswirken könnte.

Unter „Kriegskindern“ in Deutschland werden die Geburtsjahrgänge zwischen 1930 und 1945 verstanden. Dabei handelt es sich folglich um mehrere Generationen. Fünfzehn Jahrgänge sind angesiedelt zwischen der Flakhelfergeneration und der auf der Flucht Geborenen. (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004b, S.162)
In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Homepage www.kriegskinder.de (Projekt zur Therapie Kriegstraumatisierter, insbesondere bezogen auf die Kriegskinder des 2.Weltkriegs) hinweisen, auf der sich umfangreiche Informationen zum Thema finden und von der auch folgendes Zitat stammt:
„Krieg hat massive Folgen, insbesondere für Kinder. Anders als Erwachsene sind sie nicht in der Lage, das militärische Geschehen in einen politischen Zusammenhang zu bringen. Sind schon Erwachsene mit der Verarbeitung von Erlebnissen wie Bombardierung, Lebensbedrohung, Flucht und Verfolgung überfordert, trifft dies auf Kinder noch mehr zu. Sie sind einerseits unmittelbar von den Kriegsgräueln betroffen, haben aber weniger körperliche und psychische Kräfte, um die Katastrophe durchzustehen. Sie erleben andererseits den Verlust des Schutzes der elterlich Fürsorge. Ihre Eltern können ihnen Sicherheit und Geborgenheit nicht mehr geben, weil sie selbst mit Existenzbedrohung und Angst kämpfen. In ihrer Not, sich das Unverstehbare begreifbar zu machen, entwickeln Kinder Vorstellungen eigener Schuld an diesem Geschehen. Sie bauen Rachephantasien auf, stumpfen seelisch ab, entwickeln eine Vielzahl von Symptomen (Albträume, sich aufdrängende Schreckensbilder, Angstzustände, Wutanfälle, körperliche Krankheiten, ...), verlieren den Lebensmut und die Grundüberzeugung, dass das Leben verstehbar abläuft.“ (Öffentliche Erklärung von Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Lindauer Psychotherapiewochen 2003, http://www.kriegskinder.de/lindauer_erklaerung.htm)
Zusätzliche Belastungen prägen die Lebenssituation von Kindern in der Nachkriegszeit. Viele Kinder sorgten beispielsweise nach Ende des 2. Weltkrieges in Deutschland für ihre durch Ausbombung, Verlust des Mannes oder Vergewaltigung „emotional erstarrten Mütter“ (Parentifizierung) und schafften es dadurch nicht, eigene Entwicklungsaufgaben wahrzunehmen. Kehrte der abwesende, häufig idealisierte Vater zerrüttet aus der Gefangenschaft zurück, war er meist nicht in der Lage, Vaterfunktionen wahrzunehmen. Durch die starke Bindung an die hilfsbedürftigen Eltern konnten die Kriegskinder ihre affektiven (seelischen) Fähigkeiten nicht gut ausbilden. Die kognitiven Fähigkeiten dagegen waren bei dieser Generation meist sehr gut ausgeprägt. Viele sitzen heute an Schaltstellen in Politik und Wirtschaft. (vgl. Ärzteblatt, 2005)
Schönfeldt (2006) weist schon auf frühe Belastungen von Säuglingen hin: „(...) in der Realität des Krieges werden viele Säuglinge in den Augen ihrer Mütter auch das Entsetzen gesehen haben, wenn die Mutter die Nachricht vom Umgebracht-Werden oder „Gefallen-Sein“ des Vaters bekommt, oder die Entwürdigung nach Vergewaltigungen oder die unendliche Angst bei Bombenangriffen oder vielleicht auch die mehr oder weniger bewusste Scham, wenn sie die Misshandlung der Juden sah. Ich denke, dass – solange den Kindern noch nicht gänzlich der ihnen angeborene Instinkt zerstört worden ist – sie auch das verdrängte Entsetzen der Mütter bzw. Eltern haben spüren können – die unbewusste Wechselseitigkeit. Viele meiner Klientinnen der nächsten Generation litten unter Schuldgefühlen oder Scham, aber waren sich nicht bewusst, warum und woher.“ (Schönfeldt, 2006, S.239) Schönfeldt behandelt in ihrem Text ausführlich weitere Folgen für die Kriegskindergeneration, deren Kinder und Kindeskinder, die hier nicht in Gänze dargestellt werden können, aber auf die ich hiermit verweise.

Das Thema „Kriegskinder“ scheint ein weitgehend unbearbeitetes, verdrängtes Thema deutscher Nachkriegsgeschichte zu sein (siehe o.g. Homepage). Erst Ende der 90er Jahre schien die Zeit dafür reif zu sein, dass allmählich der Blick auf die Opfer gerichtet wird, die während des Krieges Kind waren. (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004b, S.161)
Die Folgen dürften allerdings erheblich gewesen sein. Einzelne Zahlenbeispiele verdeutlichen die Dimensionen: Rund 300.000 Kinder (meist Kleinkinder) wurden in den Kriegswirren von ihren Familien getrennt, vor allem auf den Flüchtlingstrecks aus dem Osten. (vgl. ARD Bericht zum Film „Suchkind 312“, http://www.daserste.de/suchkind312/allround_dyn~uid,sue0zitsvjrynrz1~cm.asp)Was allein diese (kurz- bis auch langfristige) Trennung von den Eltern bei diesen Kindern an Ängsten etc. bewirkt hat, lässt sich nur erahnen.
Der Zweite Weltkrieg hinterließ auch 1,8 Millionen Witwen und 2,5 Millionen Halbwaisen in Deutschland. Circa 20 bis 25 Prozent der damaligen Kinder/Jugendlichen (geboren zwischen 1929 und 1945) wuchsen Schätzungen zufolge unter dauerhaft beschädigten familiären, sozialen und materiellen Bedingungen auf, weitere 25 bis 30 Prozent unter lange anhaltenden vergleichbaren Bedingungen. (vgl. Ärzteblatt, 2004) Etwa ein Drittel der Kinder dieser o.g. Altersgruppe galt als traumatisiert, ein weiteres Drittel machte belastende Erfahrungen, für ein weiteres Drittel galt all dies nicht. (vgl. SPIEGEL-Online, 14.01.2008) Die damaligen Kriegskinder haben natürlich unterschiedliche Erfahrungen gemacht bzw. diese unterschiedlich verarbeitet.

Abschließend möchte ich noch kurz auf das besondere Schicksal von „Kindersoldaten“ hinweisen. Zu jeder Zeit sind mehr als 300.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren - sowohl Mädchen wie Jungen - in den Streitkräften und bewaffneten Oppositionsgruppen von mehr als 30 Ländern als Soldaten im Kampfeinsatz. Weltweit erhalten Millionen Kinder militärisches Training und werden in Jugendbewegungen und Schulen indoktriniert. (vgl. Globaler Bericht über Kindersoldaten, 2001) Ihre Erfahrungen mit Hass, Gewalt und Zerstörung hinterlassen tiefe Spuren in den kindlichen Seelen. Das Leid dieser „Kriegskinder“ möchte ich durch ein Zitat verdeutlichen:
„Ich habe sehr viel Blut gesehen und das hat mir sehr weh getan. Mein Problem ist, dass ich nichts Rotes mehr sehen kann. Dann werde ich sofort nervös und bin wütend und ängstlich zugleich. Ich kann kein Blut mehr sehen, ich hasse die Farbe Rot.“ (Sandra, eine ehemalige kolumbianische Kindersoldatin zitiert nach Friedrich-Ebert-Stiftung, 2003, S.26)

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8.4 Extrembeispiel: Die Kinder von Holocaust-Überlebenden

Am deutlichsten wird die Auswirkung von Leid auf nachfolgende Generationen am (Extrem-)Beispiel der Holocaust-Überlebenden. Die israelische Psychoanalytikerin Ilany Kogan (1998) hat sich mit den Kindern von Holocaust-Überlebenden und den Folgen für deren Leben beschäftigt. Sie weist – auch mit Verweis auf die Forschungen von KollegInnen - darauf hin, dass nicht alle Familien von Überlebenden psychisch beeinträchtigte Kinder hatten, allerdings seien die Nachkommen von Überlebenden im Hinblick auf die Entstehung psychischer Problem besonders gefährdet. (vgl. Kogan, 1998, S. 19)
PatientInnen litten u.a. unter Schuldgefühlen, Ängsten, Zerrissenheit, innerer Leere, Misstrauen gegenüber der Welt, Depressionen, selbstzerrstörerischen Neigungen und diversen psychischen Störungen; sie hatten Probleme, anderen Menschen zu vertrauen, Nähe und Liebe zu empfinden, mit dem Übernehmen von Verantwortung und auch mit der Affektregulierung und –toleranz. Manche PatientInnen erlitten Unfälle, die eng mit ihren Verhaltensmustern in Verbindung standen; andere gingen sadomasochistische Beziehungen ein und wurden durch ihre Partner verletzt.
Manche Verhaltensweisen der PatientInnen lassen es dem Leser gar kalt über den Rücken laufen. Eine Patientin vergaß beispielsweise, ihren Gasofen über Nacht auszuschalten (in der Analyse wird die Verbindung zu den Gaskammern in den Konzentrationslagern deutlich), nachdem ihre Katze auf Grund ihres unvorsichtigen Verhaltens verstorben war und sie anschließend an die vielen Soldaten gedacht hatte, die im Krieg gestorben waren. (ebd., S. 69) Eine andere Patientin schwelgte in todbringenden Phantasien gegenüber ihrem Mann und ihren Kindern, ohne jedes Schuld- oder Schamgefühl. Sie selbst misshandelte ihre Kinder auch real schwer (sie selbst war von ihrer Mutter auch körperlich misshandelt worden) und hatte mehrmals versucht, diese zu verlassen, so dass in diesem Fall bereits die 3. Generation traumatisiert wurde. Ihr Stiefvater - einziger Überlebender in seiner Familie, diese war komplett im Holocaust umgekommen, seine Mutter und Schwestern waren während eines „Sonderkommandos“ in einem Ofen verbrannt worden – benutzte nie den Backofen und erschreckte die Patientin als Kind immer mit der Drohung, sie in den Ofen zu stecken. Die Patientin litt außerdem unter einem beeinträchtigten Geruchssinn und war gänzlich kälteunempfindlich, das Ausschalten dieser Sinne war für ihren Stiefvater im KZ einst lebensrettend. (ebd., S. 95+104ff) Einen Auszug aus dem Buch bzgl. dieser Patientin möchte ich hier komplett zitieren, ich denke, er spricht für sich:
Der Stiefvater „(…)hatte überlebt, als er eine Nacht lang nackt zwischen elektrisch geladenen Drähten in der Kälte ausharren musste. Zu stürzen hätte bedeutet, die Drähte zu berühren und durch Stromschlag zu sterben. In dieser Zeit bat mich Ruth um ihren Zeichenblock, um ihn nochmals durchzusehen. Sie fand darin die Zeichnung „Elektrizität“, auf der ein Mann zu sehen war, dem eine drahtige Todesblume aus dem Schädel spross. Die Todesblume symbolisierte die elektrischen Drähte, die ihr Stiefvater zwar überlebt hatte, die nun aber in Ruths Kopf eingepflanzt waren. „Daddy hat mir einen Elektrostab eingepflanzt“, sagte Ruth. „Es ist einer, mit dem man Kühe tötet. Daddy ist in meinem Selbst eingepflanzt.“ (ebd., S. 110)

Kogan berichtet, dass den Kindern durch Erzählen oder Agieren seitens ihrer Eltern Andeutungen von deren Erlebnisse während des Holocaust vermittelt wurden (die meisten Eltern hatten nie mit ihren Kindern bewusst über ihre Erlebnisse gesprochen; es herrschte meist ein „Pakt des Schweigens“). Die Träume und Phantasien (und auch der Übergang dieser in die Realität) der PatientInnen kommen also nicht auf Grund irgendeiner physischen oder gar „metaphysischen“ Vererbung zu Stande, sondern wurden unterbewusst vermittelt. Kogan beschreibt, wie die massive Traumatisierung der Eltern und das Verleugnen dieser Erlebnisse bei den Kindern der Überlebenden deutliche Spuren hinterlassen: „Diese Kinder versuchen in endlosen Bemühungen das, was die Eltern erlebten, durch Wiederholung der elterlichen Erfahrungen samt ihrer Begleitaffekte im eigenen Leben erfahrbar zu machen.“ ebd., S. 147)

Das von den Eltern Abgewehrte drängt oftmals auf Wiederkehr im Lebensvollzug des Kindes und gefährdet die Entfaltung des authentisch eigenen Lebensplans des Kindes, was Bründl (1998) [1] auch bzgl. der Weitergabe von Fluchttraumata des 2. Weltkriegs nachweist: „Die Abhängigkeit der Kinder von ihren Eltern lässt die Kinder bewusste und unbewusste Seins- und Handlungsweisen der Eltern übernehmen. Damit werden Kinder auch unwissentlich Vermittler von lebensgeschichtlichen Erfahrungen der Eltern an die nachfolgenden Generationen, die die Eltern den Kindern wissentlich oder unwissentlich verschwiegen haben.“ (Bründl, 1998, S. 98)

Es wird außerdem – um wieder zu den Nachkommen der Holocaustüberlebenden zurück zu kommen - auch deutlich, wie sehr die Kinder darunter leiden, dass ihre Eltern leiden. Eine Patientin sagte: „Wo kommen meine schwarzen Gefühle her? Ich weiß, dass sie von meiner Mutter kommen. Nicht wegen ihrer Krankheit, sondern wegen des Krieges, den sie durchmachte. Sie übertrug ihre Depressionen auf mich, ständig war ihr trauriges Gesicht vor mir, das Gefühl des Unglücklichseins, die stille Verzweiflung.“ (Kogan, 1998, S. 50)
Und eine andere Patientin sagte: “Meine ganze Kindheit stand unter dem Einfluss einer Vergangenheit, die nicht meine eigene war (…)“ (ebd., S. 75)

Das (unverarbeitete) Trauma der Eltern wirkte in deren Kindern fort. Kogan schreibt: „Häufig wurde das Kind von den Eltern unbewusst als „Container“ für ihr fragmentiertes Selbst und ihr Leid benutzt. Somit ist die Wahrnehmung der Gegenwart durch die Hüllen einer Vergangenheit deformiert, die nicht ihre eigene ist, sondern ihnen auferlegt wurde. Ihr Verhalten gehorcht einem Zwang, der ihnen nicht bewusst ist und der sie dazu verleitet, in einem überheizten Zimmer ein kleines Kätzchen zu töten, einen Unfall herbeizuführen, bei dem ein Kind stirbt, einen Vater zu verletzen, der bei einem Selbstmord zu Hilfe eilt. (…) Das Unbewusste dieser Patienten, das belagert, überfallen und besetzt wurde, beginnt nun [zuweilen] seinerseits zu töten, zu verletzen und zu verstümmeln. Meist wendet es sich jedoch gegen die Subjekte selbst. Beziehungen fallen auseinander, Liebe wird unmöglich, Glück ist verboten. Das Dunkel der polnischen Wälder bricht über die Söhne und Töchter der Überlebenden herein. Noch immer bringen die Stacheldrahtzäune den elektrischen Tod, wird ein Familienschlafzimmer zur Gaskammer. (…)“ (ebd., S. 16)

Kogan beschreibt mögliche Muster des Traumas, das von der einen Generation auf die andere übertragen wird.
1. Traumatisierung durch den Verlust des eigenständigen Selbstgefühls des Kindes (dazu sind oben einige Andeutungen zu finden)
2. Traumatisierung durch die Benutzung des Kindes als „Lebensretter“. oder auch als Werkzeug zur Wiederholung des elterlichen Traumas
3. Im-Stich-Lassen des Kindes oder auch emotionale Unzulänglichkeit des Elternteils als Traumatisierung.
4. Das Kind wird traumatisiert, weil ihm die Möglichkeit der Hoffnung und der Zukunft genommen wird. Die traumatische Botschaft an das Kind lautet: Die Welt ist ein böser Ort, voller Schmerz und Leid, ohne Hoffnung und Zukunft.
5. Traumatisierung in der Phantasie. Dieser Vorgang tritt ein, wenn das Kind in seinen endlosen Bemühungen, den Elternteil zu verstehen und ihn dadurch zu helfen, die Erlebnisse dieses Elternteils mitsamt ihren Begleitaffekten in der Phantasie nachzuerleben versucht. (ebd., S. 57ff + S. 245)

In der Nachbemerkung zum Buch heißt es, dass viele Kinder der Überlebenden auf Grund der Geschichte ihrer Eltern selbst zu Überlebenden geworden sind. Sie sind „Protagonisten im Drama ihrer Eltern.“ Kogan meint allerdings auch, dass in den Fällen, wo es den Eltern gelungen ist, Trauer- und Schuldgefühle über ihre traumatische Vergangenheit durchzuarbeiten und ihre Lebensgeschichte den Kindern auf eine gesunde Weise zu vermitteln, „die Kinder viel weniger dazu neigen, in ihrer psychischen Realität ein „psychisches Loch“ zu erleben.“ (ebd., S. 253) Hier liegt ein wichtiger Hinweis zum Schlüssel dafür, wie die Weitergabe von Destruktivität an nachfolgende Generationen unterbunden werden kann.
Mir fiel beim Lesen der Forschung über die Kinder der Holocaust-Überlebenden auf, wie sich hier erneut das Konzept wiederfindet, das Arno Gruen stets beschreibt: Die Entwicklung eines authentischen Selbst der Kinder der Überlebenden wurde unmöglich gemacht, sie wurden viel mehr durch „das Fremde“, durch die Erlebnisse und das Trauma ihrer Eltern bestimmt. Für die Kinder war letztlich gar kein Raum mehr da, dieser wurde gänzlich von der Vergangenheit ausgefüllt. Dies erzeugte eine enorme Destruktivität in ihrem eigenen Leben (und auch wiederum in ihren Familien), die nur durch eine therapeutische Bearbeitung überwunden werden konnte. Das Beispiel „Kinder von Holocaustüberlebenden“ ist sicherlich ein Extrembeispiel. Es verdeutlicht allerdings die Weitergabe von Destruktivität an nachfolgende Generationen und es macht auch sehr deutlich, dass es den für Kinder verantwortlichen Erwachsenen gut gehen muss, damit es auch ihren Kindern gut gehen kann.

Was für Folgen mag das Trauma Krieg oder konkret bzgl. der jüngsten europäischen Geschichte der 2. Weltkrieg für die nachfolgenden Generationen gehabt haben? Es scheint auf den ersten Blick eine „Black Box“ zu sein. Doch irgendwie bekommt man eine Ahnung davon, dass sich dergleichen Erfahrungen und Erlebnisse der Kriegsgeneration nicht einfach in Luft auflösen und auf die ein oder andere Art ihre Schatten warfen und vielleicht auch weiterhin werfen.



[1] Bründl (1998) beschreibt in seinem Beitrag an Hand eines Fallbeispiels die psychischen Probleme von Kindern, deren Eltern ein Fluchttrauma erlitten haben.
Dazu möchte ich eine Information anmerken:
Etwa 14 Millionen Deutsche sind während des 2.Weltkrieges vertrieben worden. Ca. zwei Millionen von ihnen kamen während der Flucht und Vertreibung um. In den 50erJahren war jeder fünfte Bundesbürger ein Flüchtling oder Vertriebener. (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004b, S. 156)



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9. Der gesellschaftstheoretische „Hamburger Ansatz“ der Kriegsursachenforschung und die fehlende Verknüpfung mit der Psychohistorie


Destruktive Kindheitserfahrungen sind wie gezeigt wichtige Einflussfaktoren auf eigenes destruktives Verhalten von Männern und Frauen und wirken auf die Gesellschaft als Ganzes. Ich betrachte dies als „Wurzel des Übels“ und insofern nicht als monokausale Ursache für Krieg. Der sogenannte „Hamburger Ansatz“ der „Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung“ (AKUF) bietet aktuell einen sehr anspruchsvollen gesellschaftstheoretischen Erklärungsrahmen für das Kriegsgeschehen (siehe ausführlich bei Jung / Schlichte / Siegelberg (2003); ergänzend Homepage der AKUF http://www.akuf.de) und hat den selbstbewussten Anspruch, dieses im Grundsatz zu beschreiben.
Weltweit ist ein unabgeschlossener kapitalistischer Transformationsprozess traditional strukturierte Lebenswelten (Zerfall traditionaler Vergesellschaftungsformen und ein andauernder sozialer Wandel) hin zu einer (modernen) kapitalistischen Weltgesellschaft zu beobachten, der einhergeht mit (sozialen) Widersprüchen, Gegensätzen und Konflikten. Dieser Transformationsprozess betrifft alle erdenklichen Bereiche wie z.B. zwischenmenschliche Beziehungen, materielle Produktionsweisen, Geschlechtsrollen, Familie, Kunst, Religion, Politik usw. und er bildet die Grundlage für erhebliche Konflikte. Ein wesentlicher (ggf. destruktiv wirkender) Konflikt – z.B. Konflikte um die Grenzziehung zwischen weltlichem und religiösem Geltungsbereich - ist dabei das in- und nebeneinander von alt und neu (im einzelnen Menschen wie auch in der Gesellschaft und zwischen verschiedenen Gesellschaften), von traditionalen und modernen Vergesellschaftungsformen (im „Hamburger Ansatz“ heißt dies dann „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, siehe auch ausführlich Conrad (2002) ). (Als bildliches, zugegeben sehr reduziertes, aber verständlich machendes Beispiel stelle ich mir dabei z.B. ganz einfach eine Stadt in Afrika oder Asien vor, in der eine verschleierte Frau traditionell hinter ihrem Mann gehend an einem Coca Cola Schild im Hintergrund und einer jungen, modern gekleideten unverschleierten Frau vorbeigeht und dabei mit einem Handy telefoniert. Dieses in- und nebeneinander von alt und neu in einer Gesellschaft, aber auch über Grenzen hinweg ist es, was hier in diesem Konzept u.a. angesprochen ist. Mögliche gesellschaftliche Reibungspunkte werden hier deutlich)
Solche Spannungen auf Grund beschriebener Widersprüche treffen auf Entwicklungsgesellschaften in großem Maße zu, können aber durchaus auch innerhalb der weitgehend neuzeitlichmodernen Gesellschaften des Westens vorgefunden werden. (vgl. Conrad, 2002, S.23)
Beispiele für die mögliche Wirkungsweise solcher Spannungen sind Rückgriffe auf religiöse, ethnische, sprachliche oder regional vermittelte Identitäten, die als Widerstand gegen das Neue, gegen die Moderne herhalten und damit einhergehend Traditionalismus, Fundamentalismus, Rassismus und tendenziell Gewalt fördern können.

Diese gesellschaftlichen Transformationsprozesse allein sind als Erklärungsmuster für kriegerisches Handeln allerdings nicht ausreichend. „Denn sie geben noch keinen Aufschluss über die subjektiven Gründe des konfliktiven Handelns der Akteure. Diese Kernfrage der Kriegsursachenforschung, wie nämlich die im globalen Vergesellschaftungsprozess induzierten Widersprüche auf Seiten der Akteure mit Ideen und Weltbildern verknüpft werden, kann nur auf der Grundlage des Analysekonzeptes »Grammatik des Krieges« beantwortet werden. Die »Grammatik des Krieges« zerlegt den kriegsursächlichen Prozess in die vier systematischen Analyseebenen: Widerspruch – Krise – Konflikt – Krieg.“ (Schneider / Schreiber / Wilke, 1997)
Die Wiederspruchebenen habe ich oben bereits kurz dargestellt, diese kennzeichnen den strukturellen Hintergrund bzw. objektive Gründe für das Handeln von Akteuren. Diese Wiedersprüche können – laut „Hamburger Ansatz“ - nur kriegsursächlich werden, „wenn sie auf der Ebene Krise einen Anknüpfungspunkt in den Weltbildern und Ideen der Akteure finden und ein Umschlag von Objektivität in Subjektivität erfolgt.“ (ebd.) Oder übersetzt: Gesellschaftliche Wiedersprüche müssen bei den Menschen auch zu einer (inneren) Krise führen bzw. subjektiv als Krise wahrgenommen werden, damit die „Grammatik des Krieges“ ins Rollen kommt und auf der Ebene „Konflikt“ dann letztlich das „Verhalten“ dazukommt. Es kommt auf dieser Verhaltensebene (Eskalationsprozess).dann zu Protesten, Auseinandersetzungen, gewalttätigen Zusammenstößen usw. (Oftmals eine Art Gegenbewegungen bezogen auf zukünftig gefürchtete Modernisierungsprozesse) Auf der Kriegsebene schließlich verselbständigt sich nach diesem Konzept allmählich die Gewalt und wird schließlich selbst zu ihrer Ursache (Krieg wird ggf. zum Selbstzweck). Oftmals verschwimmen in der Realität die Ränder dieser vier Stadien, die sich somit nicht einwandfrei unterscheiden lassen.

Es ist – wie bereits beschrieben - die Grundthese des Hamburger Ansatzes, dass die zeitgenössischen Kriege aus dem konfliktiven Aufeinandertreffen von traditionalen und modernen Sozialformen zu erklären sind bzw. dass dies getreu der „Grammatik des Krieges“ zu (sozialen und letztlich individuellen) Krisen führt, die sich auf die Gesellschaft ausweiten können.
Traditionsbrüche hatten und haben für viele Menschen in der Tat tiefgreifende Konflikte, Desorientierungen und Sinnleere zur Folge. Bzgl. des Modernisierungsprozesses im 19. Jahrhundert bis vor dem ersten Weltkrieg spricht de Visser (1997) beispielsweise davon, dass Individuen zurückblieben, die es nicht gewohnt waren, selbstständig über den Sinn ihrer Existenz nachzudenken, und die es deshalb nicht aushalten konnten, ein Individuum zu sein. Eine neue Sinnstiftung musste her, insbesondere wenn der Zerfall traditioneller Orientierungen nicht als Chance sondern als Bedrohung angesehen wurde. Eine (ideologische) Weltanschauung - de Visser bezieht sich vor allem auf die NS-Zeit - , die ein geschlossenes Gesamtbild von Welt (wieder)herstellt, versprach dem Einzelnen, bestehende Konflikte und Spannungen abzubauen und hatte somit eine entlastende Funktion. Der Verehrung der Kriegsidee (sowie auch Antisemitismus und Rassismus) kommt in diesem Rahmen nach de Visser eine große Bedeutung zu. (vgl. de Visser, 1997, S. 61ff)
Der „Hamburger Ansatz“ beschreibt sehr gut und systematisch o.g. gesellschaftliche Prozesse und ist auch empirisch gut abgesichert. Spannend ist, dass die ForscherInnen hier eine wahre und überall in der Welt zu beobachtende „Dynamik“ kennzeichnen, dabei aber eben diese Dynamik als Ursache von Krieg meinen erkannt zu haben. Diese Theorie unterstellt meinem Verständnis nach also, dass die krisenhafte und schließlich kriegerische Reaktion auf Konflikte und Wiedersprüche so man will „menschlich“ ist bzw. sie geht nicht weiter in die (psychologische) Tiefe. Die „Grammatik des Krieges“ soll die Entstehung von kriegerischem Verhalten auch auf der subjektiven Ebene erklären und die Theorie „rund machen“. Ich empfinde den „Hamburger Ansatz“ allerdings als unvollständig. Gerade in der Frage: Warum handelt der Einzelne unter bestimmten gespannten gesellschaftlichen Verhältnissen kriegerisch? bieten psychoanalytische Erklärungsansätze in Zusammengang von (kindlichen) Gewalterfahrungen wesentliche, grundlegende Erkenntnisse. Beim Umschlag von „Objektivität in Subjektivität“ (siehe oben) ist die Schnittstelle zwischen Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse zu finden, so meine ich.

Wie oben gezeigt reduziert sich die Identität des Kindes durch die erzwungene Anpassung an äußere Umstände und die Identifikation mit den (destruktiven) Eltern, was zunächst das seelische Überleben des Kindes sichert. Wenn Identität eine grundlegende Konstellation von immanenten Persönlichkeitsmerkmalen ist, dann deuten diese Beobachtungen darauf hin, dass viele Menschen keine solche Identität besitzen und von einem inneren Fremdsein bestimmt sind. (vgl. Gruen, 2000).
Wenn ein gesellschaftlicher Rahmen auseinander fällt bzw. sich transformiert, wird eine Persönlichkeit, die aus äußeren sozialen Rollen, gesellschaftlichen Positionen, vorgefertigten (traditionellen) Identitätspaketen usw.[1] besteht in ihren Grundfesten erschüttert und der alte Terror der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins und der Scham tauchen wieder auf. Zusätzlich bringt Freiheit Angst mit sich, wenn Identität auf der Identifikation mit der Autorität basiert. Solche Menschen müssen dann, laut Gruen (2000), das Opfer in sich selber mit Gewalt gegen Andere verdecken. An anderer Stelle schreibt Arno Gruen passend: „Das auf Spaltung beruhende Selbst kann seinen Zusammenhalt nicht mehr bewahren, wenn es von sozialen Umwälzungen bedroht ist. Beginnt sich die soziale Struktur aufzulösen, bricht die unterdrückte Wut hervor. Dann offenbaren sich die mörderischen Impulse und das innere Chaos, die nur mittels eines äußeren „Feindes“ kanalisiert werden können.“ (Gruen, 1990, S. 114)
Untersuchungen zur „Autoritären Persönlichkeit“ weisen zusätzlich nach, dass entsprechend geprägte Menschen nicht in der Lage sind, sich unabhängig von externen Druck an elementaren moralischen Standards zu orientieren. (vgl. Christel / Hopf, 1997, S. 32) Unter „externen Druck“ kann sicher auch die traditionelle Einbettung und entsprechende soziale Kontrolle von Individuen verstanden werden, die sich im modernen Transformationsprozess weiter auflöst und somit destruktive Potentiale freisetzt.
Ähnliches gilt bzgl. Untersuchungen über unsicher-gebundene Kinder, die im Vergleich zu sicher-gebundenen Kindern z.B. über geringere Empathie, geringeres Selbstwertgefühl und über geringere Ressourcen und Flexibilität bei der Bewältigung ihrer Umwelt und schwieriger Situationen verfügen. (ebd., S. 53ff) Diese Kinder werden vermutlich (auch in ihrem späteren Leben) tendenziell größere Probleme mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen haben und diese eher als eine Krise bzw. einen tiefgehenden Konflikt erleben und evtl. destruktiv darauf reagieren. Die gleichen Schlussfolgerungen ergeben folgende Informationen, wie ich meine: Studien zur Auswirkung von körperlicher Gewalt zeigen, dass misshandelte Kinder im Vergleich zu nicht-misshandelten Kindern ein niedrigeres Selbstbewusstsein besitzen, weniger soziale Kompetenz haben, geringere verbale und kognitive Fähigkeiten aufweisen und eine stärkere Gewaltbereitschaft zeigen (vgl. Melzer / Lenz./ Ackermann, 2002, S. 847)

Gewalterfahrungen innerhalb der Familie üben auch laut Schneider (1998) wesentliche Einflüsse auf die Entwicklung von Wertvorstellungen beim Kind aus. Sie stehen in Beziehung zu der Bejahung des Einsatzes von Gewalt als Mittel der Problemlösung im Erwachsenenalter. (vgl. Schneider, 1998, S 338) Auch hier findet sich weitergedacht also die Information, dass nicht die Probleme oder die Konflikte die entscheidenden Faktoren bei der Entstehung von Gewalt sind, sondern die kindlichen Vorerfahrungen eine wesentliche Rolle bei der Reaktion auf Probleme spielen. Schneider schreibt: „Die Familie, die Gewalt in der Kindererziehung einsetzt, wird (...) auf mannigfache Weise zum sozialen Trainingsfeld der Gewalt. Da Gewalt gegen Kinder ein außerordentlich weit verbreitetes Phänomen darstellt, ist zu befürchten, dass sie über die von dem einzelnen erlernten Werte das gesamtgesellschaftliche Wertgefüge zugunsten einer Befürwortung eines wie auch immer begrenzten oder unbegrenzten Einsatzes von Gewalt beeinflusst.“ (ebd., S. 338)
Van der Kolk & Streeck-Fischer (2002) stellen fest: „Wenn Kinder traumatisiert werden, konstruieren sie eine katastrophische „Landkarte“ von der Welt, in der Unterschiede und Probleme nicht durch Aushandeln, sondern durch Gewaltanwendung oder Unterwerfung gelöst werden. Die Sicherheit der frühen Beziehungen bestimmt also die Anpassung eines Kindes an spätere Herausforderungen der Umgebung und prägt den künftigen Umgang mit Belastungen nachhaltig.“ (Van der Kolk & Streeck-Fischer, 2002, S. 1024)
Die Konfrontation mit Gewalt wirkt sich auf die Informationsverarbeitung des Kindes und seine Interpretation künftiger bedrohlicher Erfahrungen aus. Eine Kampf-oder-Flucht-Reaktion ist laut den genannten AutorInnen bei traumatisierten Kindern oft ein „automatischer Reflex“ auf bedrohliche oder unklare Situationen (dies gilt insbesondere für Menschen ohne sonstige Ressourcen und wenn das Trauma nicht therapeutisch bearbeitet und verarbeitet wurde), die mit einer Erinnerung an ein frühes Trauma verbunden sind. (ebd., S. 1025ff + S.1034ff) „Viele traumatisierte Menschen zeigen ein oberflächlich unauffälliges Verhalten, was aber nur bedeutet, dass sie eine oberflächliche Anpassung an ihre Umgebung erreicht haben, die solange funktioniert, wie sie nicht emotional erregt werden; sobald sie sich bedroht fühlen, bricht diese Anpassung zusammen. Diese Unterscheidungen sind wichtig für die Untersuchung von Gruppenprozessen in Schulen und Einrichtungen sowie bei gewalttätigen Jugendlichen wie z.B. Jugendbanden.“ (ebd., S. 1029)
Diese Prozesse werden von o.g. AutorInnen nur auf kleinere Gruppen übertragen. Gesellschaftliche Transformationsprozesse und entsprechende Widersprüche (Hamburger Ansatz), die in größeren Zusammenhängen stehen, können meiner Auffassung nach auch als „bedrohliche und unklare Situationen“ aufgefasst werden, sie bringen Erinnerungen an Ohnmacht, Hilflosigkeit und Vernichtungsangst mit sich. Erwachsene, die sich als Kinder sicher fühlen konnten und durften, deren Entwicklung freundlich gefördert wurde, die ein Vertrauen in die Welt aufbauen konnten, die lernen konnten, dass schwierige Situationen zu meistern und zu bewältigen sind usw. werden auch später mit schwierigen gesellschaftlichen Situationen besser zurechtkommen und unwahrscheinlicher mit Gewalt und Destruktivität darauf reagieren.[2]

Sehr interessant sind auch Überlegungen von deMause (2005), der von einer (individuellen und kollektiven) „Wachstumspanik“ ausgeht, die auf Grund früher Traumatisierungen und destruktiver Erziehung entsteht.(vgl. deMause, 2005, S. 72ff + 96ff) Gesellschaftliche Veränderungen, Erhöhung des Wohlstandes, wirtschaftlicher Erfolg usw. ermöglichen den Menschen einen Zuwachs an Möglichkeiten der individuellen Lebensführung. Gerade der Eigensinn und der individuelle Wille vieler Kinder wurde aber einst durch destruktive Eltern stark beschränkt oder oftmals mit Gewalt ganz unterbunden. Freies Wachstum wurde nicht toleriert. Destruktive Eltern beschimpfen ihre Kinder und werfen ihnen z.B. vor, „verwöhnt“, „gierig“, „sündig“, „selbstsüchtig“, „undankbar“, „unanständig“ und „außer Kontrolle“ zu sein (wenn diese ganz normale kindliche Bedürfnisse zeigen und in ihrer Entwicklung fortschreiten, die Kinder selbstständiger werden wollen usw.) und rechtfertigen so Bestrafungen und Liebesentzug. Dadurch entstehen bei den Einzelnen und dann letztlich auch bei Gruppen u.a. Fantasien wie: „Wenn ich wachse und mich vergnüge, wird etwas schreckliches passieren.“ oder „Wenn wir wachsen, werden wir nie das sein, was Mami und Papi wollen, das wir sein sollten, und wir werden ihre Liebe niemals bekommen.“ Es entstehen Ängste des Verlassenwerdens. Der voranschreitende gesellschaftliche Fortschritt und Wandel baut einen unerbittlichen Druck auf, „und es fließen Erinnerungen an Erniedrigungen in der Kindheit zurück ins Bewusstsein, während die umhertreibenden Ängste auf externe Giftcontainer warten.“ (ebd., S. 103). Grundsätzlich gilt nach deMause: „Je primitiver der dominante Kindererziehungsmodus einer Gesellschaft, umso mehr muss Wachstumsangst abgewehrt werden.“ (ebd., S. 98) Eine Form der Abwehr ist das Finden von Feinden und Sündenböcken (als „Giftcontainer“). Diese „Feinde“ können im Inneren – Minderheiten, Kriminelle, Frauen, Kinder usw. – oder nach Außen hin gesucht werden.[3] Das Finden von Feinden im Inneren gelingt mit zunehmenden sozialen Forschritt (nach deMause vor allem ausgelöst durch „entwickeltere Psychoklassen“, die eine fortschrittlichere Kindheit genießen duften) allerdings immer weniger. „(...) Alte Formen der Abwehr stehen nicht mehr zur Verfügung, und die Menschen können diverse Sündenböcke nicht mehr in der gleichen Art wie zuvor dominieren und bestrafen – Ehefrauen, Sklaven, Dienstboten, Minderheiten. Die weniger fortschrittlichen Psychoklassen – die Mehrheit der Gesellschaft – beginnen eine enorme Wachstumspanik zu erleben, und neue Wege müssen gefunden werden, mit diesen Ängsten umzugehen. Für sie findet überall Veränderung statt; die Dinge scheinen außer Kontrolle zu geraten. (...)“ (ebd., S. 96ff)
Die Abwehr wird dann – nach deMause - an die Führer eines Volkes delegiert (vor allem bzgl. äußerer „Feinde“), diese nehmen intuitiv wahr (besonders, wenn sie selbst eine destruktive Erziehung durchlebt haben), dass sie „Gegengifte gegen Wachstumspanik“ bereitstellen sollen. „Es ist die primäre Aufgabe eines Führers, die kollektiven emotionalen Probleme seines Volkes zu verkörpern und zu versuchen, diese aufzulösen.“ (ebd., S. 101) Wenn sich eine äußere Nation entsprechend auf Provokationen einlässt, die Rolle des „Feindes“ bereitwillig annimmt, Demütigungen gegen die eigene Nation ausspricht (so wie man als Kind von den Eltern gedemütigt wurde) usw. (deMause beschreibt z.B. wie der Irak zum „äußern Feind“ der USA wurde und Politiker diesen Weg beförderten, um die „Wachstumspanik“ der Amerikaner abzuwehren) kommt es ggf. zum Krieg (und vorher schon zu einer enormen Erleichterung: „Aha! Ich wusste, der Feind war real und nicht nur in meinem Kopf.“). Krieg ist demnach ein Opferritual, „dazu bestimmt, Angst vor Individuation und Verlassenwerden abzuwehren, indem unsere frühen Traumata an Sündenböcken wiederaufgeführt werden.“ (ebd., S. 65)

Spannend sind hier auch weitere Parallelen, die letztlich nur unterschiedlich gedeutet werden, zwischen deMause (Psychohistorie) und dem „Hamburger Ansatz“. Auch deMause spricht von „Ungleichzeitigkeit“, allerdings vor allem in Bezug auf verschiedene Kindererziehungspraktiken und in Folge dieser bzgl. verschiedener „Psychoklassen“. (An dieser Stelle sei auch an Kapitel 2. erinnert, in dem deutlich wurde, dass es erhebliche Unterschiede zwischen den Erziehungspraktiken im Westen und denen in traditionelleren Gesellschaften gibt) Die wesentliche (politische/gesellschaftliche) Konfliktlinie liegt hier zwischen definierten „Psychoklassen“, die sich gewaltig voneinander unterscheiden, die ganz andere Wertesysteme und eine andere Sicht auf Freiheit besitzen usw. Bei den „Hamburgern“ ist es außerdem vor allem der „kapitalistische Transformationsprozess“, der im Zentrum ihrer Sicht steht und für gesellschaftliche Veränderungen verantwortlich sei. Bei deMause ist die Kindheit der zentrale Fokus für psychische und soziale Evolution Im „Hamburger Ansatz“ heißt es schließlich, dass die benannte Theorie mit fortschreitender Zeit auch immer mehr zutreffen würde. Bei deMause ließt sich dies dann so: „Der Großteil der Welt ist immer noch am Sprung in die Moderne, wird gerade erst frei, demokratisch und wohlhabend, ist aber hinsichtlich Kindererziehung noch nicht modern – insofern durchlaufen diese Nationen nun den gleichen schweren Wachstumspanikprozess, den Deutschland in der Mitte des 20. Jahrhunderts durchmachte. Wir können deshalb in den kommenden Jahrzehnten höhere Todesraten durch Krieg und Demozid in den sich entwickelnden Ländern erwarten.“ (ebd., S. 164ff)

Der bekannte und viel diskutierte „Hamburger Ansatz“ könnte um diese o.g. „Wurzeln“ ergänzt werden, um dann einen komplexeren Erklärungsrahmen für das aktuelle Kriegsgeschehen abliefern zu können. Der kriegerische Umgang mit Konflikten und Krisen ist meiner Ansicht nach nicht „typisch menschlich“ oder mögliche Konsequenz einer entsprechenden gesellschaftlichen Dynamik, sondern ein wesentliches Produkt der destruktiven Erziehung und den Verfehlungen und Versäumnissen in selbiger. Bildlich gesprochen beschreibt nach meinem Empfinden der „Hamburger Ansatz“ in seiner jetzigen Form nur den Zündfunken, der alles zur Explosion bringt. Das Dynamit (die destruktive Kindheitsgeschichte) übersieht er gänzlich. Zündfunken wird es in unserer Welt allerdings immer geben. Entscheidender ist, dass wir das Dynamit beseitigen. Unter langfristig präventiven Aspekten gesehen meine ich, - um auf das alte Bild zurück zu kommen -, dass nur Pflanzen mit „gesunden Wurzeln“ auch weniger anfällig für „schlechte Umweltbedingungen“ sind.



[1] Das zentrale Kriterium für die Lebensbewältigung war in früheren (europäischen) Zeiten die Übernahme vorgefertigter (traditioneller) Identitätspakete. (vgl. Keupp, 1999) Keupp spricht bzgl. des Modernisierungsprozesses in Anlehnung an Giddens von gesellschaftliche Phasen, in denen die individuelle Lebensführung in einen stabilen kulturellen Rahmen von verlässlichen Traditionen "eingebettet" wird, der Sicherheit, Klarheit, aber auch hohe soziale Kontrolle vermittelt und es dagegen Perioden der "Entbettung" gebe (siehe auch Transformationsprozess im Hamburger Ansatz!), in denen die individuelle Lebensführung wenige kulturelle Korsettstangen nutzen kann bzw. von ihnen eingezwängt wird und eigene Optionen und Lösungswege gesucht werden müssen Viele Menschen würden dies (auch auf die heutige Zeit bezogen z.B. durch das Brüchigwerden der Identitätsbildung durch Erwerbsarbeit) als "ontologische Bodenlosigkeit" erleben bzw. sie erleben sich als Darsteller auf einer gesellschaftlichen Bühne, ohne dass ihnen fertige Drehbücher geliefert würden. Ohne die erforderlichen materiellen, sozialen und psychischen Ressourcen würde die gesellschaftliche Notwendigkeit und Norm der Selbstgestaltung zu einer schwer erträglichen Aufgabe, der man sich gerne entziehen möchte.

[2] Häufig wird bzgl. dem Entstehen von Gewalt und auch Rechtsextremismus als Ursache Arbeitslosigkeit, Armut und sozial schwierige Situationen genannt. Die im Text genannten Erkenntnisse weisen auch hier darauf hin, dass dieser Ansatz letztlich zu oberflächlich ist und um psychoanalytische Ansätze ergänzt werden müsste. Demnach wäre auch hier die Arbeitslosigkeit nur der Zündfunke, der die Gewalt zum Explodieren bringt. Dazu auch ein Zitat aus einer Schweizer Studie zur Entstehung von Rechtsextremismus, die sogar ökonomische Einflussfaktoren nahezu ausschließt: „Thomas Gabriel hält fest, dass die Jugendlichen und ihre Familien nicht als «Modernisierungsverlierer» bezeichnet werden können, also entgegen den Behauptungen bisheriger Forschungen keine Opfer von ökonomischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen seien. In den 26 untersuchten Fällen lasse sich ein hohes Mass an «Normalität» der Lebensentwürfe und - welten nachweisen. Hingegen spielten häusliche Gewalt und die Folgen von Konflikten im sozialen Nahraum eine wichtige Rolle, insbesondere dann, wenn sie für die Heranwachsenden mit Misshandlungs- und Ohnmachtserfahrungen verbunden seien.“ (Schweizer Nattonalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, 2008)

[3] Eine andere Form der Abwehr ist nach deMause die „Interne-Opfer-Lösung“ z.B. in Form einer Revolution oder einer ökonomischen Depression und Rezession, die unbewusst von den Menschen selbst herbeigeführt wird, um das Wachstum und damit verbundene Ängste abzuschwächen.



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