Für mich ist immer wieder erstaunlich, dass es kaum Übersichtsarbeiten bzw. fokussierte Fachbeiträge über den speziellen Bereich Kindheit & Extremismus gibt. Ganz im Gegenteil ist es oftmals so, dass entsprechende Handbücher und Sammlungen von Expertisen über Extremismus/Terrorismus keine Schwertpunktbeiträge über Kindheit/Trauma/Familie enthalten. Beispiele dafür sind:
- „Handbuch Extremismusprävention“ (Ben Slama & Kemmesies 2020)
- „Handbook of Terrorism Prevention and Preparedness“ (Schmid 2020)
- "The Oxford Handbook of Terrorism" (Chenoweth et al. 2019)
- „Extremismusforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis“ (Jesse & Mannewitz 2018)
- „Handbuch Politische Gewalt: Formen - Ursachen - Legitimation – Begrenzung“ (Enzmann 2013
- „Terrorismusforschung in Deutschland“ (Spencer, Kocks & Harbrich 2011).
Auch in titelstarken Einzelarbeiten wie z.B. „Extremismus und Radikalisierung - Kriminologisches Handbuch zur aktuellen Sicherheitslage“ (Dienstbühl 2019) findet sich – trotz umfassender und systematischer Struktur und Gliederung - kein eigenes Kapitel über Kindheit/Trauma/Familie und Extremismus. In dem genannten Band taucht nach meiner Suche (per E-Book Suchfunktion) sogar nicht ein einziges Mal das Wort „Kindheit“ auf.
Im recht komplexen Handbuch über Rechtsextremismus von Armin Pfahl-Traughber (2019). „Rechtsextremismus in Deutschland - Eine kritische Bestandsaufnahme“ gibt es im Kapitel 24 "Erklärungsansätze" kurze Einlassung auf den Autoritarismus, aber Kindheit & Trauma ist wie so oft kein Thema, wenn es um Ursachen geht.
Der Extremismusforscher Matthias Quent (2020) hat eine Art populärwissenschaftliche Handreichung unter dem aussagekräftigen Titel „Rechtsextremismus: 33 Fragen - 33 Antworten“ abgeliefert. Nicht in einer einzigen Frage bzw. Antwort geht er auf Kindheitshintergründe der Extremisten ein, was auch für etliche andere Einzelarbeiten von entsprechend Forschenden gilt.
Das aktuellste Beispiel (und Auslöser für diesen Blogbeitrag!) ist das Buch „Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis“ (Rothenberger, Krause, Jost & Frankenthal 2022), das Mitte diesen Jahres erschienen ist. Im umfassenden Index taucht das Wort „Kindheit“ gar nicht auf, was an sich schon deutlich macht, wie wenig Bedeutung man diesem Bereich zukommen lässt. Dabei hätte der Index das Wort sogar aufnehmen können, denn an einer einzigen Stelle im Buch wird – innerhalb von zwei bis drei Sätzen - eine Verbindung hergestellt:
„Eine entwicklungspsychologische Perspektive interessiert sich für die Auswirkungen ungünstiger früher Beziehungserfahrungen auf die spätere Identitätsentwicklung. Wenn in der Kindheit Vernachlässigung und Gewalt eine Rolle spielten, besteht ein erhöhtes Risiko für spätere psychosoziale Probleme (Schulabbrüche, Delinquenz, Substanz- und Alkoholmissbrauch, Risikoverhalten)“ (Sischka 2022, S. 360). Dass Kindheitseinflüsse nebenbei in kurzen Sätzen erwähnt werden und nicht als eine der zentralsten Ursachen hervorgehoben werden, erlebe ich immer wieder.
Unter dem Begriff „Trauma“ finden sich im Index zwar sechs Stellen im Buch, aber keine von diesen bezieht sich auf mögliche Traumahintergründe der Terroristen/Extremisten.
Und wo wir gerade dabei sind: In dem Handbuch werden etliche Terroristen besprochen oder erwähnt, von Anders Breivik, Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Osama Bin Laden bis hin zu Timothy McVeigh. All diese genannten Akteure hatten nach meiner Recherche eine traumatische Kindheiten, nur scheint es keinen für das Handbuch gewonnenen Experten zu geben, der/die sich damit befasst hat.
Ganz im Gegenteil findet sich an einer Stelle (Kapitel: „Prozesse und Faktoren von Radikalisierung: Ein Überblick“ von Daniela Pisoiu) sogar quasi die Negierung von Kindheitseinflüssen. Zunächst geht Pisoiu auf die psychische Situation von Anders Breivik ein und unterstreicht, dass dieser voll für seine Taten zur Rechenschaft gezogen bzw. als voll schuldfähig eingestuft wurde. Sie schließt dem an:
„Die `Normalität` von Terroristen bezieht sich jedoch nicht nur auf den Aspekt der psychischen Gesundheit. Denn die Auffälligkeiten, die gegebenenfalls in ihren Lebensläufen auftauchen (z.B. problematische Kindheit, keine abgeschlossene Schulbildung) reichen nicht aus, um einen signifikanten Unterschied zur Gesamtbevölkerung aufzuzeigen und so eine bestimmte Teilmenge der Bevölkerung zu definieren, die für Terrorismus prädestiniert sein könnte – das sogenannte Spezifitätsproblem“ (Pisoiu 2022, S. 344). Einige Zeilen weiter zitiert sie dann noch eine Studie von Donatella della Porta über 29 ehemalige linke Militante, die die „Atmosphäre in ihrer Familie als gut oder sehr gut bezeichneten“ (ebd.).
Diese zitierte Quelle habe ich mir durchgesehen. Donatella della Porta schreibt kurz vor ihrem Hinweis auf die 29 Militanten sogar noch folgendes: „(…) past research has found no sign of any typical pattern in the primary socialization of militants, no sign of particular family problems or of an authoritarian upbringing. (…)” (della Porta 2012, S. 233). Die zitierte Studie über die 29 Militanten kann ich leider nicht bzgl. Methodik etc. überprüfen, da sie auf italienisch ist. Schaut man sich den Beitrag von della Porta aber genau an, dann greift sie rein auf Quellen zurück, die alle zwischen 1950 und 1990 veröffentlicht wurden. Für diesen Zeitraum stimmt ihr zuvor zitierter Satz, denn es gab noch viel zu wenig Material über Kindheitshintergründe von Extremisten. Heute sieht dies ganz anders aus und ich kritisiere erneut, dass dies in einem Handbuch aus dem Jahr 2022 über Terrorismus nicht deutlich aufgeführt wurde. Gleichzeitig wundere ich mich darüber, dass della Porta in dem Buch "Terrorism Studies. A Reader", das im Jahr 2012 erschienen ist, einen solchen Satz schreibt. Zwischen 1990 und 2012 liegen schließlich über 20 Jahre! Auch in diesem Zeitraum sind so einige Arbeiten erschienen, in denen es um Kindheiten von Extremisten geht.
Merkwürdig ist auch - um wieder auf das Handbuch "Terrorismusforschung" zurückzukommen -, dass Pisoiu zusammen mit anderen AutorInnen (Srowig et al. 2018) in dem Heft „Radikalisierung von Individuen: Ein Überblick über mögliche Erklärungsansätze“ vor allem im Kapitel 4.2 Studien besprochen hat, die ein hohes Maß an Belastungen in der Kindheit von Extremisten aufzeigen. Auf diese Veröffentlichung wollte ich innerhalb meines Blogbeitrags hier sogar ursprünglich gesondert hinweisen: Als ein seltenes Positivbeispiel für das Hinsehen auf die Kindheitshintergründe von Extremisten! Erst dann entdeckte ich, dass Pisoiu ja sogar Mitautorin war. Vor diesem Hintergrund verwundert es umso mehr, dass sie nun gerade im Handbuch „Terrorismusforschung“ Kindheitseinflüsse quasi beiseiteschiebt.
Es bleibt Fakt, dass es auf der anderen Seite viele Einzelstudien und Arbeiten gibt, die zusammengetragen ein sehr aussagekräftiges Gesamtbild ergeben. Dies sieht man z.B. in meinem Beitrag „Kindheitsursprünge von Rechtsextremismus: DIE gesammelten Studien“ bzw. im Inhaltsverzeichnis meines Blogs.
Man kann auf der einen Seite also nicht sagen, dass sich DIE Extremismusforschung blind gegenüber Kindheitseinflüssen stellt. Sonst hätte ich ja nicht all die Daten und Fakten zusammentragen können, die ich fand. Auf der anderen Seite wird das Thema immer wieder ausgeblendet oder offensichtlich als zu "banal" zur Seite geschoben (was die Inhalte bzw. nicht vorhandenen Inhalte dazu in den kritisierten Übersichtsarbeiten zeigen). Das Missverhältnis zwischen auf der einen Seite viel empirischem Material (durch diverse Einzelarbeiten oder auf Grund von Biografieforschung wie von mir in meinem Blog vielfach gezeigt) und fehlender Zentriertheit vieler Forschender auf Kindheitseinflüsse ist also an sich erklärungsbedürftig.
Die fehlende Zentriertheit der Extremismusforschung auf Kindheitserfahrungen findet ihren Widerhall auch bei der Bereitstellung von Mitteln für die Prävention. Die Bundesregierung hat beispielsweise am 25.11.2020 den „Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2020) veröffentlicht. Insgesamt werden 89 Maßnahmen aufgeführt, die wiederum verschiedenen Ministerien zugeordnet wurden. Eine Milliarde Euro wurde zur Verfügung gestellt, um die Maßnahmen umzusetzen. In dem Katalog gibt es keine einzige Maßnahme, die in Richtung Kinderschutz als Extremismusprävention geht. Würde Kinderschutz bzgl. der Maßnahmen der Regierung als Extremismusprävention verstanden, dann würde eine Milliarde Euro allerdings wohl kaum ausreichen. Große Investitionen würden sich hier allerdings lohnen und dies nicht nur im Kampf gegen Extremismus. Eine wirkliche und nachhaltige Zentriertheit der Gesellschaft auf den Schutz und die Unterstützung von Kindern hätte insgesamt viele positive Effekte, was der Gesellschaft am Ende eine Menge an Folgekosten für Gesundheit, Jugendhilfe, Sozialhilfe, Polizei, Verfassungsschutz und Justiz sparen würde.
Dass es in der Forschung auch anders gehen kann, zeigt der herausragende und wegweisende Beitrag „From Childhood Trauma to Violent Extremism: Implications for prevention“ von Lundesgaard & Krogh (2018) in dem Handbuch „Violent extremism in the 21st century: International perspectives“. Beiträge wie dieser sind eine Seltenheit. Offensichtlich gibt es kaum etablierte Fachleute, die sich auf den Bereich Kindheit und Extremismus fokussiert haben und überhaupt als BeitragsautorInnen für entsprechende Fachbücher infrage kommen.
Insofern wünsche ich mir für die kommenden Jahre eine Öffnung der Extremismusforschung für Kindheitseinflüsse beim Thema Extremismus, eine Öffnung für Psychohistorie, Psychoanalyse, Traumaforschung und ganz besonders auch die Adverse Childhood Experiences Forschung. Nur dann werden wir die Ursachen umfassend verstehen und langfristig betrachtet nachhaltige Prävention möglich machen können.
Quellen:
Ben Slama, B. & Kemmesies, U. (Hrsg.) (2020). Handbuch Extremismusprävention. Gesamtgesellschaftlich. Phänomenübergreifend. (Polizei + Forschung, Band-Nummer 54) Bundeskriminalamt Wiesbaden.
Chenoweth, E., English, R., Gofas, A. & Kalyvas, S. (Hrsg.) (2019). The Oxford Handbook of Terrorism. Oxford University Press, Oxford.
Della Porta, D. (2012). On individual motivations in underground political organizations. In: Horgan, J. & Braddock, K. (Hrsg.). Terrorism Studies. A Reader. Routledge, London & New York.
Dienstbühl, D. (2019). Extremismus und Radikalisierung - Kriminologisches Handbuch zur aktuellen Sicherheitslage. Richard Boorberg Verlag, Stuttgart. Kindle E-Book Version.
Enzmann, B. (Hrsg.) (2013). Handbuch Politische Gewalt: Formen - Ursachen - Legitimation – Begrenzung. Springer VS, Wiesbaden. Kindle E-Book Version.
Jesse, E. & Mannewitz, T. (Hrsg.) (2018). Extremismusforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden.
Lundesgaard, A. & Krogh, K. (2018). From Childhood Trauma to Violent Extremism: Implications for prevention. In: Overland, G., Andersen, A. J., Førde, K. E., Grødum, K. & Salomonsen, J. (Hrsg.). Violent extremism in the 21st century: International perspectives. Cambridge Scholars Publishing, Newcastle-upon-Tyne, S. 180-198.
Pfahl-Traughber, A. (2019). Rechtsextremismus in Deutschland - Eine kritische Bestandsaufnahme. Springer VS, Wiesbaden.
Pisoiu, D. (2022). Prozesse und Faktoren von Radikalisierung: Ein Überblick. In: Rothenberger, L., Krause, J., Jost, J. & Frankenthal, K. (Hrsg.). Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos, Baden-Baden. S. 343-350.
Presse und Informationsamt der Bundesregierung (2020, 25. Nov.). Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus.
Quent, M. (2020). Rechtsextremismus: 33 Fragen - 33 Antworten. Piper Verlag, München.
Rothenberger, L., Krause, J., Jost, J. & Frankenthal, K. (Hrsg.) (2022). Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos, Baden-Baden.
Schmid, A. P. (Hrsg.) (2020). Handbook of Terrorism Prevention and Preparedness. ICCT Press, Den Haag. (freie Onlineversion), https://icct.nl/handbook-of-terrorism-prevention-and-preparedness/.
Sischka, K. (2022). Identitätsprozesse und Radikalisierung. In: Rothenberger, L., Krause, J., Jost, J. & Frankenthal, K. (Hrsg.). Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos, Baden-Baden. S. 359-366.
Spencer, A., Kocks, A. & Harbrich, K. (Hrsg.) (2011). Terrorismusforschung in Deutschland. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Sonderheft 1.
Srowig, F., Roth, V., Pisoiu, D., Seewald, K. & Zick, A. (2018). Radikalisierung von Individuen: Ein Überblick über mögliche Erklärungsansätze. PRIF Report 6/2018. Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) & Peace Rresearch Institute Frankfurt (PRIF), Frankfurt am Main. https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK/hsfk_publikationen/prif0618.pdf
Wahl, K. & Wahl, M. R. (2013). Biotische, psychische und soziale Bedingungen für Aggression und Gewalt. In: Enzmann, B. (Hrsg.). Handbuch Politische Gewalt: Formen - Ursachen - Legitimation – Begrenzung. Springer VS, Wiesbaden. Kindle E-Book Version.