Donnerstag, 3. Mai 2012

Johann Benos: 20 europäische Diktatoren im Vergleich


Der apl. Professor für Psychiatrie Dr.med. Johann Benos hat 2011 ein auf den ersten Blick vielversprechendes Buch unter dem Titel: „20 europäische Diktatoren. Psychologische Hintergrunds- und Persönlichkeitsstudien“ veröffentlicht. (im AT Edition Verlag, Berlin erschienen) Die untersuchten Diktatoren sind: Antonescu, Atatürk, Dollfuß, Franco, Hitler, Horthy, Kun, Metaxas, Mussolini, Päts, Pavelić, Pilsudski, Primo de Rivera, Salazar de Oliveira, Smetona, Stalin, Szálasi, Tiso, Ulmanis und Zogu.

Der Autor hat in seinem Buch Diktatoren untersucht, die alle zur ungefähr gleichen Zeit – erste Hälfte des 20.Jahrunderts - ihr Unwesen in Europa trieben. „Auffallend war beim Lesen der Biographien der Diktatoren die Feststellung, dass sie große Ähnlichkeit aufwiesen, was mich dazu veranlasste, diese Untersuchung durchzuführen.“ (S. 10) Entsprechend war der Autor bemüht, die Gemeinsamkeiten der Akteure herauszustellen. Jeder Diktator wurde mit der gleichen Schablone untersucht:  Herkunft;  Kurzbiographie; Verhältnis zu Eltern, Verwandten, Frauen; Psychische Störungen; Psychische Vorbelastungen in der Familie; Ideologie, Brutalität  usw. In der zweiten Hälfte des Buches wurden die Ergebnisse miteinander verglichen. Kurzum: Auf den ersten Blick ist dieses Buch so angelegt, wie ich es mir nur wünschen könnte.
Das für mich wichtigste Vergleichsergebnis: „Alle Diktatoren des untersuchten Zeitraumes hatten, sofern es aussagekräftige Biographien hierzu gab, zu ihrem Vater ein schlechtes oder „gleichgültiges“ Verhältnis. (…) für die Diktatoren existierte der  Vater nicht oder sie lehnten ihn ab, weshalb er auch niemals ein Vorbild für sie sein konnte. (…) Die Diktatoren waren in der absurden Situation, ihren Vater zu leugnen. Es scheint, dass das Verhältnis zum Vater bzw. seine Ablehnung der wichtigste Parameter im Leben der Diktatoren war. “ (S.225+226) Ein für mich ein nicht wenig überraschendes Ergebnis, aber wie schön, dass dies einmal derart systematisch festgestellt wird. 

(Auch andere Vergleichsergebnisse sind interessant, z.B. dass alle Diktatoren aus dem geographischen und politischen Abseits des jeweiligen Landes, das sie später regierten, stammten und keiner in einer Großstadt geboren wurde oder dort als Kind/Jugendlicher gelebt hatte. Ich gehe in diesem Beitrag allerdings nur auf die psychohistorisch relevanten Ergebnisse ein bzw. auf das, was in dieser Studie fehlte. )

An dieser Stelle endet meine positive Kritik über das Buch. Benos ergänzt nämlich bzgl. der Väter, dass nicht die Brutalität oder Dominanz (dominante Väter sind laut seinen Recherchen in der Minderheit) der Väter der gemeinsame Nenne wäre, sondern die Ablehnung des Vaters. Bzgl. Francisco Franco, Hitler, Stalin und Mussolini habe ich hier im Blog ja bekanntlich Daten aus der Kindheit gesammelt. Benos  lag offensichtlich keine Quelle vor, die die körperliche Gewalt des Vaters gegen Francisco Franco belegte, er beschreibt den Vater rein als „streng, autoritär und emotionslos“. Die körperliche Gewalt, die Hitlers Vater ausübte, ist ja weitgehend bekannt und insofern auch von Benos erwähnt worden. Die väterliche Gewalt gegen Mussolini weist Benos auch nach. Bzgl. Stalins Vater schreibt Benos: „Er entlud seinen Frust in tätlichen Aggressionen gegen Frau und Kind.“ (S.165) Das finde ich doch sehr knapp, gerade auch vor dem Hintergrund, dass Benos laut Literaturverzeichnis Neumayrs “Diktatoren im Spiegel der Medizin“ gelesen hat, .in dem es heißt, dass Stalins Vater es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, dem kleinen Jossif seinen Eigensinn durch tägliche Prügel, jeweils vor dem Schlafengehen verabreicht, auszutreiben. Tägliche Misshandlungen sollten doch eine gesonderte Erwähnung wert sein, weil dies eine ganz andere Dimension ist, als allgemein von „tätlichen Aggressionen“ zu schreiben. 

Ergänzend möchte ich behaupten, dass viele der von Benos untersuchten Diktatoren nicht derart von einem auch über die nationalen Grenzen hinaus reichenden Interesse für Historiker, Psychologen und Sozialwissenschaftler waren und sind. Ganz im Gegenteil werden einige sogar noch immer von der eigenen Nation verehrt, wie z.B. Atatürk. Ich denke, dass die Datenlage bzgl. möglicher direkter innerfamiliärer Gewaltanwendung – neben der von ihm nachgewiesenen väterlichen Ablehnung -  entsprechend dürftig ist.
Großes Kopfschüttel löste bei mir aber viel mehr noch das Vergleichsergebnis bzgl. der Mütter aus. Benos schreibt zusammenfassend nach seiner Besprechung der Väter: „Das Verhältnis zur Mutter jedoch war bei allen immer sehr gut.“ (S. 226) Dabei muss man folgende Wörter nochmal wiederholen: „immer“ und „sehr gut“! Benos lässt in seinem Buch keinen Zweifel aufkommen: Die Mütter der Diktatoren liebten ihre Kinder innig! Seine Schilderungen über Stalins Mutter gleicht denen über die Mütter der anderen Diktatoren: Die Mutter Stalins „(…) war eine einfache ungebildete, aber sehr fromme und liebevolle Frau.“ Sie war „(…) sehr um ihren Sohn besorgt und liebte ihn sehr.“ (S. 165) Er ergänzt, dass sie für ihren Sohn einen Weg als Priester vorgesehen hatte und Stalin ihr diesen Wunsch zunächst auch erfüllte.
Man lese nun meine Rechercheergebnisse bzgl. Stalins Mutter hier. Auch sie misshandelte nachweisbar ihren Sohn (was ich in gleich drei Quellen fand!), schützte ihn nicht vor den Schlägen des Vaters und zwang ihn  in eine Ausbildung als Priester, während der er weitere schwere Demütigungen und Verletzungen erlitt. Stalin nahm später nicht einmal an ihrer Beerdigung  teil.
Dass Francisco Franco von seiner Mutter als Trostpflaster missbraucht wurde und dies auf Kosten seiner emotionalen Entwicklung ging, habe ich ebenso im Grundlagentext beschrieben. Bei Benos ließt sich das so: „Sie liebte ihren Sohn abgöttisch und bemutterte ihn am meisten von allen Kindern, weil sie glaubte, er leide ganz besonders unter der familiären Situation. Sie spornte ihn auch an, etwas Besseres zu werden als sein Vater.  Francisco Franco liebte seine Mutter und besuchte sie, so oft er konnte.“ (S. 35) Dabei stecken bereits in den Schilderungen von Benos deutlich Anzeichen für ein „Zuviel“ an Mutter, für eine „Muttersöhnchenbindung“, die letztlich nichts anderes ist, als emotionaler Missbrauch. Ähnliches schreibt Benos über Hitlers Mutter: „Sie liebte ihn abgöttisch und bemutterte ihn. Auch Adolf liebte sie übermäßig (…)“ (S. 42) Hitler, der in den Augen der Medusa nach eigenen Worten die Augen seiner Mutter  wiedererkannte und dessen gestörte Mutterbeziehung nachvollziehbar u.a. von Arno Gruen beschrieben wurde, erlebte ganz offensichtlich ebenfalls emotionalen Missbrauch durch die Mutter. Auch sie schützte ihren Sohn nicht vor der väterlichen Gewalt (und egal woran dies lag, hinterlässt dies bei einem Kind seine Wirkung auch in Bezug zur Mutter). 

Merkwürdig ist, dass Benos als Psychiater seine Ergebnisse bzgl. der angeblich liebevollen Mütter  in Anbetracht eines weiteren Vergleichsergebnisses nicht kritisch hinterfragte: „Ein normales Verhältnis zu Frauen und gewiss auch zu der eigenen Ehefrau hatte keiner der Diktatoren (…). Die meisten von ihnen sahen Frauen lediglich als Lustobjekt und schätzten sie nur gering. Zu einer gefühlsmäßigen Bindung waren sie auf Grund ihrer Persönlichkeit (Narzissmus) nicht fähig (…). Ehen und Partnerschaften entstanden nur, weil die Diktatoren eine Stütze brauchten. (…) Trotz aller Anstriche einer frauenfreundlichen Politik blieben die Regime, weil die Diktatoren dies nicht anders wollten, antifeministisch.“ (S. 228- 231)
Verhalten sich so Söhne, die von ihren Müttern wirklich geliebt und gut behandelt wurden? Benos wies ja auch nach, dass die Väter sowohl emotional als auch oft real abwesend waren und nicht als Vorbild zur Verfügung standen. Das bedeutet, dass die Diktatoren während der Kindheit hauptsächlich durch ihre Mütter erzogen und begleitet worden sind. Wären ihre Taten und auch ihre Einstellungen gegenüber Frauen möglich gewesen, wenn der anwesende Elternteil sie mit echter Liebe überschüttet hätte? Nach allem was ich gelesen habe und selbst als Mensch über das Menschsein fühle kann ich nur sagen: Nein, dies wäre nicht möglich gewesen! 

Dazu kommt, dass alle Diktatoren Ende des 19. Jahrhunderts geboren wurden, einer Zeit also, in der das Prügeln und Demütigen von Kindern zu Hause und auch in der Schule Sitte und Norm war. Die meisten Gewaltstudien kommen zu dem Ergebnis, dass Mütter gleich viel oder meist sogar noch öfter als Täterinnen bzgl. körperlicher Gewalt gegenüber ihren Kindern auftreten als die Väter. Aktuell habe ich ja z.B. die Studie von Hävernick vorgestellt, die ein hohes Ausmaß an Gewalt gegen Kinder in Deutschland für die Jahre 1910 bis Anfang der 60er Jahre festgestellt hat. Mütter waren in über 60 % der Fälle die Täterinnen.
Benos hat nun ganze 20 Diktatoren analysiert und meint, dass keine einzige Mutter eine Täterin an ihrem Kind war, sondern alle liebevoll mit ihren Söhnen umgingen!? Die Wahrscheinlichkeit, dass dies stimmt, tendiert bereits gegen Null, wenn man sich alleine nur mit sozialwissenschaftlichen Gewaltstudien und der historischen Kindererziehung befasst. Benos hängt ganz offensichtlichem einem tief in unserer Gesellschaft verwurzeltem idealisierendem Mutterbild nach, das so nicht real ist. (Über dieses Mutterbild und das Nicht-sehen-wollen weiblicher Täterschaft werde ich noch einen gesonderten Beitrag schreiben). 

Ansonsten bestätigen Benos Vergleichsergebnisse vieles von dem, was man sich so allgemein über Diktatoren denken kann: Sie waren kontaktarm und menschenscheu; Menschen gegenüber waren sie misstrauisch und ängstlich; sie waren sowohl in der Politik als auch sozial Außenseiter; sie waren gute Schauspieler und konnten gut reden; bei allen Diktatoren fand Benos paranoide Tendenzen und wahnhafte Ideen; alle Diktatoren waren Narzissten; alle zeigten depressive Tendenzen; alle verfügten über eine hohe rationale Intelligenz aber: „Die Diktatoren hatten einen Defekt im emotionalen Bereich.“ (S. 256) Mit ihren eigenen Gefühlen konnten sie nur schlecht umgehen; im Bereich der Empathie „waren sie gar emotional Schwachsinnige.“ (S. 258) Als Folge der fehlenden Empathie waren sie auch im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen „emotionale Krüppel“ (S. 259)
Und all dies  - ich wiederhole mich – trotz einer liebevollen Mutter? Ich denke, dass dieser blinde Fleck das Hauptmanko des Buches darstellt. Hätte Benos diesen Punkt richtig ausgeleuchtet und kommentiert, das Buch wäre wirklich eine hervorragende Grundanalyse über die Psyche der Diktatoren, als auch bzgl. der Gemeinsamkeiten in der Kindheit. 

Dabei hat Benos in der Tat einen gewichtigen gemeinsamem Nenner gefunden. Er beschreibt die „liebevollen Mütter“, gut, das habe ich hinreichend kritisiert. Aber er schreibt auch, dass alle Mütter ihre Söhne verhätschelt hätten, sie bemutterten, die Söhne waren ihre Lieblinge, „außerdem spornten sie die Mütter zu „Höherem“ an und bestärkten sie sogar in der Ablehnung des Vaters. Diese Tatsache fiel vor allem bei den berüchtigtsten der Diktatoren auf. Je mehr die Mutter sie verhätschelte und anspornte, desto narzisstischer und neurotischer, aber auch brutaler wurden sie in der Verfolgung ihrer Ziele.“ (S. 226) Da ich „Verhätscheln“ und eine „Muttersöhnchenbindung“ nicht als Liebe sehe, sondern als das genaue Gegenteil oder um es klar zu sagen, als emotionalen Missbrauch, verwundert es nicht, dass die Schädigungen dort am meisten auftraten, wo emotional auch am stärksten  missbraucht wurde. Volker Elis Pilgram schrieb in seinem Buch „Muttersöhne“ passend: „Der Mangel an Liebe versteckt sich am allermeisten hinter übertriebener Fürsorge.“ und „Muttersöhne haben eine Phantomseele. Sie sind mit Fleisch und Blut erwachsen da, aber ein seelischer Zusammenhang fehlt ihnen.“ Der Misch aus destruktiven, abwesenden und ablehnenden Vater, anwesender, überfürsorglicher und emotional missbrauchender Mutter, gepaart mit wahrscheinlich (wie oben besprochen) in sicher nicht wenigen Fällen auch körperlicher mütterlicher Gewalt (nachweisbar z.B. bei Stalin) und dem gleichzeitigem mütterlichem Idealisieren des Sohnes, der für Großes vorgesehen ist und all das erreichen soll, was der Mutter verwehrt bleibt, macht meiner Meinung nach den potentiellen Diktator aus. 

Benos kritisiert  im Schlussteil unter der Überschrift „Diktatorenprophylaxe“ dagegen sogar die Auffassung von dem Psychoanalytiker Hans Strotzka, der auf „vernünftige“ Erziehung setzt, „mithin auf die Vermeidung der Diktatorenerzeugung durch eine Erziehung, die Wärme und Vertrauen vermittelt und Fehlentwicklungen vorbeugt.“ (S. 266) Und er hängt an: “Eine Utopie, denn die meisten Kinder werden trotz dieser Aufforderung der Psychologen und Pädagogen weiterhin nicht auf „vernünftige“ Weise erzogen.“ Damit ist das Thema für ihn beendet und er macht es sich hier sehr einfach.

Kurzum, das Buch an sich bestätigt systematisch, wie wichtig Kindheitserfahrungen bzgl. destruktiver politischer Entwicklungen waren und sind, dabei blendet der Autor mütterliche Destruktivität komplett aus und sieht keine Möglichkeiten, die Kindererziehung gezielt zu verbessern. Ich bin immer wieder erstaunt darüber, dass Menschen, die auf dem psychologischen Gebiet tätig sind, trotz aller vorliegenden Erkenntnisse an den Dingen vorbeischreiben können. Aber, man gewöhnt sich fast schon daran... Letztlich ist das Buch trotz allem eine nützliche Arbeitsgrundlage für mich und diesen Blog.

Sonntag, 29. April 2012

Walter Hävenick: "Schläge" als Strafe. (Ein Stück deutsche Kindheitsgeschichte)


Der Volkskundler Walter Hävernick hat in den 60er Jahren die wohl bis dahin erste relativ umfassende Studie zum Ausmaß der elterlichen Gewalt gegen Kinder in Deutschland durchgeführt:
Hävernick, Walter (1970): „Schläge“ als Strafe. Ein Bestandteil der heutigen Familiensitte in volkskundlicher Sicht. Museum für Hamburgische Geschichte. Hamburg. 
Wer im Internet sucht, wird über diese Studie nicht wirklich viele Details finden. Insofern möchte ich hiermit dieser wichtigen Arbeit ihren Raum geben und Interessierten die Ergebnisse ausführlich vorstellen. Das Besondere an der Arbeit ist, dass auch eine Befragung von 97 Familien stattfand, die das Gewalterleben  1910/1937 erfasste. Für die gesamte Studie liegen insgesamt Daten von 668 Hamburger Familien vor, die sich wie folgt aufschlüsseln:


Hävernick Erhebung A
97 Familien für die Zeit 1910/1939

Hävernick Erhebung B
78 Familien für die Zeit 1945-1962

Hävernick Erhebung C
22 Familien befragt beim St. Pauli Bürgerverein 1962

Hävernick Erhebung D
237 Familien; Befragung bei den Maschinenbauerlehrlingen (Alter 15,5 bis 20 Jahre) der Firma Heidenreich & Harbeck in Hamburg; 04. Oktober 1961

Burwick Erhebung E1
108 Familien; Befragung in der Hamburger Schule Holstenwall 14 Oktober 1960; nur Jungen

Burwick Erhebung E2
126 Familien; wie E1 aber Datum November 1962; Jungen und Mädchen


Zwei wichtige Hinweise bzgl. der Begriffe:

Der Autor spricht in seiner Studie vor allem von den Gewalterfahrungen der „Jugend“. Darunter fasst er vor allem die jungen Menschen ab dem 10. Lebensjahr bis zur damaligen Mündigkeit von 21 Jahren. Die Altersjahrgänge 6-9 wurden je nach Möglichkeiten mit einbezogen (Anmerkung: Wobei ich in dem Buch keine Angaben unter 8 Jahren gefunden habe!). Die Lebensphase vor dem 6. Lebensjahr wird in der Studie gezielt und komplett außen vor gelassen.
Definition „Schläge“ als Strafe: Hierunter versteht der Autor ausschließlich „planmäßig vollzogene Bestrafungen durch Schläge auf das Hinterteil, vollzogen sowohl mittels der flachen Hand als auch durch bestimmte Instrumente. Absolut ausgeschlossen bleiben jedoch alle Arten der einzelnen, schnellen Schläge ins Gesicht, an den Kopf oder an andere Körperstellen (…)“, da dies – so der Autor – „schnelle, fast unbewusste Reaktionen“ darstellen würden, die nicht planmäßige Strafen wären. (vgl. S. 16) Hävernick meint, dass „Schläge als Strafe“ (als Erziehungsstrafe) und „Kindesmisshandlung“ (die „roh und quälerisch“ und nach damaligen StGB § 223b verboten ist) klar voneinander zu unterscheiden sind. (vgl. S. 41f) Demnach betrachtet er – dem Zeitgeist entsprechend -  die in seiner Untersuchung festgestellten Gewalterfahrungen nicht als schädlich, gesetzeswidrig oder als schwere Formen, die der Kindesmisshandlung entsprechen, was aus unserer heutigen Sicht sicher deutlich anders zu betrachten wäre.
Der Autor hat außerdem bzgl. der Befragungen A und B versucht, die „planlosen Züchtigungen“ zu ermitteln:  4 % (A) und 5 % (B). (vgl. S. 63) Diese wurden laut Definition von „Schlägen“ also nicht in die Statistik aufgenommen, insofern werde ich sie in Klammern unten ergänzen.

Ergebnisse bzgl. des Gewaltverhaltens:

Erhebung A (1910/1939):
11 % erlebten nie Schläge in ihrer Familie
89 % erlebten Schläge (+ 4 % „planlose Züchtigungen“ würde 93 % ergeben)
49 % erlebten Schläge mit dem Rohrstock

Erhebung B (1945-1962):
20 % erlebten nie Schläge in ihrer Familie
80 % erlebten Schläge (+ 5 % „planlose Züchtigungen“ würde 85 % ergeben)
35 % erlebten Schläge mit dem Rohrstock

Erhebung C
14 % erlebten nie Schläge in ihrer Familie
86 % erlebten Schläge
22 % aller Züchtigungen erfolgten mit dem Rohrstock (Achtung: Nicht 22 % aller Befragten erlebten dies, die Angaben des Autors sind hier anders als unter A und B)

Erhebung D (Alter 15,5 bis 20 Jahre)
Falls sie mal „etwas ausfressen“ müssen 13 % damit rechnen, Schläge auf den Hosenboden zu bekommen, 14 % gaben keine Antwort, 73 %rechneten nicht mit Schlägen
82 % meinten, dass Schläge „unter vier Augen“ nicht entehrend wären
71 % hielten elterliche Strenge in der Erziehung für notwendig.
36 % meinten, dass – im Ausnahmefall – Schläge richtig und wirksam sind (die meiste Zustimmung kam dabei von denjenigen, die selbst zu Hause mit Schlägen rechneten oder in deren Familie ein Rohrstock breitgehalten wurde.)

Erhebung E1
80 % der 8 Jahre alten Jungen erlebten Schläge
80 % der 11 Jahre alten Jungen erlebten Schläge
52 % der 14 Jahre alten Jungen erlebten Schläge
Die 16 Jährigen Jungen schwiegen sich über aktuelle Gewalterfahrungen aus, insofern kamen nur frühere Erfahrungen zur Sprache:
98 % erlebten Schläge im Alter von 10 Jahren (Anmerkung: Diese Zahl hält Hävernick auf Grund des „mitreißenden Gruppengeistes“ nicht für glaubhaft.)
60 % erlebten Schläge im Alter von 12 Jahren
44 % erlebten Schläge im Alter von 14 Jahren
(Nach Angaben der Lehrer waren die 16Jährigen bei den Angaben zu den Gewalterfahrungen im Alter von 14 Jahren sehr zurückhaltend, insofern werden hier höhere Zahlen vermutet. )

 Erhebung E2
62 % der 8 Jahre alten Jungen und Mädchen  erlebten Schläge 
72 % der 9 Jahre alten Jungen und Mädchen  erlebten Schläge
80 % der 11 Jahre alten Jungen und Mädchen erlebten Schläge
32 % der 14 Jahre alten Jungen und Mädchen erlebten Schläge
(Anmerkung: Wie wir heute wissen werden Jungen i.d.R. häufiger körperlich bestraft als Mädchen, dies erklärt wohl auch die im Vergleich zu E1 etwas anderen Zahlen für E2, da hier auch Mädchen in der Klasse saßen. Außerdem werden Befragungen in Klassen mit beiden Geschlechtern aus Schamgefühlen heraus evtl. andere Ergebnisse bringen.)
Von allen Züchtigungen wurden mit dem Rohrstock vollzogen (Zahlen nur für die Jungen):
40 % bei den 8 Jahre alten Jungen
54 % bei den 9 Jahre alten Jungen
13 % bei den 11 Jahre alten Jungen
11 % bei den 14 Jahre alten Jungen

Hävernick hat zusätzlich zu den „Schlägen“ (allgemein) und dem Schlagen mit einem Rohrstock andere „Züchtigungsgegenstände“ aufgeführt;  z.B.:
Ein „Ausklopfer“ wurde in 3 % (Erhebung A), 7 % (Erhebung B) und in 6 % (Erhebung E2) der Fälle von erfassten Züchtigungen benutzt.
Eine Peitsche wurde in 16 % (Erhebung A), 6 % (Erhebung B) und in 1,3 % (Erhebung E2) der Fälle von erfassten Züchtigungen benutzt.
Ein Riemen wurde in 1 % (Erhebung A), 7 % (Erhebung B) und in 1,3 % (Erhebung E2) der Fälle von erfassten Züchtigungen benutzt
Ein Kochlöffel wurde in 0 % (Erhebung A), 7 % (Erhebung B) und in 37 % (Erhebung E2) der Fälle von erfassten Züchtigungen benutzt

Verteilung: Väter und Mütter als Strafende:
Erhebung A: Väter: 39 % / Mütter: 61 %
Erhebung B: Väter: 31 % / Mütter: 69 %
Erhebung C: Väter: 40 % / Mütter: 60 %
Erhebung D:  ?
Erhebung E1: Väter: 34 % / Mütter: 66 %
Erhebung E2: Väter: 39 % / Mütter: 61 %


Analyse der Karikaturen in den „Fliegenden Blätter“
Für die Zeit vor 1910 konnte Hävernick logischerweise keine Daten mehr erfragen. Insofern wertete er Karikaturen aus den sogenannten „Fliegenden Blättern“ aus.  Da diese Blätter überall in Deutschland gelesen wurden und „deshalb in vielem auf die Psyche aller deutschen Stämme Rücksicht nahmen, können die daran zu machenden Beobachtungen ungefähr für die Verhältnisse in ganz Deutschland von Wert sein.“ (S. 58) Züchtigungen in den Bildern kamen in einem Spitzenwert im Jahr 1879 vor, der Wert sank dann bis 1899 stetig ab, um danach wieder leicht auf ca. das Niveau von 1869 anzusteigen. In seinem Buch hat der Autor hinten etliche dieser Bilder aufgeführt, die einen wirklich erschauern lassen (was der Autor übrigens nicht in dieser Hinsicht kommentiert, da ihn einfach nur die "Sitte" interessiert). Dass diese gewaltvollen Bilder, in denen Erwachsene hilflose Kinder durchprügelten,  damals offensichtlich als  belustigende Satire und Unterhaltung (und wohl auch Normvorgabe) gesehen wurden, lässt meiner Meinung nach Rückschlüsse auf das damalige emotionale Leben zu.
Besonders interessant ist, dass die Karikaturen, in denen Züchtigungen von Lehrlingen vorkamen, ab 1899 komplett verschwanden. Dazu passen reale gesellschaftliche Entwicklungen, wie das am 1. Januar 1900  im Bürgerlichen Gesetzbuch ausgesprochene Verbot von Züchtigungen des Dienstherrn gegenüber dem Gesinde. (vgl. wikipedia, „Körperstrafen“ ). Obwohl Lehrlinge noch bis 1951 dem Züchtigungsrecht des Lehrherren unterworfen waren, zeugen die gesetzlichen Entwicklungen von einer abnehmenden Toleranz und Praxis bzgl. der Züchtigung von Untergebenen in der Arbeitswelt, was wohl auch seinen Ausdruck im Verschwinden der Karikaturen fand.

Zustimmung der Eltern zu Körperstrafen durch Lehrer:
Hävernick hat dazu nicht selbst geforscht, er zitiert allerdings Umfragen, die er in seine Analyse miteinbezieht (und er fand diese offensichtlich so wichtig, dass die regionalen Unterschiede sogar in einem SPIEGEL Artikel, in dem die Studie vorgsetllt wurde, mit erwähnt wurden; vgl. DER SPIEGEL, 22.04.1964, „Züchtigung durch Mutter“). Eine Umfrage aus dem Jahr 1960 ergab, dass sich die Eltern in Westberlin zu 68 % für das Züchtigungsrecht des Lehrers bzw. die Prügelstrafe aussprachen, in Süddeutschland 57 %, in Westdeutschland 43 % und in Norddeutschland 41%. (vgl. S. 55) Er zitiert zusätzlich eine Umfrage aus dem Jahr 1955 in Westberlin, die – wohl auch auf Grund der Fragestellung - noch einmal höhere Zustimmungsraten ergab. Z.B. wollten 85 % der Berliner dem Lehrer die Züchtigung zwar nicht als regelmäßiges Erziehungsmittel, aber als ultima ratio zugestehen.
Wenn man von einem Zusammenhang zwischen elterlicher Züchtigung und der Zustimmung zur schulischen Züchtigung ausgeht, dann wäre Norddeutschland bzw. Hamburg auch im häuslichen Bereich damals die gewaltfreiste deutsche Region gewesen. Demnach wären die oben festgestellten – bereits erschütternden - Ergebnisse zum häuslichen Gewaltvorkommen in Hamburg die niedrigsten deutschen Werte und in anderen Regionen – vor allem in Berlin – wäre am meisten geschlagen worden! Dies ist natürlich Spekulation, allerdings wird deutlich, dass die ermittelten Werte aus den Hamburger Befragungen zumindest die realen Mindestwerte auch für den Rest Deutschlands nachweisen.

Besprechung und Kritik 

Für mich am interessantesten sind die Zahlen der Erhebung A (1910/1939), da diese Generation am Krieg beteiligt war. Diese Generation verzeichnet auch die meisten Schläge (89 %; + 4 % „planlose Züchtigungen“) und die heftigsten Formen (49 % erlebten Schläge mit dem Rohrstock; eine Peitsche wurde in 16 % der Fälle bezogen auf alle Züchtigungen angewandt) In dem o.g. SPIEGEL Artikel, der sich mit dieser Studie befasste, wurde zudem auf folgenden Punkt hingewiesen: „Die Qualität des beliebtesten Hilfsmittels, des Rohrstocks, hat mit der konservativen Schlag-Tradition nicht Schritt gehalten: Hävernick fand heraus, dass seit 1939 nur noch sogenanntes Halbglanzrohr verfügbar ist, dessen "durchziehende Wirkung" und Lebensdauer im Gegensatz zum früher benutzten Vollglanzrohr geringer ist.“ Entsprechend schmerzhafter waren die Schläge mit dem Rohrstock, der vor 1939 verwendet wurde. Diese Studie stützt also die Arbeit von Lloyd deMause (und er hat sie in seinen Arbeiten auch zitiert), der ein hohes Ausmaß diverser Formen von Gewalt gegen Kinder im Deutschen Reich um 1900 nachgewiesen hat, um daraufhin die späteren kriegerischen Entwicklungen und vor allem auch die NS-Zeit zu erklären.

Dementgegen lässt sich ein Trend des Gewaltrückgangs in den 60er Jahren feststellen und noch deutlicher ein Trend bzgl. der Abnahme der Strafen mit einem Rohrstock oder einer Peitsche. Historisch ist dies ein wichtiger Punkt im Verlauf der langsamen, „leisen“ Revolution, deren Ziel die komplett körperstraffreie Kindheit in Deutschland ist. Kurz nach Veröffentlichung der besprochenen Studie erfolgte Anfang der 70er Jahre der nächste bahnbrechende Schritt: Das Verbot jeglicher Züchtigungen von Schülern an Schulen.
Hävernick wird im SPIEGEL zitiert, wie er auf die Ergebnisse seiner Studie reagiert: "Wir waren platterdings plattgewalzt." Ich dachte daraufhin, dass dieser Forscher ein Herz für Kinder hatte und dass sein Buch eine Anregung dafür sein sollte, Kinder vor Gewalt zu schützen. Wer sein Buch ließt wird eines Besseren belehrt. Schon im Klapptext ist zu lesen: „Hier geht es um das, was Sitte ist – und wie im Rahmen dieser Sitte das häusliche Strafrecht „unter vier Augen“ gehandhabt wird. (…) Was die „Sitte“ den Eltern rät, kann normalerweise niemals den jungen Menschen in seiner Gefühlswelt oder in seiner Stellung zur Umwelt schädigen.“ Diesem Grundsatz bleibt der Autor im Buch treu. Er sieht keinen schädlichen Einfluss der Schläge (außer wenn sie als Kindesmisshandlung vorkommen, was er für selten hält;  Schläge inkl. mit Rohrstock sind für ihn ja auch keine Misshandlungen...) Ganz im Gegenteil: Hävernick vermutet sogar einen Zusammenhang zwischen dem Rückgang von Körperstrafen und einem gewissen Anstieg der Jugendkriminalität. (vgl. u.a. S. 58)
 
In seinem Schlusswort wird er noch mal deutlich: „Wenn man in Unkenntnis die „Munt“ (Anmerkung: Althochdeutsch für Vormund) im menschlichen Bereich als „autoritär“ beschimpft und darauf abzielt, auch hier „freiheitliche“ Gesinnung einzuführen, so würde das zu einer Verwahrlosung und Verelendung des hilflosen Nachwuchses führen. (…) Darum ist es reine Theorie, wenn man sich vorzustellen versucht, was geschehen würde, wenn es wirklich zu einem schnellen und gänzlichen Erlöschen der Sitte käme, ohne dass eine ähnliche Kraft an ihre Stelle träte. Ein solcher schrankenloser Individualismus würde für den Menschen (…) eine Katastrophe unbegrenzten Ausmaßes sein: ohne Rückhalt in einer Gemeinschaft seinesgleichen würde er im Kampf aller gegen alle sich gegenseitig ausrotten.“ (S. 159) Nun, nachdem die „Sitte“ der Gewalt gegen Kinder immer mehr zurückging und weiterhin zurückgeht, ist Deutschland immer friedlicher geworden, und wir sind weit davon entfernt, hierzulande einen Kampf aller gegen aller zu führen oder gar auf dem erneuten Weg zum totalitären Staat zu sein. Hävernicks Sicht auf die "Sitte" des Schlagens, die sicherlich viele Menschen seines Jahrgangs (er wurde 1905 geboren) geteilt haben, ist auf eine Art auch ein wichtiges zu analysierendes Detail dieser Studie. Sein fehlendes Mitgefühl für die geprügelten Kinder spricht Bände. Auch Brävernick wird wohl einst ein geschlagenes Kind gewesen sein, das seine Eltern idealisierte und dieser Idealisierung auch noch im hohen Altern treu blieb. Ein ganz klein wenig tauchte die Wut und Empörung bei ihm an einer Stelle des Buches auf, die gleichzeitig auch belegt, dass seine Mutter sicher nicht unbedingt herzlich mit ihm umgegangen war. Er behandelte zunächst die Frage, ob man vor 1910 überhaubt verlässliche Daten hätte bekommen können, da die Erinnerungen der Alten nicht mehr ganz zuverlässig und objektiv seien. In der Fußnote hängt Hävernick dann an: "Aus Unterhaltungen mit meiner Mutter, die fast 92 Jahre alt ist, weiß ich, wie weitgehend alles Unangenehme und Schwierige aus den frühen Erinnerungen weggewischt worden ist. Sie sieht die Jugendzeit ihrer Söhne nur noch als Idealbild." (S. 57)



 
 
 

Mittwoch, 25. April 2012

Geheimdienst weiß um die Kindheiten von Diktatoren


Jerrold M. Post war Chef der psychologischen Abteilung des C.I.A. und analysierte das Seelenleben der Diktatoren. (merkwürdigerweise gibt es kein Wikipedia Eintrag über Post). In einem NEON-Interview aus dem Jahr 2004 sagte er: „Männer wie Hussein, Bin Laden oder Kim Jong II schleppen ihre psychischen Störungen seit der Kindheit mit sich herum. (…) ein weit verbreitetes Problem bei Diktatoren und anderen Fieslingen: eine traumatische Kindheit. (…) Wir bekamen Unterlagen von den Geheimdiensten, werteten Biografien und Artikel aus, führten tausende Interviews mit Leuten, die den jeweiligen Führern begegnet waren. So erstellten wir Psychogramme.

Post ist mir von seiner Art und dem ersten Eindruck her nicht wirklich sympathisch, aber das nur nebenbei. Der US- Geheimdienst weiß also um die psychische Lage und die Kindheiten von Diktatoren. Zumindest steht das Wissen zur Verfügung. Das alles ist natürlich nicht wirklich geheim. Man könnte genausogut auch in den nächsten Buchladen gehen und sich Bücher von Lloyd deMause oder Alice Miller kaufen, man käme zu den selbigen Schlussfolgerungen. Der US-Geheimdienst hat sicherlich nicht ein Interesse an diesen Dingen, um daraufhin Kinderschutzprogramme zu starten oder die Welt zu verbessern, sondern um psychologisches Wissen für politische Zwecke zu miss… äh gebrauchen und sich Vorteile zu verschaffen.

Das Problem ist letztlich also nicht das fehlende Wissen um die tieferen psychischen Abgründe, sondern der mangelnde Wille, auf Grund dieses Wissens weitgehende Präventionsprogramme zu starten. Das Magazin „NEON“ als Ableger vom Stern ist ja auch ein sehr kleines Magazin und ein Interview ist eh nur ein Interview. Diese Dinge und Zusammenhänge müssten eine größere mediale Bühne bekommen und eine wochenlange Mediendiskussion (ähnlich wie z.B. nach den Skandalen um den Missbrauch in Kirchen) auslösen, um zum Einen ein öffentliches Bewusstsein zu schaffen und zum Anderen den politischen Druck zu erzeugen, der notwendig ist, um Maßnahmen und Präventionsprogramme zu starten. Auf diese Mediendiskussion warte ich schon lange, ich bin aber sicher, dass sie irgendwann kommen wird. Und dabei wird nicht nur auf die Kindheiten von Diktatoren einzugehen sein, sondern auch auf die (vor allem auch im historischen Rückblick) traumatisierten Massen, die diese Diktatoren stützten oder sich ohnmächtig unterwarfen, mitliefen, schwiegen, aushielten.

Samstag, 21. April 2012

Von der Notwendigkeit der emotionalen Abrüstung

Im aktuellen „Amnesty Journal“ (04/05 2012) ist das Thema Waffenhandel Titelthema („Für eine kugelsichere Waffenkontrolle“). Waffenkontrollen sind in der Tat wichtig und da Deutschland der drittgrößte Waffenexporteur ist, müssen vor allem auch wir Deutschen da genau hinschauen und für bessere Kontrollen oder bestenfalls ein komplettes Verbot von Waffenexporten einstehen. Wer keine Waffen hat, wird diese auch nicht einsetzen können. Insofern schützen Waffenhandelskontrollen evtl. in der Tat ein Stück weit Menschenleben. Aber: Der Mensch, der den Waffeneinsatz befiehlt und der Mensch, der in zivilen und politischen Konflikten mit ihnen tötet, muss vor allem eines sein: Emotional bewaffnet.

Der AI Bericht regte mich insofern dazu an, diesen erdachten Begriff - „emotionale Bewaffnung“ - etwas weiter zu besprechen, denn er bringt vieles auf den Punkt. Ich werde zukünftig öfter diesen Begriff benutzen und mich dann auf diesen Text beziehen. Einen Satz im Amnesty Journal auf Seite 23 möchte ich zunächst einmal zitieren:
"Systematische Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen, Mord, Vergewaltigungen und schwerwiegende Verletzungen sind seit Jahren die fatale Folge eines unverantwortlichen und häufig unkontrollierten weltweiten Rüstungshandels."
Dieser Satz blendet komplett den handelnden Akteur und dessen emotionale Lage aus. Insofern tausche ich hier einmal das Wort „Rüstungshandel“ in meinem Sinne aus:
„Systematische Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen, Mord, Vergewaltigungen und schwerwiegende Verletzungen sind seit Jahren die fatale Folge der weltweit extrem weit verbreiteten Misshandlung von Kindern und deren emotionaler Aufrüstung.“
Der Begriff der „emotionalen Bewaffnung“ ist insofern auch besonders gut geeignet, das Thema zu besprechen, weil eine „Bewaffnung“ nicht automatisch auch einen „Waffeneinsatz“ bedeutet. Die „emotionale Bewaffnung“ sind dabei alle Gefühle von Hass, Wut, Rache, Ohnmacht, Ekel usw. aber auch Empathie, die ein misshandeltes Kind abspalten muss, um psychisch und physisch zu überleben. (siehe dazu z.B. Arbeiten von Arno Gruen, vor allem das Buch „Der Fremde in uns“) Diese abgespaltene Ecke in der Psyche des später erwachsenen Menschen, in der all die kindlichen Ohnmachtserfahrungen versteckt wurden, ist das eigentlich potentiell gefährliche.

Ein emotional reifer Mensch, der keinerlei Gefühle als Kind abspalten musste, weil er Liebe und Fürsorge und keine elterliche Gewalt erfahren hat, ist dagegen gänzlich „emotional unbewaffnet“ (was nicht heißt, dass er nicht aggressiv werden kann, was allerdings eine andere Kategorie als Gewalt und Mord darstellt). Man kann ihm real ein Messer, ein Gewehr oder sonst eine Waffe in die Hand drücken, man kann ihm mit der „Waffe“ Ideologie kommen, er wird sie nicht nutzten, um Macht der Macht willen zu gewinnen, um andere zu quälen, gezielt zu unterdrücken oder um Menschen sonst etwas Grausames anzutun. Auch der als Kind misshandelte und somit emotional bewaffnete Mensch wird logischerweise nicht automatisch zum Gewalttäter und Mörder, wenn er eine reale Waffe in der Hand hält oder ideologisch angegangen wird. Ein solcher Mensch kann sogar sein ganzes Leben lang nicht eine einzige Straf- oder Gewalttat vollbringen oder auch menschenfreundlich handeln. Das ist nicht der Punkt. Aber, er ist unter Umständen – wenn er gereizt und emotional erregt wird, unter gesellschaftlich schwierigen Bedingungen, unter der Kuppel einer um sich greifenden Ideologie, durch Manipulation und Einflussnahme durch Autoritäten, begünstigt durch Gruppenprozesse usw. - in der Lage, diese „emotionale Bewaffnung“ zu nutzen, da er in sein abgespaltenes Alter Ego wechseln kann, in dem es keine Gefühle und kein Mitgefühl gibt, sondern nur das Funktionieren, den Terror, Hass und Freund-/Feindschemata.

Die emotionale Bewaffnung, die in der Kindheit durch meist elterliche Gewalt beginnt und sich lebenslang auswirkt, ist das eigentliche Problem der Menschheit. Je mehr Gewalt als Kind erlebt wurde und je schwerer die Formen der Gewalt waren, desto emotional aufgerüsteter ist der einzelne Mensch (und so mancher, der voller Ohnmachts- und Gewalterfahrungen ist, wird ggf. auch gezielt nach realen Waffen und „Gründen“ zur Bekämpfung anderer Menschen suchen). Darum plädiere ich in diesem Blog immer wieder für eine „emotionale Entwaffnung“, für ein weltweites, umfassendes Kinderschutzprogramm (was immer auch ein Elternförderungsprogramm sein muss), in das alle erdenklichen Ressourcen gesteckt werden. Aber auch Psychotherapie kann emotional entwaffnen (sofern der einzelne Mensch diese Angebote nutzen möchte), insofern müssen weltweit parallel zum Kinderschutz viele Mittel in die psychosozialen und therapeutischen Betreuungsangebote gesteckt werden. Die internationale Gemeinschaft müsste also einen umfassenden Plan zur emotionalen Abrüstung erstellen. Die Mittel wären alle mal besser in diesem Sinne angelegt, als in realer Waffenaufrüstung und in Militärausgaben. Wir befinden uns dabei bereits in einer sich beschleunigenden Phase der weltweiten emotionalen Abrüstung, da weltweit ein deutlicher Rückgang der Gewalt gegen Kinder zu verzeichnen ist. Dieser Rückgang der Gewalt gegen Kinder muss und kann allerdings noch erheblich beschleunigt werden. Auch wenn mir natürlich klar ist, dass mein kleiner Blog nur wenig erreicht, so tut es mir persönlich einfach gut, diese Zusammenhänge und Ziele auszusprechen..

Samstag, 14. April 2012

Gewalt gegen Kinder in Guatemala und El Salvador

Und ein Plädoyer für ein Kinderschutzprogramm zur emotionalen Entwaffnung.

Im aktuellen „amnesty journal“ wurde ich auf eine Statistik bzgl. der 30 gefährlichsten Länder der Welt aufmerksam. Diese Statistik ist noch etwas umfassender in der Originalquelle online zu sehen. Das gefährlichste Land der Welt ist momentan El Salvador, in dem über 60 Menschen auf 100.000 Einwohner pro Jahr durch Gewaltanwendung umkommen. (Beispiel: In Hamburg mit seinen ca. 1,8 Mio Einwohnern würde dies bedeuten, dass pro Jahr weit über 1080 Menschen ermordet würden. Laut Hamburger PKS sind 2011 real 39 Menschen getötet worden.) Insofern interessierte ich mich für die Situation der Kinder vor Ort. Nach ca. 5 Minuten Internetrecherche fand ich auch gleich eine Studie zum Gewaltaufkommen gegenüber Kindern in diesem Land und in Guatemala, das in der Rangliste auf dem 7. Platz der gefährlichsten Länder steht:
Speizer IS, Goodwin MM, Samandari G, Kim SY, Clyde M. Dimensions of child punishment in two Central American countries: Guatemala and El Salvador. Rev Panam Salud Publica. 2008;23(4):247–56.; http://www.scielosp.org/pdf/rpsp/v23n4/v23n4a04.pdf

In Guatemala (Befragung 2002) und El Salvador (Befragung 2002-2003) wurden 15 – 49 Jahre alte Frauen (Guatemala: 8.860; El Salvador: 9.430) und 15 – 59 Jahre alte Männer (Guatemala: 2.459; El Salvador: 1.255) repräsentativ und per Interview bzgl. Gewalterfahrungen in der Kindheit befragt. Dabei ging es nur um Gewalt und Bestrafungen, die durch Elternteile ausgeübt wurden, entsprechend fallen andere Gewaltkontexte z.B. in der Schule, in Heimen oder Gewalt durch andere Verwandte raus.

Ausgewählte Ergebnisse:

Keinerlei Art von Bestrafungen erlebten in
Guatemala: 20,7 % der Frauen und 7 % der Männer
El Salvador: 44,3 % der Frauen und 23,9 % der Männer

Verbal bestraft/gescholten wurden in
Guatemala: 63,4 % der Frauen und 78,3 % der Männer
El Salvador: 18,2 % der Frauen und 9,4 % der Männer

Verbrennungen erlebten in
Guatemala: 1 % der Frauen und 1 % der Männer
El Salvador: 0,8 % der Frauen und 0,2 % der Männer


Vorweg Hinweis zur körperlichen Gewalt:

Im Englischen und auch in dieser Studie wir zwischen „spanking“ und „beating“ unterschieden. „Spanking“ entspricht im Deutschen „Züchtigungen“. Also Klapsen, leichten Ohrfeigen, etc. mit einem „erzieherischen“ Ziel, um unerwünschtes Verhalten zu bestrafen. „Beating“ meint schwerere Gewaltformen, die bei uns der Misshandlung entsprechen. Also Gewalt, die (neben den seelischen) auch körperliche Verletzungen des Kindes zur Folge hat bzw. wo diese möglichen Folgen in Kauf genommen werden. In El Salvador war „beating“ definiert als Schläge mit einem Gegenstand wie Gürtel, Stock oder Kabel, was eine besonders schwere Form der Gewalt darstellt. Für Guatemala war „beating“ einfach als „beating“ definiert.

Was besonders verwundert ist, dass in Guatemala „spanking“ erfragt wurde, in El Salvador aber nicht. Sehr unlogisch, wie ich finde, denn man wollte doch eigentlich diverse Gewaltformen erforschen. Die Autoren der Studie weisen explizit darauf hin, dass in El Salvador weniger der Befragten angegeben hätten, dass sie niemals bestraft wurden, wenn auch die Züchtigungen und zusätzlich der Punkt „Aus dem Haus geworfen“ mit einbezogen worden wäre. Insofern macht es Sinn, sich beim Ländervergleich auf das „beating“ (Misshandlungen) zu konzentrieren.

Misshandlungen/Schläge („beating“) erlebten in
Guatemala: 35,3 % der Frauen und 45,7 % der Männer

Schläge mit einem Gegenstand wie Gürtel, Stock oder Kabel erlebten in
El Salvador: 41,8 % der Frauen und 61,9 % der Männer

Körperliche Züchtigungen („spanking“) erlebten in
Guatemala: 21 % der Frauen und 19,6 % der Männer
El Salvador: keine Daten vorhanden


Anmerkungen zu der Kategorie Misshandlungen („beating“):

Ein Großteil der Befragten war zum Zeitpunkt der Befragung zwischen 15 und 24 Jahre alt. (Guatemala: 43,3 % der befragten Frauen und 40,3 % der Männer; El Salvador: 40,9 % der befragten Frauen und 36,5 % der Männer) Diese Alterskohorte hat allerdings auch am wenigsten Gewalt erlebt: Guatemala: 30,1 % der befragten Frauen und 41,95 % der Männer; El Salvador: 35,1 % der befragten Frauen und 55,9 % der Männer. Die älteren Jahrgänge (also die Personen, die derzeit in den beiden Ländern politische, ökonomische und soziale Macht besitzen!) haben tendenziell mehr Gewalt erlebt (was auch Studien aus anderen Ländern regelmäßig nachweisen.). Dies muss man in die Analyse bzgl. der dortigen Gesellschaften mit einbeziehen.

Die Studie zeigt auch, dass es einen besonders großen Rückgang der Gewalt in der jüngsten Altersgruppe der 15 bis 19jährigen gibt. Misshandlungen erlebten in dieser Gruppe in Guatemala: 31,1 % der befragten Frauen und 38,7 % der Männer; El Salvador: 32,2 % der befragten Frauen und 47,7 % der Männer. Vergleicht man diese Zahlen mit den o.g. Durschnittwerten oder schaut direkt in der Studie auf die Tabelle 3 dann wird deutlich, dass es mit dieser neuen Generation einen deutlichen Trend bzgl. der Abnahme von Gewalt gibt. Trotzdem sind die Zahlen bzgl. schwerer Gewalt im internationalen Vergleich immer noch sehr hoch. Die jüngere Generation ist allerdings ein großer Hoffnungsträger für diese Region. Je weniger Gewalt sie erlebt, desto höher sind die Chancen, dass sich die beiden Länder weiterentwickeln und auch die politische Gewalt und die Kriminalität zukünftig rückläufig sein könnte.

In Guatemala wurde zudem eine gesonderte Befragung mit einer etwas kleineren Gruppe, die selbst Kinder unter 18 Jahren haben, durchgeführt. Von den Frauen berichteten 38,9 % von eigenen Misshandlungserfahrungen, aber nur 26,1 % sagten, dass sie auch ihre eigenen Kinder misshandelt hätten. Von den Männern berichteten 51,1 % von eigenen Misshandlungserfahrungen, aber nur 20,3 % sagten, dass sie auch ihre eigenen Kinder misshandelt hätten. Es besteht also wirklich Grund zu Hoffnung für diese Region, nicht kurzfristig, aber langfristig.


Fazit:

In Mord und politischer Gewalt sind weltweit, auch in Südamerika, stets die Männer führend. Schwere körperliche Elterngewalt erleben in Guatemala (fast jeder zweite) und El Salvador (fast 2/3) Männer signifikant häufiger als die Frauen, aber auch die Frauen erleben schwere körperliche Elterngewalt im internationalen Vergleich relativ häufig. Man kann von Gesellschaften, in denen ein so hoher Prozentsatz misshandelt wird, nicht erwarten, dass sie auch auf der politischen Bühne oder im Alltag besonders friedlich, tolerant und respektvoll agieren. Man kann aber erwarten, dass die internationale Gemeinschaft diese Zusammenhänge erkennt und in solchen Regionen (in Abstimmung mit den dortigen Regierungen und Menschen) gezielt und großflächig Kinderschutzprogramme durchführt. Dadurch würde man innerhalb eines überschaubaren Zeitraumes die gefährlichsten Länder der Welt zügig emotional entwaffnen.

Freitag, 13. April 2012

Elterliche Gewalt als Gradmesser für den seelischen Entwicklungsstand einer Gesellschaft

Die Journalistin Caroline Fetscher hat kürzlich für den Tagesspiegel die Gewalt-Studie der Zeitschrift „Eltern“ kommentiert (was ich im vorherigen Beitrag auch gemacht habe). Der letzte Teil ihres Textes regte mich noch mal zu einem Gedanken an. Hier zunächst die Textstelle:

Herabwürdigung, Sarkasmen, Grobheit selbst gegenüber kleinen Kindern gelten häufig noch als „normal“. Denn Minderjährige, die sich ihrer Rechte nicht bewusst sind, die nicht über den Kosmos der Familie hinausschauen können, eignen sich gut als Blitzableiter der Erwachsenen, je kleiner sie sind, desto besser. An ihnen lassen sich Frustrationen, Ärger, Stress abreagieren, hier kann man anraunzen, losbrüllen, zuschlagen, ohne dass es, wie unter Erwachsenen, Konsequenzen hätte. (…) Nichts entschuldigt die Vergehen: Sie sind Symptome einer seelisch unreifen Gesellschaft.

Die meiste Gewalt erleben kleine Kinder, was auch die o.g. Studie zeigte. Die Gewalt scheint am häufigsten vor der Einschulung ausgeübt zu werden. In kaum einer Lebenslage wird das Machtungleichgewicht so deutlich, wie zwischen einem erwachsenen Elternteil und einem 2 bis 6 Jahre alten Kind (oder auch dem Säugling). Diese Gewalt ist seit Jahrtausenden so „normal“, dass wir erst heute mit einem wirklichen Erschrecken und großer Empörung darauf schauen können. (und noch heute diskutieren die Menschen ernsthaft das Für und Wider einer körperlichen Züchtigung gegenüber Kindern z.B. in Kommentarbereichen für entsprechende Medienartikel, was so kaum bzgl. anderer Gewaltdelikte denkbar wäre oder toleriert würde.) Es gibt kaum ein feigeres, gemeineres und unreiferes Verhalten als Gewalt gegen ein Kind, vor allem auch gegen das noch sehr kleine Kind. Es ist eine Ungeheuerlichkeit und nicht zu rechtfertigen! In diesem Blog habe ich viel über die Folgen der Gewalt geschrieben, vor allem auch über Gewaltverhalten auf Grund eigener Gewalterfahrungen.

In diesem Text geht es mir heute mal um etwas ganz anderes. Denn die Gewalt gegen Kinder als solche ist ja bereits hinreichend belegt, sie ist da, sie ist nachweisbar und sie ist nachweisbar besonders weit verbreitet und besonders schwerwiegend in der Ausformung in vielen Krisenregionen dieser Welt. Wer nicht an die gesamtgesellschaftlichen Folgen der Gewalt gegen Kinder glauben will oder kann….gut, der wird viele Antworten verpassen. Aber er wird nicht die Zahlen wegradieren können. Die Welt war und ist voller seelisch unreifer Erwachsener (danke an Frau Fetscher für diese Wortwahl), die ihre Kinder schlagen, niederbrüllen, vernachlässigen, missbrauchen. Diese belegte Gewalt an sich ist bereits ein gewichtiger Beleg für das Gewaltpotential einer Gesellschaft insgesamt.

Wer als Erwachsener, vor allem auch als Elternteil, ein kleines Kind misshandelt, der ist unter Umständen auch in anderen Situationen fähig, Gewalt anzuwenden und ohne Mitgefühl zu agieren, der kann Moral beiseite schieben. Wer als Erwachsener ein kleines Kind misshandelt, der hat dadurch bereits Zeugnis darüber abgelegt, welche hasserfüllte, kalte und destruktive Seite in ihm oder ihr existiert (und diese ist um so dunkler, je heftiger das Gewaltverhalten gegen das Kind ist). Diese Seite muss natürlich nicht zwangsläufig in anderen Kontexten zum Vorschein kommen, aber sie kann, das ist der Punkt. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese dunkle Seite politisch hervortritt, steigt, wenn der gesellschaftliche Rahmen, soziale Konflikte und die gesellschaftlichen Entwicklungen diese Täterseite quasi wecken und gegen ein Ziel richten.

Insofern ist das Gewaltaufkommen gegen Kinder ein enorm wichtiger Gradmesser für die (mögliche) Destruktivität von Gesellschaften, nicht nur bzgl. der Folgen, die ich hier in diesem Blog hauptsächlich bespreche, sondern auch bzgl. der (vor allem innerfamiliären) Gewalttäter an sich, die durch Gewaltstudien als solche deutlich identifiziert werden. Wenn z.B. Anfang des 20. Jahrhunderts im Deutschen Reich 89 % aller Kinder geschlagen wurden, über die Hälfte sogar mit Ruten, Peitschen oder Stöcken (vgl. deMause 2005 S. 146f), dann verwundert es nicht, dass diese eiskalten Schläger auch politisch zu extremen Grausamkeiten (dabei auch extrem feigen Taten, wie der Ermordung von Millionen wehrloser Juden) fähig waren.
Ein deutscher Vater, der im Jahr 1910 vielleicht 25 Jahre alt war und seine Kinder mit einer Peitsche prügelte, der war zu Beginn des ersten Weltkrieges im besten Kampfesalter und 1933 – im Alter von 48 Jahren – vielleicht in einer entsprechenden Position als Offizier, hoher Beamter, Politiker oder sonst eine höheren gesellschaftliche Position, von der aus die Gesellschaft gestaltet werden konnte. Diese Prügelgeneration stürmte in diverse Positionen oder auch in die Kasernen und ermöglichte zwei Weltkriege. Ihre Fähigkeit zur Grausamkeit hatten sie bereits in den heimischen Kinderstuben unter Beweis gestellt. (Und natürlich waren einst auch sie misshandelte Kinder, die die Gewalt später an ihren eigenen Kindern wiederaufführten) Auch heutige aktuelle Gewaltstudien erlauben also einen Blick auf die dunkle Seite einer Gesellschaft. Wo immer noch eine Mehrheit der Kinder von ihren Eltern (schwer) geschlagen werden, dort ist bereits das Destruktionspotential einer Gesellschaft bewiesen worden.

Sich mit der Gewalt gegen Kinder zu befassen, bedeutet, dass man – sofern man offen hinschaut – Antworten auf gesellschaftliche Fragen und Probleme in vielerlei Hinsicht bekommt. Gewalt gegen Kinder erzeugt u.U. auch wiederum politische Gewalt, was ich in diesem Blog ausführlich bespreche. Aber auch die gewalttätigen Eltern müssen als solche in die Gesellschaftsanalyse mit einbezogen werden, da ihr Verhalten etwas über den Entwicklungsstand einer Gesellschaft aussagt.

Mittwoch, 21. März 2012

Gewalt-Studie für die Zeitschrift "Eltern"

Für die Zeitschrift Eltern wurden Ende 2011 1.003 Eltern repräsentativ durch forsa befragt. Ich möchte die wesentlichen Zahlen kurz besprechen.

Insgesamt 60 % der Eltern wendeten nach eigenen Angaben nie Gewalt an.

Kritisch muss man dazu anmerken, dass auch 431 Eltern befragt wurden, die Kinder über 10 Jahren haben. Diese Altersgruppe erlebt meist weniger Gewalt als kleinere Kinder, was auch diese Studie belegt (77% dieser Gruppe erleben keine Gewalt). Wenn man auf die Zahlen bzgl. der kleineren Kinder schaut, dann erleben nur noch ca. 50 % nie Gewalt.

Die Details:

40 % gaben einen Klaps auf den Po innerhalb von 12 Monaten vor der Befragung

davon
28 % 1-2 mal innerhalb von 12 Monaten vor der Befragung
8 % alle paar Monate
4 % alle paar Wochen
1 % alle paar Tage

10 % ohrfeigten ihre Kinder

davon
9 % 1-2 mal innerhalb von 12 Monaten vor der Befragung
1 % alle paar Monate

4 % versohlten den Hintern des Kindes

davon
3 % 1-2 mal innerhalb von 12 Monaten vor der Befragung
1 % alle paar Monate

Mit Stock oder ähnlichem versohlt
0 %

Jungen waren durchweg etwas mehr von Gewalt betroffen, als Mädchen. (was übrigens auch fast alle Gewaltstudien aufzeigen)

Ca. 3/4 der Befragten hatten ein schlechtes Gewissen oder haben sich über sich selbst geärgert, nachdem sie Gewalt angewandt hatten

47 % haben sich häufig nach der Gewaltanwendung bei ihren Kindern entschuldigt und ihnen gesagt, dass sie sie lieb haben

Auch bzgl. psychischer Gewalt wurde einiges erfragt.
19 % brüllen z.B. ihre Kinder nieder, nachdem diese sich unerwünscht verhalten haben
26 % reden nicht mehr mit dem Kind oder ignorieren es, nachdem diese sich unerwünscht verhalten haben

Auch nach den Gewalterfahrungen der Eltern wurde kurz gefragt
46 % der Eltern geben an, dass sie selbst nie als Kind geschlagen wurden. (Wobei die Frage einen gelegentlichen Klaps auf den Hintern ausschließt, was sehr verwundert. Insofern könnten noch einige mehr Gewalt erfahren haben, sofern man den Klaps mit einbezieht)
31 % wurden selten geschlagen
17 % immer mal wieder
5 % regelmäßig


Fazit

Elternbefragungen sind immer etwas anderes als Opferbefragungen. Insofern werden die o.g. Zahlen zum Teil etwas zu korrigieren sein. In vielen Teilen glaube ich den Eltern allerdings. Ich gehe davon aus, dass in der Tat ca. 50 % der Kinder keinerlei körperliche Elterngewalt erleben. Mit einem Stock oder ähnlichem wurde nach Angaben der Eltern kein einziges Kind verprügelt. Diese Zahl glaube ich den Eltern nicht ganz. Hier werden vermutlich die realen Zahlen im einstelligen unteren Prozentbereich liegen (vielleicht 1-2 %) , was zukünftige Opferbefragungen evtl. belegen werden.

Wenn man sich auf die o.g. Zahlen bezieht, dann lässt sich sagen, dass Gewalt gegen Kinder in Deutschland stark abgenommen hat, wenn man Zahlen aus den 50er/60er Jahren oder auch davor zum Vergleich heranzieht. Sofern Gewalt angewendet wird, dann selten und fast die Hälfte der Eltern entschuldigt sich danach sogar häufig. Schwere Formen der Gewalt liegen im Bereich um ca. 10 % oder auch darunter. (Dabei ist schwer einzuschätzen, ob nicht evtl. ein gewisser Prozentsatz der Eltern, die „nur“ einen Klaps angaben, damit auch schwerere Formen verdecken oder auch meinten.)
Wer diesen Blog verfolgt wird die Zahlen und Daten vor Augen haben, die ich z.B. für Indien, Afrika , USA oder auch Kambodscha angegeben habe. Deutschland ist demnach wirklich auf einem sehr guten Weg, auch wenn es immer noch gilt, viele Kinder hierzulande vor Gewalt zu schützen.

Siehe ergänzend auch: Geboren 2012

Montag, 19. März 2012

Berühmte Leute und ihre schrecklichen Eltern

Jörg Zittlau hat 2010 das Buch „Sie meinten's herzlich gut: Berühmte Leute und ihre schrecklichen Eltern.“ herausgebracht. Er beschreibt darin die Kindheiten diverser Persönlichkeiten wie z.B. Michael Jackson, Elizabeth Taylor, Martin Luther, Salvador Dali, aber auch von politischen Größen wie Hitler, Stalin, Friedrich dem Großen und John F. Kennedy. Persönlich sehr interessant fand ich die Schilderungen über die Kindheit von Andre Agassi, der einen ähnlichen Vater (Erfolg, Erfolg, Erfolg von der Wiege an, ansonsten zählte nichts) hatte, wie Steffi Graf, mit der er verheiratet ist. Spannend fand ich auch, dass mein persönlicher Eindruck bestätigt wurde. Elizabeth Taylor z.B. wirkte auf mich stets wie eine Maske, ein falsches Selbst, so man will, unecht, künstlich, unglücklich. Wenn man darum weiß, dass sie eigentlich nie Schauspielerin werden wollte und ihre dominante Mutter ihr alles von Klein auf aufzwang, sie geradezu drillte, Elizabeth gar keine Kindheit hatte, jeder Widerspruch mit Liebensentzug und eisigem Schweigen bestraft wurde (auch über Tage und Wochen) dann wird vieles klarer.

Das Buch ist eher journalistisch angelegt. Was mich persönlich am meisten beeindruckt hat ist die Lockerheit des Autors bei dem Thema. Er beschreibt die Kindheiten seiner Protagonisten als Grundlage für deren späteres Leben und Verhalten, ohne jede Scheuklappe. Stalin, Hitler oder auch Alexander der Große…ja na logisch, deren Kindheiten waren eine Katastrophe, was auch sonst.

Diese Lockerheit im Umgang (die persönliche Befindlichkeiten außen vor lässt) mit dem Thema wünsche ich mir viel mehr für die Zukunft. Solche Bücher zeigen den Weg (auch wenn ich den Titel anders gewählt hätte).

Samstag, 17. März 2012

Internationale Zahlen über die Gewalt gegen Kinder

Mir fällt derzeit auf, dass es immer leichter wird, Zahlen zum Gewaltvorkommen gegen Kinder in diversen sich entwickelnden Gesellschaften zu bekommen. Nach meinem Eindruck sind seit ca. 2006 die Bemühungen weltweit gestiegen, entsprechende Studien durchzuführen. Diese aktuellen Zahlen zeigen fast durchweg ein sehr hohes Ausmaß an Gewalt gegen Kinder. Frühere Generationen werden entsprechend noch mehr und auch schwerer von Gewalt betroffen sein. Ich möchte an dieser Stelle unbedingt auf das Projekt Global Initiative to End All Corporal Punishment of Children hinweisen. Auf der Website findet man zu unzähligen Ländern aktuelle Daten und Zahlen. Den Link zu der Seite habe ich auch hier in der Blogleiste aufgenommen.

Mir scheint, dass einiges in Bewegung kommt. Zahlen sind wichtig, um vor deren Hintergrund in den Ländern entsprechende Kinderschutzprogramme zu starten.

Gewalt gegen Kinder in Indien

12.447 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 5 und 18 Jahren wurden in Indien für eine 2007 herausgegebene Studie befragt:
Ministry of Women and Child Development. Government of India 2007: Study on Child Abuse: India 2007.. New Delhi.

69 % berichteten über körperliche Gewalterfahrungen, vor allem auch in den Familien, allerdings zusätzlich häufig auch in anderen Kontexten. Von diesen 69 % wurden 63,67 % geschlagen/getreten, 31,31 % mit einem Knüppel/Stock geprügelt und 5,02 % erlebten andere Gewaltformen wie z.B. Schütteln. Die Kinder im Alter zwischen 5 und 12 Jahren erleben die meiste Gewalt. Ab 13 Jahren nehmen die Gewalterfahrungen ab.

65 % der Kinder berichteten, dass sie in der Schule geschlagen wurden.

Regional gibt es in Indien starke Unterschiede bzgl. des Gewaltvorkommens. Im Schnitt erlebten wie gesagt 69 % der Kinder körperliche Gewalt. Bestimmte Regionen weisen dagegen besonders hohe Raten auf: Assam (84.65%), Mizoram (84.64%), Delhi (83.12%) und Uttar Pradesh (82.77%). Andere deutlich niedrigere: Rajasthan (51.2 %), Goa (53.07 %), West Bengal (55.63 %) und Kerala (56.10 %).
Es wäre hier interessant zu schauen, ob sich auch bezgl. der sozialen und politischen Situation diese Regionen signifikant voneinander unterscheiden. Wenn dem so wäre, ist ein direkter Zusammenhang zu den unterschiedlichen Gewaltvorkommen wahrscheinlich.

50 % der Kinder arbeiten 7 Tage in der Woche. Sehr viele erleben auch hier Gewalt.

53,22 % der Kinder berichten über mindestens eine Form von sexueller Gewalt. Schwere Formen von sexueller Gewalt erlebten 21,9 % aller Kinder. 5,69 % erlebten Vergewaltigungen. 50 % der Angreifer waren den Kindern bekannt oder in einer Vertrauensposition.

48.37% berichten über psychische Gewalt in der einen oder anderen Form

44.13% berichten über Demütigungen innerhalb ihrer Familie. HaupttäterInnen waren Mütter (44,09 %) und Väter (35,35 %)

70.57% der Mädchen berichteten über die eine oder andere Form von Vernachlässigung in der Familie.

48,4 % der Mädchen wünschten sie wären ein Junge.

Die Situation der Mädchen in Indien wäre noch einmal einen ganzen eigenen Bericht wert. Zur Info verweise ich auf einen Artikel im Tagesspiegel. Dort heißt es u.a.: „Auf 1000 Männer kommen in Indien 927 Frauen im weltweiten Durchschnitt sind es hingegen 1050 Frauen. Indien verliere täglich 7000 Mädchen durch Abtreibungen, heißt es in einem Bericht des UN-Kinderhilfswerks Unicef vom vergangenen Jahr. Die medizinische Fachzeitschrift "The Lancet" spricht von zehn Millionen abgetrieben oder getöteten Mädchen in den vergangenen zwei Jahrzehnten.“ Berichtet wird auch über gezielte Kindestötungen: „"Eine der beunruhigendsten Enthüllungen kam von einer Hebamme, die sagte, hunderte Neugeborene getötet zu haben, so viele, dass sie den Überblick verlor."

In Indien leben aktuell über 1,2 Millarden Menschen. Davon sind sehr viele unter 18 Jahren alt. Man kann sich ausmalen, dass in diesem Land unzählige Millionen Kinder von Gewalt und Vernachlässigung betroffen sind.

Donnerstag, 15. März 2012

Studie: Gewalt gegen Kinder in Burkina Faso, Nigeria, Kamerun, Kongo und Senegal

Kürzlich hatte ich ja in dem Text Gewalt gegen Kinder in Afrika viele Daten zusammengestellt. Ich bin jetzt zusätzlich auf zwei weitere Studie gestoßen.

Die Studie „The African Child Policy Forum (ACPF) 2011: VIOLENCE AGAINST CHILDREN IN AFRICA (A Compilation of the main findings of the various research projects conducted by the African Child Policy Forum (ACPF) since 2006) bietet eine Übersicht der wichtigsten Ergebnisse diverser Einzelstudien bzgl. der Gewalt gegen Kinder in Afrika. Ich will und kann nicht die Zahlen der gesamten Studie hier wiedergeben. Wer etwas über die diversen Formen von Gewalt in dieser Region erfahren will, der muss diese Studie komplett lesen!! Kaum ein Papier bringt so viele diverse Daten für Afrika zusammen, wie dieses.

Ich möchte hier vor allem auf die Zahlen aus der Einzelstudie "The African Child Policy Forum 2010: Childhood scars in Africa: a retrospective study on Violence against girls in Burkina Faso, Cameroon, Democratic Republic of Congo, Nigeria and Senegal." eingehen, die ähnlich angelegt ist, wie die bereits besprochene Studie aus dem Jahr 2006 für die Länder Kenia, Uganda und Äthiopien (siehe Text und Link ganz oben).

Für diese Studie aus dem Jahr 2010 wurden junge Frauen im Altern von 18 bis 24 Jahren aus den jeweiligen Hauptstädten der ausgewählten Länder befragt. Je Land wurden ca. 600 Frauen befragt. Die Studie ist sehr umfangreich und ich kann hier nur die wichtigsten Ergebnisse kurz zusammenfassen (Hinweis: DRC steht für "Demokratische Republik Kongo")


Körperliche Gewalt (ausgesuchte Beispiele)

Schläge mit einem Gegenstand (wie z.B. Stock, Besenstiel oder Gürtel) erlitten in

Burkina Faso: 88 %

Nigeria: 90 %

Kamerun: 66 %

DRC: 83 %

Senegal: 79 %


Schläge/Prügel erlitten in

Burkina Faso: 91 %

Nigeria: 84 %

Kamerun: 43 %

DRC: 74 %

Senegal: 52 %


Tritte („very hard“) erlitten in

Burkina Faso: 51 %

Nigeria: 55 %

Kamerun: 21 %

DRC: 25 %

Senegal: 21 %


Würgen / Verbrennungen erlitten in

Burkina Faso: 27 %

Nigeria: 17 %

Kamerun: 7 %

DRC: 7 %

Senegal: 16 %


Eingesperrt in einem kleinen Raum oder mit einem Seil festgebunden wurden in

Burkina Faso: 17 %

Nigeria: 16 %

Kamerun: 8 %

DRC: 19 %

Senegal: 6 %

TäterInnen bei der körperlichen Gewalt:

Haupttäterinnen bei der körperlichen Gewalt waren die Mütter (Burkina Faso 85 %, Nigeria 60 %, Cameroon 71 %, DRC 70 %, Senegal 70 %) gefolgt von Lehrerinnen und eigenen Schwestern.

Männliche Haupttäter waren hautsächlich Väter (Burkina Faso 61 %, Nigeria 45 %, Cameroon 64 %, DRC 45 %, Senegal 58 %) gefolgt von den eigenen Brüdern und Lehrern.

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Psychische Gewalt

Der Großteil der Befragten erlebte diverse Formen von psychischer Gewalt, die ich hier nicht alle aufführen kann. Mütter und Väter waren hier erneut die HaupttäterInnen. Zwei Beispiele:

Beschimpft wurden 84 % (Nigeria niedrigster Wert) – 99 % (Burkina Faso höchster Wert)

Angeschrien wurden 73 % (Kamerun niedrigster Wert) – 96 % (Burkina Faso höchster Wert)

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Sexuelle Gewalt (drei Beispiele)

(HaupttäterInnen waren männliche und weibliche Freunde)

59 – 65 % aller Befragten wurden in einer sexuellen Weise angesprochen, in Burkina Faso waren es sogar 81 %

Sexuell angefasst wurden in

Burkina Faso: 52 %

Nigeria: 24 %

Kamerun: 30 %

DRC: 38 %

Senegal: 37 %


Zum Geschlechtsverkehr gezwungen wurden in

Burkina Faso: 40 %

Nigeria: 40 %

Kamerun: 30 %

DRC: 27 %

Senegal: 17 %


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Genitalienverstümmelung erlebten in

Burkina Faso: 68 %

Nigeria: 21 %

Kamerun: -

DRC: -

Senegal: 19 %

Donnerstag, 8. März 2012

Buchhinweis: Die geprügelte Generation

Die Journalistin Ingrid Müller-Münch hat kürzlich ihr Buch "Die geprügelte Generation" herausgebracht. Zum Buch hat sie auch eine eigene Homepage aufgebaut: http://gepruegelte-generation.de

Das Buch bringt für Menschen, die sich tief mit der Materie befassen, nicht sehr viel Neues. (Auf das für mich Neue werde ich noch eingehen) Die Zielgruppe ist aber auch eine andere, es sollen ja eben gerade die angesprochen werden, die bisher weggeschaut haben. Und dies schafft das Buch in sehr klarer und beeindruckender Weise. Es bestätigt aber auch die eigene Wahrnehmung und macht auch Türen auf, z.B. zu politischen Entwicklungen oder Gewaltverhalten als Folge eigener Gewalterfahrungen.

Das Neue und Wichtige an dem Buch ist vor allem das, was der Titel aussagt. Es geht um die Bewusstwerdung dessen, dass Gewalt gegen Kinder in Deutschland ganz normal war, Alltag und nicht-geschlagene Kinder die Ausnahme waren. Darüber muss aufgeklärt und gesprochen werden. Und dieses Buch ist ein sehr guter Anstoss dazu. Die Autorin hat durch ihre Arbeit dazu auch noch viele Möglichkeiten und Kontakte, um das Buch bekannt zu machen und schon jetzt häufen sich die Interviews mit ihr.

Müller-Münch ist nach eigenen Angaben bewusst, dass auch vor den 50er und 60er Jahren Gewalt gegen Kinder normal war. (In ihrem Buch ist sie auch auf die Arbeit von Lloyd deMause eingegangen) "Ich arbeite mit diesem Generationsbegriff, weil wir die letzte noch aktiv im Leben stehende Generation sind, bei der das Prügeln und Schlagen in der Kindheit normal war. Freilich wurden die Kinder auch davor geschlagen, die Geschichte der Prügelstrafe ist ja uralt." (Welt Online, 08.03.2012)

Wir wachen hierzulande wirklich immer mehr auf, wir schauen zurück und sehen überall Gewalt gegen Kinder, heute, wo immer weniger Gewalt gegen Kinder in Deutschland herrscht (siehe auch meinen vorherigen Beitrag), werden die Menschen es immer mehr wagen, zurück in die Geschichte auf diese Kindheitsalpträume zu schauen. Wir werden die Geschichte der Menschheit dadurch immer besser verstehen lernen und wir werden auch verstehen, warum wir heute immer friedlicher und demokratischer werden.

Montag, 5. März 2012

Geboren 2012 = weitgehend gewaltfreies Aufwachsen, zumindest in Deutschland

Die aktuelle ZEIT Serie „Geboren 2012“ fragt nach der Zukunft in Deutschland und geht dabei mehreren Themenfeldern nach. Wie sieht das Leben in 30 bis 40 Jahren aus? In Anlehnung an diese Serie gehe ich auf das hier im Bog wohl bekannte Thema ein, dessen sich die ZEIT und ZukunftsforscherInnen i.d.R. nicht widmen.

2012 in Deutschland geboren zu sein, bedeutet mit einer hohen Wahrscheinlichkeit eine relativ glückliche und vor allem auch gewaltfreie Kindheit. Es ist noch nicht lange her, dass diejenigen, von denen ein Kind eigentlich Liebe, Fürsorge, Vorbild und Schutz erwarten darf, die größten Feinde und Aggressoren waren. Noch Mitte der 60er Jahre galten Schläge bei 80 bis 85 Prozent aller deutschen Eltern als notwendiges Erziehungsmittel. Jedes dritte Kind wurde mit einem Stock verprügelt, vor 1939 war es sogar jedes zweite. (vgl. DER SPIEGEL, 22.04.1963) Schon heute sieht das Bild spektakulär anders aus. In den Jahren 2007 und 2008 wurden insgesamt 44.610 Schüler (Durchschnittsalter ca. 15 Jahre) durch das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen befragt. (vgl. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen 2009, S. 51ff) Ergebnis: 42,1 % der Befragten berichteten über keinerlei gewalttätige, körperliche Übergriffe der Eltern. 42,7 % erlebten leichte körperliche Gewalt. Insgesamt 15,3 % der Befragten geben an, vor ihrem zwölften Lebensjahr schwerer Gewalt durch Elternteile ausgesetzt gewesen zu sein. Wir bewegen uns also auf eine Gesellschaft zu, in der die Mehrheit der Menschen als Kind keine elterliche Körpergewalt erlebt haben wird; ein Gesellschaftszustand, den unser Land bisher nicht kannte und der als geradezu bahnbrechend bezeichnet werden muss. Diese befragten Schüler werden im Jahr 2022/2023 ca. 30 Jahre alt sein und dann beginnen, gesellschaftliche Positionen einzunehmen und zu gestalten.

Schon jetzt ist also belegt, dass 2022/2023 die Mehrheit der jungen Leistungsbringer nicht oder selten bzw. leichte Formen von körperlicher Elterngewalt erlebt haben wird. (Siehe ergänzend auch Gewalt-Studie für die Zeitschrift "Eltern") Nun gibt es auch andere Formen der Gewalt, die weniger sichtbar sind, aber nicht minder folgenreich: Psychische Gewalt und Vernachlässigung. Trotzdem glaube ich, dass die körperliche Gewalt ein gewaltiges Indiz dafür ist, wie auch der sonstige Umgang mit Kindern aussieht. Wer Kinder schlägt, wird diese i.d.R. auch vernachlässigen und emotional bedrohen. Wer Kinder nicht schlägt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in anderen Gebieten eher auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen, nicht emotional gewalttätig sein usw.

2012 geboren sein, das bedeutet auch (vor allem für Mädchen), dass die meisten Kinder keinen sexuellen Missbrauch erleben werden. Das KFN hat Zahlen aus einer großen Befragung aus dem Jahr 2011 veröffentlicht. So haben die heute weiblichen 31 bis 40-jährigen der aktuellen Untersuchung bis zu ihrem 16. Lebensjahr zu 8,0% einen Missbrauch mit Körperkontakt erlitten, die 21 bis 30-jährigen zu 6,4%, die 16 bis 20-jährigen dagegen nur zu 2,4%. Bei den Männern lauten die Vergleichsquoten 1,8%, 1,1% und 0,6%. (vgl. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen 2011, S. 40)

Wer sich vertiefend mit der Geschichte der Kindheit befassen will, muss vor allem die berühmte Studie „Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit.“ herausgegeben von dem Psychohistoriker Lloyd deMause lesen. Der meist zitierte Satz aus diesem Buch lautet: "Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen." Dieser Geschichte muss man sich erst einmal bewusst werden, um zu erkennen, dass es Kindern in unseren Breitengraden noch nie so gut erging wie heute. Letztlich gehen sämtliche Zahlen im historischen Rückblick auf die 100 % zu, für die Bereiche Miterleben vom Tod eines Geschwisterkindes (dabei auch oft durch die Eltern verursacht oder gezielt ermordet), körperlicher und seelischer Gewalt, Vernachlässigung und Missbrauch. Eine Umfrage aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ergab z.B., dass 100 % der amerikanischen Kinder mit einem Stock, einer Peitsche oder einer anderen Waffe geschlagen wurden. (vgl. Pinker 2011: 636) Wenn vor 1939 in Deutschland noch jedes zweite Kind mit einem Gegenstand geschlagen wurde (siehe oben), dann wird in den Jahrzehnten und Jahrhunderten davor diese Zahl bei 100 % gelegen haben. Ähnlich wird es mit den anderen Gewaltformen gegen Kinder ausgesehen haben, das zeigen vor allem auch psychohistorische Studien.

Wenn man nun die o.g. Trends bzgl. des Rückganges der Gewalt gegen Kinder weiterdenkt und dabei mit einbezieht, dass wieder ca. 20 Jahre zwischen den 2012 geborenen und den oben untersuchten Schülern bzw. 16-20jähren aus der Missbrauchsstudie liegen, dann kommt man zu dem Schluss, dass die 2012 geborenen die voraussichtlich glücklichsten und gewaltfreisten Kindheiten durchlaufen werden, die unser Land bisher je gesehen hat. In 30 bis 40 Jahren, also 2042/2052, werden diese 2012 geboren als geballte Mehrheit die Gesellschaft durchdringen. Diese Generation wird kaum Kindheitsalpträume kennen, sie werden fast alle nicht sexuell missbraucht worden sein, die wenigsten von ihnen werden schwer körperlich misshandelt worden sein, die allermeisten werden sogar nicht eine einzige Form von körperlicher Elterngewalt erlebt haben. Die große Mehrheit wird also nicht an den bekannten Folgen der Gewalt gegen Kinder leiden. Dies ist absolut bahnbrechend! Die Menschen werden folglich immer emotional gesünder, (innerlich) freier, weniger ängstlich, toleranter, selbstbewusster, flexibler, friedlicher usw. werden und alle möglichen Feindbilder in den Abfallberg der Geschichte schmeißen, weil sich die Kindheiten hierzulande so rasant entwickeln. (Was bisher öffentlich leider kaum wahrgenommen wird) 2012 wird ein tolles Jahr, zumindest für unsere Region.

Was hierzulande bahnbrechend verläuft, verläuft leider in vielen anderen Regionen auf dieser Welt ziemlich schleppend (inkl. in so mächtigen Ländern wie den USA). Insofern muss das Ziel sein, den weltweiten Kinderschutz gezielt voranzutreiben, mit erheblich viel mehr Mitteln, als dies bisher geschieht. Dies wird um so effektiver geschehen, wenn den Verantwortlichen bewusst wird, wie sehr die Kindheit eine Gesellschaft beeinflusst und wie entsprechend dringlich den Kindern geholfen werden muss.

Nachtrag: Siehe ergänzend auch unbedingt Gewalt gegen Kinder in Deutschland in Zahlen. 1910 bis Heute


Quellen:

DER SPIEGEL, 22.04.1964, Nr, 17: „Züchtigung durch Mutter“; http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46174518.html

Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen 2009: Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt. (Forschungsbericht Nr. 107) Hannover; http://www.kfn.de/versions/kfn/assets/fb107.pdf

Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen 2011: Erster Forschungsbericht zur Repräsentativbefragung Sexueller Missbrauch 2011. Hannover; http://www.kfn.de/versions/kfn/assets/fb1semissbr2011.pdf

Pinker, S. (2011): Eine neue Geschichte der Menschheit. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.

Samstag, 3. März 2012

Kindheit von Jassir Arafat

Jassir Arafat wurde 1929 in eine Zeit und in eine Region geboren, die ihm die klaren Feindbilder quasi mit in die Wiege lag. Dass diese von Außen vorgegebenen Feindbilder bei ihm auch auf fruchtbaren Boden fielen, wird an Hand seiner Kindheit deutlich. (Wie schon oft erwähnt ist meine Grundthese, dass wirklich geliebte Kinder Freund-Feind-Schemata in ihrem späteren Leben entsprechend kritisch gegenüberstehen und insbesondere nicht mit gezielter mörderischer Gewalt gegen andere Menschen vorgehen können, so wie dies Arafat während seiner Zeit als Terrorist und Guerillakämpfer tat.)
1933 – Jassir ist zu dieser Zeit ca. vier Jahre alt – stirbt seine Mutter an einer Nierenerkrankung. (vgl. Sadek, 2006, S. 23) Sie hinterlässt drei Töchter und vier Söhne. Der Vater heiratet darauf ein zweites mal, aber die Ehe scheitert bereits nach einigen Monaten, wie Sadek berichtet. Eine andere Quelle (Rubin & Rubin, 2003, S. 13) belegt, dass diese zweite Frau die Kinder schlecht behandelte (was auch immer sich hinter diesem „schlecht“ verbergen mag.) Zu seiner Entlastung schickt der Vater seine beiden jüngsten Kinder (eines davon ist Jassir) nach Jerusalem in die Obhut eines Onkels, über dessen Erziehungsstil man in den verwendeten Quellen nichts erfährt. Er erlebt somit gleich zwei schwere Trennungen hintereinander, den Verlust der Mutter und die Trennung von seinen Geschwistern, seinem Vaters und der vertrauten Umgebung. Zwischen 1933 und 1937 verbringt Jassir seine Kindheit bei dieser Jerusalemer Familie.

Im April 1936 beginnt ein landesweiter palästinensischer Generalstreik und in der Folge auch ein bewaffneter Aufstand, der von den Briten brutal niedergeschlagen wird. Der junge Arafat erlebt diesen Aufstand aus nächster Nähe mit, bei dem auch sein Onkel verhaftet wird. 1937 kehren Jassir und sein jüngerer Bruder zurück zu ihrem Vater nach Kairo, der inzwischen ein drittes Mal geheiratet hat. Beide kommen in die Obhut ihrer zwölf Jahre älteren Schwester Inam. „Die neue Stiefmutter können die Kinder nicht ausstehen. Die dritte Ehe des Vaters erweist sich abermals als Fehlschlag, sie vertieft den Graben zwischen dem Vater und seinen Kindern. Abd al-Rauf bleibt ihnen als disziplinierender, autoritärer Vater in Erinnerung.“ (Sadek, 2006, S. 25) Was sich alles an Gewalt hinter den Worten „disziplinierend“ und „autoritär“ verbirgt, erfährt man vom Biographen leider nicht. Laut UNICEF erlebten – Grundlage sind Daten aus den Jahren 2005-2007 - in Prozent der Kinder (2-14 J.) psychische und/oder körperliche Gewalt (wobei die Mehrheit beides erlebte) in den besetzten palästinensischen Gebieten 95 % und in Ägypten 92 %. (vgl. UNICEF 2009, S. 8) Wenn schon heute noch fast alle Kinder in dieser Region Gewalt erfahren, dann wird auch der 1929 geborene Arafat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Gewalt erfahren haben, vermutlich auch noch in heftigerer Form, als die heutigen Kinder, da sich die Erziehungspraxis im historischen Rückblick stetig verschlechtert.
Arafat selbst erwähnte seinen Vater nie, mit dem er nachweisbar keine enge Beziehung hatte. Neben der autoritären Art wird auch die jahrelange Trennung vom Vater ihren Teil dazu beigetragen haben, dass Vater und Sohn sich nicht gerade nahe standen.
Arafats Schwester erinnerte sich, dass ihr Bruder bereits als Kind seine Spielkameraden in militärische Gruppen einteilte und ihnen befahl, die Straßen rauf und runter zu marschieren. Wenn ein Kind aus der Reihe tanzte, wurde es von Arafat mit einem Stock geschlagen. (vgl. Brexel, 2004, S. 13) Hier findet sich ein gewichtiges Indiz dafür, dass auch Arafat selbst mit einem Gegenstand geschlagen wurde und dies im „Spiel“ wiederaufführte. Alles in allen ergibt sich das Bild einer sehr traurigen Kindheit.



Quellen:

Brexel, B. 2004: Yasser Arafat. Rosen Publishing Group, New York.

Rubin, B & Rubin, J. C. 2003: Yasir Arafat: A Political Biography. Oxford University Press, New York.

Sadek, H. 2006: Arafat. Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen / München.

UNICEF 2009: Progress for Children. A Report Card on Child Protection; http://www.unicef.de/fileadmin/content_media/presse/PFC_2009/Progress_20for_20Children-No.8_20LoRes_EN_USLetter_08132009.pdf

Donnerstag, 1. März 2012

Kindheit von Fidel Castro

Fidel Castro wurde in eine im Wohlstand lebende, privilegierte Landbesitzerfamilie hineingeboren. Etwa 1000 Menschen, überwiegend farbige haitianische Landarbeiter und ihre Familien, lebten in ärmlichen Verhältnissen unter dem Patronat von Fidels Vater. Die Ehefrau – Maria Luisa Argone – von Fidel Castros Vater soll nach Fidels Geburt die Familie verlassen haben. (Skierka, 2001, S, 17) Der Vater - Ángel Castro y Argiz – bekam nämlich mit der Haushälterin und Köchin Lina Ruz González – die nur halb so alt war wie er – mit Fidel bereits das dritte uneheliche Kind. Er heiratete später seine Bedienstete und bekam mit ihr weitere vier Kinder. „Sein Vater, ein verschlossener, hart arbeitender und zupackender Mann, grob und aufbrausend, streitsüchtig und keinen Widerspruch duldend, ist ein Patriarch wie aus dem Bilderbuch“ und führt „ein strenges Regiment über Haus und Hof.“ (ebd., S. 20)
Die Mutter beschreibt Skierka als den ausgleichenden Charakter in der Familie, die den Kindern die beim Vater vermisste Nähe gab. Auch Fidel Castro selbst sprach von seiner Mutter oft mit Wärme und Zuneigung, während er seinen Vater kaum erwähnte. Allerdings hatte auch seine Mutter offenbar keine Bedenken, ihren Sohn, um seine schulischen Leistungen zu fördern, früh weg zu geben. Fidel wird erst spät getauft, als er mit fünf oder sechs Jahren bei Pflegeeltern – der Familie Hibberts -in Santiago de Cuba einquartiert wird, wo er auf Grund seiner ungewöhnlich guten Leistungen privaten Schulunterricht erhält. Mit sechs oder sieben Jahren wird er dann in das streng katholisches Kolleg „La Salle“, das sein Bruder als „Gefängnis“ mit endlosem „Beten und der Furcht vor Gott“ beschreibt, in der selben Stadt eingeschult. “Offenbar sind die zeitweilig unklaren familiären Beziehungen in Verbindung mit Fidel Castros unehelicher Geburt der wahre Grund dafür, dass der Taufpate nicht zur Verfügung steht und der kleine Junge den Segen der Kirche zunächst nicht erhält.“ (ebd., S. 17) Fidel wird nach eigenen Angaben in dieser Zeit des ungetauft Seins ausgegrenzt und „Jude“ genannt. Ob seine leiblichen Eltern überhaupt bei der Taufe zugegen waren, ist nicht klar, schreibt Skierka. Castro wörtlich über diese Zeit: „Ich war weit weg von meiner Familie, von unserem Haus, von der Gegend, die ich so liebte, wo ich … mich frei fühlte. [Sie] schickten mich unversehens in die Stadt, wo ich all diese Schwierigkeiten hatte.“ (ebd., S. 22)

An die Zeit im Hause des Konsuls Hibbert hat Castro überwiegend negative Erinnerungen. „(…) es scheint, als hätte dieser es nur auf die Unterhaltszahlungen der Castros abgesehen.“ (Hagemann, 2002, S. 21) Fidels Mutter galt als streng katholisch und wollte diesen Glauben auch an ihre Kinder weitergeben. Vor diesem Hintergrund verwundert folgende Gegebenheit: „Seltsamerweise verbringt der kleine Fidel dreimal hintereinander das Drei-Königs-Fest nicht bei der Familie auf der Finca in Biran, sondern bei den Pflegeeltern in Santiago de Cuba, zu denen er ein zunehmend schwieriges Verhältnis entwickelt. (…) Der Grund, weshalb er die Weihnachtszeit und das wichtigste Fest im Jahr so oft in Folge nicht bei seiner Familie verbringt, liegt im Dunkeln. Ob er wegen des häuslichen Durcheinanders ganz bei den offenbar kinderlosen Pflegeeltern bleiben sollte? Der junge Fidel muss darunter nachhaltig gelitten haben.“ (Skierka, 2001, S. 23+24)

Die Schulleitung des Kolleg will Fidel und seine beiden Brüder schließlich wieder zu seinen Eltern zurückschicken, „weil sie sich wie Rabauken aufführen und der junge Fidel sogar einmal die Ohrfeige eines Lehrers erwidert.“ (Skierka, 2001,S. 22) Die Mutter interveniert und Fidel durfte bleiben, was auch sein erklärter Wille war. Er drohte sogar, zu Hause das Haus anzuzünden, falls ihn die Eltern aus der Schule zurück nach Hause gehen lassen würden. Schließlich wechselt er später im Alter von ca. neun Jahren auf Grund seiner Intelligenz auf das strenge und angesehene Jesuitenkolleg Dolores, das er zunächst als Tagesschüler besucht. Wieder bedeutet dies die Unterkunft bei fremden Leuten in einer neuen Gastfamilie. „Er hasste seine Gasteltern und trachtete erneut nach der Aufnahme in das Internat der Schule.“ (Hermann, 2002, S. 22) Castro fand sich „häufig eingesperrt im Hause seiner Gasteltern. Er nutzte die Zeit zum Nachdenken, zum Lesen von Comics und geschichtlichen Darstellungen, vorzugsweise solcher militärischen Inhalts.“ (ebd.) Schließlich schafft er die Trennung von der verhassten Gastfamilie und die Unterbringung im Internat Dolores. Er ist zu dieser Zeit wohl ca. zwölf Jahre alt und geht zunehmend eigene Wege. Mit dreizehn Jahren probte Fidel seinen ersten Aufstand. „Er wiedegelt die Zuckerrohrarbeiter der Finca auf und versucht einen Streik gegen seinen Vater zu organisieren. Er wirft ihm vor, seine Leute auszubeuten. Dieser ungeheuerliche, brüske Regelverstoß vor aller Augen gegen die in den hispanoamerikanischen Ländern tabuisierte Autorität des Patrons durch den Sohn führt zu einem tiefen Zerwürfnis.“ (Skierka, 2001, S. 22)

Ob Fidel Castro auch geschlagen wurde, erschließt sich aus den verwendeten Quellen nicht direkt. Es ist in meinen Augen allerdings auf Grund des Charakters des Vaters sehr wahrscheinlich, dass dieser auch körperlich übergriffig war. Zudem war Fidel gänzlich ohne Schutz fern der Familie sicherlich auch Opfer durch Gewalt von Lehrern, was sich oben auch belegen lässt, da er eine Ohrfeige eines Lehrers erwiderte. Wie das jahrelange Leben in den Gastfamilien aussah und ob dort auch offene Gewalt herrschte, deutet sich nur ansatzweise an. Über Einsperren und Streitigkeiten mit den Pflegefamilien ist einiges belegt, nichts allerdings über andere Übergriffe. Alles in allem ergibt sich das Bild eines abgeschobenen, unehelich geborenen Kindes, das schnell lernt, das es auf sich allein gestellt ist und sich durchkämpfen muss. Die sehr distanzierte Beziehung zum autoritären Vater wurde bereits angesprochen. In Anbetracht dessen, dass Fidel bereits ab ca. dem fünften oder sechsten Lebensjahr die Familie verließ, glaube ich ihm nicht wirklich die angeblich gute Beziehung zur Mutter. Spätestens ab diesem Zeitpunkt muss er sich auch von ihr verlassen und verkauft gefühlt haben. Wie sein Innenleben damals aussah bleibt natürlich Spekulation.

Fidel Castros Kindheit war alles andere als glücklich und von Geborgenheit geprägt, das kann man mit Bestimmtheit sagen . Er wollte (selbst erklärt) gegen Autoritäten, Unterdrückung und Unfreiheit kämpfen, wurde aber letztlich genau das, was er so hasst: Ein autoritärer Mann, der keinen Widerspruch duldete und sein Land von einer abgelösten Diktatur in die nächste nun von ihm geleitete führte. Tausende politische Gegner ließ er nach seiner Machtübernahme einsperren und hinrichten, „ohne Gerichtsverfahren und ohne zu prüfen, ob die bisweilen vage formulierten Vorwürfe gegen die „Konterrevolutionäre“ oder „CIA-Agenten“ der Wahrheit entsprachen, säuberte Castro seine Insel von innenpolitischen Gegnern. „ (FAZ.net, 28.08.2011) Im Jahr 1962 brachte er zudem während der Cuba-Krise zusammen mit der Sowjetunion und den USA die Welt fast zum Untergang durch einen Atomkrieg. All diese Dinge kann ein Mensch nur tun, wenn er tief gespalten ist und die eigenen Emotionen gestört sind. Fidel Castros Kindheit bietet dahingehend Antworten, woher diese Störungen ursprünglich kommen.



Quellen:

FAZ.net, 28.08.2011: Fidel Castro. Das Fossil (http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/fidel-castro-das-fossil-11126384.html)

Hagemann, A. 2002: Fidel Castro. (aus der Reihe dtv portrait) Deutscher Taschenbuchverlag, München.

Skierka, V. 2001: Fidel Castro: Eine Biographie. Kindler Verlag Berlin.