Samstag, 22. Oktober 2022

Das weltweite Ausmaß der Gewalt gegen Kinder. Ein Kommentar und eine Übersicht

Wir wissen heute sehr viel über das enorme weltweite Ausmaß der Gewalt gegen Kinder, ebenso um die möglichen Folgen. Das sah vor nicht allzu langer Zeit noch ganz anders aus.

Es ist etwas über 20 Jahre her, als ich (damals noch Student der Soziologie) erstmals damit begann, mich auf die Suche nach Daten über das (weltweite) Ausmaß von Kindesmisshandlung zu machen. Die Suche nach Zahlen war müßig und die Rechercheergebnisse oft frustrierend (wenig). Bzgl. Deutschland gab es schon einige aussagekräftige Daten, international sah dies allerdings deutlich schlechter aus. 

In meinem Blog habe ich den Bereich „Ausmaß der Gewalt gegen Kinder / Länderreports“ mittlerweile vernachlässigt. Die meisten Blogbeiträge darin sind zwischen 2010 und 2015 entstanden. 

Diese Vernachlässigung hat einen Grund: Es gibt mittlerweile derart viele Daten und Studien zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder (und auch sonstiger Belastungsfaktoren, wie sie z.B. in der Adverse Childhood Experiences Forschung zu finden sind), dass die ständige Besprechung der Studien mich zum einen überfordern bzw. zu viel Zeit kosten würde, zum anderen ist meine Motivation dahingehend auch zurückgegangen, weil es kaum noch eine „Entdeckungsreise“ für mich ist, sondern nur noch eine Bestätigung der mir bekannten Faktenlage, die da lautet: 

1. Die Mehrheit der Kinder in den meisten Weltregionen erlebt Gewalt (vor allem auch in der Familie). 

 2. Regionen oder Länder, die zu den „Sorgenkindern“ der Welt gehören (also u.a. durch Kriege, Terror, Korruption, soziale Schieflagen, politische Spaltungen, destruktive Politik/politische Systeme, viel Gewalt usw. auffallen) stechen oftmals durch überdurchschnittlich hohe Gewaltraten gegen Kinder heraus.

Auf Grund der aktuellen Proteste im Iran habe ich beispielsweise kürzlich etwas recherchiert und stieß u.a. auf die Übersichtsstudie „Child Abuse in Iran: a systematic review and meta-analysis“ (Mohammadi et al. 2014). Im Durschnitt erlebten im Iran 44% der Kinder körperliche Misshandlungen, 65% emotionale Misshandlungen und 41% Kindesvernachlässigung.
Bei diesen Zahlen wundert es mich nicht, dass der Iran so lange diktatorisch geführt werden konnte! Die neue junge Generation ist eine Chance für das Land, sie wird vermutlich unbelasteter aufgewachsen sein, als ihre Eltern. Früher hätte ich solche Studien sofort im Blog besprochen. Heute erwähne ich sie nur noch kurz auf meinem Twitteraccount (aus o.g. Gründen). 

Seit der Jahrtausendwende hat sich die Kindheitsforschung massiv beschleunigt. Alleine zwischen den Jahren 2000 und 2018 wurden ganze 38.411 englischsprachige Fachartikel mit thematischem Bezug zur Kindesmisshandlung veröffentlicht, so viele wie nie zuvor in der Wissenschaftsgeschichte (Tran et al. 2018: A Bibliometric Analysis of the Global Research Trend in Child Maltreatment). Wir wissen heute entsprechend auch darum, dass diese Gewalt vielfältige negative Folgen haben kann.

Ich möchte heute darauf hinweisen, dass ich natürlich nie aufgehört habe, mich für Daten zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder zu interessieren und dass ich diese teils auch noch sammle. Ich produziere nur einfach selten Blockbeiträge dazu. 

In meinem Buch habe ich ein umfassendes Kapitel (7. Das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in der Welt – Kindheiten der Allgemeinbevölkerung) dazu erstellt.
Ergänzend ist auch das Projekt „Global Initiative to End All Corporal Punishment of Children” eine wahre Fundgrube für Zahlen: Für die meisten Länder werden am Ende der entsprechenden Länderreports Daten zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder genannt. 

Abschließend möchte ich unten auf einige zentrale Studien hinweisen, die eine gute Übersicht bieten. Wer diese Studien gelesen hat, der weiß was in der Welt der Kinder (leider) los ist…

Diese Übersicht hier zu geben, war mir heute ein echtes Anliegen! Somit schließe ich den Bereich Ausmaß der Gewalt gegen Kinder / Länderreports hiermit ein Stück weit ab. Vielleicht werde ich gelegentlich diese Übersicht etwas ergänzen. Wer mag kann auch auf entsprechende Studien im Kommentarbereich hinweisen. 

Einige Übersichtsarbeiten:

African Partnership to End Violence Against Children (APEVAC) & African Child Policy Forum (ACPF) (2021). Violence Against Children in Africa: A Report on Progress and Challenges. Addis Ababa, Ethiopia.

Barth, J., Bermetz, L., Heim, E., Trelle, S. & Tonia, T. (2013). The current prevalence of child sexual abuse worldwide: a systematic review and meta-analysis. International Journal of Public Health, 58(3), S. 469-483.

Cuartas, J., McCoy, D., Rey-Guerra, C., Britto, P. R.,  Beatriz, E. & Salhi, C. (2019). Early childhood exposure to non-violent discipline and physical and psychological aggression in low- and middle-income countries: National, regional, and global prevalence estimates. Child Abuse & Neglect, Vol. 92, S. 93-105.

Fang, Z., Cerna-Turoff. I., Zhang, C., Lu, M., Lachman, J. M. & Barlow, J.  (2022). Global estimates of violence against children with disabilities: an updated systematic review and meta-analysis. The Lancet Child & Adolescent Health, 6(5), S. 313-323.

Franchek-Roa, K. M. & Tiwari, A. & Lewis-O'Connor, A. & Campbell, J. (2017). Impact of Childhood Exposure to Intimate Partner Violence and Other Adversities. Journal of the Korean Academy of Child and Adolescent Psychiatry. 28(3). S: 156-167. 

Fry, D., Padilla, K., Germanio, A., Lu, M., Ivatury, S. & Vindrola, S. (2021). Violence against children in Latin America and the Caribbean 2015-2021: A systematic review. United Nations Children’s Fund (UNICEF), Panama City.

Fry, D., McChesney, S., Padilla, K. & Ivantury, S. (2015). Violence against Children in South Asia: A systematic review of evidence since 2015. UNICEF, Kathmandu.

Gershoff E.T. (2017). School corporal punishment in global perspective: Prevalence, outcomes, and efforts at intervention. Psychology, Health & Medicine. 22(Suppl. S1), S. 224–239.

Gilbert, R., Widom, C. S., Browne, K., Fergusson, D., Webb, E. & Janson, S. (2009). Burden and consequences of child maltreatment in high-income countries. The Lancet, 373(9657), S. 68-81.

Hillis, S., Mercy, J., Amobi, A., & Kress, H. (2016). Global Prevalence of Past-year Violence Against Children: A Systematic Review and Minimum Estimates. Pediatrics. 137(3), e20154079. https://doi.org/10.1542/peds.2015-4079.

Know Violence in Childhood (2017). Ending Violence in Childhood. Global Report 2017. New Delhi, India. 

Merrick et al. (2018). Prevalence of Adverse Childhood Experiences From the 2011-2014 Behavioral Risk Factor Surveillance System in 23 StatesJAMA Pediatr. 172(11): S. 1040-1043

Moody, G., Cannings-John, R., Hood, K., Kemp, S. & Robling, M. (2018). Establishing the international prevalence of self-reported child maltreatment: a systematic review by maltreatment type and gender. BMC Public Health, 18:1164. 

Runyan, D.K., Shankar, V., Hassan, F., Hunter, W. M., Jain, D., Paula, C. S., Bangdiwala, S. I., Ramiro, L. S., Muñoz, S. R., Vizcarra, B. & Bordin, I. A. (2010). International Variations in Harsh Child Discipline. Pediatrics, 126(3), e701-11. 

Solehati, T., Pramukti, I., Hermayanti, Y., Kosasih, C. E. & Mediani, H. S. (2021). Current of Child Sexual Abuse in Asia: A Systematic Review of Prevalence, Impact, Age of First Exposure, Perpetrators, and Place of Offence. Open Access Macedonian Journal of Medical Sciences, 9(T6), S. 57-68.

Stoltenborgh, M., Bakermans-Kranenburg, M. J.  & van IJzendoorn, M. H. (2013). The neglect of child neglect: a meta-analytic review of the prevalence of neglect. Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology, Volume 48, S. 345–355.

Stoltenborgh, M., Bakermans-Kranenburg, M. J., Alink, L. R. A.  & van IJzendoorn, M. H. (2012). The Universality of Childhood Emotional Abuse: A Meta-Analysis of Worldwide Prevalence. Journal of Aggression, Maltreatment & Trauma, 21(8), S. 870–890.

UNICEF (2014). Hidden in Plain Sight: A statistical analysis of violence against children. New York.

UNICEF - United Nations Children’s Fund (2017). A familiar face: violence in the lives of children and adolescents. New York. 


Freitag, 14. Oktober 2022

Kindheit von Leo Trotzki

Lew Dawidowitsch Bronstein, später Leo Trotzki, wurde am 25.10. oder 07.11.1879 geboren (Broué 2003, S. 27). 

So beginnt er seine eigenen Kindheitserinnerungen: 

Die Kindheit gilt als die glücklichste Periode des Lebens. Ist das immer so? Nein, die Kindheit der wenigsten ist glücklich. (…) Meine Kindheit war nicht eine Kindheit des Hungers und der Kälte. Zur Zeit meiner Geburt kannte meine elterliche Familie schon Wohlstand. Doch war es ein herber Wohlstand von Menschen, die sich aus der Not erheben und den Wunsch haben, nicht auf halbem Wege stehenzubleiben. Alle Muskeln waren gespannt, alle Gedanken auf Arbeit und Anhäufung gerichtet. In dieser Häuslichkeit war den Kindern nur ein bescheidener Platz zugewiesen. Wir kannten keine Not, wir kannten aber auch nicht die Freigebigkeit des Lebens, seine Liebkosungen. Meine Kindheit erscheint mir weder als die sonnige Wiese der kleinen Minderheit noch als düstere Hölle des Hungers, des Zwangs und der Beleidigungen, wie die Kindheiten der Vielen, wie die Kindheit der Mehrheit. Es war eine farblose Kindheit in einer kleinbürgerlichen Familie, in einem Dorfe, in einem finsteren Winkel, wo die Natur reich ist, die Sitten, Ansichten und Interessen aber dürftig und eng“ (Trotzki 1990, S. 15). 

Die eigene Autobiographie in dieser Art mit Blick auf die Kindheit zu beginnen, ist schon erstaunlich, aber wohl auch bezeichnend. Gleich in den ersten Zeilen macht er gezielt klar, dass er keine glückliche Kindheit hatte.
Der Biograf Robert Service zitiert Trotzki - ins obige Bild passend - wie folgt: "Meine Geburt war nicht gerade ein freudiges Ereignis für die Familie. Das Leben war allzusehr von intensiver Arbeit ausgefüllt" (Service 2012, S. 36).

Als Kleinkind wurde er von einem Kindermädchen bereut, das gerade einmal sechzehn Jahre alt war (Trotzki 1990, S. 16). Dass die Eltern sich nicht viel kümmerten, wird auch im weiteren Textverlauf deutlich werden.
Sein Vater war Gutsherr und die Familie entsprechend wohlhabend und privilegiert (Trotzki 1990, S. 19). 

Die Sitten in Trotzkis Umfeld waren rau, wie er eingangs bereits deutlich machte. So schildert er eine Szene aus seiner früheren Kindheit, in der ein Sohn eines Bauern eines kleinen Diebstahls bezichtigt wurde. Der Vater wurde von den Leuten zur Rede gestellt und schwor daraufhin, dass er nichts davon gewusst habe. Dann schlug der Vater vor den Augen Aller auf seinen Sohn ein. „Der Junge schrie und schwur, er werde es nicht wieder tun. Ringsherum standen die Onkelchen, hörten gleichgültig das Heulen des Halbwüchsigen mit an, rauchten selbstgedrehte Zigaretten und brummten in den Bart, dass der Bauer nur aus List, nur zur Ablenkung den Bengel peitschte und dass man gleichzeitig auch den Vater auspeitschen sollte“ (Trotzki 1990, S. 22). 

Eine weitere Erinnerung bezieht sich auf die Tochter eines im Ort als Dieb verschrienen Mannes. Die Ehefrau eines Nachbarn bezichtigte eines Tages diese Tochter, ihr den Mann ausspannen zu wollen bzw. ein Verhältnis mit diesem zu haben. „Als ich einmal aus der Schule zurückkehrte, sah ich, wie eine schreiende, heulende, spuckende Menge eine junge Frau, die Tochter des Pferdediebs, über die Straße schleifte“ (Trotzki 1990, S. 46). 

Später, als er bei Onkel und Tante lebte (siehe dazu mehr unten), wurde er erneut Zeuge von Gewalt. In dem dortigen Umfeld herrschte ein „derbes Benehmen“ und er fügt dem an, dass „der Verwalter einmal den Hirten mit einer langen Peitsche züchtigte, weil der die Pferde bis zum Abend an der Tränke gelassen hatte“ (Trotzki 1990, S. 49). 

In seiner Kindheit kam Trotzki teils auch selbst in die Schusslinie: „Als Herrensohn machte er auch die grausame Erfahrung, von den Bediensteten und Lehrlingen verspottet zu werden, die frech und auf Vergeltung aus waren und ihn oft zur Zielscheibe ihrer Sticheleien und Scherze machten“ (Broué 2003, S. 30).
All diese Erfahrungen werden nicht spurlos an dem Kind vorübergegangen sein! 

Auch Trotzkis Vater hatte offensichtlich eine strenge Seite. Sein Sohn "ertrug es nicht", wie der Vater "seine Arbeiter disziplinierte" (Service 2012, S. 42).
Einen Kutscher, der etwas gestohlen hatte, ließ der Vater einst verfolgen, um Rache zu üben. Man fand ihn allerdings nicht, schreibt Service und hängt dem an: Alle hätten es gebilligt wenn der Vater "mehr getan hätte, als ihn den Behörden zu übergeben: Viele setzten ihre Eigentumsrechte durch, ohne Polizei oder Justiz in Anspruch zu nehmen. Auf dem Dorf herrschte das Faustrecht" (Service 2012, S. 44).  
Bezogen auf die Kinder sei dieser Vater "grob" gewesen (Service 2012, S. 37), Was genau sich hinter diesem Wort verbirgt, erschließt sich in der Quelle leider nicht. 

Seine Eltern waren offensichtlich viel beschäftigt und wenig auf die Kinder fokussiert. So berichtet Trotzki: „An Wintertagen blieben wir häufig allein im Haus, besonders während der Reisen des Vaters, wo dann die ganze Wirtschaft auf der Mutter lastete. Manchmal saß ich in der Dämmerung mit dem Schwesterchen eng aneinandergeschmiegt auf dem Sofa mit weit geöffneten Augen; wir hatten Angst, uns zu rühren. (…)  Am Abend blieben wir gewöhnlich im Esszimmer, bis wir einschliefen. Man kam und ging, holte und brachte Schlüssel, am Tische wurden Befehle erteilt, man traf Vorbereitungen für den morgigen Tag. Ich, die jüngere Schwester Olija und die ältere, Lisa, teils auch das Stubenmädchen führten in diesen Stunden ein von den Erwachsenen abhängiges und von ihnen unterdrücktes eigenes Leben“ (Trotzki 1990, S. 26).
Weiter führt er aus, wie sie als Kinder manchmal in Anwesenheit der Erwachsenen ins Lachen verfielen. Die müde Mutter habe dann gefragt, was los sei. Dem hängt er direkt an: „Zwei Lebenskreise, der obere und der untere, kreuzten sich für einen Augenblick. Die Erwachsenen betrachteten die Kinder, manchmal wohlwollend, häufiger gereizt“ (Trotzki 1990, S. 27).
Diese Formulierungen sind schon bemerkenswert. Eltern und Kinder scheinen irgendwie in sehr getrennten Sphären gelebt zu haben, obwohl sie sich im gleichen Gebäude/Raum aufhielten. Man „kreuzte“ sich halt nur einen „Augenblick“ und dabei „häufiger gereizt“. 

Diese Art der Schilderungen über seine Kindheit und sein Umfeld durchziehen seine gesamten Kindheitserinnerungen: Er schreibt stets sehr distanziert. Diese Distanziertheit fiel Trotzki auch selbst auf. So schreibt er einleitend: „Bei der ersten Skizzierung dieser Erinnerungen kam es mir wiederholt vor, als beschreibe ich nicht meine eigene Kindheit, sondern eine alte Reise durch ein fernes Land. Ich versuchte sogar, die Erzählung von mir in dritter Person zu führen“ (Trotzki 1990, S. 15). 

Trotzki beschreibt keine konkreten Erziehungserlebnisse mit seinen Eltern. So wissen wir z.B. nicht, wie sich diese verhielten, als sie „gereizt“ waren. Überdeutlich wird allerdings die Beziehungsdistanz zu Elternfiguren und Erwachsenen an sich. Emotionale Vernachlässigung deutet sich hier klar an. „Farblos“, „ohne Liebkosungen“ sei seine Kindheit gewesen, so begann er wie oben zitiert seine Erinnerungen. Auch dies passt hier ins Bild. 

An einer Stelle wird er dann doch etwas deutlicher, obgleich er auch hier keine Details bzgl. des Verhaltens der Eltern Preis gibt: „Als die Kinder noch klein waren, behandelte sie der Vater nachsichtiger und gleichmäßiger. Die Mutter war oft gereizt, manchmal ohne Grund, sie ließ an den Kindern einfach ihre Müdigkeit oder schlechte Laune über wirtschaftliche Misserfolge aus. In jener Zeit war es ratsamer, den Vater um etwas anzugehen. Mit den Jahren wurde der Vater strenger. Die Gründe lagen in den Schwierigkeiten des Lebens, den Sorgen, die mit dem Wachsen des Geschäfts zunahmen, besonders unter den Verhältnissen der Agrarkrise der achtziger Jahre, um den Enttäuschungen durch die Kinder“ (Trotzki 1990, S. 30).
Die Mutter ließ Frust an den Kindern aus und der Vater wurde strenger, je älter die Kinder wurden. Wir dürfen vermuten (der Zeit und Sitte entsprechend), dass hier evtl. auch Körperstrafen gemeint sind. Die Nachworte "Enttäuschungen durch die Kinder" sind wiederum bemerkenswert. Trotzki scheint als Kind Verhaltensweisen der Eltern auf sich bezogen zu haben, nach dem Motto: weil sie von uns Kindern enttäuscht waren, wurden wir schlecht behandelt. Dies wäre ein ganz klassische Reaktion von Kindern auf destruktives Verhalten von Elternteilen: die Schuld für das elterliche Verhalten nimmt in der Fantasie des Kind auf sich. 

Von den acht in dieser Ehe geborenen Kindern blieben vier am Leben. Ich war das fünfte in der Geburtenreihe. Vier starben in frühen Jahren, an Diphterie, an Scharlach, sie starben fast unmerklich, wie die am Leben Gebliebenen unmerklich lebten. Das Land, das Vieh, das Geflügel, die Mühle erforderten restlos die gesamte Aufmerksamkeit. Die Jahreszeiten wechselten sich ab, und die Wellen der landwirtschaftlichen Arbeit gingen über die Familienbeziehungen hinweg. In der Familie gab es keine Zärtlichkeiten, besonders nicht in den weiter zurückliegenden Jahren“ (Trotzki 1990, S. 29).
Die Kindersterblichkeitsrate in dieser Familie lag bei 50% und viel Aufsehen um diese Todesfälle scheint es nicht gegeben zu haben. Wie viele dieser vier Geschwister Trotzki hat sterben sehen bzw. ob einzelne Geschwister vor seiner Geburt starben wird nicht deutlich. Der Tod von Geschwisterteilen ist eine schwere Belastung für ein Kind, das in diesem Fall ganz offensichtlich damit alleine gelassen wurde, denn „die am Leben Gebliebenen“ lebten „unmerklich“. Ergänzend wir die ganze Trostlosigkeit dieser Kindheit in dem gesamten Zitat deutlich. 

Die fehlenden familiären Bindungen wurden bereits erwähnt. Dazu passt auch, dass Trotzki zur Einschulung zu einer Tante in einem anderen Ort gebracht wurde und somit für einige Monate von seiner Familie getrennt lebte. „Ich wohnte bei der guten Tante Rachil, ohne sie zu bemerken. Im gleichen Hof, im Hauptgebäude, herrschte Onkel Abram. Gegen seine Neffen und Nichten verhielt er sich völlig gleichgültig“ (Trotzki 1990, S. 45). Die gewohnte Trostlosigkeit scheint sich bei Onkel und Tante fortgesetzt zu haben. In den Schulferien lebte er dann Zuhause. Der kurze Aufenthalt in dieser jüdischen Schule brachte ihm schulisch allerdings nicht viel, weil er kein jüdisch sprach, insofern fand er auch keine Freunde. 

1888 gab es erneut eine große Veränderung im Leben des nun neunjährigen Jungen; er wurde nach Odessa in die Familie des Neffen der Mutter geschickt, um dort zur Schule zu gehen (Trotzki 1990, S. 48). Über 300 Kilometer entfernt lag Odessa von seinem Heimatdorf, für damalige Verhältnisse kam dies für den Jungen "einer Reise über einen unbekannten Ozean gleich" (Service 2012, S. 47).
Im Esszimmer wird mir eine Ecke hinter einem Vorhang zugewiesen. Hier verbrachte ich die ersten vier Jahre meines Schullebens“ (Trotzki 1990, S. 50). Hier wurde dem Jungen erstmals das Stadt-/Landgefälle bewusst. Er merkte, dass es in Odessa kultivierter und anders zuging als in seinem Dorf.
Im vorgenannten Zitat spricht er von den ersten vier Jahren Abwesenheit. An einer anderen Stelle schreibt er allerdings zusammenfassend: „Im Dorfe verbrachte ich ohne Unterbrechung die ersten neun Jahre meines Lebens. Während der folgenden sieben Jahre kam ich alljährlich im Sommer, manchmal auch zu Weihnachten oder zu Ostern hin“ (Trotzki 1990, S. 79). Insofern war er mindestens sieben Jahre von seiner Familie getrennt. 

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass dieser Junge die ersten Lebensjahre in einem engen, emotional kargen Rahmen groß wurde, ohne enge Bindung an seine Eltern. Danach wurde er für seine schulische Ausbildung weggeschickt und wuchs im Prinzip (bis auf ca. jährliche Heimbesuche) ohne seine Herkunftsfamilie auf. Der Junge war sehr intelligent und wollte offensichtlich mehr in seinem Leben sehen und erreichen, als ihm das Dorf bot. Wir können uns allerdings vorstellen, dass auf diesem Wege das emotionale Leben und die entsprechende Entwicklung des Kindes weitgehend auf der Strecke blieb, mit Folgen auch für den später Erwachsenen.
Mehrfache Zeugenschaft von Gewalt ist zudem belegt. Der Tod von vier Geschwistern ist ergänzend eine schwere Belastung. Gewaltvolles Erziehungsverhalten durch Elternfiguren ist nicht belegt, aber auch nicht ausgeschlossen bzw. deutet sich leicht an, wie im Textverlauf gezeigt. 


Quellen:

Broué, P. (2003). Trotzki. Eine politische Biographie. Band 1. ISP Verlag, Köln. 

Service, R. (2012). Trotzki. Eine Biographie. Suhrkamp Verlag, Berlin. 

Trotzki, L. (1990). Mein Leben. Versuch einer Autobiographie. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main.


Freitag, 23. September 2022

Kindheit von Ruhollah Khomeini

Nirumand & Daddjou (1987, S. 24) und Moin (2009, S. 2) schreiben, dass Ruhollah Khomeini im Jahr 1902 geboren wurde. Riyahi (1986, S. 10) schreibt ebenfalls, dass Khomeini am 24.11.1902 geboren wurde, hängt aber in Klammern an, dass andere Quellen als Geburtsjahr 1900 angeben. Auch Thoß & Richter (1991, S. 33) beziffern das Geburtsjahr je nach Quelle zwischen 1900 und 1902. 

Das Geburtsjahr ist für diesen Beitrag insofern von Bedeutung, da Khomeinis Vater (ein Geistlicher und eine Führungsperson in seinem Ort) im Alter von ca. 47 Jahren umgebracht wurde (wobei es verschiedene Versionen gibt, wodurch er starb). Riyahi (1986, S. 10) schreibt in Orientierung an das Geburtsjahr 1902, dass Ruhollah zum Zeitpunkt dieser Tragödie fünf Monate alt war. Nirumand & Daddjou (1987, S. 24) und Amirpur (2021, S. 20) schreiben, dass er zu diesem Zeitpunkt sechs Monate alt war. Thoß & Richter (1991, S. 35) legen den Zeitraum des Säuglingsalters von Ruhollah für dieses Ereignis zwischen drei und neun Monaten fest.
Sollte Ruhollah allerdings im Jahr 1900 geboren worden sein, dann wäre er am Tag des Todes seines Vaters bereits ein Kleinkind gewesen und hätte folglich viel bewusster und direkter die Tragödie erlebt, was eine ganz andere (wohl auch schwerere) Belastung für das Kind bedeuten würde. 

Ab dem siebten Lebensjahr besuchte Ruhollah die örtliche Koranschule („maktab“). „Regulations in the maktab were very harsh und punishment for mispronouncing a Qor`anic word was by today`s standards torture. The suffering of children who attended them was legendary. One oft he nursery rhymes of those days was: `Wednesday I think. Thursday I enjoy. Friday I play. Oh unhappy Saturday: my legs are bleeding from the strokes of cherry-tree branches`” (Moin 2009, S. 14). Der Biograf geht offensichtlich davon aus, dass auch Ruhollah dieser Belastung in den Schulen nicht entging. 

Amirpur (2021, S. 28) erwähnt, dass Ruhollah als Kind Zeuge von einer "gesetzlosen Atmosphäre" und Ungerechtigkeiten gegen die Bevölkerung war. So musste er u.a. einmal mitansehen, wie ein Händler von Leuten der Regierung mit einem Hammer misshandelt wurde. Was mit dem Mann danach passiert ist, blieb unklar. 

Die Familie lebte nach Nirumand & Daddjou (1987, S. 26) in bescheidenen Verhältnissen und hatte insgesamt sechs Kinder zu versorgen, von denen Ruhollah das jüngste Kind war. Moin (2009, S. 4) und Amirpu (2021, S. 21) schreiben dagegen, dass die Familie wohlhabend war. 

Dass es bzgl. biografischer Details je nach Quelle Widersprüche gibt, durchzieht meine Recherchen über Khomeini. Auch bzgl. der Lebenssituation nach dem Tod des Vaters gibt es unterschiedliche Versionen.

Über seine Mutter erfährt man nicht viel in den verwendeten Quellen. Sie wird als „energische Mutter“ beschrieben (Riyahi 1986, S. 10), was auch immer dies bedeuten mag. Nach dem Tod des Vaters hätten die Mutter und eine gottesfürchtige Tante die Erziehung des Jungen übernommen (Riyahi 1986, S. 10),). Die Mutter sei eine „sehr lebendige, fröhlich gestimmte und gesellige Frau“ gewesen, blieb ihrem Sohn aber verwehrt, „er wuchs als Waisenkind auf“ (Nirumand & Daddjou 1987, S. 26).

Nirumand & Daddjou bieten folgende Version der Zeit nach dem Tod des Vaters:
„(…) Ruhollahs Geburt wurde von der abergläubischen Bevölkerung Chomeins mit dem Tod des Vaters in Zusammenhang gebracht und als schlechtes Omen aufgefasst. Es sei ein Unglückskind, so raunten die Bewohner der Stadt, es werde Unglück über die Stadt bringen. Die Mutter geriet durch solche Gerüchte in Panik, versteckte das Kind. Eine Tante gewährte ihm Zuflucht. Bei ihr blieb er bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr (Nirumand & Daddjou 1987, S. 24f).
Die Tante, die Schwester seines Vaters (…) war ziemlich wohlhabend. Ihr Mann, der schon in fortgeschrittenem Alter war, kümmerte sich kaum um den ungewollten Adoptivsohn. So war die Tante die einzige Person, bei der Ruhollah sein kindliches Verlangen nach Wärme und Geborgenheit befriedigen konnte. Dennoch wuchs der Junge in der Einsamkeit auf“ (Nirumand & Daddjou 1987, S. 26). 

Moin (2009, S. 13) schreibt dagegen, dass Ruhollah nach dem Tod des Vaters zusammen mit Mutter, seiner Amme und seiner Tante aufwuchs. Amirpu (2021, S. 21) ergänzt, dass auch noch Wachen, Bedienstete und die Zweitfrau von Ruhollahs Vater Teil des Haushalts waren. Eine Zweitfrau mag damals nicht unüblich in dieser Region gewesen sein, belegt aber andererseits auch die stark patriarchalen Strukturen, in denen Ruhollah aufwuchs. 

Moin und Amirpu folgend war zumindest die Umgebung des Jungen mit Personen und Leben gefüllt. Von Einsamkeit des Jungen berichten sie nicht. 

Nirumand & Daddjou führen dagegen aus, dass die triste Umgebung, die Einsamkeit und der Tod des Vaters Ruhollah zu „einem melancholischen, einsamen und mystisch veranlagten Menschen“ gemacht hätten, „Freunde hatte er keine. Nach der Schule ging er geradewegs nach Hause, verkroch sich in sein Zimmer, wanderte allein durch die Wüste oder setzte sich im Schatten eines Baumes nieder, las den Koran oder die Gedichte von Hafiz, dem großen persischen Dichter, der vielen iranischen Mystikern als Vorbild dient. (…) Selten konnte man seinen strengen Gesichtszügen ein Lächeln entlocken. Er sprach von sich aus kaum jemanden an und begnügte sich, wenn man ihm Fragen stellte, mit knappen Antworten (…). Dieses Verhalten schuf zwischen ihm und seinen Mitmenschen eine Distanz, die niemand, nicht einmal seine Pflegeeltern, zu überwinden vermochten. Er wurde als Sonderling angesehen, geachtet, bewundert, ja, obwohl er noch so jung war, manchmal auch gefürchtet“ (Nirumand & Daddjou 1987, S. 27),
Zu seinen Mitschülern habe er kaum Kontakt gehabt. „Nur einem einzigen öffnete er sein Herz und seine Seele ohne Einschränkung: seinem Schöpfer, dem er grenzenlose Liebe entgegenbrachte. All die Zuneigung, die man gewöhnlich in diesem Alter den Eltern, Geschwistern, Freunden und einer Jugendliebe entgegenbringt, richtete sich bei ihm einzig auf Gott, dem er sich voll hinzugeben bereit war. Als seine Tante und kurz darauf die Mutter starben – er hatte gerade das siebzehnte Lebensjahr erreicht -, da wusste er, dass er in Chomein nichts mehr zu suchen hatte“ (Nirumand & Daddjou 1987, S. 28). 

Moin (2009, S. 13) schreibt dagegen, dass Ruhollah sehr wohl Freunde hatte, mit denen er draußen spielte.
Eine weitere Quelle nennt zudem als Alter von Ruhollah zum Zeitpunkt des Todes von Tante und Mutter fünfzehn (Riyahi (1986, S. 11). Moin (2009, S. 18) und Amirpur (2021, S. 45) geben als Alter sechszehn Jahre an. Thoß & Richter (1991, S. 51) geben gleich den Zeitraum zwischen dem 15. und 17. Lebensjahr an. Laut Moin (2009, S. 18) war die Ursache des Todes von Mutter und Tante eine Cholera-Epidemie.

Ruhollah zog nach dem Tod von Mutter und Tante als ca. Siebzehnjähriger alleine in eine Stadt und schlug - der Tradition der religiös geprägten Familienlinie getreu - die Laufbahn eines Geistlichen ein.

Thoß & Richter (1991, S. 37) mahnen generell zur Vorsicht, wenn es um Khomeini frühen Jahre und Herkunft geht. Widersprüche in den biografischen Details würden auf die „mythische Herkunft“ des späteren Imam Khomeini hinweisen. Sie breiten verschiedene Versionen aus, die allerdings ganz ähnliche Elemente wie oben gezeigt beinhalten. Insbesondere die „frühe Verwaisung“ würde an den Propheten Mohammed erinnern (Thoß & Richter 199, S. 40), schreiben sie. Allerdings führen sie keinerlei Belege dafür an, dass der Tod von Vater, Mutter und Tante nicht stattgefunden hätte bzw. zweifeln dies auch gar nicht an. 

Mit den Differenzen in den Details muss man hier wohl einfach leben! Fakt bleibt nach allen Quellen, dass der Vater von Khomeini ermordet wurde, als sein Sohn noch sehr klein war und dass Mutter und Tante starben, als Khomeini Jugendlicher war. Diese drei Todesfälle sind schwere Belastungen für einen jungen Menschen und werden ganz sicher Folgen gehabt haben. 

Laut Amipur (2021, S. 20f.) nahm die Mutter den Mord an ihren Mann damals nicht einfach hin, sondern reiste mit ihren drei Söhnen nach Tehran. Dort habe sie erwirkt, dass der Mörder ihres Mannes hingerichtet wurde. Nach zwei Jahren Kampf für Gerechtigkeit sei sie dann mit den Söhnen wieder in den Heimatort zurückgekehrt. Wir erinnern uns, dass Ruhollah zum Zeitpunkt des Todes seines Vaters noch ein Säugling war. Die folgenden zwei Jahre seines jungen Kleinkindlebens verbrachte er an der Seite einer Mutter, die für die Bestrafung des Mörders des Vaters kämpfte. Wie mag diese Zeit das Kleinkind geprägt haben?

Amipur (2021, S. 28f.) meint, dass Ruhollah nach dem Tod des Vaters in einer etwas trostlosen Atmosphäre von seiner Mutter, einer Amme und seiner Tante großgezogen wurde. Vor allem die Tante sei eine sehr starke und dominante Persönlichkeit gewesen, die in der Familie großen Einfluss ausübte. Auch im Ort strahlte sie Charisma und Macht aus. Das entsprechende Kapitel hat der Biograf Amipur mit „Unter den Fittichen starker Frauen“ betitelt. Doch wie passt dieses Bild unabhängiger, starker Frauen mit dem späteren Agieren des Religionsführers zusammen? Seine Frauenfeindlichkeit (oder sein Frauenhass) ist ja legendär und gefürchtet.
Wie diese Frauen den Jungen und die anderen Kinder behandelten, scheint nicht belegt zu sein. Insofern muss ich diesen Text mit einigen Daten unterfüttern:
Bis heute sind Kinder im Iran in vielen Lebensbereichen gesetzlich nicht vor Körperstrafen geschützt: “Prohibition is still to be achieved in the home, alternative care settings, some day care, schools and as a sentence for crime” (End Violence Against Children & End Corporal Punishment 2021).

Eine Review and Metaanalyse (Mohammadi et al. 2014). zeigt außerdem ein hohes Ausmaß von Gewalt gegen und Vernachlässigung von Kindern in dem Land auf. Körperliche Misshandlungen erleben ca. 44% und emotionale Misshandlungen ca. 65% aller Kinder. Ca. 41 % der Kinder wurden vernachlässigt. 

Speziell bzgl. der körperlichen Gewalt geht es wohlgemerkt um Misshandlungen, das Ausmaß an körperlicher Gewalt an sich dürfte im Iran (wie in vielen Teilen des Mittleren Ostens) entsprechend deutlich höher sein. Die analysierten Studien wurden außerdem zwischen 2004 und 2013 erstellt. Die Ergebnisse beziehen sich also auf jüngere Geburtsjahrgänge. Ruhollah Khomeini wurde allerdings ca. 1902 geboren, einer Zeit, in der das Ausmaß an Gewalt gegen Kinder weltweit deutlich höher war. Rein statistisch und historisch betrachtet wurde Ruhollah Khomeini mit hoher Wahrscheinlichkeit sowohl in der Familie (in seinem Fall durch Frauen) als auch in der Schule geschlagen, sehr wahrscheinlich sogar misshandelt. Auch Vernachlässigung ist der Metaanalyse nach nicht unwahrscheinlich, zumal das Kind ja auch noch vaterlos und im Kreise von fünf weiteren Geschwistern aufwuchs. 

Traumatische Erfahrungen (vor allem der Tod von Elternfiguren) in der Kindheit von Ruhollah Khomeini sind belegt und weitere Belastungen deuten sich wie gezeigt klar an. 


Quellen.

Amirpur, K. (2021). Khomeini. Der Revolutionär des Islams. Eine Biographie. C. H. Beck, München. 

End Violence Against Children & End Corporal Punishment (2021, April). Corporal punishment of children in Iran

Mohammadi, M. R., Zarafshan, H. & Khaleghi, A. (2014). Child Abuse in Iran: a systematic review and meta-analysis. Iranian Journal of Psychiatry, 9(3), S. 118-124.

Moin, B. (2009). Khomeini. Life of the Ayatollah. I. B. Tauris, New York.

Nirumand, B. & Daddjou, K. (1987). Mit Gott für die Macht. Eine politische Biographie des Ayatollah Chomeini. Rowohlt, Reinbek. 

Riyahi, F. (1986). Ayatollah Khomeini. Lebensbilder, Frankfurt/M – Berlin. 

Thoß, G. & Richter, F.-H. (1991). Ayatollah Khomeini. Zur Biographie und Hagiographie eines islamischen Revolutionsführers. Wurf Verlag, Münster. 

Mittwoch, 7. September 2022

Kindheit von fünf jugendlichen Rechtsextremisten

Erneut habe ich eine Arbeit gefunden, innerhalb der die Kindheitsbiografie von Rechtsextremisten besprochen wird: 

Hardtmann, G. (2007). 16, männlich, rechtsradikal: Rechtsextremismus - seine gesellschaftlichen und psychologischen Wurzeln. Patmos Verlag, Düsseldorf. 

Die Professorin und Psychoanalytikerin Gertrud Hardtmann gibt ihre sozialpädagogische Arbeit mit rechten Jugendlichen aus Berlin wieder. Die Gespräche mit den Jugendlichen waren unstrukturiert und spontan. Trotzdem (oder vielleicht auch gerade deswegen) konnte sie einiges über die Kindheitshintergründe herausfinden. 

An eine Stelle im Buch formuliert sie:
Die Wuzeln für ihre Radikalisierung liegen bei jugendlichen Rechtsextremisten in der frühen Kindheit“ (S. 90). 

Die Vaterlosigkeit ist eine besondere Auffälligkeit bei den untersuchten Jugendlichen, was sie wie folgt zusammenfasst: „Den von mit beobachteten Jugendlichen fehlten väterliche Angebote zur Information, Bildung und Weiterbildung. Die aus der brüchigen männlichen Identifikation entstandene Leere wurde mit rechtsextremistischer Ideologie gefüllt. Die damit unvermeidliche Frustration provozierte Gewalt. Nach außen demonstrierten die Jugendlichen Macht anstelle tatsächlicher innerer Ohnmacht. Die Unterwerfung unter einen Führer und die Abhängigkeit von einer Gruppe sollten die fehlende verinnerlichte Repräsentanz eines starken Vaters ersetzen. Dies gelang nicht und führte die Jugendlichen immer tiefer in die regressive Sackgasse von Abhängigkeit und Fremdbestimmung.“ (S. 93). 

In ihrem Buch hat sie vier Fällen ein eigenes Kapitel gewidmet: Peter, Detlef, Michael und Marc. Nach diesen Fallbeispielen geht sie im Text aber auch noch auf den Fall „Kurt“ ein. Insofern gehe ich hier von fünf Fallbeispielen aus. 

Der Fall „Peter“ (S. 67-69, 95) :

Peter wuchs in einem autoritären Elternhaus auf. Die Eltern waren sehr links eingestellt und der Junge fügte sich lange Jahre gehorsam ihren Einstellungen und Erwartungen. „Peter lebte seinen spätpubertären Protest gegen die autoritären Eltern provozierend aus und radikalisierte sich in der exakt entgegengesetzten politischen Richtung. Er fand in der Gruppe die Unterstützung und Anerkennung, die ihm immer gefehlt hatten“ (S. 95). „Seinen Eltern äußerlich gesehen so unähnlich, glich er ihnen doch in seiner autoritären Struktur und war nicht bereit, sich selbst kritisch zu hinterfragen“ (S. 68). 

Der Fall „Detlef“ (S. 69-71):

Der Verlust des Vaters durch die Scheidung der Eltern, als er acht Jahre alt war, hatte Detlef traumatisiert. Schlimm für ihn war nicht die Trennung als solche, sondern der Krieg, den die Mutter in der Folgezeit gegen den Vater führte. Sie führte ein strenges Regiment zu Hause, hatte das alleinige Sorgerecht und diktierte nicht nur die Besuchsregelung, sondern auch die Bewertung dessen, was der Vater dem Jungen bedeutet hatte und ihm in Zukunft hätte geben können“ (S. 69).
Männer brauchen wir nicht“, entgegnete die Mutter ihrem Sohn, als er von früheren guten Erfahrungen mit seinem Vater berichten wollte (S. 69). „Detlef war dem Kampf mit der sehr aggressiven, Männer hassenden Mutter und dem Verlust des Vaters im Alter von acht Jahren nicht gewachsen“ (S. 70f.) Detlefs „Lösung“ war ein innerer Rückzug und eine Fantasiewelt, in der die Welt von Männern dominiert wird und Frauen keine Rolle spielen. 
Seine Mutter war zudem ausländerfeindlich eingestellt, was ihr Sohn offensichtlich übernahm. 

Der Fall „Michael“ (S. 72-76):

Michael hatte von Beginn an nie eine gute Beziehung zu seinem Vater erlebt. Der Junge interessierte sich auch nicht für Basteleien und Heimwerkern, so wie sein Vater. „Michael reagierte auf seinen Vater mit aggressiver Ablehnung“ (S. 72). Der Mutter nach habe sich der Vater vollkommen aus der Erziehung zurückgezogen. Michael fing früh an zu provozieren: Schuleschwänzen, Diebstähle, Überfälle und Körperverletzung. Der Großvater übernahm ein Stück weit die Vaterrolle, „vergiftete“ seinen Enkel aber auch „mit NS-Ideologie, Fremdenhass und faszinierenden Heldengeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg“ (S. 72). 

Der Fall „Marc“ (S. 76-77):

Marc hatte früh im Alter von drei Jahren den Vater durch die Scheidung der Eltern verloren. Der Vater kümmerte sich auch in der Folgezeit nicht um seinen Sohn. Die allein erziehende Mutter tat ihr Bestes, verstarb aber plötzlich an einer unheilbaren Krankheit, als der Junge vierzehn Jahre alt war. Äußerlich versorgt mit allem was er brauchte, fand Marc für seine Traurigkeit keinen Ansprechpartner. Er fühlte sich verlassen und allein, hatte auch Angst vor Einsamkeit und suchte in der Gruppe nicht nur Anschluss, sondern auch die Möglichkeit, seine Niedergeschlagenheit erfolgreich zu verleugnen und die Verlassenheitsgefühle nicht zu spüren. Er hätte tatsächlich auch in einer anderen Gruppe eine Heimat finden können, sobald diese ihm nur Anschluss und Halt geboten hätte“ (S. 76f.).  Marc war zudem depressiv (S. 95). 

Der Fall „Kurt“ (S. 96):

Kurt wurde von der Autorin wie bereits geschildert kein eigenes Kapitel gewidmet, was verwundert, denn er wird innerhalb eines Rückblicks auf die oben besprochen Fälle eingereiht und erwähnt. Hardtmann fasst seine Kindheit wie folgt zusammen. „Kurts Vater trank, war alkoholabhängig und hatte sich nie um die Familie gekümmert, oder wenn, dann nur in negativer Weise, randalierend. Die Mutter war nicht in der Lage, dem Vater Grenzen zu setzen. Unterstützung auf dem schwierigen Weg zum Erwachsenwerden war von ihm nicht zu erwarten. Er war auch kein Vorbild, an dem man sich orientieren konnte (…)“ (S. 96). 

Anmerkung

Bei allen fünf Fällen werden diverse Problemlagen in der Kindheit deutlich. Die Autorin fokussiert sehr auf die Väter. Auf Grund der Konfliktlagen mit diesen ist dies auch nachvollziehbar und sinnvoll. Mir fehlt trotzdem der Blick auch auf die Mütter. Da die Autorin keine strukturierten Interviews geführt hat, vermute ich an sich weitere Belastungslagen und evtl. auch Gewalterfahrungen in der Kindheit, die durch das freie Erzählen und den sozialpädagogischen Kontext nicht ermittelt werden können.  


Mittwoch, 24. August 2022

Nachtrag zum Beitrag über Eva Braun: Wurde sie sexuell missbraucht?

Letzte Nacht drang bei mir plötzlich ein Gedanke ins Bewusstsein. Plötzlich tauchte bei mir die Frage auf, ob Eva Braun evtl. von ihrem Vater sexuell missbraucht wurde?

Normalerweise schlafe ich recht gut. Aber nach der Veröffentlichung meines gestrigen Beitrags über die Kindheit von Eva Braun setzte mein Gehirn Fragmente und Fragen zusammen. Im psychotherapeutischen Rahmen spricht man von „Übertragung“, wenn der Therapeut plötzlich Bilder im Kopf oder Gefühle entwickelt, die so vom Patienten gar nicht ausgesprochen, sondern unbewusst und „verdeckt“ angetragen wurden. Damit lässt sich dann therapeutisch arbeiten. Ich selbst bin nur durch das Lesen von Biografien in das Leben von Eva Braun eingetaucht, was natürlich etwas ganz anderes ist. Trotzdem hatte ich so etwas bei anderen von mir untersuchten Akteuren eigentlich noch nie, dass plötzlich solch drängende Fragen auf einen Schlag auftauchen…

Ich habe erst etwas gezögert, ob ich meine Gedanken dazu veröffentlichen soll. Das Ganze bleibt reine Spekulation! Ich möchte meine Gedankengänge trotzdem offenlegen (alleine schon, damit ich nicht wieder im Schlaf gestört werde!). 

Sexueller Missbrauch ist an sich eine Art „Tabu im Tabu“. Der ganze Bereich Kindesmisshandlung ist schambeladen und oftmals tabuisiert, gerade auch, wenn die Gewalt durch Familienmitglieder ausgeht. Nimmt diese Gewalt sexuelle Formen an, ist es für Betroffene erfahrungsgemäß doppelt schwierig, darüber zu berichten oder auch nur selbst darüber zu reflektieren. Das ist das Eine. 

Lambert hat berichtet, dass Eva das Lieblingskind ihrer Mutter war (Lambert 2014, S. 50). Trotzdem ließ sie Eva nach der Trennung von ihrem Mann und dem anfänglichen Aufenthalt auf dem Land bei ihren Großeltern zurück. Eva war zu der Zeit sieben Jahre alt. Warum ließ sie das Kind zurück? Dies ist absolut unverständlich. Als Sechszehnjährige wurde Eva erneut weggeschickt, diesmal auf ein klösterliches Internat. Der Plan war ursprüngliche, dass sie ganze zwei Jahre blieb. 

Die Ehekrise und Trennung der Eltern werden von den Biografinnen mit großen Fragezeichen unterlegt. Eine Scheidung war damals in Deutschland quasi unbekannt, schrieb Lambert. Schwierige Ehen gab es zu Hauf, trotzdem trennte man sich nicht, gerade auch, wenn man so christlich geprägt war wie die Brauns. Lambert spekuliert über eine mögliche Affäre des Ehemannes: „If an affair (…) had come to light Fanny would have found this hard to accept” (Lambert 2014, S. 58). 

Nach dem Krieg war zudem die Wirtschaftslage sehr angespannt. Eine Scheidung gerade im Jahr 1921 war nochmals eine doppelte Herausforderung und machte auch deswegen kaum Sinn. 

Evas Vater war ein kriegstraumatisierter Mann, der sich in sich selbst und vor seiner Familie zurückzog. Ein Kind will selbstverständlich einen glücklichen Vater und spürt dessen Not. Die Ehe der Eltern war zudem bald nach seiner Rückkehr aus dem Krieg in einer Dauerkrise. Vermutlich galt dies auch für die sexuelle Beziehung zwischen den Eheleuten.
Eine Nichte berichtete später, dass Evas Vater ein eigenes Schlaf-/Wohnzimmer bewohnte und auch dort aß, getrennt von der Familie (Lambert 2014, S. 57). 

Vor all diesen Hintergründen bildet sich bei mir ein mögliches Szenario heraus:
Könnte der Grund für die außergewöhnliche Trennung und Scheidung und das spätere Zurücklassen von der Lieblingstochter Eva (die dadurch nicht mehr auf ihren Vater traf) ihren Grund darin haben, dass Evas Mutter eine wie auch immer sich ausgestaltende sexuell übergriffige Beziehung des Vaters zu Eva wahrnahm oder dies befürchtete? Hat der Vater seine Tochter als „Trostpflaster“ missbraucht?

Die massive Suizidalität von Eva Braun und zugleich diese „kindlich“ wirkende Verspieltheit („Eingefroren sein“ in einer kindlichen Phase), die wir aus vielen Videos von ihr kennen, passen auch hier ins Bild. Bzgl. ihrer von mir im Blogbeitrag aufgezeigten Kindheitsbelastungen fehlt mir persönlich noch etwas mehr, was diese große Todessehnsucht erklären würde.   

Nun, vielleicht war es auch wirklich eine außereheliche Affäre, die all dies auslöste, so wie Lambert vermutet. Fest steht, dass wir die Wahrheit nicht mehr erfahren werden. 


Dienstag, 23. August 2022

Die Kindheit von Eva Braun

Ich gehe grundsätzlich davon aus, dass Paarbeziehungen häufig auf Grund ähnlicher oder sich verzahnender Kindheitserfahrungen zustande kommen. Mann/Frau „erkennt sich“. Sehr deutlich nachweisbar ist dies beispielsweise bei von häuslicher Gewalt geprägten Beziehungen: Täter (meist männlich) und Opfer (meist weiblich) verbindet oftmals eine leidvolle Kindheitsbiografie, die unterschiedlich ausagiert wird. 

Eva Braun ist eine historische Figur, von der ich erwartet habe, dass auch ihre Kindheit belastet und nicht von Liebe geprägt war. Nur so ist meiner Auffassung nach ihre starke Bindung an Adolf Hitler zu erklären. Jetzt fand ich endlich einmal die Zeit, dazu zu recherchieren. 

Eva Braun wurde am 06.02.1912 als zweite Tochter der Familie geboren. Später kam noch ein drittes Mädchen hinzu.
Ihr Vater Friedrich (ein Lehrer) hatte sich 1914 freiwillig für den Krieg gemeldet. Erst im Jahr 1919 kam er zu seiner Familie zurück. In diesen Jahren lebte Franziska Braun weitgehend alleine mit ihren drei Kindern. Nach der Rückkehr ihre Mannes durchlebte das Paar eine Ehekrise, die am 03.04.1921 mit der Scheidung endete. Allerdings kamen beide auch wieder zusammen. Ende des Jahres 1922 heirateten sie erneut. Die Biografin Heike Görtemaker spekuliert, dass der erneute Zusammenschluss finanzielle Gründe hatte, denn die Wirtschaftssituation war nach dem Krieg enorm schwierig (Görtemaker 2010, S. 39f.).
Dafür spricht wohl auch, dass die Ehe problematisch blieb: „Die Ehe der Brauns scheint (…) immer noch nicht glücklich gewesen zu sein. So bezeichnete Herta Ostermeier, die beste Freundin Eva Brauns, deren damalige Familienverhältnisse in einer späteren Erklärung als `nicht sehr erfreulich`. Eva Braun habe deshalb, teilte Ostermeier mit, `fast ihre ganze Jugend in meinem Elternhaus` verlebt und auch die Ferien `mit mir auf dem Gut meiner Verwandten` verbracht. Ihre Bindung an die Eltern der Schulfreundin hätten sich dabei derart eng gestaltet, dass sie diese ebenfalls mit `Vater und Mutter` angesprochen habe“ (Görtemaker 2010, S. 41).
Evas Mutter betonte dagegen rückblickend nach dem Krieg, dass ihre Kinder in einem intakten Elternhaus aufgewachsen wären, in dem es nicht einmal einen richtigen Streit gegeben hätte. „Diese Aussage ist angesichts der Tatsache einer rechtskräftigen Scheidung offensichtlich unwahr“ (Görtemaker 2010, S. 42). Dass Eva sich eine Ersatzfamilie suchte, spricht ergänzend Bände. 

Auch eine Nichte bestätigte später, dass sich die Eheleute Braun nicht verstanden und keine enge Ehe führten (Lambert 2014, S. 57f.). Eine Scheidung war zur damaligen Zeit eine höchst ungewöhnliche Sache, zumal die Familie auch noch extrem christlich geprägt war. Es bleibt unsere Fantasie überlassen, was alles zwischen den Eheleuten vorgefallen sein mag, dass es zu diesem Schritt kam (auch wenn er später wieder rückgängig gemacht wurde). Die Kinder standen dazwischen und haben sicher einiges miterlebt, was belastend war, Lambert (2014, S. 61) schreibt: „(…) at a time when separation were virtually unknown in Germany, proves that something went very wrong between husband and wife” 

Für Eva kam eine weitere, besondere Belastung hinzu. Ihre Mutter verließ nach der Trennung von ihrem Mann die gemeinsame Wohnung in München und zog mit ihren drei Kindern zu ihren Eltern aufs Land. Als dann später beschlossen wurde, dass sie wieder zurück nach München zog, ließ sie Eva einfach bei ihren Eltern. In deren Wohnort besuchte Eva mehrere Monate die dortige Volksschule. Lambert kommentiert: „Eva cannot have been happy there, not entirely happy living with her grandparents. Summer holidays in the country were one thing; being forced to leave her parents, her friends and her family routine at the age of seven was quite another” (Lambert 2014, S. 60). Warum ausgerechnet Eva zurückgelassen wurde und wie lange genau sie bei den Großeltern blieb, erschließt sich der Quelle nach nicht. 

Dies blieb aber nicht die einzige Trennung von der Familie und der vertrauten Umgebung. Als Eva sechszehn Jahre alt war, beschlossen ihre Eltern, sie auf eine Klosterschule (Internat) 120 Kilometer nordöstlich von München zu schicken. „Eva would be forced to leave home, leave her friends and her social life (…) to be incarcerated for two years with nuns. She raged and wept and sulked in her room but her parents were adamant. It´s likely that, behind the histrionics, she felt rejected“ (Lambert 2014, S. 67). Später erinnerte sich eine Nonne, dass Eva keine engen Freunde in dem Kloster hatte. In dem Kloster herrschte außerdem ein striktes Regime. Eva schaffte es aber, nach neun Monaten wieder nach Hause zu kommen. Offensichtlich hatte sie sich schulisch nicht besonders engagiert. 

Lambert (2014, S. 49f.) beschreibt, dass Friedrich nach dem Krieg launisch, unzugänglich und depressiv wurde. Ohne ihn war die Familie zuvor gut ausgekommen. Der Vater zog sich nun vom Familienleben immer mehr in einen eigenen Raum zurück. Was ansonsten an Destruktivität von dem Vater ausging, lässt sich wohl nicht mehr eindeutig ermitteln.
Lambert schließt Gewaltverhalten aus: "There`s no evidence that any of the three girls ever suffered abuse or emotional neglect, which is not to say that Eva must therefore have been happy” (Lambert 2014, S. 51). Wir wissen heute, dass die um 1900 Geborenen zu mindestens über 80% Körperstrafen in der Familie erlebt haben. Diese Gewalt muss natürlich nicht immer die Definition von Misshandlungen treffen. Ich möchte dies hier anhängen und habe meine Zweifel, ob Eva Braun wirklich keine Gewalt erlitten hat. Auch Evas Mutter gehört hier ergänzend in den Blick. 

Evas Vater wird vom Charakter und Verhalten außerdem folgendermaßen beschrieben: „(…) regid, and authoritarian, self-centred and humourless” (Lambert 2014, S. 58).  „Fritz Braun (…) remained a nineteenth-century patriarch who insisted on strict obedience and it seems that, like many disciplinarians, he seethed with inner furies. The rebellious Eva, in failing to be as docile as he required, infuriated him. (…) There was a good deal of confrontation but no suggestion that Fritz Braun beat any of his girls. Ilse Braun recalled later, `The three of us were brought up in a very Catholic atmosphere and had to obey without question. We could argue as much as we liked but in the end our father would always say, `As long as you sit at my table you`ll do what I want`“ (Lambert 2014, S. 51). 
Selbst wenn der Vater nicht handgreiflich wurde, was ich bzgl. seinem autoritären Charakter und den damaligen Sitten nach höchst unwahrscheinlich finde, so ist doch davon auszugehen, dass dieser Vater seinen Kindern häufig Angst einflößte. Außerdem verwundert, dass Lambert emotionale Vernachlässigung wie oben zitiert ausschließt. Zumindest der Vater vernachlässigte die Familie extrem! 

Man kann sich vorstellen, dass Eva Braun in der Beziehung zu Adolf Hitler einiges von dem wiederfand, was sie von Zuhause aus kannte: Die (väterliche) Kälte, das väterliche Trauma aus dem Krieg, ständige Abwesenheit, Humorlosigkeit und Gehorsamsforderungen. 

Laut Lloyd deMause war Adolf Hitler sein Leben lang suizidal. Die Berichte über den Vater von Eva Braun lassen den Schluss zu, dass dieser ebenfalls zu einer gewissen Lebensmüdigkeit neigte. Depressionen wurden wie oben zitiert beschrieben. Auch Eva Braun war stark suizidal. 
1932 versuchte sich Eva mit der Schusswaffe ihres Vaters das Leben zu nehmen, konnte aber gerettet werden. Viele HistorikerInnen betrachten diesen Suizidversuch als kalkulierten Akt, um Hitler - der die damals Zwanzigjährige häufig alleine ließ - für sich einzunehmen (Görtemaker 2010, S. 59-63). Nun, mit einer Waffe auf sich selbst zu schießen bleibt aber ein Akt, der das Risiko einer Lebensgefährdung einschließt. Ein zweiter Suizidversuch folgte 1935, diesmal durch eine Überdosis Schlaftabletten (Görtemaker 2010, S. 111). 

Auch während des Kriegsverlaufs scheint Eva Braun ein mögliches Ziel vor Augen gehabt zu haben: Den gemeinsamen Untergang mit Adolf Hitler. Hitler befürchtete Attentatsversuche gegen ihn und gab Anweisungen, was im Falle seines Todes zu tun sei. Goebbels notierte im Sommer 1944, dass Eva Braun für den Fall von Hitlers Tod gesagt hätte, dass ihr dann nur eines blieb "nämlich selbst auch den Tod zu suchen" (Görtemaker 2010, S. 256). "Eva Braun scheint ihr Leben frühzeitig und sehr bewusst auf Gedeih und Verderb mit demjenigen Hitlers verbunden zu haben. Schon mehrfach hatte sie ihm bewiesen, dass sie im Hinblick auf seine Person zum Äußersten bereit war. Er wiederum schätzte offenbar diese Art der Treuebezeugung (...). Insgesamt verdeutlicht die Episode, dass der gemeinsame Selbstmord neun Monate später kein Zufall war. Die Rollen für den letzten Akt waren seither festgelegt. Möglicherweise hatte es sogar eine gemeinsame Absprache gegeben" (Görtemaker 2010, S. 256).

Eine große Review und Meta-Analyse (n = 253.719; 37 international Studien, die meisten davon aus den USA) zeigte, dass die größten Effekte von belastenden Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences, ACEs) bzgl. Suizidversuchen zu finden sind. Menschen mit Mehrfachbelastungen (vier oder mehr ACEs) unternehmen dreißig mal so häufig einen Selbstmordversuch wie Menschen, die überhaupt keine belastenden Kindheitserfahrungen erlebt haben (Hughes et al. 2017). Bzgl. Hitler sind etliche ACEs nachweisbar, bzgl. Eva Braun weniger, aber auch hier deuten sich diverse Belastungen in Kindheit und Jugend an. Mann/Frau „erkennt sich“, schrieb ich einleitend. Gewiss traf dies auf diese dunkle Beziehung zu! Sehr wahrscheinlich galt dies auch für die "Meta-Beziehung" zwischen Führer und Volk, letzteres erkannte in Hitler die eigenen dunklen Väter...


siehe ergänzend auch: Nachtrag zum Beitrag über Eva Braun: Wurde sie sexuell missbraucht?


Quellen: 

Görtemaker, H. B. (2010). Eva Braun. Leben mit Hitler. C. H. Beck, München.

Hughes, K., Bellis, M.A., Hardcastle, K.A., Sethi, D., Butchart, A., Mikton, C., Jones, L. & Dunne, M. P. (2017). The effect of multiple adverse childhood experiences on health: a systematic review and meta-analysis. Lancet Public Health, Vol. 2, e356–66.

Lambert, A, (2014). The Lost Life of Eva Braun. St. Martins Press, New York. Kindle-eBook Version. 


Mittwoch, 17. August 2022

Neue Studie: Adverse Childhood Experiences von Linksextremisten und Rechtsextremisten

Erneut wurde eine Studie veröffentlicht, in der die destruktiven Kindheiten von Extremisten zum Vorschein kommen. Die Studie kam schon vor ca. vier Wochen raus und ich hatte sie nur fünf Stunden danach bereits entdeckt (und in meinem Twitteraccount kurz darauf hingewiesen). Dass ich sie erst jetzt im Blog bespreche, ist für mich ungewöhnlich. Normalerweise brennt es innerlich, wenn ich solche Studien finde und sie müssen sofort verarbeitet werden und raus. Nun, es ist dies die 36. Studie für meine „Sammlung“ und es scheint so zu sein, dass mich neue Studien nicht mehr sonderlich aktivieren bzw. überraschen. Für mich ist das Gesamtbild derart deutlich und das Wissen darum letztlich innerlich so klar wie das ABC, dass ich mir jetzt sogar Zeit lasse. Umfassende Reaktionen der Gesellschaft sind eh kaum so erwarten. So ist es halt. Trotzdem bleibe ich natürlich am Ball :-).

Hier nun der Hinweis auf die neue Studie: 

Logan, M. K., Windisch, S. & Simi, P. (2022). Adverse Childhood Experiences (ACE), Adolescent Misconduct, and Violent Extremism: A Comparison of Former Left-Wing and Right-Wing Extremists. Terrorism and Political Violence. https://doi.org/10.1080/09546553.2022.2098725

Verglichen wurden die belastenden Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences, ACEs)  von zehn ehemaligen Linksextremisten und zehn ehemaligen Rechtsextremisten aus den USA. Von den Linksextremisten waren vier (40%) während ihrer extremistischen Zeit in Gewalthandlungen verstrickt, bei den Rechtsextremisten waren es sechs (60%). 50 % der Linksextremisten und 70 % der Rechtsextremisten gehören bzgl. belastenden Kindheitserfahrungen zur Hochrisikogruppe (4 ≥ ACEs), was deutlich über dem Durchschnitt der US-Bevölkerung liegt. 

Die ACEs-Werte sind wie folgt verteilt:

(Daten jeweils links die Linkextremisten (LE) und rechts die Rechtsextremisten (RE) )

körperlich misshandelt: 30 % (LE) / 50 % (RE)

emotional misshandelt: 20 % (LE) / 50 % (RE)

sexuell misshandelt: 10 % (LE) / 20 % (RE)

emotional vernachlässigt: 60 % (LE) / 50 % (RE)

körperlich vernachlässigt: 20 % (LE) / 10 % (RE)

Verlust von Elternteilen: 70 % (LE) / 70 % (RE)

Eltern suchtkrank: 50 % (LE) / 70 % (RE)

Zeuge häuslicher Gewalt: 40 % (LE) / 60 % (RE)

elterliche psychische Erkrankung: 30 % (LE) / 40 % (RE)

elterliche Inhaftierung: 20 % (LE) / 20 % (RE)

Es fällt auf, dass die Rechtsextremisten in vielen Bereichen höher belastet sind, als die Linksextremisten. Nur bei der körperlichen und emotionalen Vernachlässigung sind die Linksextremisten höher belastet. 

Beim Antwortverhalten ist grundsätzlich zu bedenken, dass es hier um hoch sensible und schambesetzte Bereiche der frühen Sozialisation geht. Die erfragten Werte bilden also die Mindestbelastungen ab und liegen vermutlich noch höher. Diese „Lücke“ gilt für alle Studien, die sich mit belastenden Kindheitserfahrungen befassen. 

Hier noch ein Beispielauszug bzgl. eines Rechtsextremisten:

Some of my earliest memories are my dad being arrested and whatnot by the police for hitting my mom and knocking her teeth out. One of the ones that sticks out to me is my dad got mad at me and threw me off the roof. (…) When that kind of stuff happened, I´d just run away” (S. 10). 

An diesem (und anderen beispielhaften Auszügen) wird deutlich, dass Misshandlungen innerhalb der Familien nicht selten besonders massiv und schwer waren. 

Anhang Diagramm (von Sven Fuchs) über die ACEs der Extremisten im Vergleich:




Dienstag, 26. Juli 2022

Kindheit von Oskar und Emilie Schindler

Als ich begann, mich mit der Biografie und vor allem auch Kindheit von Oskar Schindler zu befassen, war ich absolut gespannt, ob ich eine ähnliche (Kindheits-)Sozialisation vorfinden würde, wie sie häufig bzgl. JudenretterInnen beschrieben wurde (siehe dazu meine Blogbeiträge hier und hier). Parallel dazu hatte ich ein „vorgefertigtes“ Bild auf Grund von Halbwissen von Schindler im Kopf: „Lebemann“, "einnehmend", "Spaß am Geld haben und verdienen", "enge Kontakte zu hohen Nazis und wichtigen Leuten" usw. In einer Biografie (Crowe 2005) erfuhr ich dann erstmals auch davon, dass Schindler eine Zeit lang als Spion für das NS-Reich tätig war und ihm diese Aufgabe offensichtlich auch lag. Später sollte er fast 1100 Juden und Jüdinnen das Leben retten (vielleicht auch noch mehr). Oskar Schindler, so scheint ist, ist auch eine widersprüchliche Person gewesen. 

Bzgl. seiner Kindheit fand ich leider nur wenige Informationen: 

Bis zur Wirtschaftskrise von 1929 lebte die Familie Schindler in einigem Wohlstand; Hans Schindler betrieb eine Fabrik für landwirtschaftliche Maschinen“ (Crowe 2005, S. 15). 

Sein Vater neigte zur Trinkerei und „notorischen Frauengeschichten“, so dass „das Leben der Schindlers keineswegs nur harmonisch gewesen ist“ (Crowe 2005, S. 15f.). Emilie, die spätere Frau von Oskar Schindler, mochte ihren Schwiegervater nicht sonderlich. „Sie machte ihn für Oskars schlechteste Angewohnheiten verantwortlich, insbesondere für sein exzessives Trinken und seine unentwegten Frauengeschichten. Der Vater sei ein `unverbesserlicher Alkoholiker` gewesen. Im trunkenem Zustand habe er seine Schwägerin vergewaltigt und geschwängert. Eine Tochter, die nach diesem Verbrechen geboren wurde, starb im Alter von vierzehn Jahren“ (Crowe 2005, S. 16; siehe auch Rosenberg 2006, S. 34).
Später kam es auch zum Zerwürfnis mit dem Vater.  Aber: „1941 versuchten einige Freunde eine Versöhnung zwischen Vater und Sohn zu erreichen. Sie wussten, wann Hans in einem Zwittauer Kaffeehaus zu finden war und nahmen Schindler mit dorthin. Oskar trat zu seinem Vater und streckte diesem die Hand entgegen. Hans nahm die Hand seines Sohnes. Von da an besuchte Oskar den Vater, sooft er in Zwittau war; und er schickte bis zu seinem Tod im Jahr 1945 einen monatlichen Wechsel über 1000 Reichsmark" (Crowe 2005, S. 23f.)

Oskar hat seine Mutter sehr geliebt (Crowe 2005, S. 23). Das ist leider die einzige Information, die ich hier bzgl. der Mutter fand und die von Relevanz war.
An anderer Stelle wird noch beschrieben, dass Oskar Schindler Kinder sehr liebte (Crowe 2005, S. 236). Auch diese Information finde ich wichtig, wenn es um eigene Kindheitserfahrungen geht. 

Oskar Schindler selbst hat seine Gründe für die Rettung der Juden und Jüdinnen sehr einfach beschrieben: „Seine Erklärung ist schlicht und einfach: Er hat Juden geholfen, weil das, was die Deutschen taten, Unrecht war.“ (S. 241) Er habe versucht zu tun, was er tun musste.

Solche Erklärungen von JudenretterInnen höre ich nicht zum ersten Mal. Der Drang, etwas zu tun, kommt beinahe wie etwas Selbstverständliches, wie eine „natürliche“ Reaktion im Angesichts von Leid und Hilfsbedürftigkeit.  „Wir waren keine Helden“ hat Eva Fogelman (1998) ihre Arbeit und Forschung über JudenretterInnen betitelt. Im Titel steckt es bereits drin: Man tat einfach, was getan werden musste. Im historischen Rückblick erscheinen diese Taten heldenhaft, weil sie Ausnahmetaten waren (und auch eigene Gefährdung bedeuteten) und weil ganz im Gegenteil gerade viele Deutsche am Leid der Juden mitwirkten. 

Diese „natürliche“ Reaktion hat meiner Auffassung nach vor allem mit Empathie und einem Zugang zur eigenen Gefühlswelt zu tun (was wiederum viel mit der Kindheitssozialisation zu tun hat). Man muss dann einfach helfen, weil man einfach nicht anders kann. Dazu kommen aber auch immer die Möglichkeiten und Mittel zur Rettung. Durch seine Position war Schindler in der Lage zu helfen, wie er es tat. 

Wäre Oskar Schindler ein brutaler Nazi gewesen und ich hätte die oben zitierten spärlichen Infos über seine Kindheit gefunden, ich hätte natürlich sogleich spekuliert, dass sein Vater Zuhause für Traumatisierungen der Familie gesorgt haben wird. Ganz gewiss ist Oskar schwer belastet worden, denn ein Vater, der alkoholsüchtig ist, ist IMMER eine Belastung für die Familie. Allerdings zeigen auch die beiden oben verlinkten Arbeiten über JudenretterInnen, dass diese zwar häufig eine wenig destruktive Kindheit hatten (vor allem im Vergleich zur damaligen Allgemeinbevölkerung), aber es gab durchaus auch unter den Rettern Leute, die als Kind traumatisiert wurden. 

Ich habe nie gesagt, dass eine schlechte Kindheit sehr positives Verhalten und Empathie ausschließt! Ich sage dagegen immer, dass Menschen, die sehr destruktiv agieren, keine liebevolle, unbelastete Kindheit hatten und dass dies das Fundament für ihr Handeln ist. Diesen Unterschied möchte ich hier hervorheben. 

Bzgl. Schindler mag man ihm außerdem seine Mutterliebe glauben, die ein Ausgleich zum Vater gewesen sein könnte. Positive Erfahrungen bieten Kindern Ausgleich und die Chance, auch im Angesicht von schweren Belastungen ein weitgehend gesundes Gefühlsleben zu behalten und zu entwickeln. 

Die für mich überraschendste Entdeckung bei meinen Recherchen war, dass Schindlers Ehefrau Emilie fast exakt eine Kindheit erlebt hat, wie sie Eva Fogelman bzgl. vieler JudenretterInnen beschrieben hat: „ein behütetes, liebevolles Elternhaus; ein altruistischer Elternteil oder ein liebes Kindermädchen, das als Vorbild für altruistisches Verhalten diente; Toleranz gegenüber Menschen, die anders sind; eine schwere Krankheit während der Kindheit oder der Verlust einer nahestehenden Person, wodurch die eigene Widerstandskraft auf die Probe gestellt und besondere Hilfe nötig wurde; eine verständnisvolle und fürsorgliche Erziehung zu Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und Disziplin (…)“ (Fogelman 1998, S. 247f.). 

Emilie wurde 1907 geboren. Die Familie lebte auf einem Gutshof (wohl in einigem Wohlstand). Die Großeltern hatten ein eigenes Haus auf dem Hofgelände und waren dadurch auch für die Kinder erreichbar und da. „Meistens hielt ich mich bei meiner Großmutter auf, die sich sehr um mich kümmerte. Trotz meines Alters sehe ich sie noch vor mir, als ob es gestern gewesen war“ (Rosenberg 2006, S. 25) Sie glaubt, dass sie der Liebling dieser Großmutter gewesen ist.

Ihre Mutter sei sehr geduldig und verständnisvoll gewesen. Außerdem habe sie einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn besessen und sie habe ausgegrenzten Menschen geholfen (Rosenberg 2006, S. 26-28). In der Familie sie es immer eine hochgehaltene Tradition gewesen, sich „für Arme, Unterdrückte und Schutzlose einzusetzen. Ich bin sehr dankbar dafür, dies schon in meiner Kindheit gelernt und erfahren zu haben, und ich habe mich bis auf den heutigen Tag daran gehalten“ (Rosenberg 2006, S. 28). Ihre Mutter „war immer verständnisvoll und hatte in jeder Situation ein liebes Wort. Auf sie konnte man sich jederzeit verlassen und das war jedem auf dem Hof bewusst“ (Rosenberg 2006, S. 28). Noch im hohen Alter würde sie sich oft an ihre Mutter erinnern und davon träumen, wie ihre Mutter sie besucht und ihre Wangen streichelt, wenn sie eingeschlafen ist. Offensichtlich hat sie dies oft in ihrer Kindheit so erlebt. 

Die Kinder mussten bei der oft harten Landwirtschaft mithelfen und hatten Verantwortung. Als Emilie sieben Jahre alt war, brach der Erste Weltkrieg aus. Ihr Vater wurde eingezogen. Emilie suchte Trost im Wald und bei den Tieren. Nach dem Krieg war der Vater ein anderer und vor allem schwer krank. Er konnte auf dem Hof nicht mehr mithelfen und war ein Pflegefall. Eine schwere Belastung für alle, insbesondere aber für die Kinder. „Aber trotz der Krankheit meines Vaters erinnere ich mich gerne an meine Kindheit. Ich habe mich immer geboren und beschützt gefühlt, und sei es nur, weil immer jemand in der Küche saß, dem man bei einer Tasse Tee sein Herz ausschütten konnte. Leider sind diese Zeiten für immer vorbei“ (Rosenberg 2006, S. 34). 

Emilie berichtet selbst beispielhaft, wie sie in Plaszow Juden (auch unter Gefahr) half und hängt an:
Ich sah die zu Sklaven erniedrigten und wie Tiere behandelten Juden, denen alles und jedes verboten war. Sie durften nicht einmal Unterwäsche unter der Anstaltskleidung tragen, nicht einmal im Winter. Ich sah sie, ihres gesamten Besitzes, sogar ihrer Familien beraubt, ohne jedes Recht, nicht einmal das auf einen würdigen Tod, und konnte angesichts ihres furchtbaren Schicksals nur Mitleid fühlen. Weder damals noch heute, fast am Ende meines Lebens, kann ich verstehen, was damals vor sich ging. Ich weiß nicht, ob man das überhaupt jemals verstehen kann“ (Rosenberg 2006, S. 105). 

In der Geschichte war es nicht selten so, dass hinter starken und berühmten Männern, die großes geleistet haben, starke und am Erfolg der Männer mitwirkende Ehefrauen standen. Nur wurden und werden diese Frauen oft kaum wahrgenommen. Emilie wird großen Einfluss auf ihren Mann gehabt haben. Und sie unterstützte ganz eindeutig, gezielt und direkt das Bestreben, die "Schindler Juden" zu retten. Wenn wir die Geschichte der Judenrettung durch Oskar Schindler schreiben, sollten wir also seine Ehefrau dabei nicht vergessen!

Erika Rosenberg schreibt in ihrem Vorwort u.a.: "Ich selbst entdeckte Emilie Schindler als Hauptakteurin bei der Rettung der über 1300 `Schindler Juden` - sie ist keine unbedeutende Nebendarstellerin, die keiner Erwähnung bedarf" (Rosenberg 2006, S. 10). 


Quellen

Crowe, D. M. (2005). Oskar Schindler. Die Biographie. Eichborn, Frankfurt am Main. 

Fogelman E. (1998). „Wir waren keine Helden“ - Lebensretter im Angesicht des Holocaust. Motive, Geschichten, Hintergründe. Deutscher Taschenbuchverlag, München.

Rosenberg, E. (Hrsg.) (2006). Ich, Emilie Schindler. Erinnerungen einer Unbeugsamen. Herbig, München. (aktualisierte und erweiterte Neuauflage)


Montag, 11. Juli 2022

Kindheiten von KZ-Kommandanten

Meine hier verwendete Quelle ist: Segev, T. (1992). Die Soldaten des Bösen. Zur Geschichte der KZ-Kommandanten. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg. 

Ich wurde auf dieses Buch durch ein Zitat in einer anderen Arbeit aufmerksam. Das Zitat zeigte deutlich auf Vernachlässigung in der Kindheit von Amon Leopold Göth (siehe dazu unten mehr), dem wollte ich nachgehen. Danach las ich zunächst über die die Kindheit von SS-Obergruppenführer, General der Waffen-SS und zeitweise Kommandant des Konzentrationslagers Dachau Theodor Eicke (1892–1943), die deutlich belastet gewesen zu sein scheint. Tom Segev hat diesem Mann ein eigenes Kapitel gewidmet.
Nachdem ich das Buch Stück für Stück weiter durcharbeitete, wurde mir bewusst, was ich hier eigentlich in den Händen hielt! Der Autor hat für die meisten der von ihm untersuchten KZ-Kommandanten zumindest einen kleinen biografischen Teil verfasst, indem i.d.R. auch etwas über die Kindheit zu finden ist. Natürlich können wir keine ausführlichen Berichte über den Erziehungsstil und den Alltag der Kinder erwarten. Aber: Bei fast allen KZ-Kommandanten finden sich Auffälligkeiten in der Kindheit, wie tote Familienmitglieder, Kriegskindheit, abwesende Väter und/oder strenger Erziehungsrahmen in der Familie oder z.B. im Rahmen einer Kadettenausbildung. 

Diese „Auffälligkeiten“ sehe ich immer auch kumuliert um die routinemäßigen Belastungen einer Kindheit um 1900 im Kaiserreich. Joachim Fest schreibt in seinem Buch „Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft“ (1977, R. Piper Verlag, München) in dem Kapitel über Rudolf Heß: „In seinem unbalancierten Verhältnis zur Autorität gleicht Heß auffallend vielen führenden Nationalsozialisten, die wie er aus sogenannten strengen Elternhäusern stammten. Es spricht denn auch einiges dafür, dass Hitler beträchtlich von den Erziehungsschäden einer Epoche profitierte, die ihre pädagogischen Leitbilder von den Kasernenhöfen holte und ihre Söhne in den Härtekategorien von Kadetten aufzog. In der eigentümlichen Mischung aus Aggressivität und hündischer Geducktheit (…), aber auch der inneren Unselbstständigkeit und Befehlsabhängigkeit, kamen nicht zuletzt die Fixierungen auf die Kommandowelt zum Vorschein, die der bestimmende Erfahrungshintergrund ihrer frühen Entwicklung war" (Fest 1977, S. 260). Und speziell bezogen auf Heß fügte er an, dass der „immer wieder gebrochene Wille“ sich Vater und Vaterersatz suchte, „wo immer er ihn fand: Man muss Führer wollen!“ 

Diese "strengen Elternhäuser" waren damals Alltag und formten eine ganze Generation und Gesellschaft. Wenn sich in den Kindheitsbiografien der KZ-Kommandanten Andeutungen in Richtung konservative oder strenge Erziehung finden, so spricht dies Bände (und schließt meist wohl auch Körperstrafen ein). Wenn diese Hinweise fehlen, so sollten wir die strenge, autoritäre Erziehungsnorm der Zeit immer mitdenken und vor allem nicht als unwahrscheinlich ausschließen. 

Der Vater von Paul Werner Hoppe starb beispielsweise, als Paul zweieinhalb Jahre alt war (sein Fall siehe unten). Er kam bei Verwandten unter und verlor dadurch auch noch seine Mutter. Dies ist an sich eine traumatische Belastung für ein kleines Kind. Über den Erziehungsstil erfahren wir in seinem Fall nichts. Denken wir einen strengen Erziehungsstil auf Grund von Wahrscheinlichkeiten (Normen der Zeit) hinzu, dann wird diese Kindheit zum reinen Alptraum. 

Beginnen wir nun aber mit der Kindheit von Theodor Eicke (der vom Autor am ausführlichsten besprochen wird).
Seine Verwandten hatten seinen Vater als pingeligen und humorlosen Hünen in Erinnerung. Sie sagten, seine Kinder hätten bei ihm eine sehr strenge Erziehung genossen“ (Segev 1992, S. 135). Der Vater war Bahnhofsvorsteher in seinem Heimatort und brachte dadurch sicherlich eine gewisse Autorität auch mit nach Hause.
Was um das Jahr 1900 herum wie schon gesagt unter einer „sehr strengen Erziehung“ zu verstehen ist, können wir uns vorstellen: Körperstrafen, Demütigungen und absolute Gehorsamsforderungen waren damals Erziehungsroutine. Wenn es solche eindeutigen Aussagen über die Kindheit gibt, bestehen meiner Auffassung nach kaum Zweifel daran, dass Theodor entsprechenden schweren Belastungen ausgesetzt war.
Die Verwandten ergänzten ihre Erinnerungen darum, dass Theodor „keine glückliche Kindheit hatte. Erst mit seinem Eintritt ins Militär wurde er der Mann, der er seiner Meinung nach bereits geworden war“ (Segev 1992, S. 135).
Im Alter von siebzehn Jahren ging er von der Schule ab und für zehn Jahre zum Militär. Theodor sei „ganz versessen darauf gewesen, endlich von zu Hause wegzukommen, wo man ihn immer noch wie einen kleinen Jungen behandelte. Er hatte zehn Brüder und Schwestern, die allesamt älter waren als er“ (Segev 1992, S. 135).
Wir wissen heute, dass sich ein strenger, autoritärer Erziehungsstil auch auf die Beziehungen der Geschwister untereinander negativ auswirken kann. Theodor war zudem das jüngste und somit potentiell schwächste Kind der Familie. Die Wahrscheinlichkeit, dass er Belastungen auch seitens mancher Geschwister erlebt hat, halte ich für hoch. Bei einer Familie mit elf Kindern stellt sich mir auch die Frage nach elterlicher Vernachlässigung. Für das einzelne Kind wird kaum Zeit gewesen sein. 

Seine Mutter habe „viel Zeit bei ihren Verwandten in Paris“ verbracht, berichtet Segev (1992, S. 135). Dauer und Zeitpunkt ihrer Abwesenheit werden nicht genannt. Die Frage ob und wie sich ihre Abwesenheit auf die Kinder ausgewirkt hat, sollte zumindest in den Raum gestellt werden. Zumal ihr Gatte ja kein fürsorglicher Kinderbetreuer gewesen zu sein scheint.
In der Familie gab es zudem einen Konflikt zwischen der mütterlichen Bindung an Frankreich und dem ganz auf Deutschland ausgerichteten Patriotismus des Vaters. Die Kinder hätten augenscheinlich darunter gelitten, meint Segev.
1928 trat Eicke in die NSDAP und SA ein.  Ca. zwei Jahre später wurde er Mitglied der SS und sollte später zu einem ihrer führenden Köpfe werden.
Aus heutiger Sicht war er anfangs ein klassischer Extremist auf dem Weg in den Terrorismus. „Im März 1932 wurde Eicke verhaftet und wegen terroristischer Umtriebe vor Gericht gestellt. Die Polizei fand bei ihm einige Dutzend selbstgebastelter Bomben. Seine Verhaftung fiel genau in die Zeit zunehmender politisch motivierter Gewalttaten, denen die deutschen Behörden machtlos gegenüberstanden“ (Segev 1992, S. 139).
Interessant, aber letztlich auch logisch ist, dass Theodor Eicke später von seinen Untergebenen „eiserne militärische Disziplin“ forderte und die Häftlinge im Konzentrationslager „einem grausigen Terror“ unterwarf (Segev 1992, S. 145). „Im Dienst gibt es nur eine rücksichtlose Strenge und Härte“, wird er zitiert (Segev 1992, S. 145). „Gleichzeitig war er gehorsam, stets bereit, sich seinen Vorgesetzten bis zur Kriecherei zu unterwerfen. Wie viele der Lagerkommandanten brauchte er sowohl die Macht als auch den Gehorsam. Die SS gab ihm erstere und verlangte letzteren“ (Segev 1992, S. 145f.).

Eicke neigte zudem zu plötzlichen Wutausbrüchen, pedantischere Streitlust, Arroganz und auch melodramatischen Anwandlungen. Er wird als Patriarch beschrieben, als strenger Vater, eifersüchtiger Ehemann und Haustyrann (Segev 1992, S. 119, 147, 150, 152). „Seine Männer seien ihm, so seine Haushälterin später, lieber gewesen als Frau und Familie“. Sie hätten ihm „etwas gegeben, was er zu Hause nicht habe finden können. Sie hätten ihn gern gehabt, und ihre Zuneigung habe ihm alles bedeutet“ (Segev 1992, S. 146).
O-Ton Eicke: „Wenn mich meine Männer auf ihren Stuben Vater nennen, dann ist dies der schönste Ausdruck für eine Herzensgemeinschaft, wie ihn nur der Vorgesetzte findet, der stets mit seinen Männern in Führung bleibt, von dem die Männer überzeugt sind, dass er sie nicht nur kommandiert, sondern auch für sie sorgt“ (Segev 1992, S. 146).
Die Schatten seiner Kindheit tauchen hier wieder auf: Autoritäres und strenges Verhalten, Gehorsam, fehlende emotionale Bindungen in der eigenen Familie und Suche nach Ersatzfamilie. 

Gerne und immer wieder wird verwundert die Frage in den Raum gestellt, warum aus (angeblich!) normalen, liebevollen Familienvätern und Ehemännern in der NS-Zeit grausame Sadisten und Täter hatten werden können. Der Fall Eicke zeigt erneut, dass diese Vorstellung eine Illusion ist! Zuhause verhielten sich diese Akteure ganz ähnlich, wie auf den Schlachtfeldern oder in den Konzentrationslagern. Ihre Familien hatten nichts zu lachen. 

Hilmar Wäckerle, der erste Kommandant des Lagers Dachau, war vierzehn Jahre alt, als sein Vater ihn ins Königlich Bayerische Kadettenkorps schickte (Segev 1992, S. 81). „Man unterwarf die Kadetten einer strengen Disziplin, der sie sich anstandslos zu fügen hatten. Das Maß des Erlaubten zu überschreiten, konnte, unter anderen Strafen, auch die Prügelstrafe nach sich ziehen. Von dem Tag an, an dem sie in der Schule eintrafen, erwartete man von ihnen, sich ganz im Geiste der Offiziersethik wie Männer, Soldaten und Patrioten zu verhalten, sowohl innerhalb der Schule wie außerhalb. Sie wohnten in großen Schlafsälen und wuchsen dort auf, stets in Uniform, immer Teil einer Gruppe. Es herrschte ein steter Wettbewerb“ (Segev 1992, S. 83).
Auch Alfred Jodl hatte, neben diversen anderen hohen Militärs, laut Segev diese Kadettenschule durchlaufen. Für eine entsprechende Beschreibung der dortigen Abläufe und des Erziehungsrahmens siehe auch meinen Beitrag über Jodls Kindheit.

Karl Künstler war einer der Kommandanten des Lagers Flossenbürg. Er wurde 1901 geboren. Im Alter von vierzehn Jahren ging er gegen den Willen der Eltern von Zuhause fort und begann in einem Postamt zu arbeiten (Segev 1992, S. 88). Was für Hintergründe in der Familie mögen einen so jungen Menschen dazu gebracht haben, sich unbedingt unabhängig von den Eltern machen zu wollen? Künstler wurde außerdem später zum Trinker, wie Segev ausführt. Suchtverhalten hat Ursachen!

Adam Grünewald war Kommandant des KZ Herzogenbusch. „Sein Vater starb, als Grünewald acht Jahre alt war; als der Krieg ausbrach, war er zwölf“ (Segev 1992, S. 89). Den Vater so früh zu verlieren, ist eine schwere traumatische Erfahrung. Eine Gesellschaft im Kriegszustand zu erleben, ist ein weiteres prägendes Ereignis für ein Kind. 

Arthur Rödl war Kommandant des KZ Groß-Rosen. Als er zehn Jahre alt war, musste der Zeitungs- und Tabakkiosk seiner Mutter schließen. „Rödl wurde in dem Glauben aufgezogen, der Grund dafür sei die erbarmungslose Konkurrenz des benachbarten Kiosk gewesen – der einem Juden gehört hatte“ (Segev 1992, S, 164). Die Familie sei streng katholisch gewesen. Nach der Grundschule entschloss sich Arthur, Schmied zu werden. Noch während seiner Lehrzeit schloss er sich einer paramilitärischen nationalistischen Organisation an. Als der Krieg ausbrach, eilte der Sechzehnjährige zur nächsten Rekrutierungsstelle. Er fälschte seine Papiere und gab sich als Achtzehnjähriger aus. „Die nächsten vier Jahre verbrachte er in verschiedenen Kampfeinheiten an der Front“ (Segev 1992, 165). Das selbst gewählte Schicksal, ein Kindersoldat zu werden, ist schon bemerkenswert. 

Egon Zill war Kommandant verschiedener Konzentrationslager. „Egon Zill war acht Jahre alt, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Der Krieg war das zentrale Ereignis seiner Kindheit. Sein Vater wurde sofort bei Kriegsbeginn eingezogen, war die ganzen vier Jahre über weg und kehrte schwerverwundet zurück“ (Segev 1992, S. 168). Außerdem wird berichtet, dass ein Bruder von Egon im Alter von acht Monaten starb. Ob Egon dies miterlebt hat, ist nicht klar. Bereits im Alter von Siebzehn schloss sich Egon Zill der SA an. 

Karl Fritzsch war u.a. stellvertretender Kommandant in Auschwitz. Er wurde 1903 geboren. Sein Vater war Kachelofenbauer und häufig auf Auslandsreise, wobei er seine Familie häufig mitnahm. Karl musste deswegen immer wieder die Schule wechseln. „Eine richtige Schulbildung hat er nie genossen; und er sollte zeit seines Lebens Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben. Später erzählte er seiner Frau, er hätte nie ein richtiges Zuhause und Freunde gehabt; er sei ein stilles, äußerst sensibles Kind gewesen, das sich vor allem zur Mutter hingezogen fühlte“ (Segev 1992, S. 171). „Mehr als einmal erzählte er seiner Frau, wenn sie Kinder hätten, würde er alles tun, damit sie eine glücklichere Kindheit hätten als er, und dass sie in eben jenem richtigen Zuhause aufwachsen müssten, das ihm als Kind gefehlt habe“ (Segev 1992, S. 172). Was genau er alles an Belastungen in seiner Kindheit erfahren hat, bleibt unserer Fantasie überlassen. Seine Aussagen zeigen in eine deutliche Richtung.
Als der Krieg ausbrach, wurde sein Vater sofort eingezogen und kam bis Kriegsende nicht mehr nach Hause. Als er zurückkam, war Karl fünfzehn Jahre alt. Auch dies waren ganz sicher prägende Ereignisse. 

Karl Koch war Kommandant verschiedener Konzentrationslager. „Der Schlimmste aller Lagerkommandanten war zweifelsohne Karl Koch. In seinem Leben vermischt sich Grausamkeit mit Leidenschaft und Korruption (…)“ (Segev 1992, S. 175). Als Karl acht Jahre alt war, starb sein Vater. Seine Mutter heiratete später erneut, der Stiefvater brachte drei Söhne mit in die Ehe, die alle älter waren als Karl. Als Siebzehnjähriger wollte er freiwillig in den Ersten Weltkrieg ziehen, seine Mutter verhinderte dies. „Allem Anschein nach war er über die Maßen versessen darauf, endlich von zu Hause fortzukommen. Von Zeit zu Zeit meldete er sich bei der Armee, und jedesmal verlangte seine Mutter, dass man ihn wieder nach Hause schickte“ (Segev 1992,. 183f.). Als Achtzehnjähriger schaffte er es schließlich doch, an die Front zu kommen.
Dieser Wille zur Flucht von Zuhause macht nachdenklich. Er war das jüngste Kind dieser Patchworkfamilie und Halbwaise. Was war in dieser Familie los?

Der Autor befasst sich auch mit Amon Leopold Göth, dessen Wirken im KZ Płaszów weltweit durch den Film „Schindlers Liste“ bekannt wurde. Mit der Kindheit von Göth habe ich mich bereits in meinem Buch befasst. Es gab deutliche Hinweise für Vernachlässigung, aber auch Belastungen in einem strengen Internat. Segev unterstreicht diese Erkenntnisse nochmals sehr deutlich: „Amon Göth erzählte seiner Frau später, seine Eltern hätten ihn als Kind vernachlässigt und dass er den bürgerlichen Werten, zu denen sie ihn zu erziehen hofften, den Rücken zugewandt hätte. Sein Vater, so erzählte Göth, sei oft auf Geschäftsreisen durch ganz Europa und in den Vereinigten Staaten gewesen; seine Mutter habe die Druckerei geleitet und Hausarbeit und Kinderpflege ihrer Schwägerin, Göths Tante Kathy, überlassen. So weit er zurückdenken könne, sagte Göth später, hätten sie ihm das Gefühl gegeben, er sei dazu verpflichtet, sich darauf vorzubereiten, die Firma zu übernehmen (…)“ (Segev 1992, S. 186). Das Thema Kindesvernachlässigung kann somit eindeutig als erwiesen abgehakt werden. 

Franz Xaver Ziereis war Kommandant des KZ Mauthausen. Er wurde 1905 geboren. Sein Vater starb im Krieg, als Franz elf Jahre alt war. "Es lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen, wie sich das auf Ziereis auswirkte, jedenfalls sprach er immer wieder davon. Vielleicht bildete diese Erfahrung den Grundstein für die unerbittliche Härte, die er im Laufe der Jahre entwickelte" (Segev 1992, S. 191).

Hermann Baranowski war u.a. Kommandant im KZ Sachsenhausen. Er wurde 1884 geboren. Als Hermann sieben Jahre alt war, starb sein Vater. Als er sechzehn Jahre alt war, entschloss er sich, Elternhaus und Schule zu verlassen. Er ging zur Marine und verpflichtete sich gleich für zwölf Jahre. Der Autor führt aus, dass die Marine mit Härte und Disziplin geführt wurde. Nicht selten wurden Untergebene grausam misshandelt und erniedrigt. "Baranowski begann als gemeiner Matrose und diente sich langsam nach oben. Mit seiner Beförderung zum Obermaat schließlich gab man ihm eine fast unbegrenzte Macht an die Hand, jüngere Untergebene genauso zu behandeln, wie man ihn behandelt hatte" (Segev 1992, S. 200f.)

Franz Stangl war Kommandant der Lager Sobibor und Treblinka. Er wurde 1908 geboren. Sein Vater habe die Familie "mit eiserner Faust nach Regimentsgrundsätzen" geführt (Segev 1992, S. 247). O-Ton Stangl: "Ich hatte eine Todesangst vor ihm (...). Ich wusste seitdem ich ganz klein war, ich erinnere mich nicht genau wann, dass mein Vater mich nicht wirklich gewollt hatte. Ich hörte sie darüber reden. Er glaubte, ich sei nicht von ihm" (Segev 1992, S. 247). "Zu seinen frühesten Kindheitserinnerungen gehörte die, dass ihn sein Vater einmal wegen eines kleinen Vergehens `irrsinnig` verdrosch" (Segev 19992, S. 247f.). Als Franz acht Jahre alt war (während des Ersten Weltkriegs), starb sein Vater an Unterernährung. Als er zehn Jahre alt war, heiratete seine Mutter erneut. Stangls Ehefrau berichtete später, ihr Mann hätte eine unglückliche Kindheit gehabt.

Paul Werner Hoppe war Kommandant der Konzentrationslager Stutthof und Wöbbelin. Er wurde 1910 geboren. Sein Vater starb, als Paul zweieinhalb Jahre alt war. „Als Waise schickte man Hoppe zu Verwandten seiner Mutter, wo er bis 1919 blieb“ (Segev 1992, S. 205). Warum die Mutter nicht bei ihrem Sohn blieb, wird nicht beschrieben. Jedenfalls verlor das Kleinkind somit beide Elternteile.
Nach dem Krieg kehrte Paul in das Haus seines Onkels in Berlin zurück. Er wuchs in gehobenen Verhältnissen auf. Onkel und Tante, die keine eigenen Kinder hatten, adoptierten noch ein Mädchen. 

Johannes Hassebrock war Lagerkommandant des Konzentrationslagers Groß-Rosen. Er wurde 1910 geboren. In seiner Familie herrschte eine „konservative, patriotische Erziehung“ (Segev 1992, S. 216). Sein Vater war Gefängniswärter. Man mag angesichts dieser Tatsache spekulieren, ob ein Gefängniswärter des Kaiserreichs auch Zuhause zu starker Autoritätshörigkeit aufforderte.
Als Johannes drei Jahre alt war, starb eines seiner Geschwister im Alter von einem Jahr, was eine schwere Belastung für Johannes bedeutet haben wird. Ebenfalls im Alter von drei Jahren erlebte er den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Sein Vater wurde sofort eingezogen und kam erst vier Jahre später wieder zurück. Nach dem Krieg schloss sich der Vater dem „Stahlhelm“ an, der größten legalen paramilitärischen Veteranenorganisation. Seinen Sohn schickte der Vater zum „Bismarckbund“, einer konservativen, paramilitärischen Organisation auf dem rechten Flügel. Johannes wird dort entsprechenden Prägungen ausgesetzt gewesen ein. 

Max Kögel (oder Koegel) war Kommandant verschiedener KZs. Er wurde 1895 geboren. Als er fünf Jahre alt war, starb seine Mutter bei der Geburt ihres fünften Kindes. Als Max zwölf Jahre alt war, starb auch sein Vater. Eine Bauernfamilie nahm den Jungen auf (Segev 1992, S. 226). Wo seine Geschwister unterkamen, wird nicht beschrieben. Offensichtlich wurde er auch von ihnen getrennt. Als der Erste Weltkrieg ausbrach war Max achtzehn Jahre alt und meldete sich sofort als Freiwilliger zur Armee, nach drei Monaten Ausbildung schickte man ihn an die Front. 

Hans Hüttig war Kommandant der Konzentrationslager Natzweiler-Struthof und Herzogenbusch. Er wurde 1894 geboren. Die Familie war sehr religiös und lebte streng nach dem evangelischen Glauben. „Der Vater züchtigte die Kinder häufig, wie es damals üblich war. `Das machte einen Mann aus mir`, meinte Hüttig dazu“ (Segev 1992, S. 230). Letzteres spricht für eine starke Identifikation mit dem Aggressor. Sein Vater träumte von einer Offizierskarriere seines Sohnes. Seinen jugendlichen Sohn schickte er zunächst auf ein Internat, das die Schüler auf den Armeedienst vorbereitete. Entsprechend war Hans von seiner Familie getrennt. Als Siebzehnjähriger flog er allerdings durch die Prüfung und musste wieder zu seiner Familie ziehen. Ein oder zwei Jahre später verließ er das Elternhaus. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, meldete er sich sofort freiwillig für das Ostafrikakorps. 

Auch die schwer belastete Kindheit von Rudolf Höß wird vom Autor ausführlich beschrieben. Da ich hier keine mir neuen Informationen fand und ich die Kindheit von Höß bereits in meinem Buch besprochen habe, spare ich mir diesen Teil an dieser Stelle.

Schlussbemerkung 

Schade ist, dass der Autor Tom Segev in seinem Schlusswort nicht zentral auf die Gemeinsamkeit „Kindheitsbelastungen“ hingewiesen hat. Und dies, obwohl er sogar explizit die Arbeiten der „Psychohistory“ erwähnt (was an sich selten ist!) bzw. auf die Ergänzungen für die Geschichtswissenschaften aus dem Bereich der Psychologie/Psychoanalyse verweist (Segev 1992, S. 261f,). Dass Kindheitsbelastungen ein wichtiger Ursachenfaktor sein können, hat er wohl wahrgenommen, bleibt aber zögerlich und skeptisch. Zusammenfassend schreibt er kritisch: "Einige psychohistorische Arbeiten erweitern den Horizont des Lesers, aber letzten Endes versprach die psychohistory doch mehr, als sie halten konnte. Im Grunde ging sie nie über den theoretischen Ansatz, über Spekulationen und Vermutungen, hinaus" (Segev 1992, S. 262).
In der Tat standen der Psychohistory damals noch nicht so viele Daten zur Verfügung wie heute. Leider hat der Autor wie gesagt selbst verpasst, die Kindheitshintergründe auf Grund seiner eigenen Recherchen herauszustellen, was eigentlich naheliegend gewesen wäre. Er stand vor den Ergebnissen, vor der Empirie und hat daran vorbeigesehen... 

Mittwoch, 6. Juli 2022

Kindheit von Alexander II. (Russland, 1818 - 1881)

Zar Alexander II. ist der Sohn von Nikolaus I. und Enkel von Paul I. Dies ist in diesem Kontext besonders interessant, weil ich sowohl die Kindheit seines Vaters als auch seines Großvaters hier im Blog bereits besprochen habe. Beide Vorfahren mussten sehr destruktive Kindheitserfahrungen machen und wurden in meinen Augen traumatisiert. Die Vermutung liegt entsprechend nahe, dass sich dies auch auf den Umgang mit Alexander II. ausgewirkt hat, was wir sogleich prüfen werden. 

Meine Quelle: „Alexander II. The Last Great Tsar” von Edvard Radzinsky (2005, Free Press, New York)

Alexander II. erlebte im Alter von sieben Jahren eine erste kurze Staatskrise. Die so genannten Dekabristen wagten nach dem Tod von Zar Alexander I.  Ende Dezember 1825 den Aufstand, der allerdings schnell scheiterte. Die Familie rechnete damals mit dem Schlimmsten:
"Alexander´s mother and grandmother were terrified. (…) His grandmother was now fully informed. Twenty-four years earlier she had seen the mutilated body of her husband, the emperor. Now she might have to look upon the corpse of her son, the emperor. Sitting with her was Nicholas`s wife, worried to death, knowing the names of all the Russian tsars killed by the guards. Alexander`s mother developed a lifelong nervous tic over that day`s event” (S. 31). Wie der junge Alexander die damalige Krise aufnahm und verarbeitete, scheint nicht überliefert. 

Alexander neigte in jungen Jahren zu Tränen und Weinen, wenn es Anlass dazu gab. Sein Vater hasste dies: „Nikolas hated the tears, and the boy was often punished for them” (S. 52). Wie genau diese Strafen aussahen, wird vom Biografen nicht beschrieben. 

Schon früh sollte Alexanders Interesse fürs Militär geweckt werden. Sein Vater schickte den damals 10-Jährigen „to study at the Cadet Corps, where he would be taught soldiering and become a junior officer so that he could become a staff captain at thirteen and take part in his father`s beloved parades” (s. 53f.). 

Sein Vater hasste nichts mehr als Ungehorsam. “Whenever the boy dared to be disobedient, he had to bear his father`s wrath, which all of Russia feared” (S. 54). “I can forgive anything except disobedience!”, sagte sein Vater einst (S. 54). Auch hier bleibt wieder unklar, welche Strafen auf Grund von Ungehorsam drohten. 

Der Vater wird weiter als oft abwesend und allgemein streng beschrieben. Außerdem zählte eiserne Disziplin für ihn über alles (S. 54, 65). Es bleibt unserer Fantasie überlassen, was alles an Belastungen durch diesen Vater bezogen auf seinen Sohn ausgegangen sein könnten.
Wie eingangs beschrieben zeigte die Kindheit von Nikolaus deutliche Schatten und war u.a. von Strenge und auch Körperstrafen bestimmt. Seine eigenen autoritären Verhaltensweisen und Charakterzüge scheinen hier ihren Ursprung zu haben. 

Die Ehe der Eltern wird als harmonisch beschrieben. In unserem heutigen Verständnis konnte dies kaum stimmen. Denn Niokolaus hatte offensichtlich ständig Liebschaften. Er konnte sogar Interesse an verheirateten Frauen anmelden oder den Vätern von Töchtern die „Ehre“ der Auswahl ihrer Töchter mitteilen lassen (S. 55f.). Alexander blieb dies wohl nicht ganz verborgen und es scheint ihn auch belastet zu haben. Bzgl. einer Geliebten des Vaters schreibt der Biograf: „It was horrible for him to find that his father kept her under the same roof as his adored mother” (S. 55). 

Die Informationen über die Kindheit von Alexander II. sind dürftig. Eine unbelastete Kindheit scheint dies allerdings nicht gewesen zu sein, so viel lässt sich zumindest aus dem Material ablesen.