Montag, 25. Januar 2021

Kindheit des ehemaligen Neonazis Christian E. Weißgerber

Indirekt hatte ich hier im Blog bereits einmal kurz etwas über die Kindheit des ehemaligen Neonazis Christian E. Weißgerber geschrieben. Nun habe ich auch seine Autobiografie gesichtet: 

Mein Vaterland! Warum ich ein Neonazi war (2019, Orell Füsseli Verlag, Zürich)

Schon früh wurde Christian belastet. Seine Mutter floh vor dem Vater, als Christian noch ein Baby war und war seitdem weitgehend abwesend. Der alleinerziehende Vater neigte zu Wutausbrüchen, Gewalt und Psychoterror. Er war nicht liebevoll. Es gab auch keinen intensiven oder gar emotionalen Austausch in der Familie. Beim gemeinsamen Abendessen wurde meist geschwiegen.  Sein Vater wäre außerdem „der prädestinierte Wähler der Partei wütender Protestmännlichkeit: der AfD“ (S. 14). Insofern sind auch gewisse direkte oder indirekte politische Einflüsse durch den Vater auf Christian denkbar. 

In einer berichteten Szene wird sowohl die körperliche als auch die psychische Gewalt des Vaters sehr deutlich: „Ich bin damals vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Es ist ein Verhör, und meine drei Jahre ältere Schwester ist die einzige Zeugin. (…) Die Erinnerung an die Szenerie treibt mir noch heute Tränen in die Augen. (…)“, schreibt Weißgerber (S. 18). Die Kinder hatten die Erwartungen des Vaters nicht erfüllt. Christian gelobte Besserung, der Vater glaubte ihm nicht. Subtile Drohungen standen im Raum, Fragen, Druck. Die Schwester stand kurz davor zu weinen und unterdrückte dies. „Denn wer weint, hat etwas zu verbergen. Wer weint, wird immer gefragt, warum er weint, und muss Rede und Antwort stehen. (…) Aber es gibt für uns kein Entkommen, weder für sie noch für mich. Egal wie sehr wir beteuern, uns ab sofort mehr bemühen zu wollen, täglich besser staubzusaugen oder unsere Zimmer nach dem Spielen aufzuräumen – unser Vater beendete das Gespräch nicht. Es gibt nur einen Ausweg: irgendjemand muss den Mut der Verzweifelten aufbringen und meinen Vater provozieren, damit er endlich zum Strafvollzug übergeht und wir `befreit` werden, zumindest für diesen Sonntag. Eskalation als Selbstschutz. Das Urteil war ohnehin schon klar (…). Die Urteilsverkündung wird mit Schlägen beschlossen (…). Als allein richtender Erzieher und alleinerziehender Richter in einem hat er uneingeschränkte Macht über uns, unsere Körper, unsere kindliche Verletzlichkeit. Widerstand ist zwecklos.“ (S. 19).

Als Kind seien er und seine Schwester wie Sklaven behandelt worden (S. 20). All dies hatte auch Auswirkungen auf die Geschwisterbeziehung: Beide Geschwister übten auch gegenseitig Gewalt aus. Einmal musste die Schwester auf Grund eines Übergriffs durch Christian sogar ins Krankenhaus eingeliefert werden (S. 28). Christian wurde daraufhin zur Strafe vom Vater verprügelt…

Auch in der Schule neigte Christan dazu, andere Kinder zu mobben. Dies gab ihm ein Gefühl von Stärke.  (S. 31) Bereits im Kindergarten fiel Christian durch Gewaltverhalten auf (S. 32). In seiner frühen Kindheit litt er außerdem unter Albträumen (S. 34). Er und seine Schwester hatten außerdem bereits in der Kindheit Suizidgedanken (S. 46). 

Nach etlichen Schilderungen über die destruktiven Umstände in der Familie (inkl. der abwesenden Mutter) schreibt er: „Wenn wir verstehen wollen, warum Menschen zu Nazis werden, müssen wir hinter die verschlossen Türen und Jalousien des `ganz normalem` deutschen Familienalltags blicken“ (S. 23). Ein sehr eindrucksvoller Satz, den ich mit Sicherheit erneut aufgreifen werde!

In einem Interview sagte Weißgerber - angesprochen auf seine destruktive Kindheit - dagegen folgendes: „Ich glaube nicht, dass häusliche Gewalt, die sehr sehr häufig vorkommt, der Hauptmotivationsgrund dafür ist, Nazi zu werden. Meine Schwester hat z.B. das Gleiche wie ich erlebt und ist nie in diese Richtung gegangen.“
Es ist gar nicht ungewöhnlich, dass Menschen mit Blick auf ihre Kindheit und deren Wirkungsweise hin und her schwenken. Wir sehen daran auch, wie schwer es manchmal ist, die Dinge von außen richtig einzuschätzen und wahrzunehmen. In seinem Buch hat er es gut getroffen. Bezogen auf all die Schilderungen über erlebtes Leid ist es nicht denkbar, hier eine ursächliche Verbindung nicht zu sehen. 

Im Interview dagegen beschwichtige Weißgerber. Und er nahm seine Schwester als Beispiel dafür, dass die Kindheitseinflüsse wohl nicht all zu gewichtig beim Thema Extremismus seien. Wie wir gleich sehen werden, beschreibt er im Buch einen sehr destruktiven Weg seiner Schwester. Ja, sie wurde keine Extremistin! Ihre Wut und ihren Selbsthass zeigte sie aber auf einem anderen Weg. Das ist genau das, was ich immer wieder betone: Destruktive Kindheiten drücken sich in vielfältiger Form aus, je nach Persönlichkeit, Geschlecht, Zufällen, Begegnungen, Milieu, Möglichkeiten usw. Eine Ausdrucksform kann Extremismus sein. 

Kommen wir zurück zum Buch. Das Jugendamt schritt ein, nachdem die Schwester um Hilfe gebeten hatte (S. 22) Die Schwester kam in eine Wohngruppe (S. 47). Christian blieb bei seinem Vater. 

An einer Stelle beschreibt er eindrucksvoll, wie beide Kinder unterschiedlich mit ihrem Leid umgingen: „Meine Schwester wurde magersüchtig und hat sich als Jugendliche geritzt. Ich bin Neonazi geworden. Beides Formen autodestruktiver Selbstermächtigung – ich selbst bestimme, wie ich meinen Körper zurichte, und bin zumindest der eigenen Wahrnehmung nach nicht mehr bloß jemand, der von anderen zugerichtet wird“ (S. 27) Und: „Ich war ein Nazi geworden, mit einem Körperpanzer, der mich emotional und kognitiv gegen alles Feindliche und Fremde in der Welt abschirmen sollte“ (S. 35)

Man sieht an diesem Beispiel deutlich, wie das Geschlecht auch einen unterschiedlichen Umgang mit den Erfahrungen bedingen kann: Christian floh in nach außen demonstrierter, männlicher Stärke, Macht und Gewalt, seine Schwester wollte dagegen „verschwinden“. 

Sich selbst bezeichnet er als „Gefühlszombie“: „Die Erfahrungen in meiner Kindheit haben etwas in mir getötet, das ich vielleicht nie werde wiederbeleben können: eine Zärtlichkeit, ein grundsätzliches Vertrauen im Umgang mit anderen Menschen“ (S. 31). 


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