Donnerstag, 20. Februar 2020

Hallenser Gewaltstudie: Die Kindheitsgeschichte ostdeutscher, rechter Gewalttäter



Für nachfolgend genannte Studie wurden 24 Interviews mit jungen Gewalttätern in Ostdeutschland geführt:

Bannenberg, B. & Rössner, D. (2000): Hallenser Gewaltstudie - Die Innenwelt der Gewalttäter: Lebensgeschichten ostdeutscher jugendlicher Gewalttäter. In: DVJJ-Journal: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 11 (2000) 2, S. 121-134.

Von den 24 Gewalttätern bezeichneten sich 17 (nur eine Person davon war weiblich) als rechts oder früher rechts, als rechtsgerichtet, als rechtsdenkend, als Skin oder Skinhead mit nationalistischer oder ausländerfeindlicher Einstellung (S. 129). Die Bandbreite reichte dabei von rechtem Denken, das nicht unbedingt mit Gewalthandeln verbunden war, bis hin zu extrem hasserfüllten Denken, das in gewalttätige Handlungen mündete. Sehr häufig wurden die Freundschaft, Kameradschaft und der Familienersatz durch rechte Gruppen betont.

Der familiäre Hintergrund war für viele Jugendliche der Einstieg in die Gewalt. Sie lernten nicht nur, Gewalt als normales Mittel des Verhaltens, der Interessensdurchsetzung und der Konfliktlösung anzuwenden, sondern wurden häufig auch schon sehr früh in extremer Weise Opfer. Sie mussten in frühen Jahren mit ansehen, wie Mutter und Geschwister geschlagen und verprügelt wurden und sie mussten in einem Klima leben, das jederzeit in unberechenbarer Weise in Gewalt, auch gegen sie selbst, umschlagen konnte. Viele machten auch die deprimierende Erfahrung, das keine Hilfe zu erwarten war“ (S. 123).

Die Befragten konnten in ihrer Kindheit und Jugend keine vertrauensvollen und tragfähigen Beziehungen zu Erwachsenen aufbauen. In den Fallbeispielen fällt auch immer wieder der Hinweis auf starken Alkoholkonsum von Elternteilen auf. Viele (die genaue Anzahl wurde nicht dargestellt, es wurde nur von „vielen“ berichtet) waren außerdem phasenweise in Kinderheimen untergebracht. Die Gewalttäter wiesen keine oder nur eine niedrige Bildungsqualifikation auf. Die Mehrheit hatte keinen Schulabschluss.

Manche Fallbeispiele sind extrem, so z.B. der Fall „Philip“. Philip schilderte, dass seine Eltern ihn nicht gewollt hätten. Es gab viel Streit, der Vater hätte randaliert bis die Polizei kam. Seine Mutter habe viel getrunken und sich nicht gekümmert. Weitgehend sei er bei seiner Oma aufgewachsen. Später kam er nur noch nach Hause, um dort zu schlafen. In der Schule gab es massive Probleme. 1992 wurde seine Mutter vergewaltigt und durch viele Messerstiche ermordet. Kurz nach der Wende schloss er sich einer rechten Gruppe an und beging mit 13 Jahren einen Brandanschlag auf eine Gedenkstätte. Seine weitere kriminelle „Karriere“ ist lang, inkl. gefährlicher Körperverletzung. Im Rahmen seiner rechten Aktivitäten wurde er aber auch Opfer von schwerer Gewalt (S. 129).

Mittwoch, 19. Februar 2020

Studie: Der soziobiographische Hintergrund rechtsextremistischer Gewalttäter


Für die nachfolgend genannte Studie wurden 61 rechtsextreme, männliche Gewalttäter, die vom Landgericht Halle und Dessau vorwiegend wegen Mordes, versuchten Mordes, Totschlag oder gefährlicher Körperverletzung angeklagt worden waren, mehrstündig befragt (ergänzend wurden teils auch die Eltern im Gerichtssaal befragt):

Marneros, A., Steil, B. & Galvao, A. (2003): Der soziobiographische Hintergrund rechtsextremistischer Gewalttäter. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform. Band 86, Heft 5. S. 364–372.


Zur Kindheit und Familiensituation gibt es folgende Ergebnisse:
  • Bei 68,9 % (N=42) der Täter konnte eine sogenannte „Broken-home-Situation“ nachgewiesen werden. Darunter fielen:  Trennung/Scheidung der Eltern, Sucht bei einem Elternteil, Wechsel der Erziehungsträger, Heimaufenthalte, aufwachsen ohne Vater, aufwachsen ohne Mutter, Tod eines Elternteils.
  • Besonders auffällig fand ich vor allem die hohen Zahlen suchtkranker Eltern (34,4%) und von Heimaufenthalten (23%). 
  • Nur 34,4 % (N=21) der Täter gaben an, dass sie in ihrer Ursprungsfamilie keine Gewalt erlebt hatten. 
  • 65,6 % der Täter haben entsprechend Gewalt in unterschiedlichen Konstellationen (Mutter gegen Kinder, Eltern gegen Geschwister usw.) erlebt. Die häufigste Gewaltkonstellation war Gewalt durch den Vater gegen die Befragten (60,7%). 

Aus Erfahrung weiß man, dass gerade solche Gewalttäter dazu neigen, negative Kindheitserfahrungen zu bagatellisieren oder zu verdrängen. In dieser Hinsicht haben auch die Autoren der Studie beim Thema Gewalt bzw. problematische Familienhintergründe Hinweise gegeben: Einige Befragte hätten Schwierigkeiten gehabt, ihre Antworten detailliert darzustellen. „Die Motive dafür sind unterschiedlich. So spielen Abwehr, Verleugnung oder auch Intention eine entscheidende Rolle bei der Beantwortung der Fragen“ (S. 366).

Im weiteren Bildungsverlauf zeigt die Studie klassische Ergebnisse ähnlicher Studien: 27,9 % der Befragten hatten die Schule abgebrochen und 23 % waren auf einer Sonderschule. Nur ein Befragter hatte Abitur. Bei 64 % der Befragten wurde ein sehr stark ausgeprägte Störung des Sozialverhaltens (nach Kriterien der WHO) festgestellt.

Dienstag, 18. Februar 2020

NS-Täter. Die Kindheit von Odilo Globocnik


Ich habe mich mit der Kindheit des NS-Täters Odilo Globocnik befasst. Meine Quelle dafür ist:
Sachslehner, J. (2014): Zwei Millionen ham'ma erledigt: Odilo Globocnik - Hitlers Manager des Todes. Styria, Wien – Graz – Klagenfurt. 

Odilo Globocnik wird als der ´“blutigste Einpeitscher von Judenvernichtung und Germanisierung“ im polnischen Generalgouvernement benannt (S. 11). Er gilt als einer der Haupttäter des Holocaust. In der Inhaltsbeschreibung heißt es: „SS-Brigadeführer Odilo Globocnik ist ­Manager: Manager des Todes. Seine Geschäfte sind der millionenfache Massenmord und der Raub jüdischen Eigentums. (…) Sein monströser Vorschlag zur physischen Vernichtung der polnischen Juden durch Giftgas findet im Herbst 1941 rasch die Zustimmung Berlins, ab dem März 1942 rollen die Todeszüge in die neu errichteten Vernichtungslager Belzec, Sobibór und Treblinka.“

Der Vater von Odilo war ursprünglich beim Militär im Rang eines Oberleutnants. Als er heiraten wollte, wurde er in den Stand der Reserve zurückversetzt und war von nun an Postbeamter. Sein Sohn Odilo Globocnik wurde 21.04.1904 in Triest geboren. Im Ersten Weltkrieg wurde der Vater einberufen und schaffte es in den Rang eines Rittmeisters. Wegen eines Magenleidens scheint ihm der Einsatz an der Front allerdings erspart geblieben zu sein.
Eine Offizierskarriere in der Armee des Kaisers sah der Vater offenbar auch für seinen Sohn als erstrebenswert an, „so wird der elfjährige Odilo nach St. Pölten geschickt, wo dieser am 13. Dezember 1915 nach bestandener Aufnahmeprüfung in die Militär-Unterrealschule eintritt“ (S. 22).

Der Biograf Johannes Sachslehner beschreibt einen Bericht eines früheren Zöglings dieses Militärinternats, die „Vergewaltigung seiner Kindheit“ und den körperlichen und geistigen Missbrauch während dieser Zeit (S. 23). Wie Odilo seinen Aufenthalt dort erlebte, wird nicht beschrieben. Der Biograf meint, dass Odilo mit den „Herausforderungen der Militärerziehung besser zurechtgekommen zu sein“ scheint (S. 23); Grundlage für diese Einschätzung sind offenbar sehr gute Zeugnisse des Schülers, keine Aussagen von Odilo.

Nach Ende des Krieges kehrte der nun mehr 14-Jährige zurück zu seinen Eltern, die ihm ein neues Berufsziel auferlegten: Techniker. Am 01.12.1919 starb sein Vater im Alter von 49 Jahren, wohl an einer Krankheit, die er sich im Krieg zugezogen hat. Für Odilos Mutter, „die nun mit drei unversorgten Kindern allein dasteht, beginnt ein verzweifelter Kampf ums Überleben“ (S. 27). In einem Unterstützungsersuch an die Postdirektion schrieb sie, dass sie und ihre Kinder dem Hungertod anheimfallen werden. „Odilo, der diesen Überlebenskampf hautnah miterlebt, fühlt sich von nun an als einziger `Mann` in der Familie für seine Mutter und für seine jüngere Schwester Erika verantwortlich“ (S. 27). Er verdiente sich als Kofferträger etwas dazu. Allerdings betätigte der Jugendliche sich nebenbei auch politisch, die Parolen der extrem Rechten machte er sich schnell zu eigen. In seinem Heimatort scheint es eine sehr aktive politische Szene gegeben zu haben.

Schilderungen über die Familienatmosphäre oder den Umgang der Eltern mit den Kindern findet man im Grunde fast gar nicht in der verwendeten Quelle. Ebenfalls finden sich wie geschildert keine Details über den ca. dreijährigen Aufenthalt im Militärinternat. Ich muss also etwas spekulieren:
Seine Mutter war die Tochter eines Beamten. Sein Vater war sowohl Beamter als auch beim Militär. Die Eltern regelten den Lebensweg ihres Sohnes, erst sollte er Offizier werden, dann Techniker. Einen Elfjährigen – zudem in Kriegszeiten - in ein Militärinternat zu schicken, mag man damals für eine gute Idee gehalten haben; ein Kind bleibt aber ein Kind. Für einen Elfjährigen bedeutet es einen tiefen Einschnitt von der Familie getrennt und den Vorgesetzten im Internat ausgeliefert zu sein. Was sich dort alles abspielte, lässt sich nur erahnen. Ich halte es für extrem unwahrscheinlich, dass das Kind in den Jahren dort keine Verletzungen und Indoktrinationen erlebt hat.

Die Frage bleibt ergänzend, wie die Eltern Zuhause mit den Kindern umgingen?  Eine vom Militär und vom Beamtentum geprägte Familie des Kaiserreichs steht für mich nicht gerade für eine liberale Erziehung, letztere war damals eh selten zu finden. Ich vermute deutliche Belastungen und Gehorsamsforderungen in der Familie.

Bei aller Spekulation bleiben aber auch die deutlichen Fakten, die eine sehr belastete Kindheit aufzeigen: Trennung von der Familie und Zeit im Militärinternat zwischen dem 11. und 14. Lebensjahr, Tod des Vaters als Odilo 15 Jahre alt war und anschließend verzweifelte Situation der Familie.

Montag, 17. Februar 2020

NS-Täter. Die Kindheit von Werner Best


Ich habe mir die Kindheitsgeschichte von Werner Best angeschaut. Meine Quelle dafür ist:
Herbert, U. (1996): Best: Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903-1989. J.H.W. Dietz Nachfolger, Bonn.

Als Stellvertreter Heydrichs bei der Gestapo, Chef der Innenverwaltung im besetzen Frankreich, Reichsbevollmächtigter in Dänemark sowie einflussreicher Ideologe der SS stand Best während der NS-Diktatur immer im Schnittpunkt nationalsozialistischer Weltanschauung und Politik“ (Herbert 1996, Inhaltsangabe)

Werner Best hat seine frühe Kindheit als unbeschwert und behütet dargestellt. Wobei auffällt, dass er sich (den Ausschnitten nach) dabei nur auf Erlebnisse außerhalb der Familie konzentriert: Schlittenfahren, Sommersingen, Theater usw. (S. 46). Als Bruchpunkt beschrieb er den Tod seines Vater, der in Folge einer Verwundung an der Westfront in Frankreich am 04.10.1914 starb. Werner war zu dem Zeitpunkt 11 Jahre alt. Best schreibt: „Der frühe Heldentod meines Vaters hat mich schon mit elf Jahren einsam gemacht, da meine Mutter zusammenbrach und mehr Stütze von seiten ihrer Söhne brauchte, als sie ihnen geben konnte. Ich bin deshalb eher von der Tradition meiner Familie als von meinen Eltern erzogen worden. (…) Mein Vater hatte einen Brief an seine beiden Söhne hinterlassen, in dem er uns die Mutter anbefahl und uns aufforderte, patriotische deutsche Männer zu werden. So fühlte ich mich mit elf Jahren bereits für meine Mutter und meinen jüngeren Bruder verantwortlich. Und vom 15. Lebensjahr ab (1918!) fühlte ich mich verantwortlich für die Wiederaufrichtung Deutschlands. Ich habe deshalb in meiner Jugend nur Ernst und Sorge, Arbeit und Verantwortung gekannt“ (S. 47)
Der Tod des Vaters war für die Familie traumatisch. In der Folge konnte seine Mutter nicht mehr wie vorher für ihre Kinder sorgen, wenn man den Ausführungen folgt. Wenige Wochen nach dem Vater starb zudem auch noch der Großvater (S. 47).

Über den Erziehungsstil und weitere Belastungen in der Familie erfährt man nicht viel in der verwendeten Quelle. Nur so viel: „Der Vater durchlief die höhere Postbeamtenlaufbahn, bei jeder Beförderung wurde er versetzt. Die Familie zog mit, von Darmstadt nach Liegnitz, von Liegnitz nach Dortmund“ (S. 46). Nach dem Tod des Vaters siedelte die Familie erneut um, nach Gosenheim bei Mainz. Das Leben der Kinder und Familie verlief also auch räumlich unstet.

O-Ton Werner Best: „Ich bin in der Atmosphäre deutschen Beamtentums aufgewachsen. Mein Vater war Postbeamter und Sohn eines Eisenbahnbeamten, meine Mutter die Tochter eines Bürgermeisters. Dienst für Volk und Staat, strenge Pflichterfüllung und spartanisch einfache Lebenshaltung waren der Lebensrahmen einer deutschen Beamtenfamilie“ (S. 46)
Hier deutet sich ziemlich klar an, dass viel Wert auf Disziplin und Gehorsam gelegt wurde. Wie genau sich dies im Erziehungsstil niederschlug, wird nicht beschrieben. Fest steht aber auch, dass in der verwendeten Quelle keine Belege für Gewaltfreiheit in der Familie zu finden sind. Überhaupt ist die Informationslage über die Kindheit von Werner Best sehr dünn.

Bei den meisten von mir untersuchten NS-Tätern fällt auf, dass es meisten mehrer Belastungen in der Kindheit gab: Also z.B. strenge, autoritäre Erziehung und Tod eines Elternteils oder strenge, autoritäre Erziehung und lange Trennung von der Familie usw. Bei Werner Best gibt es nur Andeutungen, die eine strenge Erziehung nahe legen. Die traumatischen Belastungen nach dem Tod des Vaters wurde beschrieben. Ebenfalls der Zusammenbruch der Mutter. Eine sehr belastete Kindheit an sich ist insofern belegt.


Freitag, 14. Februar 2020

NS-Täter. Die Kindheit von Wilhelm Keitel

Wilhelm Keitel brachte es im NS-Staat bis zum Generalfeldmarschall und Chef des Oberkommandos der Wehrmacht. Als letzt genannter stand nur noch Adolf Hitler in der Befehlsstruktur der Wehrmacht über ihm. Er gehörte zu den in Nürnberg angeklagten  Hauptkriegsverbrechern und wurde zum Tode verurteilt.

Über seine Kindheit hat er sehr viel in einen Memoiren berichtet:
Keitel, W. (1998): Mein Leben. Pflichterfüllung bis zum Untergang. Edition q, Berlin

Keitel wurde im Jahr 1882 geboren. „Bereits im Sommer 1888 wurde mir, damals 6jährig, zum ersten Mal bewusst, dass mein `Mütterchen` krank war. Sie sang nicht mehr! Ich wurde auch viel von ihr fern gehalten – und war doch so an ihre Zärtlichkeiten gewöhnt und als einziges Kind auch verzogen, ungeachtet der `Strenge` des Vaters“ (S. 22). Wie diese „Strenge“ des Vaters genau aussah, wird nicht beschrieben. Man kann sich in etwa vorstellen, was sich um das Jahr 1885 herum alles an autoritärem Verhalten darunter verstand.

Seine Mutter war an Tuberkulose erkrankt und sie war schwanger. Am 25.12.1888 wurde ein Junge geboren. Keitel erinnert sich, wie er am 03.02.1889 an der Hand seines Vaters zum Totenbett seiner Mutter geführt wurde (S. 22). Wilhelm war beim Tod seiner Mutter 6 Jahre alt. Die folgenden drei Jahre danach beschreibt er überhaupt nicht in seinen Memoiren. Er erwähnt nur noch, dass sich sein Vater nach dem Tod der Mutter zu einem „einsamen Sonderling“ entwickelt hätte (S. 23). Erst viel später, als älterer Jugendlicher, habe er ein engeres Verhältnis zum Vater aufbauen können (S. 33f).

Im Alter von neun Jahren wurde Wilhelm nach Göttingen in eine Schülerpension geschickt, die von einer Lehrerwitwe geleitet wurde. Er habe dort vier Spielkameraden gefunden, „vier `Leidensgefährten`, die gleichfalls ihrem Elternhaus fern sein mussten“ (S. 24). Dass er Leid in dieser Zeit erlebte, wird durch den zitierten Satz deutlich. An anderer Stelle spricht er von „Einsamkeit“ und einer „meist gedrückten Stimmung“ in dieser Zeit in der Pension (S. 27). Kein Kind geht unbeschadet durch eine jahrelange Trennung von der Familie. Nur in manchen Schulferien konnte er etwas Zeit Zuhause verbringen und dabei auch seinen Bruder erleben.

Die „Hausmutter“ in der Pension nennt Keitel übrigens stets nur abschätzig „die Alte“ (S. 24). Ein Mädchen und ein Junge aus der Pension waren ein heimliches Liebespaar. Wilhelm half oft, diese Verbindung vor der Lehrerwitwe zu verbergen, aus Angst der Beiden "vor Dresche“ (S. 24). Offensichtlich gab es also auch Prügelstrafen oder entsprechende Drohungen in dieser Pension. Später, als Wilhelm fast 12 Jahre alt war, wechselte er zumindest die Pension und war anschließend zufriedener.

Aber auch in der Schule, die Wilhelm besuchte, wurde die Prügelstrafe angewendet: „Der Schulbesuch gefiel mir gar nicht. Der Elementarlehrer Neumann, mein Klassenlehrer, hatte mich (…) innerhalb kürzester Zeit auf die vorderste Bank gesetzt, unmittelbar neben seinen Sohn Georg (…) und abwechselnd bekamen wir `Maulschellen`, weil wir nichts konnten oder nicht wussten, wovon gerade die Rede war“ (S. 24f). Als ca. 17-Jähriger zog er dann  für eine übersichtliche Zeit zu seiner Großmutter, sein Vater hatte kurz vorher erneut geheiratet. Im Alter von fast 18 Jahren meldete er sich für eine Offizierslaufbahn an und wurde zum Soldaten und Offizier ausgebildet. Der Rest ist Geschichte. „Pflichterfüllung bis zum Untergang“ lautet der Untertitel seiner Memoiren…

Mittwoch, 12. Februar 2020

NS-Täter. Die Kindheit von Ernst Kaltenbrunner


Ich habe die Kindheit von Ernst Kaltenbrunner durchgearbeitet.

Meine Quelle dafür ist:
Black, P. (1991): Ernst Kaltenbrunner: Vasall Himmlers: Eine SS-Karriere (Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart). Ferdinand Schöningh, Paderborn. 

Ernst Kaltenbrunner war der letzte Chef des Reichssicherheitshauptamtes, der gefürchteten Terrorzentrale des Dritten Reichs. Der SS-Obergruppenführer aus Österreich avancierte im Zweiten Weltkrieg zu einem der mächtigsten Männer des Reichs. 1946 wurde er als Hauptkriegsverbrecher hingerichtet“ (Black 1991, Inhaltsbeschreibung)

Über die Mutter von Ernst Kaltenbrunner hat der Biograf Peter Black nur warme Worte übrig:
Der höchste Grundsatz in ihrem Leben war offenbar aufopfernde Liebe zu ihrem Gatten und ihren Söhnen. Ernst war ihr Liebling; sie widmete ihm viel Aufmerksamkeit und deckte ihn oft, wenn er mit seinem Vater zusammenstieß“ (S. 40) Hier deuten sich bereits Konflikte mit dem Vater an, die noch konkretisiert werden:
 „Im Gegensatz zu dieser engen Mutterbeziehung stand die distanzierte, weniger gefühlsbetonte Beziehung zu seinem Vater, den er als `blonden, stattlichen, immer arbeitsbelasteten Mann` in Erinnerung behielt, `der gut zu uns war, aber manchen Anlass hatte, uns auch den Hosenboden stramm zu ziehen`. Im Allgemeinen war jedoch das Verhältnis zwischen Vater und Sohn nicht schlecht“ (S. 40). Den „Hosenboden stramm gezogen bekommen“ bedeutete damals Prügel auf den Po. Die Hose wurde in der Tat stramm gezogen, damit die Schläge (oft mit Gegenständen ausgeführt) mehr Schmerzen verursachten. Die Gewalt scheint nicht selten erlitten worden zu sein. Zudem gibt der Biograf ja auch im oben angeführten Zitat zu erkennen, dass Vater und Sohn wohl recht häufig „zusammenstießen“.

Klassisch ist, dass der Biograf sogleich darauf bedacht ist, diese Gewalt klein zu reden. Er betont im Nachsatz das allgemein gute Verhältnis zum Vater. Und kurz darauf schreibt er ergänzend: „Nichts in der Familienatmosphäre oder im häuslichen Milieu Kaltenbrunners deutet also auf eine abnormale, zur Kriminalität neigende Persönlichkeit oder auf einen Außenseiter, der unfähig ist, eine sinnvolle Beziehung zu seiner Umwelt zu finden“ (S. 40). Die Kaltenbrunners waren  - dem Biografen nach - eine ganz normale, bürgerliche Familie. Ja, so war das halt damals….

Die Deutungen und Ausführungen des Biografen reihen sich in etliche Biografien ein, die ich bzgl. destruktiver Akteure (NS-Täter, Diktatoren) durchgearbeitet habe. Belastungen in der Kindheit werden teils besprochen, dann aber oftmals sofort wieder gedeckelt und umgedeutet. Aus diesem Grund habe ich in meinem Buch sogar ein gesondertes Kapitel mit dem Titel „Das große Schweigen“ verfasst. Gewalterfahrungen durch den Vater und eine distanzierte Beziehung zu ihm mögen damals mehrheitlich die Norm gewesen sein; dies bedeutet aber nicht, dass die Kinder, die dies erlebt haben, unbeschadet geblieben sind! Außerdem wird hier – trotz der Deutungen des Biografen – erneut meine Grundthese bestätigt, dass als Kind gewaltfrei aufgewachsene Menschen nicht zu Massenmördern werden.

Peter Black hat manche Aussagen aus den „Memoiren“ von Ernst Kaltenbrunner, die sich in Privatbesitz befinden und somit nicht öffentlich zugänglich sind. Es wäre die Frage, ob sich darin evtl. noch weitere Infos zum Erziehungsverhalten des Vaters, ggf. auch der Mutter finden lassen. Da Black die o.g. Gewalterfahrungen beschwichtigend kommentiert, könnte ich mir vorstellen, dass er evtl. auch andere Details ausgeblendet oder übersehen hat.

Auffällig ist auch im Fall Kaltenbrunner, dass den Opfererfahrungen und Demütigungen eine Mutter gegenüberstand, die diesen einen Sohn besondere Aufmerksamkeit zukommen ließ (mehr als den Geschwistern). Dieser Mix aus Ohnmacht und mütterlicher Bevorzugung und Bewunderung ist auffällig häufig bei Diktatoren zu finden. Oder in diesem Fall auch bei einem hochrangigen NS-Täter.

Zudem war die Mutter von Ernst Kaltenbrunner nicht unbelastet: Ihre eigene Mutter war bei der Geburt gestorben, sie wurde von einer Tante mütterlicherseits aufgezogen (S. 39). Wie und ob dies Schicksal in ihren Umgang mit ihren eigenen Kindern hineinspielte, wird nicht beschrieben.

Interessant ist nebenbei bemerkt auch, dass sich der Biograf Black bzgl. einer anderen Gegebenheit widerspricht: Nichts in der Familienatmosphäre habe auf eine abnorme Persönlichkeitsbildung hingedeutet. Allerdings beschreibt Black, dass es in der Familie Kaltenbrunner Antisemitismus gab: „So durchdrang schon vor 1914 eine antisemitische `Stimmung` das Kaltenbrunnersche Familienmilieu“ (S. 41).

Kommen wir aber noch einmal zurück zur Kindheit von Ernst. Es gab auch eine lange Trennung von der Familie, nachdem der Vater seinen Sohn aus dem Heimatort Raab nach Linz aufs Gymnasium schickte: „Am 12. September 1913 zog der Junge, noch nicht ganz zehn Jahre alt, in eine Pension, (…). Seine Erinnerungen an die folgenden Jahre waren nicht angenehm. Er hatte starkes Heimweh nach Raab; außerdem fand er seine Wirtin allzu streng und knauserig“ (S. 44). Erst nach dem Krieg nach 1918 lebte Ernst wieder bei seiner Familie, die ebenfalls nach Linz übersiedelte.
Später, in seiner Zelle in Nürnberg, erinnerte sich Ernst Kaltenbrunner mit Wehmut an seine frühe Zeit in Raab (S. 42f). Die Trennung von Familie und Heimat scheint ihn tief geprägt zu haben.
Was sich alles an Verhalten seiner „Gastmutter“ in Linz unter dem Wort „streng“ verbirgt, kann man nur erahnen. Fest steht, dass er keinen unmittelbaren Schutz durch seine Familie hatte und diese Frau offensichtlich die Aufsicht über ihn führte.

Außerdem stellt sich hier die Frage, wie liebevoll und zugewandt eine Mutter ist, die ihren neunjährigen Sohn für ca. 5 Jahre weg gibt? Sicherlich bestimmte damals der Vater abschließend über die Kinder. Vielleicht ist meine Frage also auch etwas ungerecht dieser Mutter gegenüber. Trotzdem stelle ich sie in den Raum. Denn auch Mütter konnten damals Einfluss nehmen und um ihre Kinder – auch gegen die Ehemänner – kämpfen. Ob und wie eine solche Diskussion im Hause Kaltenbrunner stattfand, erschließt sich nicht in der zitierten Biografie. Zu vermuten ist wohl eher, dass die Mutter dem Willen des Vaters entsprach. Ein guter Bildungsweg zählte damals allgemein viel, sehr viel mehr, als das emotionale Befinden eines Kindes.

Insgesamt betrachtet zeigt sich, dass Ernst Kaltenbrunner als Kind sehr belastet war. Zudem deuten sich weitere Belastungen an (Gewalt- oder Demütigungserfahrungen bei der „Hauswirtin“?) Ich sehe hier deutlich das Fundament für eine massenmöderische Karriere im NS-Staat. Ein solches Fundament führt niemals zwingend zum Terror! Aber ein Mensch, dessen Umgebung sich hin zum Terror entwickelt und der ein solches Fundament aufweist, kann u.U. mitgerissen werden.

Donnerstag, 6. Februar 2020

Zufälle, komplexe Welt und Trauma: Adolf Schicklgruber wäre nicht zu einem "Adolf Hitler" geworden.


Hitlers Vater, Alois Hitler, hatte ursprünglich einen anderen Nachnamen. Er hieß eigentlich Schicklgruber. Aus Überlegungen heraus und der Gelegenheit dafür (sein vermeintlicher Vater hieß wohl „Hüttler“) ließ sich Alois Schicklgruber einst in „Hitler“ umbenennen. Der Biograf John Toland kommentiert dies so: „Seine Entscheidung, den Namen Hitler anzunehmen, war von großer Tragweite; es ist nur schwer vorstellbar, dass 70 Millionen Deutsche in vollem Ernst `Heil Schicklgruber!` gerufen hätten“ (Toland, J. (1977): Adolf Hitler. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach. S. 22)

Diese historische Wendung, diese mehr oder weniger zufällige Namensänderung werde ich wohl für immer im Hinterkopf behalten! Es ist ja bekanntlich so, dass die Fokussierung auf Kindheitserfahrungen und entsprechende Verknüpfungen mit späterem Verhalten - erst recht, wenn dies Verhalten massenmörderisch war - oft belächelt oder kritisch gesehen wird. Denn, so wird gebetsmühlenartig argumentiert, "nicht alle einst misshandelten Kinder werden später zu einem Hitler“. Es ist doch so, dass ein Lebensweg immer durch unzählige Zufälle, Begegnungen, Ereignisse, Erlebnisse und spezifische Rahmenbedingungen geprägt wird, inkl. der eigenen, einzigartigen genetischen Aufstellung. Auch ist beispielsweise klar, dass, wäre Adolf Hitler ein Mädchen geworden, er bzw. sie – bei gleicher Erziehung und Misshandlungsgeschichte, sowie den gleichen tragischen Todesfällen (der jünger Bruder starb, Vater und Mutter verstarben früh, vor Adolfs Geburt hatte seine Mutter dazu noch 3 tote Kinder zu betrauern) in seiner Familie – niemals „die Führerin“ geworden wäre, weil damals Frauen solche Wege patriarchal-strukturell grundsätzlich verbaut waren. So ist das im Leben der Menschen.

Und ich muss Toland beipflichten: Ein „Führer“ wie Adolf Hitler wäre der Welt wohl erspart geblieben, wenn er „Adolf Schicklgruber“ geheißen hätte. Dieser winzige Zufall der Namensänderung hatte große Folgen.

All dies ändert nichts an der Tatsache, dass destruktive Kindheitserfahrungen immer Folgen haben, die sich um so deutlicher abzeichnen, je schwerer und je häufiger die Belastungen in der Kindheit waren und auch je mehr verschiedene traumatische Erfahrungen sich zu einem „Traumapaket“ kumulieren. Daraus folgt NICHT automatisch ein Weg zum Massenmörder oder Terroristen. Dazu braucht es etliche weitere Einflüsse und auch Zufälle.

Ein „Adolf Schicklgruber“ hätte wohl niemals einen NS-Staat begründet und wäre diesem vorgestanden. Etliche andere Menschen laufen (und liefen) in dieser Welt herum, die unfassbare Traumageschichten im Gepäck haben. Und niemals wird sich ein Historiker mit ihnen befassen, weil sie nicht auf die historische Bühne treten, aus welchen Bedingungen, Begrenzungen und Lebensverläufen auch immer, die es so viele gibt, wie es Menschen gibt.

Aber fest steht auch: Ein als Kind liebevoll, empathisch und gewaltfrei behandeltes Kind Adolf  Hitler wäre nicht zum Massenmörder geworden! Und deswegen ist die Analyse der Kindheit von solcher Art Tätern so ungemein wichtig und bedeutsam.

Dienstag, 4. Februar 2020

Belastende Kindheitserfahrungen von Soldaten und Soldatinnen



Ich empfehle einmal, in eine Suchmaschine Begriffspaare wie „Kindheit von Soldaten“ oder „Kindheiten von Soldaten“ oder „Kindheitserfahrungen von Soldaten“ u.ä. einzugeben. Im deutschsprachigen Raum findet man nahezu nichts zu dem Thema! Dass Soldaten übermäßig als Kinder belastet waren, scheint kaum jemanden zu interessieren. 

In meinem Buch habe ich ein eigenes Kapitel dazu verfasst: „15 Die Kindheiten von Soldaten und Soldatinnen“. In dem Kapitel habe ich mehrere Studien besprochen, in denen belastende Kindheitserfahrungen von Soldaten und Soldatinnen erfasst wurden. Die Studienlage zeigt, dass Soldaten enorm in der Kindheit belastet wurden; deutlich über dem Durchschnitt der Bevölkerung und tendenziell eher auf dem Belastungs-Niveau, das man oft auch bei Befragungen von Gewaltstraftätern findet.

Ich habe kürzlich eine weitere, aktuelle Studie gefunden, die meine o.g. Ergebnisse bestätigt:
Scoglio, A. A. J., Shirk, S. D., Mazure, C., Park, C. L., Molnar, B. E., Hoff, R. A. & Kraus, S. W. (2019): It all adds up: Addressing the roles of cumulative traumatic experiences on military veterans. In: Child Abuse & Neglect, Volume 98. Epub 2019.

Für diese Studie wurden 850 Veteranen (498 Männer und 352 Frauen) der US-Army befragt. Die Veteranen waren in einem Zeitraum nach den Terroranschlägen vom „11. September“ im Einsatz, u.a. im Irak und in Afghanistan. Zum Zeitpunkt der Befragung waren sie nicht mehr Angehörige des Militärs. Das Durchschnittsalter der Befragten lag bei 42 Jahren.

Ergebnisse:
  • 73 % aller Befragten wurden als Kind körperlich misshandelt (von denen, die von Misshandlungen berichteten, waren 61,7 % männlich). Körperliche Gewalt unterhalb von dem Level von Misshandlung (Definition in der Studie von "Misshandlung": Schläge in der Familie vor dem 18. Lebensjahr, die Prellungen oder Spuren hinterließen; Körperstrafen, die als grausam empfunden wurden und/oder Körperstrafen, die mit Gürteln, einem Holzbrett oder einem anderen, harten Gegenstand durchgeführt wurden) wurde nicht abgefragt und ist gedanklich hinzuzurechnen. 
  • 22,8 % der Befragten wurden als Kind sexuell missbraucht (von denen, die von Formen von sexuellen Missbrauch berichteten, waren 70,5 % weiblich)
Ich halte es nach meinen Recherchen für keinen Zufall, dass das Militär vor allem Menschen anzieht, die als Kind viel Leid erlebt haben.