Mittwoch, 16. August 2023

Zwischenbilanz: Entwicklung meiner Arbeit, aber auch meiner Person

Es wird Zeit für einen Zwischenbericht zur Entwicklung meiner Arbeit, aber auch über meine persönliche Entwicklung. 

Ich erinnere mich heute zunächst zurück an das Jahr 2003. Damals war ich noch Student der Soziologie an der UNI Hamburg. Im Nebenfach Politologie hielt ich innerhalb eines Seminars über Kriegsursachen ein Referat über die Zusammenhänge zwischen destruktiven Kindheitserfahrungen und Krieg. Geleitet wurde das Seminar von einer Dozentin, die auch aktives Mitglied der Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) war. 

Geprägt war ich zu der Zeit ganz wesentlich von dem ca. Anfang 2002 veröffentlichen Buch „Der Fremde in uns“ von Arno Gruen, aber auch von „Am Anfang war Erziehung“ von Alice Miller. Ergänzend konnte ich zwei Semester lang einer großen Vorlesungsreihe am UKE von Peter Riedesser (früherer  Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Experten für Psychotraumatologie) über Kindheit folgen. Diese Vorlesungen, fast alle von Riedesser persönlich gehalten, haben mich damals schwer beeindruckt und auch bestätigt. Später fand ich einen eindrucksvollen Text (bzw. eine Rede) von Riedesser, aus dem ich auch heute noch oft zitiere. 

Schon damals erkannte ich für mich die absolut wertvollen Aussagen von Gruen und Miller, die gesellschaftliche destruktive Prozesse auf einer tieferen Ebene analysierten. Schon damals sah ich aber auch, wie beiden Arbeiten empirisches Material und handfeste Daten fehlten, weil sie sehr psychoanalytisch ausgerichtet waren. 

Meine damalige Hausarbeit (Titel: Der "Krieg" in den Kinderzimmern als Wurzel kriegerischer Gewalt) war ein erster Versuch, diese „Lücke“ zu schließen. Im Jahr 2003 war meine Herangehensweise provokant. Zudem musste ich auf die noch verhältnismäßig wenig Daten über das internationale Ausmaß von Gewalt gegen Kinder zurückgreifen (was heute ganz anders aussieht). 

Ich werde nie das Gefühl vergessen, als der Tag der Besprechung meiner Hausarbeit anstand. Die Rahmenbedingungen entsprachen auf eine Art dem Thema. Das Gebäude, in dem der Termin mit der Dozentin stattfand, war von innen her ein fast klassisches „Behördengebäude“: Optisch kalte und karge Räume und Gänge, große und lange Flure. Ich weiß nicht warum, aber als ich das Gebäude betrat, war kein einziger Mensch zu sehen, auch auf meinem Weg nach oben zum Raum der Dozentin nicht. Es war fast etwas unwirklich und ich rechnete damit, hinter der Tür mit der mir aufgezeigten Raumnummer niemanden anzutreffen. Nun, da saß sie nun, meine Dozentin und wir begannen damit, meine Hausarbeit zu besprechen. 

Mit Anfang 20 ist man noch nicht ganz reif und neigt auch zur Überschwänglichkeit. Ich betrat damals mit dem Gefühl diesen Raum, dass ich jetzt Meldung bei der „Feuerwehr“ abgeben werde. Die Dozentin repräsentierte für mich die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) und mir war bewusst, dass Kindheitserfahrungen in der sozialwissenschaftlich ausgerichteten Ausrichtung dieser Einrichtung kein Thema war. Ich kam mit dem Gefühl, den „Schlüssel“ zu übergeben, der dann weitergereicht werden sollte. 

Nun, meine Erwartungen wurden enttäuscht. Auf den Inhalt ging die Dozentin kaum ein. Meinen Ausführungen lauschte sie zwar, gab aber am Ende bzgl. der Benotung den Kommentar, dass ich die einigermaßen gute Note vor allem auf Grund meiner Vielzahl an Quellenarbeit erhalten würde. 

Diese Hausarbeit war mein Startpunkt bzgl. der Erforschung der politischen Folgen von Kindheit. Seit ca. 2001 hatte ich mich zuvor intensiv mit dem Gesamtthemenkomplex Kindesmisshandlung und den individuellen Folgen befasst. Damals betrieb ich auch eine Homepage über das Thema, die ich dann später einstellte. Nun betrat ich zunehmend den politischen Raum. 

An der Tür der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) wurde ich nach meinem Empfinden abgewiesen. Später schickte ich noch – in meinem jungen Überschwang... - die überarbeitete und ausgeweitete Hausarbeit an diverse Mitglieder der AKUF. Reaktion bekam ich nur von einer einzigen Person, die im Jahr 2003 noch studentische Hilfskraft des oben besprochenen Seminars gewesen war und die meine Hausarbeit mit kontrolliert hatte. Wir verfielen in einen tagelangen Emailverkehr zu dem Thema. Im wesentliche kam heraus, dass das Thema Kindheitseinflüsse abgewehrt wurde. 

Diese Abwehr des Themas blieb jahrelang mein beständiger Begleiter. Oder besser gesagt: Die Nicht-Reaktion auf Anschreiben, Aussagen, Gespräche und Blogbeiträge. Dies änderte sich erstmals im Jahr 2012, als mein Arbeitspapier „Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an: Plädoyer für einen offenen Blick auf die Kindheitsursprünge von Kriegen“ am Lehrstuhl Internationale Politik der Universität zu Köln veröffentlicht wurde. Prof. Dr. Thomas Jäger hatte nach einem kurzen Austausch mit mir Interesse für das Thema gezeigt und wollte dazu etwas von mir veröffentlichen. 

Irgendwann in den Jahren danach kam ein Vertreter der Gesellschaft für Psychohistorie und Politische Psychologie e. V. auf mich zu und regte eine Zusammenarbeit an. Daraus entstanden dann erste Beiträge von mir im „Jahrbuch für psychohistorische Forschung“. Im Jahr 2018 schrieb ich mein Buch und konnte es durch die Vermittlung von Dr. Ludwig Janus 2019 im Mattes-Verlag veröffentlichen. Das Buch hat mir in der Folge viele Türen geöffnet. Es entstanden weitere einzelne Fachbeiträge von mir und seit dem Jahr 2021 wurde ich ergänzend zu einigen Fachvorträgen u.a. auch von renommierten Akteuren wie „Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin“, „Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin“ oder dem „Deutschen Präventionstag“ eingeladen. 

Beim Deutschen Präventionstag (dem größten europäischen Kongress zur Kriminalprävention) ist ergänzend auch ein großer Text von mir erschienen. Mehr fachlichen „Feueralarm“ kann ich im Grunde fast nicht mehr auslösen :-), was mich emotional enorm entlastet.  

Nebenbei verbreitete sich mein Buch immer weiter in Fachkreisen (mit so einigen Fachleuten hatte ich auch persönlich Kontakt und Austausch) und ist mittlerweile auch in so manchen Büchern zitiert worden. Auch renommierte Kriminologen wie Christian Pfeiffer und Dirk Baier haben mein Buch gelesen und darauf verwiesen (wobei Pfeiffer mein Buch als „wichtiges Buch“ bezeichnet hat, während Baier es halb würdigte und halb kritisierte). 

Warum schreibe ich dies alles?
Es ist zum einen ein großer Rückblick auf die vergangenen über 20 Jahre. Was aber viel wesentlicher ist, ist das ganz private und persönliche Gefühl von mir, das mit dieser Entwicklung einhergeht. Die beständige Bestätigung der Bedeutsamkeit meiner Erkenntnisse und auch die Anerkennung dieser Arbeit, dabei vor allem auch die Anerkennung, dass diese einen hohen Wahrheitsgehalt hat, haben mich nervlich wirklich extrem beruhigt. Ich fühle mich nicht länger als jemand, der einen Brand sieht, überall anruft und man lässt es halt brennen. Klar, auf gesellschaftlicher Ebene fehlt weiterhin viel an Bewusstsein. Dass die genannten Fachkreise meine Arbeit gesehen haben, gibt mir aber einfach ein gutes und auch beruhigendes Gefühl. 

Die Kehrseite des Ganzen: Meine Motivation ist etwas abgeflaut. Oder anders gesagt: Es „brennt“ auch weniger in mir, das „Feuer“ wurde quasi auch innerlich etwas gelöscht, was ich persönlich sehr gute finde. Nach den Coranajahren und dem für mich, als unternehmerisch tätigen Menschen, schwierigem Wirtschaftskrisen-Jahr 2022 (ausgelöst durch den Ukraine-Krieg, der wiederum viel mit Kindheit in Russland zu tun hat; ich als Unternehmer also quasi – meinen psychohistorischen Erkenntnissen nach - auch ein Stück weit an den Folgen von Kindheit in anderen Ländern zu leiden hatte...) steht zudem auch die Frage im Raum: Wie viel Zeit möchte ich dem Thema noch zugestehen? Die Zeit, die ich dem Thema widme, ist - außer bzgl. dem Buch - unbezahlt und ehrenamtlich. Meine Antwort ist, dass ich deutlich weniger Zeit in das Thema stecken werde. 

Das hat auch etwas damit zu tun, dass ich im Grunde kaum noch Entdeckerarbeit sehe. Alle für mich wesentliche Bereiche habe ich ergründet und bearbeitet. Wesentliche neue Infos und Erkenntnisse verbreite ich meist über Twitter, weil dies einfach viel schneller zu machen ist, als über einen Blogbeitrag und die Reichweite auch größer ist. Blogbeiträge kommen sicher noch, aber nicht mehr so häufig. 

Für meinen Blog sehe ich drei wesentliche Aufgaben vor mir:

1. Es muss dringend ein ausführlicher neuer und großer Beitrag über die Adverse Childhood Experiences Studien her. In Fachtexten, in meinen Vorträgen und innerhalb meines Twitter-Accounts ist die ACEs Forschung zentral. Im Blog habe ich das Thema dagegen bisher vernachlässigt. 

2. Nachdem die geplante Übersetzung meines Buchs ins Englische vorerst gescheitert ist, plane ich die Übersetzung zumindest eines großen Textes ins Englische. Das Thema ist viel zu wichtig, als dass ich meine Erkenntnisse nur im deutschsprachigen Raum verbreite. 

3. Immer noch plane ich den Umzug des Blogs. Eine entsprechende Domain habe ich bereits reserviert. Der Blog soll optisch ansprechender und frischer werden. Viele Texte müssen zudem überarbeitet werden. Das wird sehr viel Zeit kosten und ist für mich nur Stück für Stück machbar (vermutlich innerhalb der nächsten drei Jahre). Am Ende soll dann quasi ein verschlankter Blog mit den zentralsten Beiträgen stehen, die dann für die „Ewigkeit“ im Netz allen zur Verfügung gestellt werden. Vermutlich werde ich auch einiges aus meinem Buch online stellen bzw. zusammenfassen. 

Und dann ist auch irgendwann auch mal gut. Immer wieder werde ich natürlich interessiert neue Infos sichten. Aber ich bin jetzt 46 Jahre alt und plane nicht, dass Thema derart intensiv bis ins Rentenalter zu bearbeiten. Letztendlich hängt es ja auch nicht mehr am Informationsstatus, sondern an dem Vermögen und Willen, die Dinge wahrzunehmen. Dafür braucht die Gesellschaft – die gesellschaftliche „Psyche“ - einfach ihre Zeit. Meine Texte werden diesen Prozess nicht beschleunigen, sondern nur ankitzeln. Es steht und fällt mit der Evolution von Kindheit (Verbesserung von Kindheitsbedingungen) und von persönlicher, wie auch kollektiver Aufarbeitung von erlebten Traumatisierungen. Dieser Prozess ist im Gang und er ist auch nicht zu stoppen. Evolution muss immer sehr langfristig gedacht werden. So ist es nun einmal in der Welt. 

Das lustige ist, dass sich, trotz der vielen gezeigten Entwicklungen, meine Grundaussagen seit dem Jahr 2003 im Grunde nie geändert haben. Damals zweifelte ich etwas an mir selbst, weil die Feedbacks so still, ausweichend oder kritisch waren. Durch meine vielen Datensammlungen habe ich diese Selbstzweifel längst überwunden. Im Kern bleibt die Grundaussage, dass eine friedlichere Kindheit eine friedlichere Gesellschaft/Welt zur Folge hat. Und natürlich gelten weiterhin die Sätze: "Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an!" und "Die Kindheit ist politisch!"

Für mich persönlich hat sich durch mein angearbeitetes "trauma-informiert-sein" allerdings der Blick auf meine Familiengeschichte, meine Verwandten, mein Umfeld, meine Alltagsbegegnungen und bzgl. dem täglichen Wahnsinn der Berichterstattungen über Geschehnisse in der Welt verändert. Viele Dinge sind für mich erklärbarer geworden. Privat sowie beruflich ist dies manches Mal auch nützlich für mich, weil man Warnzeichen bzgl. anderer Menschen und ggf. sich anbahnenden "dunklen Wolken" früher erkennt. 

Insgesamt bedauere ich etwas, dass ich schon mit Anfang 20 ein Stück weit Leichtigkeit im Leben verloren habe. Zu wissen, wie die Welt heute mit Kindern umgeht und wie unsere Vorfahren sogar noch weit schlimmer mit Kindern umgegangen sind, das hinterlässt auch Spuren. Realitäten auszublenden, kommt aber nicht für mich in Frage. Denn dies würde in der Folge auch bedeuten, Präventionsmöglichkeiten auszublenden.


Montag, 7. August 2023

Kindheit von Till Lindemann (Rammstein)

Jüngst haben diverse Frauen Vorwürfe gegen Till Lindemann von der Band Rammstein erhoben. Ich nahm dies zum Anlass, etwas über die Kindheit des Sängers zu recherchieren. Im Internet fand ich zunächst nicht viele Infos dazu. 

Ich fand nur zwei wichtige Details: Till, der damals Leistungsschwimmer war, hat seine Kindheit weitgehend im Sportinternat in der DDR verbracht (Könnau, S. (2023, 30. Mai): Rammstein-Frontsänger: Was Vater Werner über seinen Sohn Till Lindemann schrieb. Mitteldeutsche Zeitung.).
Damit einher ging eine räumliche Trennung von der Familie, aber vermutlich auch der auf Leistung bezogene Erziehungsrahmen, den die damalige DDR Leistungs-Sportlern aufdrückte. 

Seine Mutter Brigitte „Gitta“ Lindemann hat innerhalb eines Interview gesagt:  „Wir waren ja nicht immer sehr glücklich als Familie, weil es waren ja alles Individualisten und jeder meinte sein Anspruch realisierten zu müssen“ (SWR2 Tandem (2013, 21. August): Irgendein Mike Oldfield neuerdings, ca. Minute 3:18).

Ich habe mir dann das Buch „Mike Oldfield im Schaukelstuhl. Notizen eines Vatersvon Werner Lindemann (1988, Buchverlag Der Morgen, Berlin) besorgt. Der Vater von Till Lindemann berichtet darin über das Zusammenleben mit seinem Sohn, der als Neunzehnjähriger für eine kurze Zeit zu ihm aufs Land zog. Im Buch heißt sein Sohn „Timm“. 

Dass mit „Timm“ Till gemeint ist, hat der Sänger in einem späteren Nachwort zum Buch selbst ausgesagt: „Ich fand überhaupt nicht gut, dass mein Vater das einfach veröffentlicht hat, ohne mich zu fragen. Alle wussten, dass ich der Timm im Buch bin. Das waren mir zu viele Einblicke in mein Leben“ (Süddeutsche Zeitung (2020, 13. März): Vater und Sohn). 

In dem Buch fand ich ganz wesentliche Infos über die Kindheit von Till Lindemann. Sein Vater schreibt ganz zu Anfang statt einer Widmung: „Junge Bäume haben Mühe, hochzukommen im Schatten der alten“. Dieser Satz durchzieht auch das Buch, denn der Vater ringt stets mit sich, seinem Sohn und dem Vater-Sohn-Verhältnis. „Eine jähe Erkenntnis: Die Kluft zwischen Timm und mir ist breit und tief. Was weiß er über mich? – Was weiß ich über ihn? Der Junge hat in den vergangenen Jahren seltener an meinem Tisch gesessen, als der Vollmond am Himmel erschienen ist. In der Kinder- und Jugendsportschule war er beinahe jedes Wochenende gefordert: Schwimmtraining, Reisen, Wettkämpfe. Die gemeinsamen Tage in der Stadtwohnung könnte ich zählen; ich habe seit eh und je lieber hier draußen in unserem alten Bauernhaus zwischen den Weidenhügeln gesessen“ (Lindemann 1988, S. 10). 

Manchmal gibt es intensivere Begegnungen zwischen Vater und Sohn. Manchmal verläuft es auch so: „Timm hat wohl wieder seine Dunkelkammerzeit. Schweigend verlässt er das Haus, ohne Worte betritt er es. Keine Fragen, keine Antworten. Ein gefühlloser Schatten“ (S. 62). 

Der Vater scheint seinerseits auch sehr in sich zurückgezogen gewesen zu sein und wirkt melancholisch bis teils depressiv. An einer Stelle im Buch unterbricht er z.B. den Textfluss und schreibt einfach das Wort „Selbstmordeinsam“ dazwischen (S. 19). 

Tills Vater wurde im Zweiten Weltkrieg schwer belastet und musste als Jugendlicher kämpfen. Aufschlussreich ist, dass er seine Erinnerungen an seinen Sohn ständig mit Erinnerungen aus seinem frühen Leben unterbricht, die er auch oft mit „Erinnerung“ betitelt, um sie vom Rest des Textes abzugrenzen. Oft sind diese Erinnerungen geprägt von Berichten über belastende Erfahrungen. 

An einer Stelle erinnert er sich an das Jahr 1941, als er bei einem Großbauern in die Lehre ging. Der Bauer strafte ihn einmal mit einer Peitsche, weil er eingeschlafen war (S. 13). Auch erinnert er sich an konkrete Kriegserlebnisse, u.a. an verletzte Kameraden und der Gefahr, selbst getötet zu werden (S. 37f.). Auf der Flucht wird er von einem Panzer beschossen. „Mit jeder Granate fliegen zwei, drei Flüchtende in die Luft“ (S. 115). Oder er erinnert sich, wie ihn sowjetische Soldaten mit gezogener Pistole beklauen (S. 57f.). Dann ist er wieder im Hier und Jetzt mit Timm, um dann anzuschließen: „Aus dem Morgen, vom Dambecker See her, tief gestaffelt, ziehen Graugänse heran. Erinnerung überfällt mich: Flugzeuge – Sirenengeheul – pfeifende Bomben. Die grauen Keile – Wildgänse. Welch heiteres Geschwätz am Himmel“ (S. 58f.). Ich vermute allein auf Grund dieser Schilderungen bzgl. Flashbacks, dass Werner Lindemann an einer posttraumatischen Belastungsstörung gelitten hat. Dies kann auch Folgen für Angehörige und insbesondere Kinder haben (Stichwort: transgenerationales Trauma). 

Manchmal besucht die Mutter aus der Stadt kommend Vater und Sohn. Einmal gibt es Streit und sie sagt zu ihrem Mann: „Der Junge ist so verrückt, weil wir uns zu wenig um ihn gekümmert haben“. Der Vater: „Wie kümmern, wenn er jahrelang von früh bis spät, sieben Tage in der Woche im Schwimmbecken liegt?“. Die Mutter: „Wir hätten öfter mitfahren sollen“ (S. 65). 

Eine glückliche Familie scheint dies nicht gewesen zu sein, was ja auch die Mutter so ähnlich in dem Zitat oben ausgesagt hat. 

Werner Lindemann berichtet auch kurz über das eigene Erziehungsverhalten seinem Sohn gegenüber: es war offenbar auch geprägt von Gewalt. Der Vater hatte seinem Sohn alte Gedicht gezeigt. In einem Gedicht geht es um Fehlverhalten (meterlang die Tapete bemalt) von „Timm“ (der rechtfertigt sich damit, dass dies Arbeit gewesen wäre) und am Ende fragt der Vater sich „Bin ich berechtigt, Arbeit zu bestrafen? Timm liest die Gedichte und sagt lächelnd: `Du hast mir oft den Arsch versohlt`“ (S. 22). 

Dass der Vater zu Gewalt neigte, zeigt sich auch in einer weiteren Szene. Nach einem Streit mit seinem Sohn über Unordnung schreibt Werner: „Wo es an Argumenten fehlt, gebraucht man die Fäuste – ich hole aus, schlag zu. Timm wehrt sich. Ich stolpere, falle auf die Stufen des Hauseingangs. “ (S. 103). 

Vater und Sohn sprechen danach eine Zeit nicht miteinander. Seine Frau macht ihm später Vorwürfe wegen des körperlichen Übergriffs. Und er hält ein weiteres Streitgespräch mit ihr fest: „Kein Wunder bei unseren Scheißfamilienverhältnissen.“ Der Vater reagiert. „Ihr hättet ja alle mit nach hier ziehen können“. Die Mutter: „Du hättest dich ja öfter in der Stadt sehen lassen können“ (S. 105). 

Werner Lindemann und seine Frau sind noch ein Paar, leben aber wohl seit Jahren getrennt. 

Bereits bei der Geburt von „Timm“ war das Paar offensichtlich räumlich getrennt. Er habe in dem Haus der Familie als Untermieter zwei eigene Zimmer gehabt, schreibt Werner. „Als Timm geboren wurde, lebte jeder für sich“ (S. 143). 

Der Auszug seines Sohnes erfolgte heimlich und schweigend. Er ging einfach, ohne zu sagen wohin. Werner erfährt schließlich, wo sein Sohn jetzt wohnt und schließt sogleich damit, dass er in der Folge über eine Koppel läuft und die Umgebung auf sich wirken lässt. Er fügt direkt an: „Ein Augenblick, wo das Leben so vollendet scheint, dass ich sterben möchte“ (S. 186). Was für ein Ende für ein Buch über das eigene Vater-Sohn-Verhältnis... 

Montag, 19. Juni 2023

Kindheiten von 27 Neo-Nazis/Skinheads aus Schweden und den USA

Erneut habe ich eine Studie gefunden, innerhalb der deutlich auf Kindheitserfahrungen von Extremisten eingegangen wird: 

Mattsson, C. & Johansson, T. (2022). Radicalization and Disengagement in Neo-Nazi Movements: Social Psychology Perspective (Routledge Studies in Countering Violent Extremism). Routledge, New York. (Kindle E-Book Edition)

27 (davon fünf weiblich) ehemalige oder aktive Neo-Nazis/Skinheads aus Schweden und den USA wurden über lange Zeiträume (bis zu fünf Jahre lang) hinweg wiederholt befragt. Die Autoren fassen an manchen Stellen im Buch die Ergebnisse bzgl. der Kindheitsbedingungen der Befragten wie folgt zusammen: 

Most of the interviewees in the skinhead group describe their upbringing as characterized by a lack of care, often sheer neglect and physical and psychological violence. Growing up in conditions such as poverty, abuse, violence or other social ills risks undermining the individual`s life chances, but there are also large variations in how people relate to their upbringing” (S. 55). 

When we asked them about their experiences childhood, they sometimes found it difficult to convey a clear memory. It is often painful to be confronted with and process memories of parents who failed, and an adult world that has not been able to provide much-needed support in a chaotic life” (61). 

Several of our informants were bullied at school” (S. 63). 

There are recuring mentions about the betrayal of the adult world and a lack of trust. The betrayal has taken different forms. In some cases, it is about violence and extreme insecurity in the home. In others, it is more about emotional vulnerability and the fact that the adults have been absent. All informants express a desire to escape from their families and from the shame of being different, and to seek comfort and confirmation elsewhere” (S. 68). 

In einigen Fällen wird von einer Kindheit ohne Probleme berichtet, so z.B. bei “Andreas” und “Julius”. Zwischen den Zeilen der Selbstberichte fanden die Forschenden allerdings Auffälligkeiten: Andreas wurde von der Schule verwiesen und musste später zwei Jahre wiederholen; Julius verließ früh sein Zuhause, um den starken Kontrollbedürfnissen seines Vaters zu entkommen. Die Forschenden kommentieren: „These informants seem to be compelled to avoid the stereotype of the skinhead raised in a deprived home. Thus, there are reasons to believe that vital parts of their childhood memories are left out of the narrative” (S. 67). 
Während meiner Recherchen fand ich nicht oft solche Kommentierungen. Dabei sind dies ganz wichtige Anmerkungen! Es gibt viele Gründe dafür, warum solcher Art von extremistischen Akteuren nicht ausführlich und genau über ihre Kindheit berichten können oder wollen. Außerdem muss man auch "zwischen den Zeilen lesen", so wie hier durch Mattsson & Johansson geschehen. (Siehe dazu auch meinen Blogbeitrag Verklärt, beschönigt, verdrängt: Kindheiten von Gewalttätern und Extremisten. Eine Mahnung an die Forschung).

Wenn man sich die Fallbeispiele im Buch anschaut, fallen auch Mehrfachbelastungen in der Kindheit auf, so z.B. bei „Chris“:
My upbringing was marked by drugs and difficult home conditions. It was really bad. My upbringing was … traumatic, negative. I actually do not know how to describe it. It was very destructive and quite violent“ (S. 37). Sein Vater verbrachte zudem Jahre im Gefängnis und seine Mutter starb, als Chris ein Teenager war. 

Mehrfachbelastungen beschreibt auch “Carl”: “He grew up in a socially vulnerable environment, with an abusive father but a caring mother. Carl had difficulties being accepted at school, by both peers and teachers. (…) During his first 6 years of school, Carl reported being severely bullied and was on psychotropic medication due to his attention-deficit disorder” (S. 56). 

Auch "John" beschreibt vielfältige Problemlagen: “He describes his upbringing as quite chaotic. His parents got divorced, and he moved in with his father. He lost contact with his mother, but still has a good relationship with his father. Although he was never beaten as a kid, he often felt threatened by his father. (…) John tells us about a lack of adult support and a feeling of being on his own. During high school, he felt increasingly like an outsider” (S. 39). 

“Sofie” beschreibt keine Gewalterfahrungen, aber auch in ihrer Kindheit zeichnen sich deutliche Schatten ab: „Sofie’s parents were divorced before she was born. She describes growing up in a poor suburb, with a single mother. There was no violence or hatred, but a lack of parental guidance. Sofie’s relation with her mother was troublesome and complicated. She revolted and became a rowdy and unruly teenager” (S. 41). Sie beschreibt den Ort, an dem sie aufwuchs zudem als „Ghetto“.
Sofie “sees her half-siblings get the father’s full attention while she herself strives for it without feeling that she gets his support” (S. 180). 

Im Fall “Sven” finden sich keine deutlichen Hinweise auf Gewalt oder Vernachlässigung. Er wuchs in einer Mittelklasse-Familie in Schweden auf und beschreibt die Familie als harmonisch, außer einem Problem: „And it was like that when I was five or six. My parents joined a Christian congregation that you know by many is understood as a bit extreme. It was Jehovah’s Witnesses, and I think that they did this [in the early’70s]. In revival moments like this, in those days, it was very much ‘The end is near!’ This Armageddon preaching attracted my parents, who decided that the end is probably quite near, and they’d better join in” (S. 45). Die Familie musste außerdem auf Grund der Karriere des Vaters häufig umziehen, so dass Sven immer wieder neu anfangen musste. Auch in diesem Fall deuten sich also Belastungen an. 

Dies sind nur einige Auszüge aus dem Buch, in dem noch deutlich mehr Fallbeispiele besprochen werden. Die Kindheiten der Befragten unterscheiden sich bzgl. der Problemlagen. Wichtig ist hier festzuhalten, dass nach den o.g. Zusammenfassungen der Autoren die Mehrheit der Befragten Problemlagen während ihrer Kindheit ausgesetzt war. Dies konnte auch in etlichen anderen Extremismusstudien belegt werden. 

Was darüber hinaus auffällt ist, dass die ehemaligen Extremisten häufiger über Probleme in der Kindheit berichten als die noch aktiven Extremisten. Diese Feststellung unterstreicht nochmals die o.g. Anmerkungen bzw. Mahnungen der Autoren bzgl. der Fälle "Andreas" und "Julius" (auch diese sind beide weiterhin aktive Extremisten). 



Sonntag, 30. April 2023

Traumahintergründe und Kindheit von ehemaligen IS-Terroristen

Erneut habe ich eine Studie gefunden, die Kindheitshintergründe von Terroristen offen legt:

Mohammed, R. & Neuner, F. (2022). Putative juvenile terrorists: the relationship between multiple traumatization, mental health, and expectations for reintegration among Islamic State recruited adolescent and young adult fighters. Conflict & Health, 16:58 (2022). 

Für diese Studie wurden 59 männliche Jugendliche und junge Erwachsene (14 bis 24-Jährige; Durchschnittsalter: 18 Jahre) befragt, die für terroristische Taten im Rahmen von ISIS inhaftiert sind (Jugendgefängnis in Erbil/Irak). 

Diverse Belastungen wurden abgefragt (Kriegserlebnisse, Folter usw.), darunter auch die Kategorie "Gewalt in der Familie". Obwohl u.a. auch Vernachlässigung und frühe Erfahrungen von sexueller Gewalt abgefragt wurden, haben die AutorInnen nur die Ergebnisse für drei Belastungen in der Familie zahlenmäßig aufgeführt:

Körperliche Gewalt in der Familie: 81,4%.

Zeuge körperlicher Gewalt in der Familie: 50,8%.

Gesagt bekommen, man wäre ein schlechter Sohn: 50,8%.

Im Durchschnitt machten die Befragten ca. drei Gewalterfahrungen in der Familie. 

Ergänzend interessant und aufschlussreich sind einige Oberflächendaten über die Familie:
Von 81,4% der Befragten war die Mutter und von 78% der Befragten war der Vater gestorben. Dazu kommt eine hohe Anzahl von Geschwistern: 45,8% hatten drei bis fünf Geschwister; 28,8% hatten sechs bis acht Geschwister und 17% hatten sogar neun oder mehr Geschwister. Eine sehr hohe Anzahl von Geschwistern (zudem in einer armen Region) erhöht die Wahrscheinlichkeit von Vernachlässigungserfahrungen meiner Auffassung nach sehr. 

Bzgl. der mentalen Gesundheit fassen die AutorInnen zusammen: “A high percentage of the sample, 89.8%, met the criteria for depression, and 69.5% met the criteria for PTSD” (S. 3).

Die Studie bestätigt erneut die hier im Blog vielfach vorgetragene Erkenntnis, dass Extremisten sehr belastete Kindheitshintergründe aufweisen! 


Sonntag, 12. März 2023

"Hitlers Mann im Vatikan": Kindheit von Bischof Alois Hudal

Auf Alois Hudal bin ich zufällig gestoßen. Meine verwendete Quelle für seine Kindheitserfahrungen ist:

Sachslehner, J. (2019). Hitlers Mann im Vatikan. Bischof Alois Hudal. Ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Kirche. Molden Verlag, Wien – Graz.

Der Titel erklärt bereits etwas, wer dieser Mann war. In der Buchbeschreibung wird es nochmals deutlicher: „Adolf Hitler wurde von Bischof Alois Hudal als Siegfried deutscher Größe verehrt, das Ideal des aus Graz stammenden Theologen war ein christlicher Nationalsozialismus, verbunden mit der Vernichtung der kommunistischen und bolschewistischen Weltgefahr. Als Rektor des deutschen Priesterkollegs Santa Maria dell Anima und Leiter des vatikanischen Pass- und Flüchtlingsbüros avanciert der umtriebige Bischof nach 1945 zum Fluchthelfer für zahlreiche NS-Kriegsverbrecher, unter ihnen Alois Brunner und Franz Stangl.“

Alois Hudal scheint ein schlechtes Verhältnis zu seinem Vater gehabt zu haben: „Alois Hudal, der sich den Namen der Mutter gewünscht hätte, verschloss sich Zeit seines Lebens der Erinnerung an seinen Vater. Konsequent betrieb er eine damnatio memoriae, einige abfällige Bemerkungen sind alles, wozu er sich hinreißen ließ“ (S. 16). 

Über seine Mutter und ihre Beziehung zu seinem Vater schreibt Hudal: „Sie lebte mit 73 Jahren ganz allein, schwer geprüft durch eine unglückliche Ehe mit einem Mann, der religiös und politisch im kirchenfeindlichen Lager der Sozialisten stand“ (S. 19).
An anderer Stelle berichtet er über die Mutter: „Sie war eine bescheidene, schlichte Frau, aber durch ihren tiefen Glauben von menschlicher Haltung. … So oft ich ihr Zimmer betrat, fand ich sie im Gebet versunken, eine milde fast unendlich primitive Religiosität, reine Engherzigkeit zeichnete sie aus“ (S. 20). Dem hängt er an, dass infolge „ihres unglücklichen Familienlebens“ ihr Leben „ein täglicher Opfergang“ gewesen sei. 

Was bedeutet es für ein Kind, die Mutter stets "versunken" vorzufinden? Wie war der psychische Zustand dieser Mutter? Was hat sich alles in dieser Familie zugetragen, dass der Sohn seinen Vater derart ablehnte? Und wie sah der genaue Erziehungsstil der Eltern aus? Weitere Details dazu finden sich leider nicht in der verwendeten Quelle. Belastungen für den Jungen deuten sich allerdings an. 

Ein Ereignis, das den Jungen deutlich geprägt haben wird, ist allerdings belegt. 1896 trat der damals elfjährige Alois in das Seckauer Diözesan-Knaben-Seminar ein, um ihn auf den Priesterberuf vorzubereiten. „Acht Jahre lebten die heranwachsenden jungen Burschen in einer eigenen Welt, rund um die Uhr behütet und bewacht. Das religiöse Ritual bestimmte ihren Tag (…)“ (S. 21). 

Ein ehemaliger Zögling des Instituts berichtet von einer religiös „sein Denken durchdringende Disziplin“, die die Erziehung im Seminar ausmachte (S.21). Manche Zögling wären am „harten Ringen“  dieser Ausbildung gescheitert. „Nicht wenige haben die ganze Höhe nie erreicht und versanken in soziale Isolation, zuweilen zu Sonderlingen geworden, einzelne gingen daran zugrunde, von der Welt, die sie umringte, überwältigt“ (S. 22).
Den Berichten ist nicht zu entnehmen, wie mit den Zöglingen umgegangen wurde. Fest steht, dass sie sich einem strikten, organisierten Tagesablauf zu unterwerfen und wenig Freiheiten hatten. Für ein Kind, das ab dem elften Lebensjahr Jahre aus seiner Familie gerissen wird, werden diese Umstände deutliche Belastungen bedeutet haben. Es ist zudem keine aus der Luft gegriffene Spekulation, wenn man annimmt, dass um das Jahr 1900 herum ein autoritäres Denken in solchen Internaten vorgeherrscht haben wird, mit entsprechenden Folgen für die Kinder. 

Wie so oft kann man auch bei diesem Nazi deutliche Belastungen in der Kindheit ausmachen. Das Gesamtbild, das sich aus den zitierten Passagen ergibt, ist deutlich. 


Kindheit des NS-Täters Franz Murer

Meine Quelle für die Kindheit des NS-Täters Franz Murer ist:

Sachslehner, J. (2017). "Rosen für den Mörder": Die zwei Leben des SS-Mannes Franz Murer. Molden Verlag, Wien – Graz – Klagenfurt. 

Aus der Inhaltsbeschreibung: „Der steirische Bauernsohn Franz Murer, ausgebildet auf der NS-Ordensburg Krössinsee, errichtet im Ghetto von Wilna eine wahre Herrschaft des Schreckens. Seine Brutalität und sein Sadismus sind gefürchtet, Frauen und Kinder bevorzugte Opfer.“

Murer war sehr aktiv. Er brauchte Blut. Er musste Menschen morden. Das war ihm eine Art Bedürfnis. Ein Unmensch“ (Augenzeugin Mascha Rolnikaite) (S. 7). 

Franz Murer wurde im Januar 1912 als siebtes Kind seiner Eltern geboren. Eine solche große Geschwisterzahl war damals keine Seltenheit. Trotzdem kommentiere ich diesen Sachverhalt stets gerne damit, dass diese Anzahl von Kindern auch wenig Zeit der Eltern für das einzelne Kind bedeutet haben wird und – damalige Lebensverhältnisse zu Grunde legend – auch Kindesvernachlässigung deutlich wahrscheinlicher macht. Die Familie hatte zudem einen Hof zu bewirtschaften und ständig mussten die Eltern arbeiten. Der Biograf schreibt mit Blick auf die Geburt von Franz: „Maria Murer bleibt nur eine kurze Zeit der Erholung – die Arbeit am Hof ruft, auch jetzt im Winter“ (S. 14). Bereits 1913 kommt noch ein weiteres Kind hinzu: Georg. Insgesamt wird Maria Murer ihrem Mann dreizehn Kinder gebären und dies war in der Tat eine außergewöhnlich hohe Zahl, selbst zur damaligen Zeit! Ein Mädchen namens Katharina starb allerdings wenige Wochen nach der Geburt. Ob die anderen Kinder alle überlebten, erschließt sich in der Quelle nicht. 

Über den Erziehungsstil der Eltern erfährt man nichts in der verwendeten Quelle. Allerdings gab es einen großen Wendepunkt und Einschnitt im Leben des Jungen. Seine Eltern schickten den damals elfjährigen Franz für einige Jahre in einen über 50 Kilometer entfernten Ort in die Schule. Ein Postunterbeamter sorgte nun als „verantwortlicher Aufseher“ für den Jungen (S. 17).

Als Vierzehnjähriger wechselt Franz zunächst auf eine Schule in Neumarkt. Zwei Jahre später geht es weiter nach Grottenhof bei Graz. Auf Grund der Entfernung zu dem elterlichen Hof gehe ich davon aus, dass er weiterhin nicht bei seiner Familie lebte (der Biograf führt dies leider nicht im Detail aus), sonst wäre der Weg zur Schule nicht schaffbar gewesen. Somit verlor dieser Junge ab dem elften Lebensjahr gänzlich sein Familienleben und war abhängig vom Wohlwollen fremder Menschen. Wie er dies erlebte und empfand und welche Art von Belastungen er in dieser Zeit erlebte, scheint nicht überliefert zu sein. Man braucht allerdings nicht viel Fantasie dafür, um sich vorzustellen, dass dieser Junge im Grunde tief vereinsamt aufgewachsen ist und sich durchschlagen musste. 




Sonntag, 26. Februar 2023

„Warum ich Nazi wurde“: Biogramme früher Nationalsozialisten

Ich habe ein sehr interessantes Buch entdeckt:

Giebel, W. (Hrsg.) (2018). „Warum ich Nazi wurde“: Biogramme früher Nationalsozialisten. Die einzigartige Sammlung von Theodore Abel. Berlin Story Verlag, Berlin. 

Das Buch und sein Inhalt werden in einem Artikel vom Deutschlandfunk ausführlich vorgestellt, insofern erspare ich mir eine große Einleitung durch den Link.

Nur kurz: Theodor Abel hat 1934 per Preisausschreiben die Kurzbiografien von etlichen überzeugten Nazis erhalten und gesammelt, die alle vor 1933 Mitglieder der NSDAP waren. 

Das Interessante für mich sind dabei natürlich mögliche Schilderungen über Kindheitshintergründe. Allerdings zeigte sich schnell, dass die meisten biografischen Schilderungen sich bezogen auf die Kindheit rein auf Oberflächendaten beziehen: Geburtsdatum, Geburtsort, Berufe der Eltern, Schullaufbahn, Ausbildung. Für die Akteure, die nur diese Oberflächendaten beschrieben, bleibt die Kindheit im Dunkeln (was auch bedeutet, dass negative Erfahrungen nicht auszuschließen sind). Allerdings haben auch mehrere Akteure Hinweise auf ihre Kindheit geliefert. 

Was mir zunächst immer wieder auffiel, ist der Tod von Vätern (was bei mehr Akteuren der Fall war, als ich unten in meinen Auszügen darstelle). Dies ist bei dieser „Nazi-Generation“ auch kaum verwunderlich, weil viele Väter im Ersten Weltkrieg umkamen. Für die Kinder allerdings ist der Verlust des Vaters eine enorme Belastung. Was mir ergänzend ins Auge fiel (sofern die Akteure Angaben dazu machten), ist die hohe Anzahl an Geschwistern. Viele Geschwister (gepaart mit sehr viel zu erledigenden Arbeiten der Eltern in der damaligen Zeit, was auch einzelne Akteure so berichten) können zumindest auch ein Indiz für Vernachlässigung sein. 

Anbei stelle ich die Akteure vor, für die sich belastende Kindheitserfahrungen andeuten oder sogar belegen lassen. Diese Generation ist nicht gerade bekannt dafür, allzu kritisch über die eigenen Eltern zu berichten oder diesbezüglich deutliche, offene Worte zu finden. Wenn man zwischen den Zeilen liest, wird man aber auch hier manches Mal fündig. 

Dies gilt so z.B. für F. Lüttgens (nach 1900 als Sohn eines Fabrikarbeiters geboren). Über seinen Vater berichtet er: „Ich entsinne mich noch sehr gut, dass wir Kinder ihn nicht allzuhäufig zu Hause gesehen haben, wenn er zu Hause war, so war dieses zu Hause sein auch nichts anderes als Arbeit und Mühe“ (S. 254). Die Mutter scheint ebenso viel beschäftig gewesen zu sein: „Die Mutter war eine brave, ehrliche deutsche Hausfrau. (…) In heisser Liebe arbeitete sie morgens von ½ 5 Uhr bis abends spät für ihren Mann und ihre Kinder“ (S. 254). Lüttgers betont im Nachsatz, wie wichtig Deutschland für die Eltern war. „Naturgemäß“ sei auch bei den Kindern der Same der Vaterlandsliebe gesät worden, ebenso Ehrgeiz und Wissensdurst. Dem fügt er an: „In der Schule machte sich die Art dieser Erziehung sehr bald bemerkbar. Absoluter Glaube an die Autorität des Lehrers gepaart mit gläubigem Vertrauen zu ihm als denjenigen, der die Arbeit von Vater und Mutter zu ergänzen hatte, trat selbstverständlich ein“ (S. 255). Die Art und Weise der Wortwahl kommt geradezu einer untergebenen Lobpreisung der eigenen Erziehung gleich, die der Akteur als sehr gelungen empfindet und nicht in Zweifel zieht. Der absolute „Glaube an die Autorität“ macht mich besonders hellhörig. Wie die Eltern ihre Autorität gegenüber den Kindern durchgesetzt haben, bleibt unserer Fantasie überlassen. 
Ein weiteres Ereignis sticht hervor: Als er zehn Jahre alt war, litt er nach einer Verletzung an einer Blutvergiftung. "Durch diese Blutvergiftung wurde ich fast 2 Jahre lang an das Krankenbett gebunden. Abgeschlossen von allen Spielkameraden war ich die meiste Zeit mir ganz allein überlassen" (S. 256). Ein Großteil dieser Zeit scheint er sogar im Krankenhaus verbracht zu haben, aus dem er 1914 entlassen wurde, wie er berichtet. Für ein Kind eine schwere Belastung, zu der die Trennung von den Eltern noch hinzu kam. 

Der 1893 geborene Fritz Schroner berichtet nur wenig über seine Kindheit. Er sei das siebte von insgesamt acht Kindern gewesen. Dass diese hohe Geschwisterzahl auch Not und wenig Zeit der Eltern für die Kinder bedeutete, führt er selbst aus: "(...) die hungrigen Mäuler zu stopfen, war für die Eltern nicht immer leicht. Und sie mussten wahrlich von früh bis spät tätig sein, um die Familie zu versorgen. Dass auch wir Kinder dabei auch noch im schulpflichtigen Alter je nach unserer Kraft und unserem Vermögen mit Hand anlegen mussten in Haus, Hof, Garten und Feld, war uns nicht immer leicht, aber unbedingt notwendig" (S. 210). Nach dem Ersten Weltkrieg musste er fünf Jahre in Gefangenschaft in Sibirien verbringen. An diesen Jahren wäre er fast zerbrochen. 

Der 1907 geborene Gustav Kohlenberg schreibt: "Von Jugend auf war ich in streng nationalem Geiste im Elternhaus erzogen worden. Das Schicksal hat meine Familie mit schwersten Schlägen bedacht. Nur während der ersten Kinderjahre lebten wir zu Hause in Wohlstand (...) Mein ganzes Leben hat bis heute stets Kampf bedeutet" (S. 236). Sieben Kinder hatte die Familie zu versorgen. Während der Kriegsjahre mussten sie eine schwere Hungerzeit und auch Krankheitswellen überstehen. 

Die Kindheit von dem 1890 geborenen Gustav Heinsch zeigt deutliche Schatten. Er wurde als fünfter Sohn seiner Eltern geboren worden. Allerdings waren alle seine Geschwister vor seiner Geburt verstorben. Wir dürfen annehmen, dass der Tod von vier Kindern diese Eltern extrem belastet und ggf. auch den Umgang mit dem überlebenden Kind geprägt haben wird. Viel Zeit für ihren Sohn hatten die Eltern nicht. Seine Großmutter war hauptsächlich für seine Erziehung verantwortlich, denn: „Meine Mutter musste genau so wie mein Vater vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf dem Gut arbeiten. Trotzdem beide schwer arbeiteten, reichte es gerade zum Notwendigsten“ (S. 344).  Ab dem achten Lebensjahr musste auch Gustav nachmittags arbeiten, zusätzlich zu seinen Arbeiten für die Schule. Die Eltern mussten außerdem arbeitsbedingt häufig umziehen. Gustav besuchte in der Folge fünf verschiedene Volksschulen, was befriedigende Bindungen an Gleichaltrige sicherlich schwierig gestaltete. 

Der Vater des 1868 geborenen Waldemar von Schöler war einst Divisionskommandeur und hatte Kriegserfahrungen. Über seine Erziehung schreibt von Schöler: „In welchen weltanschaulichen Gedankengängen ich erzogen wurde, geht am klarsten aus den Grundsätzen hervor, die mir in meiner Kindheit eingeimpft wurden. Sie gründen sich alle auf die altpreußische, auf Friedrich Wilhelm I. zurückgehende Ideenwelt. Du musst vor allen Dingen stets Deine Pflicht erfüllen, ob es Dir angenehm ist oder nicht, und zwar nicht nur obenhin, sondern mit vollem Einsatz Deiner Person und Deiner Fähigkeiten“ (S. 376). Das Wort „eingeimpft“ möchte ich hier hervorheben. Nach weiteren Ausführungen u.a. über Tüchtigkeit, Gewissenhaftigkeit und Sparsamkeit mit Blick auf seine jungen Jahre kommt dann noch folgender Satz: „Autorität in Staat und Familie galten als die Grundpfeiler menschlicher Ordnung“ (S. 377). Man kann sich entsprechend vorstellen, dass dieser Junge autoritär erzogen worden sein wird, auch wenn er keine konkreten Beispiel dafür gibt. 

Der 1904 geborene Alfred Raeschke zog im Altern von sechs Jahren vom Lande in die Stadt, nach Berlin. Ca. ab dem dritten Kriegsjahr des Ersten Weltkriegs musste die Familie hungern. „Und das Schlimmste: ein Familienleben kannten wir nicht mehr. Alle kannten wir nicht – waren uns immer selbst überlassen. Denn die Frauen mussten ja die Arbeiten der Männer machen, die im Felde standen. (…). So sahen wir den Vater gar nicht, die Mutter aber nur des Abends. Doch dann konnte sie sich uns nicht widmen, weil sie ja das Haus noch zu besorgen hatte und auch müde war von der schweren Arbeit. So wuchsen wir heran, ohne rechtes Familienleben, voller Hunger, tiefe Not erlebend“ (S. 538). Nach der Schulzeit (im Jahr 1917) kam er zunächst in die Lehre. Der Hunger und die Not wurden schließlich so groß, dass die Mutter ihren Sohn aufs Land zu einem Bauern schickte. „15 Jahre war ich nun alt, aber arbeiten musste ich wie ein Erwachsener“ (538). Aber immerhin, er hatte genug zu essen und hatte überlebt. 

Der 1897 geborene G. Goretzki hat keine großen Einblicke in seine Kindheit gegeben. Er schreibt allerdings: „Die Erziehung im Elternhaus war streng, die Jugend trotzdem aber schön und sorgenlos. Vom Vater lernte ich die Tugenden altpreußischen Beamten- und Soldatentums kennen“ (S. 348).
Wie oft schon habe ich Sätze gelesen, in denen die Akteure dieser Zeit rückblickend auf ihre Kindheit blicken, von „Strenge“ in der Erziehung berichten und im gleichen Satz Wörter wie „schön“, „sorgenlose“ oder gar „Liebe“ verwenden? Meiner Auffassung nach ist diese Vermischung beider Ebenen bereits ein Anzeichen für die Folgen der „strengen Erziehung“. Die Strenge wird i.d.R. von dieser Generation nicht kritisiert und sogleich beschönigt. Was bedeutete elterliche Strenge um 1900? Wir können mit hoher Wahrscheinlichkeit auch von Körperstrafen ausgehen! Dass Goretzk durch seinen Vater preußisch-soldatisch erzogen wurde, ist ein weiteres Anzeichen für eine belastete Kindheit. 

Ähnlich wie Goretzk berichtet auch der 1906 geborene Friedrich Christian Prinz zu Schaumburg-Lippe von seiner Erziehung, ohne dabei – wie so oft bei biografischen Darstellungen aus dieser Zeit - ins Detail zu gehen. Der Prinz wuchs in reichen Verhältnissen auf. „Trotz dieser völligen Unabhängigkeit von irgendwelchen materiellen Schwierigkeiten war die Erziehung, die mir zuteil wurde, eine einfache, ja in mancher Weise soldatisch zu nennende, - immer, in allen Fragen des Lebens auf den Staat und das Volk gerichtet, der grossen Tradition einer tausendjährigen Familiengeschichte entsprechend“ (S. 616). Eine „soldatische Erziehung“ wird eine strenge Erziehung mit manchen Belastungen für das Kind gewesen sein. 

Der 1910 geborene Edmnd Dienhart hatte eine mehrfach belastete Kindheit. Als er fünf oder sechs Jahre alt war brach der Erste Weltkrieg aus. Er war das Jüngste von insgesamt sieben Kindern. An einer Stelle schreibt er etwas von einem bzw. seinem „gestrengen Vater“ (S. 592), ohne weitere Details zum väterlichen Umgang mit den Kindern zu schildern.  Als er acht Jahre alt war, starb der jüngste seiner Brüder. Dienhart gibt dem jüdischen Chefarzt, der seinen Bruder operiert hatte, die Schuld am Tod des Bruders. „Da ich meinen verstorbenen Bruder besonders liebte, stieg in mir Achtjährigen mit der Zeit ein Groll auf gegen den Chefarzt und dieser noch nicht recht begreifbare Hass steigerte sich mit meinem Alter zu einem Wiederwillen gegen alles, was jüdisch war“ (S. 592). Infolge einer Kinderkrankheit nahm seine Sehkraft ab dem neunten Lebensjahr stetig ab. Seine jüngste Schwester kümmerte sich in der Folge verstärkt um ihren Bruder. Allerdings musste sie das Zuhause verlassen und er sei ab dann „meist alleine“ gewesen (S. 592). Ab dem zehnten Lebensjahr kam Edmund zu einem Onkel und verlor somit sein gewohntes Familienleben. Innerhalb der folgenden zwei Jahre hatte er wohl mehrere Klinikaufenthalte von jeweils mehreren Wochen zu überstehen. Durch die Behandlungen wurde seine Sehkraft verbessert und kam wieder zurück. 

Der 1910 geborene Paul Matter war vier Jahre alt, als sein Vater im Ersten Weltkrieg fiel. In der Folge wurde er auch von seiner Mutter getrennt und zur Erziehung zu den Großeltern geschickt. Als er acht Jahre alt war, heiratete seine Mutter erneut. Mit seinem Stiefvater scheint er sich nicht gut verstanden zu haben, denn er berichtet: „Als ich meinem 14. Lebensjahr aus der Schule kam, verließ ich sofort das Elternhaus, denn mein Pflegevater, war doch nicht der Vater, der im Weltkriege für´s Vaterland starb“ (S. 680). Er begann dann eine Bäckerlehre in einem anderen Ort. 

Der 1912 geborene Karl Friedrich Nau hat fast nichts aufschlussreiches über seine Kindheit geschrieben und beschreibt nur kurz Eckdaten. Ab dem 14. Lebensjahr ging er in die Lehre und war mit 17 Jahren ausgelernt. Er habe lange ersehnt, danach endlich seinen Heimatort verlassen zu können und weitere Teile Deutschlands kennen zu lernen. Er zog dann auch fort und schreibt: „Bad-Nauheim war für mich etwas anderes als zu Hause, denn wir waren vier Geschwister und es musste in jeder Hinsicht dem väterlichen Willen gefolgt werden. Nun war ich für mich und konnte mich in meinen freien Stunden dem widmen, wonach ich mich sehnte (…)“ (S. 718).
Auch hier erfahren wir wieder keine Details über das väterliche Erziehungsverhalten. Allerdings zeigen seine Ausführung überdeutlich in Richtung autoritäre Erziehung. 

Der 1901 geborene Fritz Keppner berichtet im Grunde nichts über seine Familie und Kindheit. Was mir ins Auge stach war aber, dass er als Dreizehnjähriger (im Jahr 1914) eine Gelegenheit nutzte, um sich heimlich einer Maschinengewehrkompanie an der Front anzuschließen. Erst nach einer Woche fiel dies auf und man brachte ihn zurück. Er versuchte daraufhin erneut an die Front zu kommen, wurde aber aufgegriffen und musste zurück nach Hause. Er berichtet noch, dass er Mitglied der SS war und im Jahr 1930 seine Mutter Waffen versteckte, als die Polizei kam (S. 725f.). All diese Erzählungen deuten auf eine entsprechende Prägung im Elternhaus hin. Als Dreizehnjähriger unbedingt an die Front kommen zu wollen, ist schon bemerkenswert. 

Der 1903 geborene Paul Moschel war das sechste von zwölf Kindern. Das entsprechend wenig Zeit der Eltern für ihn da gewesen sein wird, erschließt sich von selbst. Er selbst formuliert es so: „Da unsere Familie so groß war und meine Eltern keinen Besitz hatten, musste ich mit meinen Geschwistern eine harte Kinderzeit durchmachen, aber die härteste während der Kriegsjahre. Wir waren durch meine guten Eltern echt deutsch erzogen, meine zwei älteren Brüder stellten sich bei Ausbruch des Krieges freiwillig in den Dienst unseres Vaterlandes mit 17 und 18 Jahren“ (S. 730). Beide Brüder starben. Über die Kriegsjahre und die Not der Familie schreibt er noch, dass sie eine Zeit durchmachen mussten “in der wir an Hunger, Entbehrung und Elend so viel erlebten, das in Worten nicht zu fassen ist“ (S. 730).  Als Vierzehnjähriger war er damals der älteste Sohn und versuchte mitzuhelfen, die Familie durchzubringen. Unter der Besetzung der Franzosen wurde Paul im Alter von sechszehn Jahren inhaftiert und saß eine Zeit lang im Gefängnis. Auch dies ist eine schwere Belastung für einen Minderjährigen. 

Der 1882 geborene Robert Friedrich berichtet im Grunde fast gar nichts über sein Elternhaus (S. 741f.). Er sei als vierter Sohn seiner Eltern geboren und nach evangelischer Kirschensitte erzogen worden. Im Alter von nur zwölf Jahren ging er auf eine Militärschule und blieb dort bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr. Auf diese Zeit geht er nicht weiter ein. Auf Grund der räumlichen Distanz zwischen seinem alten Heimatort und dem Sitz der Militärschule, gehen ich davon aus, dass er auch in der Schule lebte und wohnte (was eine andauernde Trennung von der Familie bedeuten würde). Danach wechselte er auf eine Unteroffiziersschule. Sein Weg blieb militärisch dominiert und er kämpfte im Ersten Weltkrieg. Schon seit seiner Kindheit war dieser Junge militärisch geprägt und erzogen worden. 

Die 1898 geborene Hedwig Eggert war das achte Kind ihrer Eltern, die insgesamt elf Kinder bekamen. „(…) davon sind 5 am Leben geblieben, die übrigen 6 sind teils klein, teils größer gestorben“ (S. 753). Ein Bruder sei im Alter von dreizehn Jahren gestorben und dies sei ein „herber Schlag für meine Eltern“ gewesen (S. 753). Entsprechend werden die Todesfälle auch Hedwig geprägt und belastet haben. Ihr Mutter „musste von früh bis spät in der Fabrik mitarbeiten, um all die hungrigen Mäuler stopfen zu können“ (S. 753). Der ebenfalls berufstätige Vater hatte nur einen geringen Lohn, der kaum reichte. Die Kinder werden irgendwie gelernt haben müssen, unter diesen Mangelbedingungen klar zu kommen und zu überleben. 

Der Vater des 1900 geborene Fritz Junghanss fiel 1917 im Krieg. Fritz muss zu der Zeit sechszehn oder siebzehn Jahre alt gewesen sein.  Vermutlich war schon früh seine Mutter gestorben (oder hatte die Familie verlassen), denn er schreibt „Meine natürliche Mutter hatte ich nicht gekannt, erhielt aber mit 10 Jahren eine Stiefmutter, zu der ich in einem schlechten Verhältnis stand, da sie kleinlich und gehässig war und ich mir ihr bald in jeder Beziehung überlegen fühlte. Mein Vater war nicht glücklich mit ihr und diese Stimmung im Elternhause war nicht dazu angebracht, Kinder (ich hatte noch einen drei Jahre jüngeren Bruder) mit Liebe und Vertrauen zu erziehen. Ich war daher darauf angewiesen, mich ohne die Stütze der elterlichen Hände charakterlich selbst zu bilden (…)“ (S. 780).
Der Herausgeber des Bandes (zu dem ich im Schlussteil noch etwas anmerken werde), stellt den meisten Biografien (die oft im Original abgebildet sind) eine Zusammenfassung vor. Auffällig ist hier, wie auch an anderen Stellen, dass er diese besondere und herausstechende Belastung in Kindheit und Jugend des Akteurs nicht in die Zusammenfassung mit aufnimmt, was sich absolut angeboten hätte. Belastungen, die er in dem Band in den Zusammenfassungen mit aufnimmt, sind i.d.R. der Tod von Familienmitgliedern oder der Wechsel des Wohnorts/der Familie. Auf den Herausgeber und seine Herangehensweise komme ich noch zurück. 

Der 1902 geborene Alfred Buchholz kam als viertes von insgesamt sechs Kindern seiner Eltern zur Welt. Er sei in „bescheidenen Verhältnissen, unter liebereicher Pflege meiner mustergütigen Eltern“ herangewachsen (S. 806). Diese anfängliche idealisierende Beschreibung seiner Eltern sollte uns sogleich im Gedächtnis bleiben, wenn wir uns seine weiteren Schilderungen anschauen!
Sein Vater war preußischer Unteroffizier bei einem Eisenbahnregiment. Entsprechend wird dieser militärische Einfluss auch das Familienleben geprägt haben.
Seine Mutter beschreibt er u.a. wie folgt: „Ihr Augenspiel, das besonders auffallend bei öfter notwendig werdenden Ordnungsrufen in Erscheinung trat, ist mir und auch meinen Geschwistern tief in`s Herz geschrieben und glich doch allzusehr dem strengen Augenzuge unseres `Alten Fritz`. Wir meinten später manches Mal: `Der Alte Fritz geht um, der Knüppel wird gleich tanzen`“ (S. 807).
Ganz offensichtlich hat diese strenge Mutter ihre Kinder mit einem Gegenstand misshandelt. Alfred Buchholz schmückt diese Erfahrungen geradezu schriftstellerisch aus und beschönigt sie dadurch deutlich. Kritik an dem Erziehungsverhalten gibt es seinerseits nicht. Im Gegenteil, er holt sogleich zu weiteren Höhenflügen aus, wenn es um die Eltern geht: „Beide, Vater und Mutter, sind strenge, sittliche reine, züchtige und mit feinstem Liebesempfinden ausgestattete Menschen, deren Liebe sehr wohl ihre guten Grenzen kannte (…). Ihnen gilt schon seit meiner frühsten Jugend meine ganze Verehrung und stets bin ich bemüht, mich meinen Eltern gegenüber dankenswert zu erweisen“ (S. 807). 

Lobpreisungen und das Wort „Liebe“ gleich im Anschluss nach Schilderungen über mütterliche Gewalt und Strenge, erneut taucht dies hier auf. Es ist dies klassisch für das mit dem Aggressor identifizierte Kind, das nur so seine Misere ertragen kann.
Gleich nach seinen Lobpreisung berichtet er wieder über Gewalterfahrungen: „Hässliche Worte, zänkisches Handeln, aufkommende schlechte Manieren wurden unter strengster Wacht der Eltern nicht geduldet sondern stets zu gutem Handeln und zum Verständnis ermahnt, was ich auch sehr beherzigte. Half jedoch die Milde und Güte nichts mehr, dann tanzte es eben reichlich fühlbar auf den Po“ (S. 807). „Tanzte“ auf den Po, auch in dieser Formulierung steckt bereits die Verdrehung der Wirklichkeit, nämlich das es eigentlich Gewalt ist, was dieses Kind erfährt, die offensichtlich „reichlich“ ausgeteilt wurde. Als Kind erlebte er zudem den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und schwere Hungerzeiten. 

Nach vielen Schilderungen u.a. über seinen Kampf für die Nazis schreibt er im Schlussteil:
Viele ereignisreiche Dinge meines Lebens, besonders auch im Kampf als Hitlerdeutscher, könnte ich noch aufweisen, doch müsste ich mich dann zu sehr verbreitern. Ich aber fühle, dass wir Deutsche heute echte und bester Ringer des Friedens sind in einem neuen Geiste  (…). Schlägt und würgt man aber ein Volk, so schlägt und würgt man auch Gott und seine Himmel werden sich vernichtend rächen. Eines darf ich von mir noch sagen, denn es ist meine Kraftquelle: Ich blieb aufrecht und rein; und würde aber meinen Körper zu Füßen des Todes legen, ehe ich davon abwich“ (S. 821).
Es bietet sich geradezu an, die Fantasien von einem geschlagenen und gewürgten Volk, das sich rächt, und für Reinheit kämpft mit seiner Misshandlungsgeschichte im strengen Elternhaus zu verbinden. Dieses sich „dreckig“ und sich „unrein“ fühlen, sind klassische Gefühle, die misshandelte Kinder haben, die aber später verdrängt werden. Die Umkehrung (bzw. Projektion) davon, also sich „rein“, „sauber“, „anständig“ fühlen zu wollen und gegen den „Dreck“ bei Anderen zu kämpfen (Die „dreckigen Juden“ oder DIE „dreckigen Ausländer), um „Reinheit“ herzustellen, ist etwas, das man oft bei Extremisten aller Arten beobachten kann. Und das halte ich nicht für einen Zufall!
Auch die Todessehnsucht, die Alfred Buchholz nebenbei zum Ausdruck bringt, sehe ich verbunden mit seinen Kindheitserfahrungen. Etwas, das ganz sicher viele damalige Nazis so oder so ähnlich empfunden haben werden. Hitler und sein Weltbild umgab schließlich ein Todeskult. Heute können wir diese Todessehnsucht u.a bei Islamisten beobachten. 

Aufschlussreich sind die Anmerkungen des Herausgebers mit Blick auf die Erkenntnisse aus den vielen Biogrammen. Unter der Zwischenüberschrift „Warum wurden sie Nazis – Thesen“ schreibt er u.a.: „Soziologen und Historiker versuchen heute mit unterschiedlichen Theorien und Erklärungsmodellen eine Antwort auf die Frage zu ergründen, warum jemand Nazi geworden ist: Traumatisierung durch den Ersten Weltkrieg, Demütigung des Nationalgefühls, Abrutschen der Mittelschicht, Isolation und Verunsicherung des Einzelnen, Existenzangst nach Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise. Kein Wissenschaftler kann aber erklären, warum eine junge Frau, die ein Biogramm schreibt, überzeugte, aktive, gnadenlose Nationalsozialistin geworden ist, sie sich selbst radikalisiert hat, ihre zehn Geschwister aber nicht“ (S. 23).
Und: „Meine These als Ergebnis der Auswertung dieser vielen hundert Biogramme ist: Wer Nazi werden wollte, wer sein Heil in dieser Ideologie mit überlegender Rasse und Untermenschen suchte und auf Hitler als Erlöser setzte, wurde Nazi – und war dafür allein verantwortlich. Es war eine ganz individuelle Entscheidung, Nazi sein zu wollen (…). Sie wollten das so (S. 24).“

Ca. 82 Biogramme hat der Herausgeber für das Buch ausgewählt und vorgestellt, von ursprünglich fast 581 erhaltenen Biogrammen von damaligen Nazis. Davon wiederum habe ich 17 herausgesucht, die zumindest Andeutungen über Kindheitsbelastungen enthalten. Die restlichen Biogramme enthalten bzgl. der Kindheit im Prinzip keine Infos, die hier relevant wären. Was sich aber auch zeigte: kein einziger von den 82 beschreibt eine gänzlich unbelastete, gar liberale oder gewaltfreie Kindheit, auch dies muss man hier feststellen.
Man könnte jetzt meinen, dass es sehr spekulativ wäre, von den 17 Akteuren auf die Gesamtheit zu schließen. Ich halte dem entgegen, dass wir heute sehr wohl darum wissen, dass eine strenge, autoritäre Erziehung, die Kindern kaum eigene Freiheiten gestattete und sowohl im Elternhaus als auch in der Schule Körperstrafen üblich waren, die damaligen Normen waren. Die oben zitierten 17 Akteure deuten dies oftmals klar an oder bestätigen es manchmal sogar überdeutlich (vor allem im zuletzt genannten Fallbeispiel). Dass die anderen Akteure keine Details in dieser Hinsicht berichten, sagt nicht aus, dass sie es nicht ähnlich erlebt haben. Gerade Erziehungsnormen wurden von der damaligen Generation kaum hinterfragt, sondern als „normal“ und nicht erwähnenswert hingenommen. Ich sehe diese 17 Akteure eher als Sprachrohr für die Anderen, als die Minderheit, die ausnahmsweise Details aus der eigenen Erziehung Preis gibt.
Das Gleiche gilt übrigens auch bezogen auf die Hungererfahrungen im Ersten Weltkrieg und die Abwesenheit der überarbeiteten oder am Krieg beteiligten Elternteile. Es würde kaum Sinn machen, diese grundlegenden Erfahrungen der damaligen Generation für diejenigen Akteure auszuschließen, die hier nicht darüber berichtet haben. Nicht jeder möchte solch schlimmen Erfahrungen erinnern und in seinem Biogramm öffentlich festhalten, was nur all zu nachvollziehbar ist. 

Ich selbst kannte - nebenbei bemerkt - mal einen Mann, der Anfang der 1930er Jahre geboren wurde. Durch Dritte (Verwandte von ihm) wusste ich, dass er als Kind von seinen Eltern schwer misshandelt worden war. Er selbst pflegte einmal zu sagen, dass er immer viel von seinen Eltern „kritisiert“ worden war. Das war genau die Art und Weise, wie diese Generation das Schweigegebot und den Gehorsam gegenüber den Eltern eingehalten hat. Es gehörte sich schlicht nicht, die Eltern zu kritisieren oder öffentlich Einblicke in elterliches Erziehungsverhalten zu geben. Insofern ist es schon fast ein Glücksfall, dass wir hier 17 Berichte haben, die manche Hinweise enthalten!

Kommen wir zu den Anmerkungen des Herausgebers. Ja, es gab viele Familien, in denen die einen Kinder der Familie Nazis wurden und die anderen nicht. Für mich ist das kein Widerspruch, weil die Einflüsse auf Wege von Menschen vielfältig sind. Für mich zählt viel mehr der Punkt, dass die, die Nazis wurden, keine nachweisbar unbelastet, geliebt und gewaltfrei aufgewachsenen Kinder waren (was uns ja auch heutige Studien über entsprechende Akteure eindrucksvoll aufzeigen). Das ist das Fundament, das Nazi-Deutschland überhaupt möglich machte. Und ja, ich gebe dem Herausgeber ein Stück weit Recht, dass die damaligen Akteure auch wollten, was sie taten, dass sie Entscheidungen trafen, für die sie verantwortlich waren. Hätten Sie diese Entscheidungen aber auch so getroffen, wenn sie eine unbelastete und liberale Kindheit erlebt hätten? Aus meiner Sicht: Nein!

Und genau deswegen halte ich diesen Band für besonders wertvoll. Auch wenn der Herausgeber selbst gar nicht bemerkt zu haben scheint, was hier auch nachgewiesen wird: Das diese Nazis belastete Kindheiten hatten. 



Sonntag, 12. Februar 2023

Islamistischer Terror: Die Kindheit der Brüder Merah

Mohamed Merah verübte 2012 in Frankreich islamistische Anschläge, bei denen sieben Menschen getötet wurden, darunter drei Kinder. Der Täter wurde später von Sicherheitskräften erschossen. Sein Bruder, Abdelkader Merah, wurde 2017 für die Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung schuldig gesprochen und zu 20 Jahren Haft verurteilt. 

Die Brüder Merah sind unter äußerst belastenden Umständen in einer dysfunktionalen Familie aufgewachsen. Beide entwickelten früh einen Hang zur Kriminalität.

Mohamed Merah musste sich erstmals im Alter von nur dreizehn Jahren vor einem Gericht verantworten. Er galt als äußerst gewaltbereit, was auch seine Mutter und die Geschwister zu spüren bekommen hatten. Seine Mutter ging er sogar derart hart an, dass Außenstehende ihre Verletzungen sehen konnten.
Seine aus Algerien stammende Mutter, Zoulikha Aziri, wurde im Alter von 18 Jahren gezwungen, einen Mann zu heiraten, der bereits verheiratet war und einige Kinder hatte. Sie folgte ihrem Mann 1981 mit einem Sohn und einer Tochter nach Frankreich, ihr Mann hatte dort Arbeit gefunden. Eine erste Tochter war noch in Algerien im Säuglingsalter verstorben, entweder krankheitsbedingt oder durch Vergiftung seitens der Mutter ihres Mannes, sie wisse es nicht genau, sagte sie vor Gericht aus (Sayare, S. 2018. Terrorist By Association. The New Republic).

Es folgte die Geburt einer weiteren Tochter und ihres Sohnes Abdelkader. Sie wollte keine weiteren Kinder und versuchte zu verhüten. Dann wurde ihr Sohn Mohamed geboren, ein ungewolltes Kind.
Ihr Mann war gewalttätig, schlug seine Frau und sandte Geld zu seiner Zweitfrau in Algerien. Irgendwann hielt es Zoulikha Aziri nicht mehr aus: “In 1992, she fled with her children to a women’s shelter, and a divorce was completed several months later, at which point whatever stability the family may have known seems to have evaporated” (Sayare, S. 2018. Terrorist By AssociationThe New Republic).

An Stelle ihres Mannes trat nun ihr eigener Bruder, er führte sich wie ein Patriarch auf, schlug seine Schwester und auch ihre Kinder. „Her eldest son, Abdelghani, began drinking heavily; he too beat his mother and his siblings, especially Abdelkader, who was flagged by social workers as a “child in danger” as early as 1995. Various testimonies suggest Abdelkader was raped by an uncle, as well. As he grew older, the middle brother exhibited a distinct sadism and was once alleged to have tied Mohammed to a bed by his wrists and ankles and beaten him for two hours with a broomstick. For most of his childhood, Mohammed would be in and out of group homes, where he could be protected from his brother. Abdelkader beat his older sisters if they smoked or stayed out late; he beat his mother, too, and she took to locking herself in a bedroom when he was home” (Sayare, S. 2018. Terrorist By AssociationThe New Republic).
Mohamed “was frequently sad, he reported—social workers indeed often found him crying, even as a teenager—and he sometimes thought of suicide. (In 2008, while in prison, he tried to hang himself.)” (Sayare, S. 2018. Terrorist By AssociationThe New Republic).

Nach seinem Selbstmordversuch in Haft wurde Mohamed in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Dort berichtet er den Psychologen von seiner Kindheit: „Seine Eltern hätten sich im Jahr 1993, als er fünf Jahre alt war, geschieden. Der französische Vater sei im Jahr 2008 nach Algerien gezogen. Seine Mutter, so berichtet Merah, sei arbeitslos gewesen und habe große Schwierigkeiten gehabt die fünf Kinder – drei Töchter und zwei Söhne – alleine groß zu ziehen. Das jüngste Kind, Mohamed, habe die Algerierin daher ins Heim gegeben. Im Alter von 6 bis 13 Jahren habe er im Heim gelebt, so Merah. Seine Schulzeit sei chaotisch gewesen“ (Flade, F. 2012. Blick in die Psyche des Mörders Mohamed Merah. Welt-Online.)

Alle drei Söhne dieser Familie tyrannisierten die eigene Mutter. Gewalt beherrschte offenkundig die gesamte Familie. Die Gewalt der Söhne traf auch den jüngsten der Brüder und die Schwestern. „Aicha, die jüngste, nahm als 17 Jährige aus diesem, von ihr als „Hölle“ bezeichneten Familienmilieu Reißaus. (…) Die ältere Tochter Souad ging 2014 mit ihren Kindern nach Syrien, wo bereits ihr Mann beim „Islamischen Staat“ angedockt hatte. Zuvor hatte sie mehrmals gedroht, `sich in der U-Bahn mit ihren Kindern in die Luft zu jagen`. Ihre Opfer wären ja `keine Unschuldigen sondern Ungläubige`“ (Leder, D. 2017. Bruder gegen Bruder im Terrorprozess. Kurier).
Auch die Mutter hatte radikale Ansichten und war antisemitisch eingestellt. „(…) als ihr jüngster, Mohamed, seine Morde begangen und als Täter identifiziert worden war, frohlockte sie: `Mein Sohn hat Frankreich in die Knie gezwungen`" (Leder, D. 2017. Bruder gegen Bruder im TerrorprozessKurier).

Scott Sayare bezieht sich an einer Stelle in seinem Artikel über die Brüder Merah auf den Anthropologen Ariel Planeix. Dieses Zitat erspart mir hier das Schlusswort, denn solcher Art Kindheiten finden sich regelmäßig bei Extremisten und Terroristen, was ich in meinem Blog vielfach aufzeigen konnte:
"Planeix had been recruited by the French Ministry of Justice to produce an internal study on the lives of several dozen “radicalized” minors, some of whom had been before the courts, and others whose cases were handled by social workers. The upheaval and trauma of the Merahs’ lives were essentially average among the cases he’d seen, he said. He viewed Mohammed as a template for the generation of jihadists that has emerged since his killings. “He’s the new face of a sort of reactive violence,” he told me, violence that is politicized but that is hardly rooted in politics. The minors Planeix studied had all been abused, abandoned, or raped, and sometimes all three; if they remained in contact with their families, their families systematically denied the existence of any such problems. Their childhoods, like the Merahs’, were an almost absurd cumulation of horrors. A growing body of research suggests that, among this new generation of jihadis, this is indeed the norm" (Sayare, S. 2018. Terrorist By AssociationThe New Republic).



Freitag, 3. Februar 2023

Kindheit von Michail Gorbatschow

Michail Gorbatschow wurde am 02.03.1931 in einem Dorf im Nordkaukasus geboren. Er hatte keine einfache Kindheit. Seine erste Kindheitserinnerung war die an eine Suppe, in der Frösche gekocht wurden, weil eine Hungersnot herrschte (Taubman 2018, S. 38).

Während der Hungersnot 1932/1933 kamen zwei seiner Onkel und eine Tante ums Leben. Die Eltern waren zudem arm, die Kinder mussten früh mithelfen und arbeiten. Auch traf Stalins Terror die Familie, beide Großväter wurden zeitweise verhaftet. Als die deutsche Wehrmacht einmarschierte, besetzte diese einige Monate das Heimatdorf der Familie. „Eine schrecklichere Zeit ist kaum vorstellbar“, kommentiert sein Biograf (Taubman 2018, S. 33).
Er hängt dem aber sogleich an, dass Michail Gorbatschow „in einem erstaunlichen Ausmaß“ trotz des Schreckens um ihn herum „eine glückliche Kindheit“ hatte (Taubman 2018, S. 33). Beide Großväter hatten den Gulag überlebt, der Vater den Krieg. Ein Großvater leitete eine Kollektivfarm. Glückliche Umständen ließen größere Belastungen der (kurzen) deutschen Besatzung an der Familie vorüberziehen. Michail habe außerdem ein von Natur aus sonniges und optimistisches Gemüt besessen, schreibt Taubman.
Psychologen haben festgestellt, dass die potentiellen Opfer persönlicher Schicksalsschläge und sich anbahnender Tragödien, wenn diese durch Glück oder eigene Anstrengung ein positives Ende nehmen, von den Ereignissen profitieren und mit erhöhtem Selbstvertrauen, gesteigertem Optimismus und geringerer Anfälligkeit für Depressionen aus ihnen hervorgehen. Außerdem blieb Michail  Gorbatschow nicht nur von den schlimmsten Dingen verschont, sondern wuchs in vieler Hinsicht auch unter Idealbedingungen auf. Sein Vater, Sergej Gorbatschow, war offensichtlich ein wundervoller Mann, geliebt und bewundert von seinem Sohn, der ihm `sehr nahe` stand. (…) Gorbatschows Großvater mütterlicherseits behandelte seinen Enkel mit `Zärtlichkeit`, und Zärtlichkeit ist kein Gefühl, zu dem sich russische Männer gern bekennen“ (Taubman 2018, S. 33f.).

Der Großvater väterlicherseits galt hingegen als autoritär. Dennoch hatte auch dieser „eine Schwäche für den kleinen Michail, und dasselbe galt für beide Großmütter“ (Taubman 2018, S. 35). Dieser Großvater, „(…) der alte Mann, den so viele fürchteten, wurde weich, wenn er es mit seinem Enkel zu tun hatte“ (Taubman 2018, S. 37). Die Großmutter väterlicherseits beschreibt Gorbatschow in seinen Erinnerungen so: Sie war „herzensgut und fürsorglich: Sie hatte mit allen Mitleid, besonders mit den kleinen Kindern. (…). Großmutter Stepanida und ich waren Freunde. Ich hatte Glück“ (Gorbatschow 2013, S. 42f.). 

Michails Mutter „konnte kalt und strafend sein: Sie hatte Sergej eigentlich nicht heiraten wollen und disziplinierte ihren Sohn durch Schläge mit dem Gürtel, bis er dreizehn war“ (Taubman 2018, S. 35). Michail Gorbatschow war demnach, wie die meisten seiner Generation, ein misshandeltes Kind! Dies wird ganz sicher deutliche Spuren in ihm hinterlassen haben.
Trotz des guten Verhältnisses zu seinem Vater wird es für das Kind sicher auch eine Art Schutz vor dieser strengen Mutter gewesen sein, dass er ab dem dritten Lebensjahr mehrere Jahre nicht bei seinen Eltern, sondern bei seinen Großeltern mütterlicherseits lebte. 

Allerdings schreibt Michail Gorbatschow in seinen Erinnerungen auch: „(…) immer war Mutter in der Nähe, immer unterstützte sie uns. Ich liebte sie. Und auch Vater liebte sie bis zu seinem Tod. Sie war eine wunderschöne Frau, sehr stark und zupackend. Vater war stolz auf sie, verzieh ihr ihre hektische Art und half bei allem“ (Gorbatschow 2013, S. 50). Wenn wir ihm glauben wollen, dann hatte seine Mutter also auch durchaus positive Seiten. Das entschuldigt nicht ihre Gewalttätigkeit gegen das Kind, macht das Bild aber rund und detailreicher. Denn positive Ausgleichserfahrungen (auch mit Täter-Elternteilen), können ein Schutzfaktor sein (dagegen stehen z.B. Akteure wie Stalin, der keinerlei positive Ausgleichserfahrungen in seiner Familie machen konnte).

Über die Großeltern mütterlicherseits sagte Gorbatschow: Bei ihnen „genoss ich völlige Freiheit (…) denn sie liebten mich abgöttisch. Bei ihnen hatte ich das Gefühl, das ich es sei, der die Hosen anhatte. Wie oft man daher auch versuchte, mich bei den Eltern wohnen zu lassen, und sei es nur für kurze Zeit, es gelang kein einziges Mal. Am Ende waren alle mit diesem Zustand sehr zufrieden“ (Taubman 2018, S. 40). Die Großeltern waren relativ wohlhabend (was den Jungen offensichtlich auch gut durch die Hungernot brachte) und noch jung: die Großmutter war damals erst achtunddreißig Jahre alt. Sie prägten ganz wesentlich die frühen Jahre von Michail. 

Als Michail zehn Jahre alt war, begann der Krieg. Sein Vater wurde eingezogen und die Kinder mussten fortan die Männer ersetzen, arbeiten und ihre Kindheit überspringen, wie es Michail Gorbatschow später formulierte (Taubman 2018, S. 47). 

Er selbst bezeichnet sich als Kriegskind:  „Meine Generation ist die Generation der Kriegskinder. Wir sind gebrannte Kinder, der Krieg hat auch unseren Charakter und unserer ganzen Weltanschauung den Stempel aufgedrückt. Was wir in unserer Kindheit durchgemacht haben, ist wohl die Erklärung dafür, warum gerade wir Kriegskinder die Lebensweise von Grund auf ändern wollen“ (Gorbatschow 2013, S. 46). 

Der Vater kam wie bereits beschrieben lebend zurück. Eine Besonderheit sticht ins Auge. Der Vater hat nicht – wie so viele seiner Generation – über seine schrecklichen Kriegserlebnisse geschwiegen und diese in sich vergraben. Er erzählte häufig davon, auch und gerade gegenüber seinem Sohn Michail (Taubman 2018, S. 53). Das Grauen fand also Ausdruck in dieser Familie und sein Sohn hatte – dies ist meine Deutung – die Möglichkeit, seinen Vater dadurch besser nachzuvollziehen (denn die Kriegserlebnisse werden ganz sicher psychische Spuren hinterlassen haben). 

Ab 1946 arbeitete Michail fünf Sommer hintereinander schwer und lange Tage mit seinem Vater auf dem Feld zusammen. Sie hatten dabei Gelegenheit für zahlreiche Gespräche. „Wir redeten über Gott und die Welt, über unsere Angelegenheiten, über das Leben. Das war keine Vater-Sohn-Beziehung im alten Sinne mehr, sondern ein Verhältnis zwischen Männern, die gemeinsam arbeiteten, und der Vater verhielt sich mit gegenüber respektvoll. Wir wurden jetzt noch etwas anderes, nämlich Freunde“ (Taubman 2018, S. 62).

Ich habe nach dem Kriegsbeginn Russlands gegen die Ukraine damit begonnen, etliche Kindheiten von politischen Führern bzw. Zaren in Russland zu beschreiben (siehe das Inhaltsverzeichnis). Die Kindheiten von historischen russischen Führungspersonen waren alle samt schwer belastet. Dies gilt auch für Michail Gorbatschow. Den wesentlichen Unterschied hat sein Biograf William Taubman deutlich hervorgehoben: Michail Gorbatschow hat während seiner Kindheit und Jugend gleichzeitig auch eine Fülle von positiven Erfahrungen mit nahen Bezugspersonen gemacht. Das ist genau das, was Resilienz bedingt, wie wir heute wissen. Das Center on the Developing Child der Harvard Universität schreibt dazu: "The single most common factor for children who develop resilience is at least one stable and committed relationship with a supportive parent, caregiver, or other adult.
Das ist auch ein Unterschied im Vergleich zu Putin, in dessen Kindheit ich keinerlei Lichtblicke ausmachen konnte. 

Michail Gorbatschow war ohne Frage ein ganz außergewöhnlicher Mensch und Politiker. Er sticht unter allen bisherigen politischen Führern seines Landes hervor. Seine außergewöhnliche Kindheit wird ihren Anteil daran haben. Kindheit ist politisch!


Quellen:

Gorbatschow, M. (2013). Alles zu seiner Zeit. Mein Leben. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg. 

Taubman, W. (2018). Gorbatschow. Der Mann und seine Zeit. C. H. Beck, München. 


Sonntag, 29. Januar 2023

Das Schwarze da unten (von Jens Söring)

Jens Söring hat mir einen weiteren Text aus seinem früheren Blog geschickt, in dem es vertiefend um das Verstecken, Verdrängen und Vergessen von Kindheitstraumata von Inhaftierten geht. Der Text ergänzt sehr gut seinen Beitrag "Das Geheimnis, das niemand wissen will"! 

--------------------------------------------------

Das Schwarze da unten (von Jens Söring)

Ein Mitglied meines Freundeskreises hat mich gebeten, einen Blogeintrag über die verschiedenen „Typen“ von Gefangenen zu schreiben. Ein mir persönlich nicht bekannter Leser meines Blogeintrags über meinen Freund Lumpen schrieb einen Kommentar, dass ich Lumpen zu menschlich darstelle und mich nicht ausreichend mit den Opfern befasse. Eine Bekannte aus meiner Zeit an der University of Virginia vor sechsundzwanzig Jahren schrieb mir zum selben Blogeintrag, sie freue sich, dass ich nun einen Freund hätte, mit dem ich mich verstehen könnte, jetzt sei ich nicht mehr so einsam.

Ach, liebe Leute, manchmal macht Ihr es mir wirklich schwer. Sieben Bücher, rund fünfzig Artikel und 59 Blogeinträge habe ich mittlerweile veröffentlicht, aber wenn ich Kommentare wie die drei obigen lese, habe ich das Gefühl, dass Euch mein Leben und die Gefängniswelt immer noch vollkommen fremd sind. Vielleicht bin ich einfach nur ein schlechter Schriftsteller.

Möglicherweise ist das Problem auch, dass ich zurzeit die Einsamkeit meines Lebens besonders schmerzhaft spüre. Ende Juli wurde meine Entlassung auf Bewährung („parole“) abgelehnt und nur vier Tage, nachdem ich darüber informiert wurde, erhielt ich Besuch von drei Mitgliedern meines Freundeskreises aus Deutschland, siehe B55 -  Besuch bei Jens im Sommer 2011. Mir wurde also die Tür wieder einmal ins Gesicht geschlagen – und dann gleichzeitig vor Augen geführt, was ich nun nicht  bekommen werde.

Richtige menschliche Beziehungen nämlich. Mit Menschen, die ich umarmen kann, ohne dass dabei immer gleich der Komplex „Vergewaltigung in der Knastdusche“ mitschwingt. Mit Menschen, die nicht innerlich auf irgendeine Weise so vollkommen zerstört worden sind, dass sie mir letztlich ewig fremd bleiben müssen. 

Mit ... ach, in meinen Gedanken nenne ich alle meine Besucher aus der Außenwelt immer „drei-dimensionale Wesen“. Weil sie echt sind, während meine Mithäftlinge alle, ausnahmslos, irgendwie unecht sind, zwei-dimensional wie eine Zeichnung in einem Comic-Buch. Das Leben, die Welt, hat so unglaublich hart auf sie eingeprügelt, dass sie plattgeschlagen worden sind, flach wie ein Blatt Papier, zwei-dimensional eben. Ihnen fehlt etwas, diese dritte Dimension, die Menschen erst zu Menschen macht.

Was ist dieses gewisse Etwas, was meine Besucher aus der Außenwelt haben, aber meinen Mitgefangenen fehlt, und was deshalb mein Leben so entsetzlich einsam macht? Sie werden lachen: Es ist die Liebe. Oder, um es etwas genauer auszudrücken. Es ist das Vertrauen, welches ja die Voraussetzung zur Liebe ist. Der Mut, sich auf einen anderen Menschen einzulassen – also ihn oder sie zu umarmen.

Aus diesem Grund habe ich die Umarmung zu meiner Lebensphilosophie gemacht – denn ich kann und will umarmen. Sie können diese Lebensphilosophie schon in meinem ersten Buch finden, das ich 2001 schrieb, und Sie werden es in meinem achten Buch finden, welches ich im Frühling dieses Jahres schrieb und das im Frühling 2012 veröffentlicht wird.

Der Clou: Man muss den spezifischen Mut haben, ausgerechnet seine Feinde zu umarmen, und zwar die inneren Feinde wie die äußeren. Die eigenen Schwächen und Ängste muss man umarmen, und die schwierigen Menschen und gefährlichen Situation im täglichen Leben auch.

Das erfordert Courage und eben vor allem Vertrauen – in sich selbst, in den Feind, ins Leben, in die Welt. Man muss Hoffnung haben: den Glauben, dass das jeweilige Wagnis, sich zu öffnen, ein gutes Ende haben könnte.

Genau das haben meine Besucher aus der Außenwelt, und meine Mitgefangenen haben es nicht. Ohne den Mut und das Vertrauen, sich selbst gegenüber und mit anderen Menschen offen zu sein, kann man aber letztlich keine richtigen, menschlichen Beziehungen haben. Und deshalb bin ich so schrecklich einsam hier, als Drei-dimensionaler im Land der Zwei-dimensionalen.

Wieso sind meine Mithäftlinge zwei-dimensional? Den Grund nannte ich in meinem Blogeintrag B26 - Das Geheimnis, das niemand wissen will: Alle, aber wirklich alle Gefangenen sind als Kinder körperlich und/oder sexuell misshandelt worden. Nur eben ich nicht, was mich hier so fremd macht.

Natürlich hatte auch ich ein paar schwierige Phasen und Umstände in meiner Kindheit und Jugend, genau wie die Leser dieses Blogs und meine Besucher aus der Außenwelt auch. Der Unterschied ist jedoch, dass unsere Kindheitstraumata nicht so schrecklich waren, dass wir uns innerlich davor verbergen mussten. Unser Schmerz war nicht so entsetzlich, dass wir ihn in ein kleines seelisches Kästchen einschließen mussten, um uns davor zu schützen.

Zum Beispiel habe ich einen amerikanischen Freund und Besucher, dessen Eltern Schauspieler waren. Sie können sich vorstellen: Das war eine ziemlich neurotische, schwierige Familie. Aber dann ist er selber Schauspieler geworden, und zwar ohne selber ein großer Neurotiker zu werden, und nun verarbeitet er den ganzen seelischen Mist aus seiner Kindheit künstlerisch auf der Bühne. Genau dies meine ich, wenn ich sage, man muss die inneren Feinde, die eigenen Schwächen und Ängste, letztlich umarmen und lieben lernen.

Ich mache fast genau dasselbe schriftstellerisch, und zwar seit Jahrzehnten. Eine meiner Brieffreundinnen meint, es sei manchmal geradezu schockierend, wie ich mich entblöße, aber ich meine, das einzig Ungewöhnliche ist die Öffentlichkeit meiner Offenheit. Künstler teilen sich eben allen mit, doch jeder gesunde Mensch hat Bezugspersonen, denen er sich privat mitteilen kann.

Das ist einfach ein notwendiger Teil des Menschseins: Wir alle haben irgendeinen Freund, bei dem wir uns irgendwann ausgeweint haben, dass unsere Mamas uns nicht genug geliebt haben, unsere Papas immer so gemein zu uns waren, und wir zu Weihnachten auf unsere Geschwister neidisch wurden, weil sie schönere Geschenke bekamen. Und wir alle sind unseren Freunden solche Freunde gewesen, bei denen sie sich über den gleichen Kindheitsmist ausweinen konnten.

Der Unterschied zwischen uns und meinen Mitgefangenen ist, dass deren „Kindheitsmist“ so grausam und entsetzlich war, dass sie selber sich nicht daran heranwagen und ihn deshalb auch nicht anderen mitteilen können. An dem normalen zwischenmenschlichen Bejammern familiären Beziehungsproblemen können die Häftlinge also nicht teilnehmen. Sie sind sich selbst fremd, weil sie einen riesigen Teil der Vergangenheit vor sich selbst verstecken, und deshalb bleiben sie auch anderen fremd.

Nun bin ich ja, wie oben erwähnt, der große Umarmer: Ich habe keine Scheu und keine Angst, ich gehe auf alle zu und tue so, als ob wir Freunde sind. Und siehe da, innerhalb kürzester Zeit sind wir dann auch zumindest freundschaftlich miteinander. 
Das mache ich mit großem Erfolg nun seit einem Vierteljahrhundert mit allen: Massenmördern, Serienvergewaltigern, echten Terroristen, sadistischen Wächtern, eiskalten Gefängnisleitern, und zynischen Journalisten. Wer meinen neuesten Newsletter gelesen hat, der weiß, dass es mir am 1. September sogar gelang, zwei erfahrene Kriminalpolizisten a. D. innerhalb von neunzig Minuten auf meine Seite zu ziehen, einfach, indem ich vollkommen offen war. Das Umarmen – also die mutige, vertrauensvolle Bereitschaft, sich ehrlich und offen auf andere einzulassen – ist wirklich praktisch!

Ganz am Anfang meiner Gefängniskarriere Ende der achtziger Jahre, als ich in London, England, in Auslieferungshaft war, habe ich damit angefangen. Damals wurde ich in einem besonderen Abteil gehalten für Terroristen und „organisierte Kriminalität“, davon schrieb ich in B6 - Terrorismusprozess in Stuttgart-Stammheim. 
In meinem ersten Buch schrieb ich, wie ich mich meinen Mitgefangenen anbot als eine Art freundlicher (und etwas junger!) Beichtvater, dem sie ihre Sorgen mitteilen konnten. Es war das Einzige, was ich tun konnte, um ihnen zu helfen. Und für mich war es natürlich auch ganz interessant, denn meine damaligen Mithäftlinge waren so ungefähr die schwersten und gefährlichsten Jungs, die es gab.

Letztendlich ging es bei diesen Gesprächen aber fast immer um aktuelle Probleme und Sorgen. Zwar erzählte mir ein irischer Terrorist, mit dem ich gut befreundet war, ein bisschen von seiner Kindheit und den Problemen mit seinem Vater, aber er war die Ausnahme. Damals, vor fünfundzwanzig Jahren, fiel es mir gar nicht so sehr auf, dass meine Mitgefangenen kaum über ihre Herkunft und Erziehung sprachen. Heute meine ich, dass dies bezeichnend war, gewissermaßen symptomatisch. Diese Menschen konnten mir nicht von ihren Vergangenheiten erzählen, weil sie selbst keinen inneren Zugang dazu hatten.

Heutzutage bohre ich etwas nach und erfahre zumindest ein wenig mehr. Zum Beispiel erzählte mir ein Häftling in meinem jetzigen Abteil, dass seine Mutter starb, als er noch sehr klein war. Sein Vater war schwer alkoholkrank, oft gab es abends einfach nichts zu essen, dann lag er nachts im dunklen, kalten Schlafzimmer und weinte vor Hunger.

Jahrelang „erzogen“ ihn seine vier älteren Schwestern, die selber noch Kinder waren. Sie zogen ihrem Bruder die eigenen, zu klein gewordenen Kleider an und flochten ihm Rüschen  ins Haar, wie einer lebenden (weiblichen) Spielpuppe eben. Erst als er zehn oder elf war, kam eine Tante, die sich zumindest gelegentlich (wenn auch nicht regelmäßig) um die verwahrlosten und vernachlässigten Kinder kümmerte.

Mit dreizehn fing er an, regelmäßig zu koksen: „Selbstmedikation“ nennt man so etwas, zumindest in Amerika; er betäubte sich selber, um den Schmerz und die gefährlichen Emotionen nicht fühlen zu müssen. Er schloss seine Vergangenheit mit Hilfe der Drogen weg, er versteckte sich vor sich selbst. Das lief so lange gut, bis er seinen Drogendealer tötete. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt.

Ein anderer Mitgefangener wurde von seiner allein stehenden Mutter erzogen, die drogenabhängig, analphabetisch und vollkommen überfordert war. Also peitschte sie ihren Sohn regelmäßig mit einem ausgefransten Elektrokabel aus, an den Beinen, bis er blutete. Er zeigte  mir die Narben. Um den Schmerz auszuhalten, stellte er sich innerlich einfach ab, wie mit einem Schalter waren die Gefühle weg.

Jahre später fand seine Mutter dann zu Jesus, der sie von ihrer Drogenabhängigkeit heilte, und sie nahm sogar Nachtkurse, um das Lesen und Schreiben zu lernen. Ein neuer Mensch! Eines Tages, als sie mit ihrem mittlerweile erwachsenen Sohn in dessen Auto saß, bekam sie einen Weinanfall und bat ihn um Verzeihung. Er umarmte sie und sagte ihr, er wisse doch, dass sie es nur gut gemeint habe. Was hätte es genützt, fragte er mich, wenn er mit seiner Mutter offen über seine Gefühle gesprochen hätte?

Kurz danach schlug er seine Ehefrau dermaßen brutal zusammen, dass er dafür zwanzig Jahre Haft ohne Bewährung bekam. Auch ihn hatte die Vergangenheit eingeholt.

Noch ein weiterer Mithäftling wurde vom Freund seiner geschiedenen Mutter geschlagen und mit dem Stil einer Klobürste als Bestrafung anal vergewaltigt. Jedes Mal, als der Freund abends vorbeikam, um die Mutter ein bisschen zu bumsen, versteckte das Kind sich im Kleiderschrank. Und jedes Mal fand ihn der Freund seiner Mutter dort und bestrafte ihn – nicht immer mit der Klobürste, aber oft genug.

Doch er konnte der Mutter ja nichts davon sagen, denn der Freund gab der Mutter Geld, und sie waren so arm, dass sie dieses zusätzliche Einkommen dringend brauchten. Also schwieg der gute Sohn der Mutter und des Geldes zuliebe. 

Jahre später, in seiner dritten Ehe, entdeckte er, dass die eigene Ehefrau sich einen Freund zugelegt hatte. Also erschoss er den Freund und vergewaltigte seine untreue Ehefrau mit dem Lauf seiner Pistole. Da war sie wieder, die Vergangenheit – bloß mit Pistole statt Klobürste.

Man würde meinen, diese Menschen könnten zumindest jetzt im Gefängnis über ihre bisher weggekokste, verdrängte oder verschwiegene Vergangenheit sprechen. Doch das können sie nicht, immer noch nicht.

Der ehemalige Kokser hat Drogen mit Süßigkeiten ersetzt, heutzutage frisst und frisst und frisst er, völlig haltlos, genau wie früher mit dem Kokain. Er verschuldet sich beim Kredithai, arbeitet Überstunden in seinem jämmerlichen Knastjob – alles nur für ein paar extra Kekse und Schokoladentafeln.

Der ehemalige Frauenverprügler hat eine ganz heiße briefliche Romanze mit der Schwester seiner ehemaligen Ehefrau, nur ist diese Schwester leider verheiratet. Er sucht also immer noch die große Liebe, die er nie hatte, selbst im Knast. Mit der Mutter, die ihn als Kind auspeitschte, hat er weiterhin wenig Kontakt.

Der betrogene Ehemann, Mörder und Vergewaltiger hat natürlich Jesus gefunden, in der erzkonservativen Variante. Das bedeutet anscheinend: Montags bis Samstags bestaunt er die Pornohefte, die die Wächter einschmuggeln, aber am Sonntag sieht er sich die Fersehprediger im TV an und wird richtig aggressiv, wenn man das Thema „Sex“ auch nur erwähnt.

Um sie dazu zu bringen, überhaupt nur ein bisschen über ihre Kindheit zu erzählen, musste ich ganz, ganz sanft mit ihnen sein, ihnen viel Zeit geben, und den richtigen Augenblick abwarten. Dann habe ich von meinem eigenen Trauma erzählt, die schreckliche Geschichte von Elizabeth Haysom – ich habe mich also als Erster offenbart. Das gab ihnen dann den Mut, ein wenig zu sprechen.

Nur war ich ja schon achtzehn Jahre alt, als Elizabeth in mein Leben kam; zwar war ich sehr unreif, aber ich war kein Kind mehr, ich war zumindest etwas innerlich gefestigt. Deshalb konnte ich das Trauma mit Elizabeth letztlich auch verarbeiten, ich musste es weder in mir verschließen noch mich davon innerlich verbergen, ich konnte darüber sprechen und natürlich viel schreiben.

Doch die psychischen Schocks, die diese Männer erlitten, fanden in ihrer Kindheit statt, als sie noch ungeformt und ungefestigt waren. Wenn sie sich an diese Erinnerungen heranwagen, dann kommen die Gefühle eines Achtjährigen hoch, und diese Emotionen sind so stark und unkontrolliert, dass sie sofort wieder versteckt, verdrängt und vergessen werden müssen. Das Schwarze da unten, in den Tiefen der Seele, ist einfach zu gefährlich.

Vermutlich könnte man einige dieser Männer heilen – mit viel Geld und langjähriger, individueller Therapie. Aber warum? Sie alle werden Jahrzehnte, beziehungsweise den Rest ihrer Leben hinter Gittern verbringen. Und sie haben alle ganz schreckliche Verbrechen begangen. Sie sind hier, um bestraft zu werden; denn Strafe muss sein.

Ich finde es verständlich und richtig, dass sich die Gesellschaft und das Justizsystem zuerst um die Opfer dieser Männer kümmert: Keines der Opfer hat es „verdient“, getötet, verprügelt oder vergewaltigt zu werden (selbst der Drogendealer nicht). Auch finde ich es verständlich, dass die Gesellschaft nicht sonderlich an den Kindheitstraumas dieser Männer interessiert ist: Es gibt wahrlich sympathischere Objekte des Mitleids, von Somalia über Bangladesch bis Haiti. 

Aber wir sollten auch ehrlich sein: Genau wie diese Männer ihre Traumas innerlich verstecken, verdrängen und vergessen, so versteckt, verdrängt und vergisst die Gesellschaft diese Männer im Gefängnis. Man spricht nicht über Gefangene und ihre Leiden, genau wie Häftlinge selber nicht über ihre Kindheitstraumas sprechen.

Wenn das Thema dann doch mal erwähnt wird, dann gibt es oft eine aggressive Gegenreaktion – so wie Leser dieses Blogs mich in der Kommentarspalte angreifen, oder so wie der dritte Gefangene oben sehr grantig wird, wenn irgendwer das Thema „Sex“ am heiligen Sonntag erwähnt.

Viel öfter ist die Reaktion jedoch Nichtbeachtung: Meine Bücher verkaufen sich äußerst schlecht, weil niemand wirklich Häftlinge als Menschen sehen will. Und die Gefangenen, denen ich ein paar Details über ihre entsetzlichen Vergangenheiten entlocke, wechseln so schnell wie möglich das Gesprächsthema und reden dann nie wieder darüber.

Weil ich jedoch seit einem Vierteljahrhundert mit diesen Menschen zusammen lebe, kann ich sie und ihre Kindheitstraumas eben nicht verstecken, verdrängen und vergessen. Im Gegenteil, ich sehe es sogar als meine Aufgabe, das Schwarze da unten, in den Tiefen der Seele und in den tiefsten Gefängnissen der Gesellschaft, ans Tageslicht zu bringen. Ich glaube nämlich an die reinigende und heilende Kraft des Lichts und der Liebe.

Ich habe das Schwarze da unten umarmt und mich mit ihr angefreundet. Und ich schreibe von dieser Umarmung, weil die Schriftstellerei eben meine kleine halbneurotische, künstlerische Sublimierungsmasche ist.

Ich werde mit meinen eigenen Problemchen durch das Schreiben fertig und wähne mich glücklich, dass ich in meiner Kindheit nur ein bisschen Stress mit meinen Eltern hatte – nichts im Vergleich zu Hunger und Mädchenkleider, nichts im Vergleich zu Peitschen mit Elektrokabeln, nichts im Vergleich zur analen Vergewaltigung mit Klobürste. Ich hatte es leicht, so leicht, und ich bin dankbar dafür.

Und ich verneige mich beschämt vor meinen Mitgefangenen, deren Kindheiten so viel schrecklicher waren – so entsetzlich, dass ich es letztlich gar nicht nachempfinden kann. Würde ich behaupten, ich hätte Mitgefühl, wäre das eine Lüge:

Die Qualen dieser Männer, als sie noch Kinder waren, stehen einfach zu weit außerhalb der weitesten Grenzen meiner eigenen Erfahrungen. Ich kann sie letzten Endes nicht verstehen.

Deshalb kann ich diese Mithäftlinge auch nicht einfach so verdammen für die schlimmen Verbrechen, die sie begangen haben. Ich wiederhole: Die Opfer dieser Verbrechen haben es nicht „verdient“, getötet, verprügelt und vergewaltigt zu werden! Aber ich schaffe es einfach nicht, die Täter dafür zu verachten. Ich weiß einfach nicht, ob sie wirklich eine „Wahl“ hatten, diese Verbrechen zu begehen.

Was ich aber sehr wohl weiß, ist, dass das Verstecken, Verdrängen und Vergessen ihrer Vergangenheiten zumindest zu den Taten beigetragen haben. Und genau da habe ich meinen Angriffspunkt: Ich kann das Verstecken, Verdrängen und Vergessen mit meinen Büchern und diesem Blog bekämpfen.

Aber das ist einsame Arbeit. Denn diese Menschen, meine Mitgefangenen, sind mir so fremd. Ich verstehe, dass sie sich weiter vor ihrem Kindheitstrauma schützen müssen, sie können nicht einfach so darüber reden. Aber das trennt uns letzten Endes voneinander.

Am Anfang dieses Blogeintrags schrieb ich, dass Menschen wie die Leser dieses Blogs, meine Besucher aus der Außenwelt und ich „drei-dimensional“ sind, während meine Mithäftlinge „zwei-dimensional“ bleiben – ihnen fehlt etwas. Was ihnen fehlt, ist der Zugang zur eigenen Vergangenheit und deshalb zu sich selbst. Sie können es nicht wagen, sich auf andere einzulassen, weil sie sich nicht auf sich selber einlassen können. Ihnen fehlt also die Voraussetzung zur Liebe: die Offenheit und das Vertrauen, das man braucht, um andere umarmen zu können. Und um sich selbst, das eigene Leben, zu umarmen.

Es ist verdammt kalt und einsam, das Schwarze da unten.