Mittwoch, 25. April 2012

Geheimdienst weiß um die Kindheiten von Diktatoren


Jerrold M. Post war Chef der psychologischen Abteilung des C.I.A. und analysierte das Seelenleben der Diktatoren. (merkwürdigerweise gibt es kein Wikipedia Eintrag über Post). In einem NEON-Interview aus dem Jahr 2004 sagte er: „Männer wie Hussein, Bin Laden oder Kim Jong II schleppen ihre psychischen Störungen seit der Kindheit mit sich herum. (…) ein weit verbreitetes Problem bei Diktatoren und anderen Fieslingen: eine traumatische Kindheit. (…) Wir bekamen Unterlagen von den Geheimdiensten, werteten Biografien und Artikel aus, führten tausende Interviews mit Leuten, die den jeweiligen Führern begegnet waren. So erstellten wir Psychogramme.

Post ist mir von seiner Art und dem ersten Eindruck her nicht wirklich sympathisch, aber das nur nebenbei. Der US- Geheimdienst weiß also um die psychische Lage und die Kindheiten von Diktatoren. Zumindest steht das Wissen zur Verfügung. Das alles ist natürlich nicht wirklich geheim. Man könnte genausogut auch in den nächsten Buchladen gehen und sich Bücher von Lloyd deMause oder Alice Miller kaufen, man käme zu den selbigen Schlussfolgerungen. Der US-Geheimdienst hat sicherlich nicht ein Interesse an diesen Dingen, um daraufhin Kinderschutzprogramme zu starten oder die Welt zu verbessern, sondern um psychologisches Wissen für politische Zwecke zu miss… äh gebrauchen und sich Vorteile zu verschaffen.

Das Problem ist letztlich also nicht das fehlende Wissen um die tieferen psychischen Abgründe, sondern der mangelnde Wille, auf Grund dieses Wissens weitgehende Präventionsprogramme zu starten. Das Magazin „NEON“ als Ableger vom Stern ist ja auch ein sehr kleines Magazin und ein Interview ist eh nur ein Interview. Diese Dinge und Zusammenhänge müssten eine größere mediale Bühne bekommen und eine wochenlange Mediendiskussion (ähnlich wie z.B. nach den Skandalen um den Missbrauch in Kirchen) auslösen, um zum Einen ein öffentliches Bewusstsein zu schaffen und zum Anderen den politischen Druck zu erzeugen, der notwendig ist, um Maßnahmen und Präventionsprogramme zu starten. Auf diese Mediendiskussion warte ich schon lange, ich bin aber sicher, dass sie irgendwann kommen wird. Und dabei wird nicht nur auf die Kindheiten von Diktatoren einzugehen sein, sondern auch auf die (vor allem auch im historischen Rückblick) traumatisierten Massen, die diese Diktatoren stützten oder sich ohnmächtig unterwarfen, mitliefen, schwiegen, aushielten.

Samstag, 21. April 2012

Von der Notwendigkeit der emotionalen Abrüstung

Im aktuellen „Amnesty Journal“ (04/05 2012) ist das Thema Waffenhandel Titelthema („Für eine kugelsichere Waffenkontrolle“). Waffenkontrollen sind in der Tat wichtig und da Deutschland der drittgrößte Waffenexporteur ist, müssen vor allem auch wir Deutschen da genau hinschauen und für bessere Kontrollen oder bestenfalls ein komplettes Verbot von Waffenexporten einstehen. Wer keine Waffen hat, wird diese auch nicht einsetzen können. Insofern schützen Waffenhandelskontrollen evtl. in der Tat ein Stück weit Menschenleben. Aber: Der Mensch, der den Waffeneinsatz befiehlt und der Mensch, der in zivilen und politischen Konflikten mit ihnen tötet, muss vor allem eines sein: Emotional bewaffnet.

Der AI Bericht regte mich insofern dazu an, diesen erdachten Begriff - „emotionale Bewaffnung“ - etwas weiter zu besprechen, denn er bringt vieles auf den Punkt. Ich werde zukünftig öfter diesen Begriff benutzen und mich dann auf diesen Text beziehen. Einen Satz im Amnesty Journal auf Seite 23 möchte ich zunächst einmal zitieren:
"Systematische Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen, Mord, Vergewaltigungen und schwerwiegende Verletzungen sind seit Jahren die fatale Folge eines unverantwortlichen und häufig unkontrollierten weltweiten Rüstungshandels."
Dieser Satz blendet komplett den handelnden Akteur und dessen emotionale Lage aus. Insofern tausche ich hier einmal das Wort „Rüstungshandel“ in meinem Sinne aus:
„Systematische Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen, Mord, Vergewaltigungen und schwerwiegende Verletzungen sind seit Jahren die fatale Folge der weltweit extrem weit verbreiteten Misshandlung von Kindern und deren emotionaler Aufrüstung.“
Der Begriff der „emotionalen Bewaffnung“ ist insofern auch besonders gut geeignet, das Thema zu besprechen, weil eine „Bewaffnung“ nicht automatisch auch einen „Waffeneinsatz“ bedeutet. Die „emotionale Bewaffnung“ sind dabei alle Gefühle von Hass, Wut, Rache, Ohnmacht, Ekel usw. aber auch Empathie, die ein misshandeltes Kind abspalten muss, um psychisch und physisch zu überleben. (siehe dazu z.B. Arbeiten von Arno Gruen, vor allem das Buch „Der Fremde in uns“) Diese abgespaltene Ecke in der Psyche des später erwachsenen Menschen, in der all die kindlichen Ohnmachtserfahrungen versteckt wurden, ist das eigentlich potentiell gefährliche.

Ein emotional reifer Mensch, der keinerlei Gefühle als Kind abspalten musste, weil er Liebe und Fürsorge und keine elterliche Gewalt erfahren hat, ist dagegen gänzlich „emotional unbewaffnet“ (was nicht heißt, dass er nicht aggressiv werden kann, was allerdings eine andere Kategorie als Gewalt und Mord darstellt). Man kann ihm real ein Messer, ein Gewehr oder sonst eine Waffe in die Hand drücken, man kann ihm mit der „Waffe“ Ideologie kommen, er wird sie nicht nutzten, um Macht der Macht willen zu gewinnen, um andere zu quälen, gezielt zu unterdrücken oder um Menschen sonst etwas Grausames anzutun. Auch der als Kind misshandelte und somit emotional bewaffnete Mensch wird logischerweise nicht automatisch zum Gewalttäter und Mörder, wenn er eine reale Waffe in der Hand hält oder ideologisch angegangen wird. Ein solcher Mensch kann sogar sein ganzes Leben lang nicht eine einzige Straf- oder Gewalttat vollbringen oder auch menschenfreundlich handeln. Das ist nicht der Punkt. Aber, er ist unter Umständen – wenn er gereizt und emotional erregt wird, unter gesellschaftlich schwierigen Bedingungen, unter der Kuppel einer um sich greifenden Ideologie, durch Manipulation und Einflussnahme durch Autoritäten, begünstigt durch Gruppenprozesse usw. - in der Lage, diese „emotionale Bewaffnung“ zu nutzen, da er in sein abgespaltenes Alter Ego wechseln kann, in dem es keine Gefühle und kein Mitgefühl gibt, sondern nur das Funktionieren, den Terror, Hass und Freund-/Feindschemata.

Die emotionale Bewaffnung, die in der Kindheit durch meist elterliche Gewalt beginnt und sich lebenslang auswirkt, ist das eigentliche Problem der Menschheit. Je mehr Gewalt als Kind erlebt wurde und je schwerer die Formen der Gewalt waren, desto emotional aufgerüsteter ist der einzelne Mensch (und so mancher, der voller Ohnmachts- und Gewalterfahrungen ist, wird ggf. auch gezielt nach realen Waffen und „Gründen“ zur Bekämpfung anderer Menschen suchen). Darum plädiere ich in diesem Blog immer wieder für eine „emotionale Entwaffnung“, für ein weltweites, umfassendes Kinderschutzprogramm (was immer auch ein Elternförderungsprogramm sein muss), in das alle erdenklichen Ressourcen gesteckt werden. Aber auch Psychotherapie kann emotional entwaffnen (sofern der einzelne Mensch diese Angebote nutzen möchte), insofern müssen weltweit parallel zum Kinderschutz viele Mittel in die psychosozialen und therapeutischen Betreuungsangebote gesteckt werden. Die internationale Gemeinschaft müsste also einen umfassenden Plan zur emotionalen Abrüstung erstellen. Die Mittel wären alle mal besser in diesem Sinne angelegt, als in realer Waffenaufrüstung und in Militärausgaben. Wir befinden uns dabei bereits in einer sich beschleunigenden Phase der weltweiten emotionalen Abrüstung, da weltweit ein deutlicher Rückgang der Gewalt gegen Kinder zu verzeichnen ist. Dieser Rückgang der Gewalt gegen Kinder muss und kann allerdings noch erheblich beschleunigt werden. Auch wenn mir natürlich klar ist, dass mein kleiner Blog nur wenig erreicht, so tut es mir persönlich einfach gut, diese Zusammenhänge und Ziele auszusprechen..

Samstag, 14. April 2012

Gewalt gegen Kinder in Guatemala und El Salvador

Und ein Plädoyer für ein Kinderschutzprogramm zur emotionalen Entwaffnung.

Im aktuellen „amnesty journal“ wurde ich auf eine Statistik bzgl. der 30 gefährlichsten Länder der Welt aufmerksam. Diese Statistik ist noch etwas umfassender in der Originalquelle online zu sehen. Das gefährlichste Land der Welt ist momentan El Salvador, in dem über 60 Menschen auf 100.000 Einwohner pro Jahr durch Gewaltanwendung umkommen. (Beispiel: In Hamburg mit seinen ca. 1,8 Mio Einwohnern würde dies bedeuten, dass pro Jahr weit über 1080 Menschen ermordet würden. Laut Hamburger PKS sind 2011 real 39 Menschen getötet worden.) Insofern interessierte ich mich für die Situation der Kinder vor Ort. Nach ca. 5 Minuten Internetrecherche fand ich auch gleich eine Studie zum Gewaltaufkommen gegenüber Kindern in diesem Land und in Guatemala, das in der Rangliste auf dem 7. Platz der gefährlichsten Länder steht:
Speizer IS, Goodwin MM, Samandari G, Kim SY, Clyde M. Dimensions of child punishment in two Central American countries: Guatemala and El Salvador. Rev Panam Salud Publica. 2008;23(4):247–56.; http://www.scielosp.org/pdf/rpsp/v23n4/v23n4a04.pdf

In Guatemala (Befragung 2002) und El Salvador (Befragung 2002-2003) wurden 15 – 49 Jahre alte Frauen (Guatemala: 8.860; El Salvador: 9.430) und 15 – 59 Jahre alte Männer (Guatemala: 2.459; El Salvador: 1.255) repräsentativ und per Interview bzgl. Gewalterfahrungen in der Kindheit befragt. Dabei ging es nur um Gewalt und Bestrafungen, die durch Elternteile ausgeübt wurden, entsprechend fallen andere Gewaltkontexte z.B. in der Schule, in Heimen oder Gewalt durch andere Verwandte raus.

Ausgewählte Ergebnisse:

Keinerlei Art von Bestrafungen erlebten in
Guatemala: 20,7 % der Frauen und 7 % der Männer
El Salvador: 44,3 % der Frauen und 23,9 % der Männer

Verbal bestraft/gescholten wurden in
Guatemala: 63,4 % der Frauen und 78,3 % der Männer
El Salvador: 18,2 % der Frauen und 9,4 % der Männer

Verbrennungen erlebten in
Guatemala: 1 % der Frauen und 1 % der Männer
El Salvador: 0,8 % der Frauen und 0,2 % der Männer


Vorweg Hinweis zur körperlichen Gewalt:

Im Englischen und auch in dieser Studie wir zwischen „spanking“ und „beating“ unterschieden. „Spanking“ entspricht im Deutschen „Züchtigungen“. Also Klapsen, leichten Ohrfeigen, etc. mit einem „erzieherischen“ Ziel, um unerwünschtes Verhalten zu bestrafen. „Beating“ meint schwerere Gewaltformen, die bei uns der Misshandlung entsprechen. Also Gewalt, die (neben den seelischen) auch körperliche Verletzungen des Kindes zur Folge hat bzw. wo diese möglichen Folgen in Kauf genommen werden. In El Salvador war „beating“ definiert als Schläge mit einem Gegenstand wie Gürtel, Stock oder Kabel, was eine besonders schwere Form der Gewalt darstellt. Für Guatemala war „beating“ einfach als „beating“ definiert.

Was besonders verwundert ist, dass in Guatemala „spanking“ erfragt wurde, in El Salvador aber nicht. Sehr unlogisch, wie ich finde, denn man wollte doch eigentlich diverse Gewaltformen erforschen. Die Autoren der Studie weisen explizit darauf hin, dass in El Salvador weniger der Befragten angegeben hätten, dass sie niemals bestraft wurden, wenn auch die Züchtigungen und zusätzlich der Punkt „Aus dem Haus geworfen“ mit einbezogen worden wäre. Insofern macht es Sinn, sich beim Ländervergleich auf das „beating“ (Misshandlungen) zu konzentrieren.

Misshandlungen/Schläge („beating“) erlebten in
Guatemala: 35,3 % der Frauen und 45,7 % der Männer

Schläge mit einem Gegenstand wie Gürtel, Stock oder Kabel erlebten in
El Salvador: 41,8 % der Frauen und 61,9 % der Männer

Körperliche Züchtigungen („spanking“) erlebten in
Guatemala: 21 % der Frauen und 19,6 % der Männer
El Salvador: keine Daten vorhanden


Anmerkungen zu der Kategorie Misshandlungen („beating“):

Ein Großteil der Befragten war zum Zeitpunkt der Befragung zwischen 15 und 24 Jahre alt. (Guatemala: 43,3 % der befragten Frauen und 40,3 % der Männer; El Salvador: 40,9 % der befragten Frauen und 36,5 % der Männer) Diese Alterskohorte hat allerdings auch am wenigsten Gewalt erlebt: Guatemala: 30,1 % der befragten Frauen und 41,95 % der Männer; El Salvador: 35,1 % der befragten Frauen und 55,9 % der Männer. Die älteren Jahrgänge (also die Personen, die derzeit in den beiden Ländern politische, ökonomische und soziale Macht besitzen!) haben tendenziell mehr Gewalt erlebt (was auch Studien aus anderen Ländern regelmäßig nachweisen.). Dies muss man in die Analyse bzgl. der dortigen Gesellschaften mit einbeziehen.

Die Studie zeigt auch, dass es einen besonders großen Rückgang der Gewalt in der jüngsten Altersgruppe der 15 bis 19jährigen gibt. Misshandlungen erlebten in dieser Gruppe in Guatemala: 31,1 % der befragten Frauen und 38,7 % der Männer; El Salvador: 32,2 % der befragten Frauen und 47,7 % der Männer. Vergleicht man diese Zahlen mit den o.g. Durschnittwerten oder schaut direkt in der Studie auf die Tabelle 3 dann wird deutlich, dass es mit dieser neuen Generation einen deutlichen Trend bzgl. der Abnahme von Gewalt gibt. Trotzdem sind die Zahlen bzgl. schwerer Gewalt im internationalen Vergleich immer noch sehr hoch. Die jüngere Generation ist allerdings ein großer Hoffnungsträger für diese Region. Je weniger Gewalt sie erlebt, desto höher sind die Chancen, dass sich die beiden Länder weiterentwickeln und auch die politische Gewalt und die Kriminalität zukünftig rückläufig sein könnte.

In Guatemala wurde zudem eine gesonderte Befragung mit einer etwas kleineren Gruppe, die selbst Kinder unter 18 Jahren haben, durchgeführt. Von den Frauen berichteten 38,9 % von eigenen Misshandlungserfahrungen, aber nur 26,1 % sagten, dass sie auch ihre eigenen Kinder misshandelt hätten. Von den Männern berichteten 51,1 % von eigenen Misshandlungserfahrungen, aber nur 20,3 % sagten, dass sie auch ihre eigenen Kinder misshandelt hätten. Es besteht also wirklich Grund zu Hoffnung für diese Region, nicht kurzfristig, aber langfristig.


Fazit:

In Mord und politischer Gewalt sind weltweit, auch in Südamerika, stets die Männer führend. Schwere körperliche Elterngewalt erleben in Guatemala (fast jeder zweite) und El Salvador (fast 2/3) Männer signifikant häufiger als die Frauen, aber auch die Frauen erleben schwere körperliche Elterngewalt im internationalen Vergleich relativ häufig. Man kann von Gesellschaften, in denen ein so hoher Prozentsatz misshandelt wird, nicht erwarten, dass sie auch auf der politischen Bühne oder im Alltag besonders friedlich, tolerant und respektvoll agieren. Man kann aber erwarten, dass die internationale Gemeinschaft diese Zusammenhänge erkennt und in solchen Regionen (in Abstimmung mit den dortigen Regierungen und Menschen) gezielt und großflächig Kinderschutzprogramme durchführt. Dadurch würde man innerhalb eines überschaubaren Zeitraumes die gefährlichsten Länder der Welt zügig emotional entwaffnen.

Freitag, 13. April 2012

Elterliche Gewalt als Gradmesser für den seelischen Entwicklungsstand einer Gesellschaft

Die Journalistin Caroline Fetscher hat kürzlich für den Tagesspiegel die Gewalt-Studie der Zeitschrift „Eltern“ kommentiert (was ich im vorherigen Beitrag auch gemacht habe). Der letzte Teil ihres Textes regte mich noch mal zu einem Gedanken an. Hier zunächst die Textstelle:

Herabwürdigung, Sarkasmen, Grobheit selbst gegenüber kleinen Kindern gelten häufig noch als „normal“. Denn Minderjährige, die sich ihrer Rechte nicht bewusst sind, die nicht über den Kosmos der Familie hinausschauen können, eignen sich gut als Blitzableiter der Erwachsenen, je kleiner sie sind, desto besser. An ihnen lassen sich Frustrationen, Ärger, Stress abreagieren, hier kann man anraunzen, losbrüllen, zuschlagen, ohne dass es, wie unter Erwachsenen, Konsequenzen hätte. (…) Nichts entschuldigt die Vergehen: Sie sind Symptome einer seelisch unreifen Gesellschaft.

Die meiste Gewalt erleben kleine Kinder, was auch die o.g. Studie zeigte. Die Gewalt scheint am häufigsten vor der Einschulung ausgeübt zu werden. In kaum einer Lebenslage wird das Machtungleichgewicht so deutlich, wie zwischen einem erwachsenen Elternteil und einem 2 bis 6 Jahre alten Kind (oder auch dem Säugling). Diese Gewalt ist seit Jahrtausenden so „normal“, dass wir erst heute mit einem wirklichen Erschrecken und großer Empörung darauf schauen können. (und noch heute diskutieren die Menschen ernsthaft das Für und Wider einer körperlichen Züchtigung gegenüber Kindern z.B. in Kommentarbereichen für entsprechende Medienartikel, was so kaum bzgl. anderer Gewaltdelikte denkbar wäre oder toleriert würde.) Es gibt kaum ein feigeres, gemeineres und unreiferes Verhalten als Gewalt gegen ein Kind, vor allem auch gegen das noch sehr kleine Kind. Es ist eine Ungeheuerlichkeit und nicht zu rechtfertigen! In diesem Blog habe ich viel über die Folgen der Gewalt geschrieben, vor allem auch über Gewaltverhalten auf Grund eigener Gewalterfahrungen.

In diesem Text geht es mir heute mal um etwas ganz anderes. Denn die Gewalt gegen Kinder als solche ist ja bereits hinreichend belegt, sie ist da, sie ist nachweisbar und sie ist nachweisbar besonders weit verbreitet und besonders schwerwiegend in der Ausformung in vielen Krisenregionen dieser Welt. Wer nicht an die gesamtgesellschaftlichen Folgen der Gewalt gegen Kinder glauben will oder kann….gut, der wird viele Antworten verpassen. Aber er wird nicht die Zahlen wegradieren können. Die Welt war und ist voller seelisch unreifer Erwachsener (danke an Frau Fetscher für diese Wortwahl), die ihre Kinder schlagen, niederbrüllen, vernachlässigen, missbrauchen. Diese belegte Gewalt an sich ist bereits ein gewichtiger Beleg für das Gewaltpotential einer Gesellschaft insgesamt.

Wer als Erwachsener, vor allem auch als Elternteil, ein kleines Kind misshandelt, der ist unter Umständen auch in anderen Situationen fähig, Gewalt anzuwenden und ohne Mitgefühl zu agieren, der kann Moral beiseite schieben. Wer als Erwachsener ein kleines Kind misshandelt, der hat dadurch bereits Zeugnis darüber abgelegt, welche hasserfüllte, kalte und destruktive Seite in ihm oder ihr existiert (und diese ist um so dunkler, je heftiger das Gewaltverhalten gegen das Kind ist). Diese Seite muss natürlich nicht zwangsläufig in anderen Kontexten zum Vorschein kommen, aber sie kann, das ist der Punkt. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese dunkle Seite politisch hervortritt, steigt, wenn der gesellschaftliche Rahmen, soziale Konflikte und die gesellschaftlichen Entwicklungen diese Täterseite quasi wecken und gegen ein Ziel richten.

Insofern ist das Gewaltaufkommen gegen Kinder ein enorm wichtiger Gradmesser für die (mögliche) Destruktivität von Gesellschaften, nicht nur bzgl. der Folgen, die ich hier in diesem Blog hauptsächlich bespreche, sondern auch bzgl. der (vor allem innerfamiliären) Gewalttäter an sich, die durch Gewaltstudien als solche deutlich identifiziert werden. Wenn z.B. Anfang des 20. Jahrhunderts im Deutschen Reich 89 % aller Kinder geschlagen wurden, über die Hälfte sogar mit Ruten, Peitschen oder Stöcken (vgl. deMause 2005 S. 146f), dann verwundert es nicht, dass diese eiskalten Schläger auch politisch zu extremen Grausamkeiten (dabei auch extrem feigen Taten, wie der Ermordung von Millionen wehrloser Juden) fähig waren.
Ein deutscher Vater, der im Jahr 1910 vielleicht 25 Jahre alt war und seine Kinder mit einer Peitsche prügelte, der war zu Beginn des ersten Weltkrieges im besten Kampfesalter und 1933 – im Alter von 48 Jahren – vielleicht in einer entsprechenden Position als Offizier, hoher Beamter, Politiker oder sonst eine höheren gesellschaftliche Position, von der aus die Gesellschaft gestaltet werden konnte. Diese Prügelgeneration stürmte in diverse Positionen oder auch in die Kasernen und ermöglichte zwei Weltkriege. Ihre Fähigkeit zur Grausamkeit hatten sie bereits in den heimischen Kinderstuben unter Beweis gestellt. (Und natürlich waren einst auch sie misshandelte Kinder, die die Gewalt später an ihren eigenen Kindern wiederaufführten) Auch heutige aktuelle Gewaltstudien erlauben also einen Blick auf die dunkle Seite einer Gesellschaft. Wo immer noch eine Mehrheit der Kinder von ihren Eltern (schwer) geschlagen werden, dort ist bereits das Destruktionspotential einer Gesellschaft bewiesen worden.

Sich mit der Gewalt gegen Kinder zu befassen, bedeutet, dass man – sofern man offen hinschaut – Antworten auf gesellschaftliche Fragen und Probleme in vielerlei Hinsicht bekommt. Gewalt gegen Kinder erzeugt u.U. auch wiederum politische Gewalt, was ich in diesem Blog ausführlich bespreche. Aber auch die gewalttätigen Eltern müssen als solche in die Gesellschaftsanalyse mit einbezogen werden, da ihr Verhalten etwas über den Entwicklungsstand einer Gesellschaft aussagt.

Mittwoch, 21. März 2012

Gewalt-Studie für die Zeitschrift "Eltern"

Für die Zeitschrift Eltern wurden Ende 2011 1.003 Eltern repräsentativ durch forsa befragt. Ich möchte die wesentlichen Zahlen kurz besprechen.

Insgesamt 60 % der Eltern wendeten nach eigenen Angaben nie Gewalt an.

Kritisch muss man dazu anmerken, dass auch 431 Eltern befragt wurden, die Kinder über 10 Jahren haben. Diese Altersgruppe erlebt meist weniger Gewalt als kleinere Kinder, was auch diese Studie belegt (77% dieser Gruppe erleben keine Gewalt). Wenn man auf die Zahlen bzgl. der kleineren Kinder schaut, dann erleben nur noch ca. 50 % nie Gewalt.

Die Details:

40 % gaben einen Klaps auf den Po innerhalb von 12 Monaten vor der Befragung

davon
28 % 1-2 mal innerhalb von 12 Monaten vor der Befragung
8 % alle paar Monate
4 % alle paar Wochen
1 % alle paar Tage

10 % ohrfeigten ihre Kinder

davon
9 % 1-2 mal innerhalb von 12 Monaten vor der Befragung
1 % alle paar Monate

4 % versohlten den Hintern des Kindes

davon
3 % 1-2 mal innerhalb von 12 Monaten vor der Befragung
1 % alle paar Monate

Mit Stock oder ähnlichem versohlt
0 %

Jungen waren durchweg etwas mehr von Gewalt betroffen, als Mädchen. (was übrigens auch fast alle Gewaltstudien aufzeigen)

Ca. 3/4 der Befragten hatten ein schlechtes Gewissen oder haben sich über sich selbst geärgert, nachdem sie Gewalt angewandt hatten

47 % haben sich häufig nach der Gewaltanwendung bei ihren Kindern entschuldigt und ihnen gesagt, dass sie sie lieb haben

Auch bzgl. psychischer Gewalt wurde einiges erfragt.
19 % brüllen z.B. ihre Kinder nieder, nachdem diese sich unerwünscht verhalten haben
26 % reden nicht mehr mit dem Kind oder ignorieren es, nachdem diese sich unerwünscht verhalten haben

Auch nach den Gewalterfahrungen der Eltern wurde kurz gefragt
46 % der Eltern geben an, dass sie selbst nie als Kind geschlagen wurden. (Wobei die Frage einen gelegentlichen Klaps auf den Hintern ausschließt, was sehr verwundert. Insofern könnten noch einige mehr Gewalt erfahren haben, sofern man den Klaps mit einbezieht)
31 % wurden selten geschlagen
17 % immer mal wieder
5 % regelmäßig


Fazit

Elternbefragungen sind immer etwas anderes als Opferbefragungen. Insofern werden die o.g. Zahlen zum Teil etwas zu korrigieren sein. In vielen Teilen glaube ich den Eltern allerdings. Ich gehe davon aus, dass in der Tat ca. 50 % der Kinder keinerlei körperliche Elterngewalt erleben. Mit einem Stock oder ähnlichem wurde nach Angaben der Eltern kein einziges Kind verprügelt. Diese Zahl glaube ich den Eltern nicht ganz. Hier werden vermutlich die realen Zahlen im einstelligen unteren Prozentbereich liegen (vielleicht 1-2 %) , was zukünftige Opferbefragungen evtl. belegen werden.

Wenn man sich auf die o.g. Zahlen bezieht, dann lässt sich sagen, dass Gewalt gegen Kinder in Deutschland stark abgenommen hat, wenn man Zahlen aus den 50er/60er Jahren oder auch davor zum Vergleich heranzieht. Sofern Gewalt angewendet wird, dann selten und fast die Hälfte der Eltern entschuldigt sich danach sogar häufig. Schwere Formen der Gewalt liegen im Bereich um ca. 10 % oder auch darunter. (Dabei ist schwer einzuschätzen, ob nicht evtl. ein gewisser Prozentsatz der Eltern, die „nur“ einen Klaps angaben, damit auch schwerere Formen verdecken oder auch meinten.)
Wer diesen Blog verfolgt wird die Zahlen und Daten vor Augen haben, die ich z.B. für Indien, Afrika , USA oder auch Kambodscha angegeben habe. Deutschland ist demnach wirklich auf einem sehr guten Weg, auch wenn es immer noch gilt, viele Kinder hierzulande vor Gewalt zu schützen.

Siehe ergänzend auch: Geboren 2012

Montag, 19. März 2012

Berühmte Leute und ihre schrecklichen Eltern

Jörg Zittlau hat 2010 das Buch „Sie meinten's herzlich gut: Berühmte Leute und ihre schrecklichen Eltern.“ herausgebracht. Er beschreibt darin die Kindheiten diverser Persönlichkeiten wie z.B. Michael Jackson, Elizabeth Taylor, Martin Luther, Salvador Dali, aber auch von politischen Größen wie Hitler, Stalin, Friedrich dem Großen und John F. Kennedy. Persönlich sehr interessant fand ich die Schilderungen über die Kindheit von Andre Agassi, der einen ähnlichen Vater (Erfolg, Erfolg, Erfolg von der Wiege an, ansonsten zählte nichts) hatte, wie Steffi Graf, mit der er verheiratet ist. Spannend fand ich auch, dass mein persönlicher Eindruck bestätigt wurde. Elizabeth Taylor z.B. wirkte auf mich stets wie eine Maske, ein falsches Selbst, so man will, unecht, künstlich, unglücklich. Wenn man darum weiß, dass sie eigentlich nie Schauspielerin werden wollte und ihre dominante Mutter ihr alles von Klein auf aufzwang, sie geradezu drillte, Elizabeth gar keine Kindheit hatte, jeder Widerspruch mit Liebensentzug und eisigem Schweigen bestraft wurde (auch über Tage und Wochen) dann wird vieles klarer.

Das Buch ist eher journalistisch angelegt. Was mich persönlich am meisten beeindruckt hat ist die Lockerheit des Autors bei dem Thema. Er beschreibt die Kindheiten seiner Protagonisten als Grundlage für deren späteres Leben und Verhalten, ohne jede Scheuklappe. Stalin, Hitler oder auch Alexander der Große…ja na logisch, deren Kindheiten waren eine Katastrophe, was auch sonst.

Diese Lockerheit im Umgang (die persönliche Befindlichkeiten außen vor lässt) mit dem Thema wünsche ich mir viel mehr für die Zukunft. Solche Bücher zeigen den Weg (auch wenn ich den Titel anders gewählt hätte).

Samstag, 17. März 2012

Internationale Zahlen über die Gewalt gegen Kinder

Mir fällt derzeit auf, dass es immer leichter wird, Zahlen zum Gewaltvorkommen gegen Kinder in diversen sich entwickelnden Gesellschaften zu bekommen. Nach meinem Eindruck sind seit ca. 2006 die Bemühungen weltweit gestiegen, entsprechende Studien durchzuführen. Diese aktuellen Zahlen zeigen fast durchweg ein sehr hohes Ausmaß an Gewalt gegen Kinder. Frühere Generationen werden entsprechend noch mehr und auch schwerer von Gewalt betroffen sein. Ich möchte an dieser Stelle unbedingt auf das Projekt Global Initiative to End All Corporal Punishment of Children hinweisen. Auf der Website findet man zu unzähligen Ländern aktuelle Daten und Zahlen. Den Link zu der Seite habe ich auch hier in der Blogleiste aufgenommen.

Mir scheint, dass einiges in Bewegung kommt. Zahlen sind wichtig, um vor deren Hintergrund in den Ländern entsprechende Kinderschutzprogramme zu starten.

Gewalt gegen Kinder in Indien

12.447 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 5 und 18 Jahren wurden in Indien für eine 2007 herausgegebene Studie befragt:
Ministry of Women and Child Development. Government of India 2007: Study on Child Abuse: India 2007.. New Delhi.

69 % berichteten über körperliche Gewalterfahrungen, vor allem auch in den Familien, allerdings zusätzlich häufig auch in anderen Kontexten. Von diesen 69 % wurden 63,67 % geschlagen/getreten, 31,31 % mit einem Knüppel/Stock geprügelt und 5,02 % erlebten andere Gewaltformen wie z.B. Schütteln. Die Kinder im Alter zwischen 5 und 12 Jahren erleben die meiste Gewalt. Ab 13 Jahren nehmen die Gewalterfahrungen ab.

65 % der Kinder berichteten, dass sie in der Schule geschlagen wurden.

Regional gibt es in Indien starke Unterschiede bzgl. des Gewaltvorkommens. Im Schnitt erlebten wie gesagt 69 % der Kinder körperliche Gewalt. Bestimmte Regionen weisen dagegen besonders hohe Raten auf: Assam (84.65%), Mizoram (84.64%), Delhi (83.12%) und Uttar Pradesh (82.77%). Andere deutlich niedrigere: Rajasthan (51.2 %), Goa (53.07 %), West Bengal (55.63 %) und Kerala (56.10 %).
Es wäre hier interessant zu schauen, ob sich auch bezgl. der sozialen und politischen Situation diese Regionen signifikant voneinander unterscheiden. Wenn dem so wäre, ist ein direkter Zusammenhang zu den unterschiedlichen Gewaltvorkommen wahrscheinlich.

50 % der Kinder arbeiten 7 Tage in der Woche. Sehr viele erleben auch hier Gewalt.

53,22 % der Kinder berichten über mindestens eine Form von sexueller Gewalt. Schwere Formen von sexueller Gewalt erlebten 21,9 % aller Kinder. 5,69 % erlebten Vergewaltigungen. 50 % der Angreifer waren den Kindern bekannt oder in einer Vertrauensposition.

48.37% berichten über psychische Gewalt in der einen oder anderen Form

44.13% berichten über Demütigungen innerhalb ihrer Familie. HaupttäterInnen waren Mütter (44,09 %) und Väter (35,35 %)

70.57% der Mädchen berichteten über die eine oder andere Form von Vernachlässigung in der Familie.

48,4 % der Mädchen wünschten sie wären ein Junge.

Die Situation der Mädchen in Indien wäre noch einmal einen ganzen eigenen Bericht wert. Zur Info verweise ich auf einen Artikel im Tagesspiegel. Dort heißt es u.a.: „Auf 1000 Männer kommen in Indien 927 Frauen im weltweiten Durchschnitt sind es hingegen 1050 Frauen. Indien verliere täglich 7000 Mädchen durch Abtreibungen, heißt es in einem Bericht des UN-Kinderhilfswerks Unicef vom vergangenen Jahr. Die medizinische Fachzeitschrift "The Lancet" spricht von zehn Millionen abgetrieben oder getöteten Mädchen in den vergangenen zwei Jahrzehnten.“ Berichtet wird auch über gezielte Kindestötungen: „"Eine der beunruhigendsten Enthüllungen kam von einer Hebamme, die sagte, hunderte Neugeborene getötet zu haben, so viele, dass sie den Überblick verlor."

In Indien leben aktuell über 1,2 Millarden Menschen. Davon sind sehr viele unter 18 Jahren alt. Man kann sich ausmalen, dass in diesem Land unzählige Millionen Kinder von Gewalt und Vernachlässigung betroffen sind.

Donnerstag, 15. März 2012

Studie: Gewalt gegen Kinder in Burkina Faso, Nigeria, Kamerun, Kongo und Senegal

Kürzlich hatte ich ja in dem Text Gewalt gegen Kinder in Afrika viele Daten zusammengestellt. Ich bin jetzt zusätzlich auf zwei weitere Studie gestoßen.

Die Studie „The African Child Policy Forum (ACPF) 2011: VIOLENCE AGAINST CHILDREN IN AFRICA (A Compilation of the main findings of the various research projects conducted by the African Child Policy Forum (ACPF) since 2006) bietet eine Übersicht der wichtigsten Ergebnisse diverser Einzelstudien bzgl. der Gewalt gegen Kinder in Afrika. Ich will und kann nicht die Zahlen der gesamten Studie hier wiedergeben. Wer etwas über die diversen Formen von Gewalt in dieser Region erfahren will, der muss diese Studie komplett lesen!! Kaum ein Papier bringt so viele diverse Daten für Afrika zusammen, wie dieses.

Ich möchte hier vor allem auf die Zahlen aus der Einzelstudie "The African Child Policy Forum 2010: Childhood scars in Africa: a retrospective study on Violence against girls in Burkina Faso, Cameroon, Democratic Republic of Congo, Nigeria and Senegal." eingehen, die ähnlich angelegt ist, wie die bereits besprochene Studie aus dem Jahr 2006 für die Länder Kenia, Uganda und Äthiopien (siehe Text und Link ganz oben).

Für diese Studie aus dem Jahr 2010 wurden junge Frauen im Altern von 18 bis 24 Jahren aus den jeweiligen Hauptstädten der ausgewählten Länder befragt. Je Land wurden ca. 600 Frauen befragt. Die Studie ist sehr umfangreich und ich kann hier nur die wichtigsten Ergebnisse kurz zusammenfassen (Hinweis: DRC steht für "Demokratische Republik Kongo")


Körperliche Gewalt (ausgesuchte Beispiele)

Schläge mit einem Gegenstand (wie z.B. Stock, Besenstiel oder Gürtel) erlitten in

Burkina Faso: 88 %

Nigeria: 90 %

Kamerun: 66 %

DRC: 83 %

Senegal: 79 %


Schläge/Prügel erlitten in

Burkina Faso: 91 %

Nigeria: 84 %

Kamerun: 43 %

DRC: 74 %

Senegal: 52 %


Tritte („very hard“) erlitten in

Burkina Faso: 51 %

Nigeria: 55 %

Kamerun: 21 %

DRC: 25 %

Senegal: 21 %


Würgen / Verbrennungen erlitten in

Burkina Faso: 27 %

Nigeria: 17 %

Kamerun: 7 %

DRC: 7 %

Senegal: 16 %


Eingesperrt in einem kleinen Raum oder mit einem Seil festgebunden wurden in

Burkina Faso: 17 %

Nigeria: 16 %

Kamerun: 8 %

DRC: 19 %

Senegal: 6 %

TäterInnen bei der körperlichen Gewalt:

Haupttäterinnen bei der körperlichen Gewalt waren die Mütter (Burkina Faso 85 %, Nigeria 60 %, Cameroon 71 %, DRC 70 %, Senegal 70 %) gefolgt von Lehrerinnen und eigenen Schwestern.

Männliche Haupttäter waren hautsächlich Väter (Burkina Faso 61 %, Nigeria 45 %, Cameroon 64 %, DRC 45 %, Senegal 58 %) gefolgt von den eigenen Brüdern und Lehrern.

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Psychische Gewalt

Der Großteil der Befragten erlebte diverse Formen von psychischer Gewalt, die ich hier nicht alle aufführen kann. Mütter und Väter waren hier erneut die HaupttäterInnen. Zwei Beispiele:

Beschimpft wurden 84 % (Nigeria niedrigster Wert) – 99 % (Burkina Faso höchster Wert)

Angeschrien wurden 73 % (Kamerun niedrigster Wert) – 96 % (Burkina Faso höchster Wert)

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Sexuelle Gewalt (drei Beispiele)

(HaupttäterInnen waren männliche und weibliche Freunde)

59 – 65 % aller Befragten wurden in einer sexuellen Weise angesprochen, in Burkina Faso waren es sogar 81 %

Sexuell angefasst wurden in

Burkina Faso: 52 %

Nigeria: 24 %

Kamerun: 30 %

DRC: 38 %

Senegal: 37 %


Zum Geschlechtsverkehr gezwungen wurden in

Burkina Faso: 40 %

Nigeria: 40 %

Kamerun: 30 %

DRC: 27 %

Senegal: 17 %


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Genitalienverstümmelung erlebten in

Burkina Faso: 68 %

Nigeria: 21 %

Kamerun: -

DRC: -

Senegal: 19 %

Donnerstag, 8. März 2012

Buchhinweis: Die geprügelte Generation

Die Journalistin Ingrid Müller-Münch hat kürzlich ihr Buch "Die geprügelte Generation" herausgebracht. Zum Buch hat sie auch eine eigene Homepage aufgebaut: http://gepruegelte-generation.de

Das Buch bringt für Menschen, die sich tief mit der Materie befassen, nicht sehr viel Neues. (Auf das für mich Neue werde ich noch eingehen) Die Zielgruppe ist aber auch eine andere, es sollen ja eben gerade die angesprochen werden, die bisher weggeschaut haben. Und dies schafft das Buch in sehr klarer und beeindruckender Weise. Es bestätigt aber auch die eigene Wahrnehmung und macht auch Türen auf, z.B. zu politischen Entwicklungen oder Gewaltverhalten als Folge eigener Gewalterfahrungen.

Das Neue und Wichtige an dem Buch ist vor allem das, was der Titel aussagt. Es geht um die Bewusstwerdung dessen, dass Gewalt gegen Kinder in Deutschland ganz normal war, Alltag und nicht-geschlagene Kinder die Ausnahme waren. Darüber muss aufgeklärt und gesprochen werden. Und dieses Buch ist ein sehr guter Anstoss dazu. Die Autorin hat durch ihre Arbeit dazu auch noch viele Möglichkeiten und Kontakte, um das Buch bekannt zu machen und schon jetzt häufen sich die Interviews mit ihr.

Müller-Münch ist nach eigenen Angaben bewusst, dass auch vor den 50er und 60er Jahren Gewalt gegen Kinder normal war. (In ihrem Buch ist sie auch auf die Arbeit von Lloyd deMause eingegangen) "Ich arbeite mit diesem Generationsbegriff, weil wir die letzte noch aktiv im Leben stehende Generation sind, bei der das Prügeln und Schlagen in der Kindheit normal war. Freilich wurden die Kinder auch davor geschlagen, die Geschichte der Prügelstrafe ist ja uralt." (Welt Online, 08.03.2012)

Wir wachen hierzulande wirklich immer mehr auf, wir schauen zurück und sehen überall Gewalt gegen Kinder, heute, wo immer weniger Gewalt gegen Kinder in Deutschland herrscht (siehe auch meinen vorherigen Beitrag), werden die Menschen es immer mehr wagen, zurück in die Geschichte auf diese Kindheitsalpträume zu schauen. Wir werden die Geschichte der Menschheit dadurch immer besser verstehen lernen und wir werden auch verstehen, warum wir heute immer friedlicher und demokratischer werden.

Montag, 5. März 2012

Geboren 2012 = weitgehend gewaltfreies Aufwachsen, zumindest in Deutschland

Die aktuelle ZEIT Serie „Geboren 2012“ fragt nach der Zukunft in Deutschland und geht dabei mehreren Themenfeldern nach. Wie sieht das Leben in 30 bis 40 Jahren aus? In Anlehnung an diese Serie gehe ich auf das hier im Bog wohl bekannte Thema ein, dessen sich die ZEIT und ZukunftsforscherInnen i.d.R. nicht widmen.

2012 in Deutschland geboren zu sein, bedeutet mit einer hohen Wahrscheinlichkeit eine relativ glückliche und vor allem auch gewaltfreie Kindheit. Es ist noch nicht lange her, dass diejenigen, von denen ein Kind eigentlich Liebe, Fürsorge, Vorbild und Schutz erwarten darf, die größten Feinde und Aggressoren waren. Noch Mitte der 60er Jahre galten Schläge bei 80 bis 85 Prozent aller deutschen Eltern als notwendiges Erziehungsmittel. Jedes dritte Kind wurde mit einem Stock verprügelt, vor 1939 war es sogar jedes zweite. (vgl. DER SPIEGEL, 22.04.1963) Schon heute sieht das Bild spektakulär anders aus. In den Jahren 2007 und 2008 wurden insgesamt 44.610 Schüler (Durchschnittsalter ca. 15 Jahre) durch das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen befragt. (vgl. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen 2009, S. 51ff) Ergebnis: 42,1 % der Befragten berichteten über keinerlei gewalttätige, körperliche Übergriffe der Eltern. 42,7 % erlebten leichte körperliche Gewalt. Insgesamt 15,3 % der Befragten geben an, vor ihrem zwölften Lebensjahr schwerer Gewalt durch Elternteile ausgesetzt gewesen zu sein. Wir bewegen uns also auf eine Gesellschaft zu, in der die Mehrheit der Menschen als Kind keine elterliche Körpergewalt erlebt haben wird; ein Gesellschaftszustand, den unser Land bisher nicht kannte und der als geradezu bahnbrechend bezeichnet werden muss. Diese befragten Schüler werden im Jahr 2022/2023 ca. 30 Jahre alt sein und dann beginnen, gesellschaftliche Positionen einzunehmen und zu gestalten.

Schon jetzt ist also belegt, dass 2022/2023 die Mehrheit der jungen Leistungsbringer nicht oder selten bzw. leichte Formen von körperlicher Elterngewalt erlebt haben wird. (Siehe ergänzend auch Gewalt-Studie für die Zeitschrift "Eltern") Nun gibt es auch andere Formen der Gewalt, die weniger sichtbar sind, aber nicht minder folgenreich: Psychische Gewalt und Vernachlässigung. Trotzdem glaube ich, dass die körperliche Gewalt ein gewaltiges Indiz dafür ist, wie auch der sonstige Umgang mit Kindern aussieht. Wer Kinder schlägt, wird diese i.d.R. auch vernachlässigen und emotional bedrohen. Wer Kinder nicht schlägt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in anderen Gebieten eher auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen, nicht emotional gewalttätig sein usw.

2012 geboren sein, das bedeutet auch (vor allem für Mädchen), dass die meisten Kinder keinen sexuellen Missbrauch erleben werden. Das KFN hat Zahlen aus einer großen Befragung aus dem Jahr 2011 veröffentlicht. So haben die heute weiblichen 31 bis 40-jährigen der aktuellen Untersuchung bis zu ihrem 16. Lebensjahr zu 8,0% einen Missbrauch mit Körperkontakt erlitten, die 21 bis 30-jährigen zu 6,4%, die 16 bis 20-jährigen dagegen nur zu 2,4%. Bei den Männern lauten die Vergleichsquoten 1,8%, 1,1% und 0,6%. (vgl. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen 2011, S. 40)

Wer sich vertiefend mit der Geschichte der Kindheit befassen will, muss vor allem die berühmte Studie „Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit.“ herausgegeben von dem Psychohistoriker Lloyd deMause lesen. Der meist zitierte Satz aus diesem Buch lautet: "Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen." Dieser Geschichte muss man sich erst einmal bewusst werden, um zu erkennen, dass es Kindern in unseren Breitengraden noch nie so gut erging wie heute. Letztlich gehen sämtliche Zahlen im historischen Rückblick auf die 100 % zu, für die Bereiche Miterleben vom Tod eines Geschwisterkindes (dabei auch oft durch die Eltern verursacht oder gezielt ermordet), körperlicher und seelischer Gewalt, Vernachlässigung und Missbrauch. Eine Umfrage aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ergab z.B., dass 100 % der amerikanischen Kinder mit einem Stock, einer Peitsche oder einer anderen Waffe geschlagen wurden. (vgl. Pinker 2011: 636) Wenn vor 1939 in Deutschland noch jedes zweite Kind mit einem Gegenstand geschlagen wurde (siehe oben), dann wird in den Jahrzehnten und Jahrhunderten davor diese Zahl bei 100 % gelegen haben. Ähnlich wird es mit den anderen Gewaltformen gegen Kinder ausgesehen haben, das zeigen vor allem auch psychohistorische Studien.

Wenn man nun die o.g. Trends bzgl. des Rückganges der Gewalt gegen Kinder weiterdenkt und dabei mit einbezieht, dass wieder ca. 20 Jahre zwischen den 2012 geborenen und den oben untersuchten Schülern bzw. 16-20jähren aus der Missbrauchsstudie liegen, dann kommt man zu dem Schluss, dass die 2012 geborenen die voraussichtlich glücklichsten und gewaltfreisten Kindheiten durchlaufen werden, die unser Land bisher je gesehen hat. In 30 bis 40 Jahren, also 2042/2052, werden diese 2012 geboren als geballte Mehrheit die Gesellschaft durchdringen. Diese Generation wird kaum Kindheitsalpträume kennen, sie werden fast alle nicht sexuell missbraucht worden sein, die wenigsten von ihnen werden schwer körperlich misshandelt worden sein, die allermeisten werden sogar nicht eine einzige Form von körperlicher Elterngewalt erlebt haben. Die große Mehrheit wird also nicht an den bekannten Folgen der Gewalt gegen Kinder leiden. Dies ist absolut bahnbrechend! Die Menschen werden folglich immer emotional gesünder, (innerlich) freier, weniger ängstlich, toleranter, selbstbewusster, flexibler, friedlicher usw. werden und alle möglichen Feindbilder in den Abfallberg der Geschichte schmeißen, weil sich die Kindheiten hierzulande so rasant entwickeln. (Was bisher öffentlich leider kaum wahrgenommen wird) 2012 wird ein tolles Jahr, zumindest für unsere Region.

Was hierzulande bahnbrechend verläuft, verläuft leider in vielen anderen Regionen auf dieser Welt ziemlich schleppend (inkl. in so mächtigen Ländern wie den USA). Insofern muss das Ziel sein, den weltweiten Kinderschutz gezielt voranzutreiben, mit erheblich viel mehr Mitteln, als dies bisher geschieht. Dies wird um so effektiver geschehen, wenn den Verantwortlichen bewusst wird, wie sehr die Kindheit eine Gesellschaft beeinflusst und wie entsprechend dringlich den Kindern geholfen werden muss.

Nachtrag: Siehe ergänzend auch unbedingt Gewalt gegen Kinder in Deutschland in Zahlen. 1910 bis Heute


Quellen:

DER SPIEGEL, 22.04.1964, Nr, 17: „Züchtigung durch Mutter“; http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46174518.html

Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen 2009: Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt. (Forschungsbericht Nr. 107) Hannover; http://www.kfn.de/versions/kfn/assets/fb107.pdf

Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen 2011: Erster Forschungsbericht zur Repräsentativbefragung Sexueller Missbrauch 2011. Hannover; http://www.kfn.de/versions/kfn/assets/fb1semissbr2011.pdf

Pinker, S. (2011): Eine neue Geschichte der Menschheit. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.

Samstag, 3. März 2012

Kindheit von Jassir Arafat

Jassir Arafat wurde 1929 in eine Zeit und in eine Region geboren, die ihm die klaren Feindbilder quasi mit in die Wiege lag. Dass diese von Außen vorgegebenen Feindbilder bei ihm auch auf fruchtbaren Boden fielen, wird an Hand seiner Kindheit deutlich. (Wie schon oft erwähnt ist meine Grundthese, dass wirklich geliebte Kinder Freund-Feind-Schemata in ihrem späteren Leben entsprechend kritisch gegenüberstehen und insbesondere nicht mit gezielter mörderischer Gewalt gegen andere Menschen vorgehen können, so wie dies Arafat während seiner Zeit als Terrorist und Guerillakämpfer tat.)
1933 – Jassir ist zu dieser Zeit ca. vier Jahre alt – stirbt seine Mutter an einer Nierenerkrankung. (vgl. Sadek, 2006, S. 23) Sie hinterlässt drei Töchter und vier Söhne. Der Vater heiratet darauf ein zweites mal, aber die Ehe scheitert bereits nach einigen Monaten, wie Sadek berichtet. Eine andere Quelle (Rubin & Rubin, 2003, S. 13) belegt, dass diese zweite Frau die Kinder schlecht behandelte (was auch immer sich hinter diesem „schlecht“ verbergen mag.) Zu seiner Entlastung schickt der Vater seine beiden jüngsten Kinder (eines davon ist Jassir) nach Jerusalem in die Obhut eines Onkels, über dessen Erziehungsstil man in den verwendeten Quellen nichts erfährt. Er erlebt somit gleich zwei schwere Trennungen hintereinander, den Verlust der Mutter und die Trennung von seinen Geschwistern, seinem Vaters und der vertrauten Umgebung. Zwischen 1933 und 1937 verbringt Jassir seine Kindheit bei dieser Jerusalemer Familie.

Im April 1936 beginnt ein landesweiter palästinensischer Generalstreik und in der Folge auch ein bewaffneter Aufstand, der von den Briten brutal niedergeschlagen wird. Der junge Arafat erlebt diesen Aufstand aus nächster Nähe mit, bei dem auch sein Onkel verhaftet wird. 1937 kehren Jassir und sein jüngerer Bruder zurück zu ihrem Vater nach Kairo, der inzwischen ein drittes Mal geheiratet hat. Beide kommen in die Obhut ihrer zwölf Jahre älteren Schwester Inam. „Die neue Stiefmutter können die Kinder nicht ausstehen. Die dritte Ehe des Vaters erweist sich abermals als Fehlschlag, sie vertieft den Graben zwischen dem Vater und seinen Kindern. Abd al-Rauf bleibt ihnen als disziplinierender, autoritärer Vater in Erinnerung.“ (Sadek, 2006, S. 25) Was sich alles an Gewalt hinter den Worten „disziplinierend“ und „autoritär“ verbirgt, erfährt man vom Biographen leider nicht. Laut UNICEF erlebten – Grundlage sind Daten aus den Jahren 2005-2007 - in Prozent der Kinder (2-14 J.) psychische und/oder körperliche Gewalt (wobei die Mehrheit beides erlebte) in den besetzten palästinensischen Gebieten 95 % und in Ägypten 92 %. (vgl. UNICEF 2009, S. 8) Wenn schon heute noch fast alle Kinder in dieser Region Gewalt erfahren, dann wird auch der 1929 geborene Arafat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Gewalt erfahren haben, vermutlich auch noch in heftigerer Form, als die heutigen Kinder, da sich die Erziehungspraxis im historischen Rückblick stetig verschlechtert.
Arafat selbst erwähnte seinen Vater nie, mit dem er nachweisbar keine enge Beziehung hatte. Neben der autoritären Art wird auch die jahrelange Trennung vom Vater ihren Teil dazu beigetragen haben, dass Vater und Sohn sich nicht gerade nahe standen.
Arafats Schwester erinnerte sich, dass ihr Bruder bereits als Kind seine Spielkameraden in militärische Gruppen einteilte und ihnen befahl, die Straßen rauf und runter zu marschieren. Wenn ein Kind aus der Reihe tanzte, wurde es von Arafat mit einem Stock geschlagen. (vgl. Brexel, 2004, S. 13) Hier findet sich ein gewichtiges Indiz dafür, dass auch Arafat selbst mit einem Gegenstand geschlagen wurde und dies im „Spiel“ wiederaufführte. Alles in allen ergibt sich das Bild einer sehr traurigen Kindheit.



Quellen:

Brexel, B. 2004: Yasser Arafat. Rosen Publishing Group, New York.

Rubin, B & Rubin, J. C. 2003: Yasir Arafat: A Political Biography. Oxford University Press, New York.

Sadek, H. 2006: Arafat. Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen / München.

UNICEF 2009: Progress for Children. A Report Card on Child Protection; http://www.unicef.de/fileadmin/content_media/presse/PFC_2009/Progress_20for_20Children-No.8_20LoRes_EN_USLetter_08132009.pdf

Donnerstag, 1. März 2012

Kindheit von Fidel Castro

Fidel Castro wurde in eine im Wohlstand lebende, privilegierte Landbesitzerfamilie hineingeboren. Etwa 1000 Menschen, überwiegend farbige haitianische Landarbeiter und ihre Familien, lebten in ärmlichen Verhältnissen unter dem Patronat von Fidels Vater. Die Ehefrau – Maria Luisa Argone – von Fidel Castros Vater soll nach Fidels Geburt die Familie verlassen haben. (Skierka, 2001, S, 17) Der Vater - Ángel Castro y Argiz – bekam nämlich mit der Haushälterin und Köchin Lina Ruz González – die nur halb so alt war wie er – mit Fidel bereits das dritte uneheliche Kind. Er heiratete später seine Bedienstete und bekam mit ihr weitere vier Kinder. „Sein Vater, ein verschlossener, hart arbeitender und zupackender Mann, grob und aufbrausend, streitsüchtig und keinen Widerspruch duldend, ist ein Patriarch wie aus dem Bilderbuch“ und führt „ein strenges Regiment über Haus und Hof.“ (ebd., S. 20)
Die Mutter beschreibt Skierka als den ausgleichenden Charakter in der Familie, die den Kindern die beim Vater vermisste Nähe gab. Auch Fidel Castro selbst sprach von seiner Mutter oft mit Wärme und Zuneigung, während er seinen Vater kaum erwähnte. Allerdings hatte auch seine Mutter offenbar keine Bedenken, ihren Sohn, um seine schulischen Leistungen zu fördern, früh weg zu geben. Fidel wird erst spät getauft, als er mit fünf oder sechs Jahren bei Pflegeeltern – der Familie Hibberts -in Santiago de Cuba einquartiert wird, wo er auf Grund seiner ungewöhnlich guten Leistungen privaten Schulunterricht erhält. Mit sechs oder sieben Jahren wird er dann in das streng katholisches Kolleg „La Salle“, das sein Bruder als „Gefängnis“ mit endlosem „Beten und der Furcht vor Gott“ beschreibt, in der selben Stadt eingeschult. “Offenbar sind die zeitweilig unklaren familiären Beziehungen in Verbindung mit Fidel Castros unehelicher Geburt der wahre Grund dafür, dass der Taufpate nicht zur Verfügung steht und der kleine Junge den Segen der Kirche zunächst nicht erhält.“ (ebd., S. 17) Fidel wird nach eigenen Angaben in dieser Zeit des ungetauft Seins ausgegrenzt und „Jude“ genannt. Ob seine leiblichen Eltern überhaupt bei der Taufe zugegen waren, ist nicht klar, schreibt Skierka. Castro wörtlich über diese Zeit: „Ich war weit weg von meiner Familie, von unserem Haus, von der Gegend, die ich so liebte, wo ich … mich frei fühlte. [Sie] schickten mich unversehens in die Stadt, wo ich all diese Schwierigkeiten hatte.“ (ebd., S. 22)

An die Zeit im Hause des Konsuls Hibbert hat Castro überwiegend negative Erinnerungen. „(…) es scheint, als hätte dieser es nur auf die Unterhaltszahlungen der Castros abgesehen.“ (Hagemann, 2002, S. 21) Fidels Mutter galt als streng katholisch und wollte diesen Glauben auch an ihre Kinder weitergeben. Vor diesem Hintergrund verwundert folgende Gegebenheit: „Seltsamerweise verbringt der kleine Fidel dreimal hintereinander das Drei-Königs-Fest nicht bei der Familie auf der Finca in Biran, sondern bei den Pflegeeltern in Santiago de Cuba, zu denen er ein zunehmend schwieriges Verhältnis entwickelt. (…) Der Grund, weshalb er die Weihnachtszeit und das wichtigste Fest im Jahr so oft in Folge nicht bei seiner Familie verbringt, liegt im Dunkeln. Ob er wegen des häuslichen Durcheinanders ganz bei den offenbar kinderlosen Pflegeeltern bleiben sollte? Der junge Fidel muss darunter nachhaltig gelitten haben.“ (Skierka, 2001, S. 23+24)

Die Schulleitung des Kolleg will Fidel und seine beiden Brüder schließlich wieder zu seinen Eltern zurückschicken, „weil sie sich wie Rabauken aufführen und der junge Fidel sogar einmal die Ohrfeige eines Lehrers erwidert.“ (Skierka, 2001,S. 22) Die Mutter interveniert und Fidel durfte bleiben, was auch sein erklärter Wille war. Er drohte sogar, zu Hause das Haus anzuzünden, falls ihn die Eltern aus der Schule zurück nach Hause gehen lassen würden. Schließlich wechselt er später im Alter von ca. neun Jahren auf Grund seiner Intelligenz auf das strenge und angesehene Jesuitenkolleg Dolores, das er zunächst als Tagesschüler besucht. Wieder bedeutet dies die Unterkunft bei fremden Leuten in einer neuen Gastfamilie. „Er hasste seine Gasteltern und trachtete erneut nach der Aufnahme in das Internat der Schule.“ (Hermann, 2002, S. 22) Castro fand sich „häufig eingesperrt im Hause seiner Gasteltern. Er nutzte die Zeit zum Nachdenken, zum Lesen von Comics und geschichtlichen Darstellungen, vorzugsweise solcher militärischen Inhalts.“ (ebd.) Schließlich schafft er die Trennung von der verhassten Gastfamilie und die Unterbringung im Internat Dolores. Er ist zu dieser Zeit wohl ca. zwölf Jahre alt und geht zunehmend eigene Wege. Mit dreizehn Jahren probte Fidel seinen ersten Aufstand. „Er wiedegelt die Zuckerrohrarbeiter der Finca auf und versucht einen Streik gegen seinen Vater zu organisieren. Er wirft ihm vor, seine Leute auszubeuten. Dieser ungeheuerliche, brüske Regelverstoß vor aller Augen gegen die in den hispanoamerikanischen Ländern tabuisierte Autorität des Patrons durch den Sohn führt zu einem tiefen Zerwürfnis.“ (Skierka, 2001, S. 22)

Ob Fidel Castro auch geschlagen wurde, erschließt sich aus den verwendeten Quellen nicht direkt. Es ist in meinen Augen allerdings auf Grund des Charakters des Vaters sehr wahrscheinlich, dass dieser auch körperlich übergriffig war. Zudem war Fidel gänzlich ohne Schutz fern der Familie sicherlich auch Opfer durch Gewalt von Lehrern, was sich oben auch belegen lässt, da er eine Ohrfeige eines Lehrers erwiderte. Wie das jahrelange Leben in den Gastfamilien aussah und ob dort auch offene Gewalt herrschte, deutet sich nur ansatzweise an. Über Einsperren und Streitigkeiten mit den Pflegefamilien ist einiges belegt, nichts allerdings über andere Übergriffe. Alles in allem ergibt sich das Bild eines abgeschobenen, unehelich geborenen Kindes, das schnell lernt, das es auf sich allein gestellt ist und sich durchkämpfen muss. Die sehr distanzierte Beziehung zum autoritären Vater wurde bereits angesprochen. In Anbetracht dessen, dass Fidel bereits ab ca. dem fünften oder sechsten Lebensjahr die Familie verließ, glaube ich ihm nicht wirklich die angeblich gute Beziehung zur Mutter. Spätestens ab diesem Zeitpunkt muss er sich auch von ihr verlassen und verkauft gefühlt haben. Wie sein Innenleben damals aussah bleibt natürlich Spekulation.

Fidel Castros Kindheit war alles andere als glücklich und von Geborgenheit geprägt, das kann man mit Bestimmtheit sagen . Er wollte (selbst erklärt) gegen Autoritäten, Unterdrückung und Unfreiheit kämpfen, wurde aber letztlich genau das, was er so hasst: Ein autoritärer Mann, der keinen Widerspruch duldete und sein Land von einer abgelösten Diktatur in die nächste nun von ihm geleitete führte. Tausende politische Gegner ließ er nach seiner Machtübernahme einsperren und hinrichten, „ohne Gerichtsverfahren und ohne zu prüfen, ob die bisweilen vage formulierten Vorwürfe gegen die „Konterrevolutionäre“ oder „CIA-Agenten“ der Wahrheit entsprachen, säuberte Castro seine Insel von innenpolitischen Gegnern. „ (FAZ.net, 28.08.2011) Im Jahr 1962 brachte er zudem während der Cuba-Krise zusammen mit der Sowjetunion und den USA die Welt fast zum Untergang durch einen Atomkrieg. All diese Dinge kann ein Mensch nur tun, wenn er tief gespalten ist und die eigenen Emotionen gestört sind. Fidel Castros Kindheit bietet dahingehend Antworten, woher diese Störungen ursprünglich kommen.



Quellen:

FAZ.net, 28.08.2011: Fidel Castro. Das Fossil (http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/fidel-castro-das-fossil-11126384.html)

Hagemann, A. 2002: Fidel Castro. (aus der Reihe dtv portrait) Deutscher Taschenbuchverlag, München.

Skierka, V. 2001: Fidel Castro: Eine Biographie. Kindler Verlag Berlin.

Dienstag, 21. Februar 2012

Kindererziehung in Namibia - Ein Erfahrungsbericht

Ich möchte auf einen sehr interessanten Erfahrungsbericht der Familie Spühler hinweisen.: „Kindererziehung auf afrikanisch“. Die Familie war zwischen 2007 und 2009 in Namibia und hat ihre persönlichen Beobachtungen bzgl. der dortigen Kindererziehungspraxis aufgeschrieben (insofern ist der Bericht natürlich subjektiv, aber trozdem sehr aufschlussreich, wie ich finde). Dass die Kindheiten in vielen Teilen Afrikas sehr gewaltvoll sind, habe ich bereits hier nachweisen können (das selbe bestätigen auch die Spühlers: "Das traurigste Thema ist die Gewalt, die die meisten Kinder hier tagtäglich erleben, ob zuhause oder in der Schule."). Solche Erfahrungsberichte machen zusätzlich deutlich, dass auch der allgemeine Umgang mit Kindern vor Ort vom Grundsatz her von Vernachlässigung geprägt sein kann. Die Spühlers berichten über den Satz einer Nachbarin: "Kinder soll man sehen, aber nicht hören." Und tatsächlich hörten Sie in ihrer Gegend fast nie Kinderlärm.
Aber auch ("negative") Gefühlsausdrücke von Kindern sind nicht erwünscht:
"Kinder – sobald sie den Windeln entwachsen sind - sollen z.B. nicht weinen. Auch in der Kindergruppe wird verlegen weggeschaut, wenn ein Kind weint und das betreffende Kind tut auch alles, um seine Tränen zu verbergen. Negative Gefühle sollen nicht gezeigt werden. So sah ich einmal ein wohl ca. 10-jähriges Mädchen eine halbe Stunde lang in einer Gartenecke gegenüber sitzen, völlig zusammengekauert und offensichtlich total betrübt. Verwandte und Freunde waren im selben Garten, aber niemand ging zu ihr hin. Bis sie sich aufraffte und – mit möglichst „normalem“ Gesicht wieder zurück zur Familie ging." Dies gilt vor allem für Kinder ab 1,5 Jahren. Aber auch Babys sollen ruhig sein und werden - wenn sie zu viel schreien - in einen Raum gebracht, wo sie alleine sind. "So lernen die Kinder schnell, dass es sich nicht lohnt, geräuschmässig aufzufallen." (eine Praxis, die auch hier in Europa lange üblich war.) "Sich mit Kindern aktiv beschäftigen oder sich gar mit ihnen unterhalten, das ist unbekannt."
Besonders erhellend und auch erschreckend fand ich den Hinweis, dass eine Bekannte keine Antwort auf die Frage wusste, was man denn auf afrikaans sagt, wenn man ein Kind loben möchte. Sie antwortete u.a.: "geh und spiel weiter" und "weine nicht, Mami hat dich doch nicht geschlagen."

Leider gibt es nur wenig Informationen über den Alltag von Kindern in Afrika und die Sicht auf Kindheit (zumindest habe ich dazu bisher wenig gefunden). Wer zusätzlich Infos hat, möge im Kommentarbereich gerne darauf verweisen.

Sonntag, 19. Februar 2012

Die Geisterwelt der Simatalu als Folge von Kindesmisshandlung?

Heute Morgen sah ich auf ARTE die Doku „Geheimnisvolle Völker – Die Geister der Simatalu“. Der Stamm der Simatalu lebt auf der Insel Siberut vor der Küste Sumatras. „Die Angehörigen dieses Stammes glauben, dass ihre Körper von Waldgeistern bewohnt werden. Sie versuchen stets sicherzustellen, dass die Geister sich bei ihnen wohlfühlen. Durch Tanz, Gesang und gute Lebensführung verhindern sie, dass die Geister sie verlassen - denn das hätte Krankheit oder Tod zur Folge. Auf diese Weise leben die Simatalu im Einklang mit ihrer Umwelt, was für sie bedeutet, die Regeln der Natur ebenso zu respektieren wie die Regeln ihrer Gesellschaft.“ steht bei ARTE in der Filmbeschreibung.

Der ARTE Text wie auch der Film stellt diesen Stamm weitgehend als eine große harmonische Gemeinschaft dar, wie es klassisch für die idealisierende Beobachtung von Stämmen und Urvölkern ist. In der Tat haben die Simatalu stets Angst diverse Geister zu erzürnen und in der Doku erfährt man auch von einer schweren Familienfehde, weil ein Schwein einst nicht gerecht geteilt worden war. Vor allem die erst genannte Beobachtung lässt vermuten, dass die zu besänftigenden Geister etwas mit verfolgenden und strafenden Eltern zu tun haben könnten. Viele Beobachter glauben an die naturverbundene Harmonie solcher Völker und an so etwas wie „Kultur“, wenn es um Geister und ähnlichen Glauben geht. Kaum jemand schaut, in wie weit dieser Geisterglaube etwas mit real erlebten Kindheitsalbträumen zu tun haben könnte, die sich in der Symbolik einer Geisterwelt wideraufführen.

DeMause hat viel darüber geschrieben, dass sich bei den Stämmen und Urvölkern die heftigsten Formen von Kindesmisshandlung finden lassen. Erst wenn man darum weiss, kann man auch erkenntnisreich mit einer psychologischen Lupe an solche Kulturen herantreten. Mir ist es mit solchen Dokus bisher oft so ergangen, dass sich nebenbei auch in den Berichten selbst deutliche Anzeichen von Kindesmisshandlung finden lassen, ohne dass dies besonders hervorgehoben würde. So war es auch mit dieser Doku.

Man erfährt, dass den Frauen bei den Simatalu als Mädchen die Zähne angespitzt wurden, was als „Kultur“ verstanden wird. Eine Frau berichtet darüber. Ihr Vater habe ihr als Mädchen einen ganz Tag lang mit einer Machete die Zähne gefeilt und angespitzt (natürlich ohne Betäubung), was sehr schmerzhaft war und der Schmerz hätte auch noch einen Monat lang angehalten. Dazu erfährt man in der Doku von Kinderehen, ein Mädchen wurde z.B. mit fünfzehn Jahren mit einem älteren Mann aus einem Nachbarstamm verheiratet. Solche Verhaltensweisen haben wenig mit „Kultur“ zu tun, sondern mehr mit der rücksichtlosen Verletzung von Mädchen. Jemand, der mitfühlen kann, jemand, der ein liebevolles Verhältnis zu seinen Kindern hat, würde diesen nicht die Zähne einen Tag lang mit einer Machete bearbeiten können. (Vermutlich werden die Mädchen dabei auch noch festgehalten, denn ich kann mir kaum vorstellen, dass ein Kind diese schmerzhafte Prozedur einfach so still haltend stundenlang mit sich machen lässt). Allem Anschein nach wird den Mädchen (wie auch bei uns, wenn es um misshandelnde Eltern geht) klar gemacht, dass dieser schmerzhafte, traumatische Akt "zu ihrem Besten" geschieht, dass sie so Schönheitsideal erfüllen und als Frauen später ansehnlich sind.

In dem Film erfährt man übrigens auch, dass die Hälfte der Kinder vor Erreichen des fünften Lebensjahres sterben. Neben der fehlenden medizinischen Versorgung muss man auch annehmen, dass diese hohe Kindersterblichkeit auch etwas mit dem Verhalten der Betreuungspersonen zu tun haben wird. Auch sexueller Missbrauch wird angesprochen. "Wisst ihr schon das Neuste", fragt eine Frau im Gespräch mit anderen. Ein Mädchen ist im Schlaf von einem Mann sexuell belästigt worden. Danach tauschen sich die Frauen aus. Entweder ist der Ehemann verpflicht, seine Frauen vor Übergriffen zu schützen oder es werden hohe Schadensersatzforderungen erhoben, wenn er sie nicht schützen konnte...

Donnerstag, 16. Februar 2012

Kindheit von John F. Kennedy

 (aktualisiert am 15.11.2013)


Der Vater Joseph P. Kennedy galt als „schwieriger wie umstrittener Mann, ein Tyrann, zerfressen von Ehrgeiz und Machtanspruch.“ (Pergande, 2011, S. 13) Der Selfmade-Millionär drillte seine Kinder zudem auf Erfolg, nur das zählte für ihn. Verlierer duldete er nicht. Und natürlich sollte einer seiner Söhne US-Präsident werden. (vgl. GEO Epoche, 12/2009) Joseph wörtlich: „Wir wollen keine Verlierer unter uns haben. In dieser Familie wollen wir nur Gewinner.“ (Pergande, 2011, S. 16)
Joseph war seiner Frau praktisch immer untreu und diese tat ihr Leben lang so, als wisse sie nichts davon. (vgl. Pergande, 2011, S. 14). Revuemädchen, Prostituierte, die Frauen von Geschäftspartnern, überall suchte Joseph Sex und er fasste sogar Freundinnen seiner Töchter an und befummelte sie. (vgl. Geoepoche, 12/2009, S. 28) „Joseph P- Kennedys Söhne lernen, Frauen als Leistungsbeweise in einer steten Jagd nach Bestätigung zu sehen.“ (ebd.) Und so jagte auch John F. (genannt auch „Jack“) den Frauen hinterher. „Sekretärinnen und Stewardessen, Models, Sportlerinnen, „Namen“ aus dem Filmgeschäft: Im Grunde ist es ihm egal. Seine beinahe mechanische Eroberungsobsession übertrifft wohl noch die seines Vaters, auch in der Fixierung auf Selbstbestätigung statt Genuss. (…) Hinter dem Charisma ist nichts als Leere: John F. Kennedy vermag Menschen so routiniert zu verführen, weil sie ihn im Grunde nicht interessieren.“ (ebd., 32+33)
Aber auch Prostituierte gehörten für ihn dazu, was "seinen Personenschutz oft in Bedrängnis bringt, da unbekannte Frauen (...) ohne Sicherheitsüberprüfung in sein Hotelzimmer oder seine New Yorker Privatsuite geleitet werden." (welt.de, 25.06.2013)

John F. war zeitlebens von schweren Krankheiten und Beschwerden geplagt. Schon in seiner Jugend hatte er Scharlach, Keuchhusten, Masern, Astma, Windpocken, Gelbsucht, Magengeschwüre und wiederholte Anfälle von Bronchitis. (vgl. Schild, 1997, S. 12) Die Liste weiterer Beschwerden ist lang und einen frühen Tod hielt er für wahrscheinlich. Einem Freund erklärte John F. einmal, dass er für den Moment lebe. „Er behandele jeden Tag, als wenn es sein letzter sei und suche deshalb ständiges Vergnügen.“ (ebd., S. 13)
(Heute sind sich viele Beobachter einig darüber, dass JFK niemals Präsident geworden wäre, wenn sein Gesundheitszustand öffentlich bekannt geworden wäre.)

Auf den Charakter des Vaters bin ich oben bereits kurz eingegangen. DeMause berichtet auch von körperliche Gewalt. Joseph P. Kennedy schlug die Köpfe der Kinder gegen eine Wand. Aber auch die Mutter verprügelte John F. mit einem Kleiderbügel und einem Gürtel. (vgl. deMause, 2011) Die Mutter schrieb in ihren Erinnerungen:
„Ich glaube, es gehört zu den legendären Vorstellungen, die man sich von einem Präsidenten macht, dass man glaubt, er besäße außergewöhnliche Qualitäten und habe sich als Kind durch unfehlbare Tugendhaftigkeit ausgezeichnet. Ich kann bestätigen, dass dies bei Jack nicht so war (…) oder irgendeinem der anderen Kinder. Wenn sie es verdient hatten, dann war, glaube ich, ein ordentlicher Klaps eine der wirksamsten Methoden ihnen eine Lektion zu erteilen.“ (Pergande, 2011, S. 15) „Meine Mutter ist ein Nichts“ sagte John F. einmal über seine Mutter Rose. (Geoepoche, 12/2009, S. 27ff) „Während seiner Kindheit und Jugend sei sie entweder in Paris einkaufen gewesen oder habe in irgendeiner Kirche auf den Knien gelegen; sei sie doch einmal zu Hause gewesen, habe er sie nie zärtlich erlebt. Sie ist eine offenbar kalte, bigotte, verschwednungssüchtige Person, obsessiv auf soziale Reputation bedacht.“ (ebd.) Jacqueline Kennedy sagte einmal über die Beziehung der Mutter zu John F.: „Seine Mutter liebte ihn nicht wirklich ... Sie liebte es, den Leuten zu erzählen, dass sie die Tochter des Bürgermeisters von Boston war und die Frau des Botschafters ... Sie liebte ihn nicht.“ (Pergande, 2011, S. 16)
JFKs Schwester Jean Kennedy-Smith berichtete noch im hohen Alter über die Strafformen in der Familie: "Unsere Mutter war streng. Wenn wir ungehörig waren, sperrte sie uns in ihren Kleiderschrank. Einmal saß ich schon eine ganze Weile drinnen, ich hatte ihre Schuhe und ihre Kleider längst durchgezählt, als die Tür aufging und Teddy dazu kam. Sie hatte mich einfach vergessen. Also saßen wir zusammen im Dunkeln und unterhielten uns darüber, was für eine gemeine Mutter wir haben." (SPIEGEL-Online, 15.11.2013)

John F. Kennedy ist wohl gerade uns Deutschen durch seinen Satz „Ich bin ein Berliner“ ein Symbol und genießt wohl auch im Rückblick hierzulande viel Sympathie. Er war aber auch ein Präsident, der durch die Operation in der Schweinebucht auf Cuba ein hohes Risiko einging und eine mögliche Eskalation des Konfliktes in Kauf nahm. Kennedy war während der späteren Cuba Krise (Stationierung von nuklearen Waffen auf Cuba) bereit, einen Atomkrieg zu führen und rechnete mit 200 Millionen toten Amerikanern (vgl. deMause 2011). Die gefährlichsten zwei Wochen der Menschheitsgeschichte im Jahr 1962 gingen glücklicherweise friedlich aus. Wäre der Konflikt tatsächlich eskaliert, wäre Kennedy zusammen mit dem sowjetischen Führer Chruschtschow bei den wenigen überlebenden Menschen des Atomkrieges als Symbol des absoluten Untergangs in Erinnerung geblieben…
Außerdem hatte Kennedy bereits in seinem Wahlkampf im Jahr 1959 die Notwendigkeit betont, Amerikas Anwesenheit in Berlin notfalls mit einem Atomkrieg zu verteidigen: "Unsere Position in Europa ist einen Atomkrieg wert, denn wenn wir aus Berlin vertrieben werden, werden wir aus Deutschland vertrieben. Und wenn wir aus Europa vertrieben werden, werden wir aus Asien und Afrika vertrieben, und dann sind wir als Nächste dran. (...) Wir müssen unsere Bereitschaft signalisieren, die ultimative Waffe einzusetzen." (welt.de, 25.06.2013)

Kennedy war trotz anderer öffentlicher Bekundungen alles andere als ein Friedensbringer. Er ordnete gleich nach Amtsantritt eine Überprüfung der amerikanischen Verteidigungsstrategie und eine Erhöhung der Militärausgaben an. „Die USA begann die größte Aufrüstungsaktion ihrer Geschichte in Friedenszeiten: In den ersten drei Monaten seiner Amtszeit beantragte Kennedy eine Erhöhung des Verteidigungshaushaltes um sechs Milliarden Dollar. (…) Insgesamt wurde das Militärbudget unter Kennedy von 47 auf knapp 60 Milliarden Dollar pro Jahr gesteigert.“ (Schild, 1997, S. 80) Auch das militärische Engagement in Vietnam nahm unter Kennedy größere Dimensionen an. Er lieferte Waffen nach Vietnam, befahl US-Militärpiloten Entlaubungsmittel über den Dschungel zu versprühen und steigerte die Zahl der „Militärberater“, die heimlich immer mehr wie reguläre Soldaten operierten, bis Ende 1963 auf 16.000. (vgl. GEO Epoche, 12/2009) Ende 1961 stimmte Kennedy auch dem Einsatz von Napalm zu. (vgl. Ausstellung des Deutschen Historischen Museums über Kennedy Ende 2003) Unter Kennedy verstrickten sich die USA immer mehr in den Vietnam Krieg.

DeMause (2005, S. 13ff; siehe auch online in englisch hier) vertritt die These, dass die amerikanische Nation damals emotional für einen Krieg bereit war und mit Wut reagierte, als die Cuba Krise ohne jeden Krieg endete. Ihre Wut richtete sich sodann gegen ihren eigenen Führer. In Reden und politischen Cartoons bauten sich Mordfantasien gegen Kennedy auf. DeMause weist parallel dazu auch nach, dass Kennedy selbst die tödliche Gefahr für sich vorausahnte und Warnungen nach Dallas zu reisen ignorierte. Kennedy habe, so deMause, unbewusst die Märtyrerrolle angenommen.
Als die Cuba Krise mit einer Erklärung der Russen bzgl. des Abzugs der Raketen am 28.10.1962 endete, sagte Kennedy am Abend des selben Tages zu seinem Bruder: „Ich sollte ins Theater gehen.“ „Ein finsterer Scherz, der auf das Ende des legendären US-Präsidenten Abraham Lincoln anspielt. Der hatte knapp 100 Jahre zuvor unter unendlichen Opfern den Amerikanischen Bürgerkrieg gewonnen. Und war endgültig zum Mythos geworden, als er kurz nach seinem Sieg in einem Theater von einem Attentäter ermordet wurde.“ (GEO EPOCHE 12/2009, S. 114)


Quellen:

deMause, L.2005: Das emotionale Leben der Nationen. Drava Verlag, Klagenfurt/Celovec.

deMause L. 2011: Global Wars to Restore U.S. Masculinity. In: The Journal of Psychohistory (Hrsg. deMause, L.), Volume 28, No 4. New York, 290-312 (Text ist auch online: http://www.psychohistory.com/originsofwar/11_globalWars.html)

GEO Epoche 12/2009, Nr. 40: John F. Kennedy.

Pergande, F. 2011: John F. Kennedy. Vom mächtigsten Mann der Welt zum Mythos. Bucher Verlag, München.

Schild, G. 1997: John F. Kennedy. Mensch und Mythos. Muster-Schmidt Verlag. Göttingen – Zürich.

SPIEGEL-Online, 15.11.2013, "Treffen mit Kennedy-Schwester Jean: Mein Bruder JFK" (von Karin Assmann)

welt.de, 25.06.2013,  "JFK brauchte Sex, Drogen und spielte mit der Bombe" (von Alan Posener)

Dienstag, 7. Februar 2012

Kurzer Austausch mit Steven Pinker über sein Buch

Ich habe kürzlich Steven Pinker (nachdem ich sein Buch "Eine neue Geschichte der Menschheit" hier besprochen habe) angeschrieben und ihn gefragt, warum er, obwohl er in seinem Buch auf etlichen Seiten den Rückgang der Gewalt gegen Kinder beschrieben hat und er die Arbeit von Lloyd deMause kennt, diesen Gewaltrückgang nicht in einen Zusammenhang mit dem allgemeinen Gewaltrückgang gebracht hat.

Seine erste Antwort war kurz und knapp ein Satz. Er wäre skeptisch bzgl. des Einflusses der Kindererziehung auf die Persönlichkeit und das Verhalten. Für die Begründung verwies er auf das „Kindheits Kapitel“ in seinem Buch „Das unbeschriebene Blatt: Die moderne Leugnung der menschlichen Natur“. Das Buch kenne ich nicht, aber soweit ich gelesen habe, stehen dort biologische Einflüsse bzw. die Gene im Mittelpunkt. Insofern ist mir klar, worauf Pinker hinaus will.

Ich habe ihn dann nochmal direkt gefragt, ob er wirklich glaubt, dass Kindesmisshandlung keinen Einfluss auf die Persönlichkeit und das Verhalten hat. Und wies dabei auch nochmal darauf hin, dass die Kindesmisshandlung oftmals nichts anderes als Folter war, wenn man historisch zurückschaut, so wie er es auch in seinem Buch tat. Ich konnte mir auch nicht verkneifen zu fragen, ob er glaubt, dass wirklich geliebte Kinder, die keinerlei Elterngewalt erlebt haben, später zu Folterknechten, Massenmördern oder Diktatoren werden könnten.

Er antwortete dann etwas ausführlicher. Ja, er glaubt, dass geliebte Kinder zu den genannten Täterkreisen werden können. Und ja es sei möglich, dass extreme Formen (diese Formulierung von „extrem“ war ihm hier wohl wichtig) der Kindesmisshandlung das Leben der Betroffenen beschädigen. Es gäbe aber eine große Bandbreite an Kindererziehungspraxis, inkl. von Formen, die man als brutal (harsh) und grausam (cruel) bezeichnen könnte. Im nächsten Satz wies er dann auf sein Buch hin. Früher wurde die Mehrheit der Kinder täglich geschlagen oder verprügelt, doch die meisten davon wären nicht zu gewalttätigen Psychopathen geworden. Am Ende verwies er dann wieder auf sein Buch „Das unbeschriebene Blatt“.


Ich bin kein Mensch, der den Einfluss der Gene und Biologie bestreitet. Ganz im Gegenteil glaube ich, dass jeder Mensch von Anfang an mit einem ganz eigenen Temperament, biologischen einigermaßen dehnbaren aber eben doch festen Grenzen der Intelligenzentfaltung usw. auf die Welt kommt. Es macht insofern z.B. auch einen Unterschied, ob ein „von Natur aus“ sehr temperametvolles, aktives Kind mit einer hohen angeborenen Intelligenz misshandelt wird oder ob ein eher passiveres Kind misshandelt wird. Die Folgen werden bei beiden entsprechend unterschiedlich sein.

Es ist für mich einfach erstaunlich ja geradezu schockierend, wie jemand, der auf wirklich etlichen Seiten in seinem Buch fast schon im Stile eines Psychohistorikers die historischen, routinemäßigen Gewaltexzesse gegen Kinder beschreibt, der nachweist, dass Kinder weniger wert waren als Tiere, der zudem den Rückgang der Gewalt gegen Kinder und die stetige Etablierung und Erweiterung von Kinderrechten ausführlich behandelt (und der insofern Tief in die Materie eingetaucht ist) , der gelernter Psychologe ist und auch noch die Arbeiten von deMause kennt einen Zusammenhang bzgl. des allgemeinen Gewaltrückganges und des Zivilisationsprozesses nicht nur gedanklich in seinem Buch ausspart, sondern diesen Zusammenhang sogar abstreitet. Der kurze Emailaustausch zeigte mir, dass man von Pinker keine Einsichten in dieser Hinsicht erwarten darf. Dabei ging es mir gar nicht darum, dass er nun „alles auf die Kindheit“ schieben sollte. Es ging mir darum, dass er diesen Einfluss von Kindheit einbezieht, gerne auch neben all den anderen wichtigen Dingen und Einflussfaktoren.
Pinkers Argumentation ist außerdem unlogisch. Historisch wurden Kinder mehrheitlich täglich geprügelt und geschlagen, seien aber nicht zu gewalttätigen Psychopathen geworden. Wenn man sein Buch liest, über die Folter, Kriege und allgemeinen Gewaltorgien, die er ausführlich beschreibt, die zudem „ganz normal“ waren, dann fragt man sich, wie er zu dem Schluss kommt, dass die historischen Menschen mehrheitlich keine "gewalttätigen Psychopathen" waren?
Nun, damit muss man sich wohl abfinden… Pinkers Buch ist trotzdem wertvoll, da es durch seine vielen Datensammlungen und Fakten besticht, die die Geschichte der Gewalt beleuchten und in einem neuen Licht erscheinen lassen.

Dienstag, 31. Januar 2012

Osama Bin Laden schlug seine eigenen Kinder

Omar Bin Laden, der Sohn von Osama Bin Laden, berichtete in einem Interview Ende 2009 über seine Kindheit. “There were lots of kids, so it could be noisy. But when my father was around, we were quiet and obedient. My childhood was mainly sad and lonely because of my father's passion for supporting the Afghan people against the Russians. I rarely had time with him and he was afraid for our safety, so we had to play indoors. “ und “(…) my father was stern and did not hesitate to use his cane“ (übersetzt: mein Vater war streng und zögerte nicht, seinen Rohrstock zu benutzen) Im gleichen Satz fügte der Sohn allerdings auch noch gleich seine Idealisierung des Vaters an, was klassisch ist. Auch ein ZDF-Bericht enthüllt die familiäre Gewalt: "Er war kein Mann, der Gefühle zeigte", erinnert sich Omar. "Nichts weckte väterliche Wärme in ihm. Mein provokantes Verhalten führte dazu, dass der Rohrstock zu seinem Markenzeichen wurde. Er begann, mich und meine Brüder beim geringsten Vergehen mit dem Stock zu züchtigen."
"Der Terrorfürst behandelte seine Söhne nicht anders als seine Kämpfer, setzte sie Gefahren und Härten aus und schlug sie bei kleinsten Vergehen derart brutal, dass manchmal der Rohrstock zerbrach." schrieb das Hamburger Abendblatt über Osama Bin Ladens Umgang mit seinen Kindern. Der endgültige Bruch zwischen Omar Bin Laden und seinem Vater kam, so das Abendblatt, als Bin Laden senior seine Söhne dazu aufforderte, sich für Selbstmordmissionen zu melden. Er ermutigte sie, sich für al-Qaida in die Luft zu sprengen...

Dass Osama Bin Laden Gewalt gegen seine Kinder anwandte, sie vernachlässigte und sie in seiner Gegenwart „leise und unterwürfig“ sein sollten, verrät viel über das, was Osama Bin Laden als Kind selbst erlebt haben dürfte. Ich finde es immer wieder bezeichnend, dass sich bzgl. solcher Massenmörder stets alles andere als ein liebevoller Umgang mit den eigenen Kindern und auch keine eigene liebevolle Kindheit nachweisen lässt. Denn: Geliebte Kinder werden nicht zu Massenmördern.