Erich Fromm hat Anfang der 70er Jahre seine berühmte Schrift „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ veröffentlicht. Das Buch hatte ich schon lange im Keller und habe es kürzlich durchgesehen.
Treffend finde ich Fromms Einsicht, dass menschliche Destruktivität und Grausamkeit nicht angeboren ist, sondern durch die Umwelt hervorgerufen wird. Das Herz seiner Analyse sind erstens seine anthropologischen Studien, zweitens seine Kategorisierungen von destruktiven Verhaltensweisen und vor allem drittens seine Studien zu Adolf Hitler, Stalin und Himmler. Kritisch betrachten möchte ich vor allem den dritten Part.
Sadismus wird nach Fromm (bzgl. der Ursachen bezogen auf die soziale Umwelt) nur verschwinden, „wenn die ausbeuterische Herrschaft einer Klasse, des einen Geschlechts oder einer Minderheitengruppe beseitigt ist.“ (Fromm, 1986, S. 335) Dazu kommen: „Individuelle Faktoren, die dem Sadismus Vorschub leisten, sind all jene Bedingungen, die dem Kind oder dem Erwachsenen ein Gefühl der Leere und Ohnmacht geben (ein nicht sadistisches Kind kann zu einem sadistischen Jugendlichen oder Erwachsenen werden, wenn neue Umstände eintreten). Zu jenen Bedingungen gehören solche, die Angst hervorrufen, wie zum Beispiel „diktatorische“ Bestrafung. Hiermit meine ich eine Art der Bestrafung, deren Intensität nicht streng begrenzt ist, die nicht in einem angemessenen Verhältnis zu einem speziellen Verhalten steht, sondern willkürlich vom Sadismus des Bestrafenden genährt und von einem angsterregenden Intensität ist. Je nach Temperament des Kindes kann die Angst vor Strafe zu einem beherrschenden Motiv in seinem Leben werden, sein Integritätsgefühl kann langsam zusammenbrechen, seine Selbstachtung kann abnehmen, und es kann sich so oft verraten fühlen, dass es sein Identitätsgefühl verliert und nicht mehr „es selbst“ ist. Die andere Bedingung, die zu einem Gefühl vitaler Machtlosigkeit führt, ist eine Situation psychischer Verarmung. Wenn keine Stimulation vorhanden ist, nichts, was die Fähigkeit des Kindes weckt, wenn es in einer Atmosphäre der Stumpfheit und Freudlosigkeit lebt, dann erfriert ein Kind innerlich. Es gibt dann nichts, worin es einen Eindruck hinterlassen könnte, niemand, der ihm antwortet oder ihm auch nur zuhört, und es wird von einem Gefühl der Ohnmacht erfasst. Ein solches Gefühl der Machtlosigkeit muss nicht unbedingt zur Bildung eines sadistischen Charakters führen; ob es dazu kommt oder nicht, hängst von vielen anderen Faktoren ab. Es ist jedoch eine der Hauptursachen, die zur Entwicklung des Sadismus sowohl auf individueller als auch auf sozialer Ebene beitragen.“ (ebd., S. 336f)
Dies ist die zentralste und deutlichste Textstelle in seinem Werk bzgl. des Einflusses von Kindheit. Danach muss man schon mehr mit der Lupe nach annähernd ähnlichen Textstellen suchen, obwohl Gewalt gegen Kinder und deren Vernachlässigung – wie er oben selbst sagte – die Hauptursache für die Entstehung von Sadismus darstellt. Das verwundert doch sehr. Bzgl. Stalin geht er dann gar nicht auf dessen Kindheit ein, sondern beschreibt rein dessen Sadismus und das „Wesen des Sadismus“. Bei Heinrich Himmler geht er schon mehr in diese Richtung und beschreibt kurz dessen schwachen, autoritären Vater und mehr noch die ihren Sohn in emotionaler Abhängigkeit haltende Mutter, ihre „primitive Liebe“ zu ihm und ihr Handeln, das sein Wachstum blockierte. Am erstaunlichsten ist seine Studie über Adolf Hitler, die auch die ausführlichste von allen dreien ist. Fromm schreibt:
„Der Charakter der Eltern und nicht dieses oder jenes einzelne Erlebnis übt den stärksten Einfluss auf ein Kind aus. Für jemand, der an die stark vereinfachende Formel glaubt, dass die schlechte Entwicklung eines Kindes etwas der „Schlechtigkeit“ seiner Eltern proportional ist, bietet die Untersuchung des Charakters von Hitlers Eltern eine Überraschung, denn – soweit aus den uns bekannten Daten zu ersehen ist – waren sowohl sein Vater als auch seine Mutter stabile, wohlmeinende und nicht destruktive Leute. Hitler Mutter Klara scheint eine gut angepasste, sympathische Frau gewesen zu sein. (…) Man hat Alois Hitler gelegentlich als einen brutalen Tyrannen beschrieben – vermutlich deshalb, weil dies eine einfache Erklärung für den Charakter seines Sohnes wäre. Er war aber kein Tyrann, sondern nur ein autoritärer Mensch, der an Pflicht und Verantwortungsgefühl glaubte und der Ansicht war, dass es seine Aufgabe war, das Leben seines Sohnes zu bestimmen, bis dieser mündig war. Soweit bekannt, hat er ihn nie geschlagen. (…) Wie ist es zu erklären, dass diese beiden wohlmeinenden, stabilen, normalen und nicht destruktiven Menschen das spätere „Ungeheuer“ Adolf Hitler zur Welt brachten?“ (ebd., S. 417ff)
Danach beschreibt Erich Fromm auf mehreren Seiten ausführlich Hitlers Lebensweg, den er in seiner Gesamtheit und auch in Anbetracht der Einflüsse durch seine Umwelt für besonders wichtig hält. Entgegen seinen anfänglichen Ausführungen, ließt sich aus seinen weiteren, einleitenden Beschreibungen über Hitlers Beziehung zu seiner Mutter eine tiefe Störungen heraus. Zusammenfassend schreibt Fromm: Man kann sagen, „dass Hitlers Mutter für ihn nie zu einer Person geworden ist, zu der er eine liebevolle oder zärtliche Zuneigung empfand. Sie war für ihn Symbol der beschützenden und zu bewundernden Göttin, aber auch die Göttin des Todes und des Chaos.“ (ebd., S. 425)
Ich finde viele Gedankengänge und (auch andere) Arbeiten von Erich Fromm wichtig. Seine Arbeit über die „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ führt allerding weitläufig in die Leere. Obwohl er selbst Hinweise auf den tyrannischen Charakter von Hitlers Vater wahrgenommen hat und eine gestörte Mutterbeziehung beschreibt, sind beide Eltern für ihn „stabile, wohlmeinende und nicht destruktive Leute“. Er schließt insofern einen großen Einfluss durch Gewalt und Destruktivität seitens dieser Eltern auf das Kind Adolf Hitler aus. Seine weitere Analyse muss insofern scheitern, vor allem wird dies auch deutlich, wenn wir uns die heutige Datenlage bzgl. der familiären Gewalt in der Familie Hitler ansehen. (diesen kritischen Textteil habe ich mit in den Grundlagentext über Hitler aufgenommen)
Entsprechend der Zwiespältigkeit seiner Analyse (Motto: „Destruktive Kindheit ist enorm wichtig, aber reden wir bloß nicht zu viel darüber“) lässt er auch in seinem Epilog mit dem Titel „Über die Zwiespältigkeit der Hoffnung“ die Kindheit komplett außen vor. Wachsende Produktivität, Arbeitsteilung, Bildung von Überschuss, Errichtung von Staaten, Eliten und Hierarchie, sprich die moderne Zivilisation wird von ihm scharf kritisiert und als die Wurzel menschlicher Destruktivität dargestellt (passend dazu auch sein Werk „Haben oder Sein"). Gegenwärtige sozioökonomische Bedingungen seinen zu hinterfragen und zu ersetzen. Neue Werte müssten her und unser persönliches Verhalten müsste sich ändern. Kein Wort davon, Kinder vor Gewalt und Vernachlässigung zu schützen, diese zusätzlich durch Kita und Schule anzuregen und zu fördern.
Man muss sicher auch sehen, dass Anfang der 70er Jahre Gewalt gegen Kinder noch nicht all zu sehr Thema war und viele Studien fehlten. Erich Fromm war aber ein weitsichtiger Mensch, trotzdem blendete er – entgegen seiner beiläufig erwähnten Erkenntnisse – das Thema Kindheit weitläufig aus. Das ist etwas, was mir immer wieder begegnet, auch durch Psychologen. Alles in allem wird die Lektüre von Fromms Werk keine großen Erkenntnisse bringen. Einfach auf Grund dieser gewissen Blindheit bzgl. dem Leid der Kinder und dem Focus auf die "böse" moderne Zivilisation und die gute und nicht destruktive Gesellschaftsform, die er bei manchen primitiven Stämmen meinte erkannt zu haben.
Quelle: Fromm, E. 1986: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek. (Erstveröffentlichung 1973)
Montag, 14. November 2011
Donnerstag, 10. November 2011
Kindheit und Terror in Ruanda
Über Ruanda Informationen zur dortigen Kindererziehungspraxis und der Verbreitung von Kindesmisshandlung zu bekommen, ist schwer. Jetzt habe ich ein interessantes Interview mit Simon Gasibirege gefunden. Simon Gasibirege ist laut taz der bekannteste Psychologe Ruandas. Bis 1995 lebte er mehrere Jahrzehnte im Exil. Heute ist er Psychologieprofessor an der Nationaluniversität von Ruanda in Butare, wo er das "Centre for Mental Health" leitet. Zudem arbeitet er mit Opfern und Tätern des Völkermordes vor allem im Hinblick auf Gacaca-Prozesse.
Er sagt: „Was mir immer stärker auffällt sind Formen häuslicher Gewalt, sexualisierter Gewalt, generell der Gewalt untereinander. Die Menschen sind erfüllt von einer großen Wut, einer großen Frustration, und sie bringen diese Gewalt unkoordiniert, impulsiv nach außen. Ich forsche seit 2006 zu häuslicher Gewalt, und wir beobachten häufig, sowohl bei den Überlebenden des Genozids als auch bei den Tätern, überall im Land, dass es in den Familien zu Gewalt kommt, die sich auf unterschiedliche Weisen ausdrückt. Es gibt den Fakt, dass Menschen geschlagen, zusammengeschlagen, sogar getötet werden. Aber es gibt auch andere Formen häuslicher Gewalt, die weniger sichtbar sind, und zwar die Flucht vor der Verantwortungsübernahme durch die Männer. Eine Form besteht darin, dass die Männer sich die wenigen zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel aneignen und sie für Alkohol ausgeben. Das hat dramatische Konsequenzen und führt zur Verarmung der Familie. Die Kinder können nicht studieren, die Frau arbeitet alleine.“
Gefragt nach einem Zusammenhang zwischen dieser Entwicklung von häuslicher Gewalt und dem früheren Genozid bejaht er dies. Ich selbst habe im Grundlagentext dargestellt, dass Kriege sich auch auf das Private, auf den Umgang mit Kindern auswirken können. Insofern stimme ich dieser Sichtweise von Gasibirege grundsätzlich zu. ABER: Er sagt auch, dass er selbst erst seit 2006 zum Thema häusliche Gewalt in Ruanda forscht. Doch was war vorher? Wie sah es in den Familien VOR dem Völkermord aus? Ich bin mir sicher, dass das hohe, von ihm wahrgenommene Ausmaß an Gewalt in den Familien nicht erst nach dem Völkermord aufgetreten ist. Schon vorher muss die familiäre Atmosphäre in den meisten Familien in Ruanda von alltäglicher Gewalt und Terror geprägt gewesen sein. Der Völkermord war derart bestialisch, umfassend und brutal, dass dies einfach sehr wahrscheinlich ist. Denn letztlich „erzählen“ Gewalttaten immer auch etwas von dem Ausmaß an inneren Terror, an Leere und eigenem emotionalen Tod.
Vielfach gingen den Tötungsakten während des Völkermordes andere Formen der Gewalt voraus, wie Plünderungen, sexuelle Demütigungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen oder Folterpraktiken (siehe wikipedia) „Teilweise wurden Opfer aufgefordert, ihre eigenen Ehepartner oder Kinder umzubringen. Kinder wurden vor den Augen ihrer Eltern erschlagen. Blutsverwandte wurden von Tätern zum Inzest untereinander gezwungen.“ Die Täter wollten ihre Opfer leiden sehen und insbesondere die letztgenannten Taten sprechen eine eindeutige Sprache bzgl. möglicher Zusammenhänge zu eigenen schweren (auch sexuellen) Gewalterfahrungen in der Kindheit.
Alice Miller hat in ihrem Buch „Evas Erwachsen. Über die Auflösung von emotionaler Blindheit.“ (2001) ab Seite 68 etwas über Ruanda geschrieben:
„Ich habe mich öfters gefragt, wie es eigentlich in Ruanda zu einem so schrecklichen Massaker kommen konnte. Dort werden nämlich Kinder sehr lange von ihren Müttern auf dem Rücken getragen und gestillt, was uns eher den Eindruck einer paradiesischen Geborgenheit vermittelt und keine Misshandlungen vermuten lässt. Erst vor kurzem erfuhr ich, dass auch Kinder für ihre Liebe ihrer Mütter einen hohen, bisher offenbar bagatellisierten Preis zahlen müssen, indem sie sehr früh zum Gehorsam gedrillt werden. Sie erhalten von Anfang an „Klapse“, wenn sie den Rücken ihrer Mütter mit ihren Ausscheidungen beschmutzen. So weinen sie schon aus Angst vor den „Klapsen“, wenn sie nur das Bedürfnis nach Entleerung verspüren, was der Mutter ermöglicht, rasch zu reagieren und das Kind vom Rücken abzunehmen, um ihm Reinlichkeit beizubringen. Dank dieser Konditionierung durch „Klapse“ werden Säuglinge sehr früh sauber und später auch „zur Ruhe“ erzogen. Mir scheint, dass die Massaker in Ruanda auf diese Misshandlungen der Säuglinge zurückgeführt werden können.“ Danach hängt Miller noch einen Bericht aus Kamerun an, der davon zeugt, dass fast alle Kinder in diesem Land in Schule und Elternhaus geschlagen werden.
Ich denke, Alice Miller hat hier einen wichtigen Hinweis gebracht. Miller hat sich hier trotzdem unglücklich ausgedrückt. Züchtigungen gegen Säuglinge haben schwere Auswirkungen, das ist unbestritten. Trotzdem glaube ich nicht, dass alleine diese „Reinlichkeitserziehung“ und Züchtigungen den Ausschlag für diesen Völkermord gab. Es bedarf langfristiger, häufiger (vor allem auch schwerer) Gewalt gegen Kinder, um einen solchen Massenmord in der Tiefe möglich zu machen, um umfassende Rachegefühle, tiefen Menschenhass und das „handwerkliche“, freudige Zerstückeln von Menschen zu ermöglichen. Der angehängte kurze Bericht in Millers Buch über die weite Verbreitung von Gewalt in Kamerun sollte wohl einen weiteren Hinweis darauf geben. Letztlich wäre es wünschenswert, zukünftig eine umfassende Studie zur Kindererziehungspraxis vor dem Völkermord in Ruanda durchzuführen. Vielleicht wird diese irgendwann kommen und mehr Klarheit bringen.
Er sagt: „Was mir immer stärker auffällt sind Formen häuslicher Gewalt, sexualisierter Gewalt, generell der Gewalt untereinander. Die Menschen sind erfüllt von einer großen Wut, einer großen Frustration, und sie bringen diese Gewalt unkoordiniert, impulsiv nach außen. Ich forsche seit 2006 zu häuslicher Gewalt, und wir beobachten häufig, sowohl bei den Überlebenden des Genozids als auch bei den Tätern, überall im Land, dass es in den Familien zu Gewalt kommt, die sich auf unterschiedliche Weisen ausdrückt. Es gibt den Fakt, dass Menschen geschlagen, zusammengeschlagen, sogar getötet werden. Aber es gibt auch andere Formen häuslicher Gewalt, die weniger sichtbar sind, und zwar die Flucht vor der Verantwortungsübernahme durch die Männer. Eine Form besteht darin, dass die Männer sich die wenigen zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel aneignen und sie für Alkohol ausgeben. Das hat dramatische Konsequenzen und führt zur Verarmung der Familie. Die Kinder können nicht studieren, die Frau arbeitet alleine.“
Gefragt nach einem Zusammenhang zwischen dieser Entwicklung von häuslicher Gewalt und dem früheren Genozid bejaht er dies. Ich selbst habe im Grundlagentext dargestellt, dass Kriege sich auch auf das Private, auf den Umgang mit Kindern auswirken können. Insofern stimme ich dieser Sichtweise von Gasibirege grundsätzlich zu. ABER: Er sagt auch, dass er selbst erst seit 2006 zum Thema häusliche Gewalt in Ruanda forscht. Doch was war vorher? Wie sah es in den Familien VOR dem Völkermord aus? Ich bin mir sicher, dass das hohe, von ihm wahrgenommene Ausmaß an Gewalt in den Familien nicht erst nach dem Völkermord aufgetreten ist. Schon vorher muss die familiäre Atmosphäre in den meisten Familien in Ruanda von alltäglicher Gewalt und Terror geprägt gewesen sein. Der Völkermord war derart bestialisch, umfassend und brutal, dass dies einfach sehr wahrscheinlich ist. Denn letztlich „erzählen“ Gewalttaten immer auch etwas von dem Ausmaß an inneren Terror, an Leere und eigenem emotionalen Tod.
Vielfach gingen den Tötungsakten während des Völkermordes andere Formen der Gewalt voraus, wie Plünderungen, sexuelle Demütigungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen oder Folterpraktiken (siehe wikipedia) „Teilweise wurden Opfer aufgefordert, ihre eigenen Ehepartner oder Kinder umzubringen. Kinder wurden vor den Augen ihrer Eltern erschlagen. Blutsverwandte wurden von Tätern zum Inzest untereinander gezwungen.“ Die Täter wollten ihre Opfer leiden sehen und insbesondere die letztgenannten Taten sprechen eine eindeutige Sprache bzgl. möglicher Zusammenhänge zu eigenen schweren (auch sexuellen) Gewalterfahrungen in der Kindheit.
Alice Miller hat in ihrem Buch „Evas Erwachsen. Über die Auflösung von emotionaler Blindheit.“ (2001) ab Seite 68 etwas über Ruanda geschrieben:
„Ich habe mich öfters gefragt, wie es eigentlich in Ruanda zu einem so schrecklichen Massaker kommen konnte. Dort werden nämlich Kinder sehr lange von ihren Müttern auf dem Rücken getragen und gestillt, was uns eher den Eindruck einer paradiesischen Geborgenheit vermittelt und keine Misshandlungen vermuten lässt. Erst vor kurzem erfuhr ich, dass auch Kinder für ihre Liebe ihrer Mütter einen hohen, bisher offenbar bagatellisierten Preis zahlen müssen, indem sie sehr früh zum Gehorsam gedrillt werden. Sie erhalten von Anfang an „Klapse“, wenn sie den Rücken ihrer Mütter mit ihren Ausscheidungen beschmutzen. So weinen sie schon aus Angst vor den „Klapsen“, wenn sie nur das Bedürfnis nach Entleerung verspüren, was der Mutter ermöglicht, rasch zu reagieren und das Kind vom Rücken abzunehmen, um ihm Reinlichkeit beizubringen. Dank dieser Konditionierung durch „Klapse“ werden Säuglinge sehr früh sauber und später auch „zur Ruhe“ erzogen. Mir scheint, dass die Massaker in Ruanda auf diese Misshandlungen der Säuglinge zurückgeführt werden können.“ Danach hängt Miller noch einen Bericht aus Kamerun an, der davon zeugt, dass fast alle Kinder in diesem Land in Schule und Elternhaus geschlagen werden.
Ich denke, Alice Miller hat hier einen wichtigen Hinweis gebracht. Miller hat sich hier trotzdem unglücklich ausgedrückt. Züchtigungen gegen Säuglinge haben schwere Auswirkungen, das ist unbestritten. Trotzdem glaube ich nicht, dass alleine diese „Reinlichkeitserziehung“ und Züchtigungen den Ausschlag für diesen Völkermord gab. Es bedarf langfristiger, häufiger (vor allem auch schwerer) Gewalt gegen Kinder, um einen solchen Massenmord in der Tiefe möglich zu machen, um umfassende Rachegefühle, tiefen Menschenhass und das „handwerkliche“, freudige Zerstückeln von Menschen zu ermöglichen. Der angehängte kurze Bericht in Millers Buch über die weite Verbreitung von Gewalt in Kamerun sollte wohl einen weiteren Hinweis darauf geben. Letztlich wäre es wünschenswert, zukünftig eine umfassende Studie zur Kindererziehungspraxis vor dem Völkermord in Ruanda durchzuführen. Vielleicht wird diese irgendwann kommen und mehr Klarheit bringen.
Montag, 7. November 2011
RAF-Terror und Kindheit
Am 29.10.11 kam auf NDR Info der Beitrag „Zwischen "Wir hier" und "Ihr dort" - wie sahen sich die RAF-Aktivisten und Mitglieder der Revolutionären Zellen selbst? Studie des Instituts für Kulturanthropologie der Universität Göttingen“ Autor: Michael Kurth.
Inge Viett (ehemaliges RAF Mitglied) wurde in dem Beitrag aus ihrer Autobiographie „Nie war ich furchtloser“ wie folgt zitiert: „Nie in meinem Leben war ich sicherer und furchtloser als in dieser Zeit im Untergrund. Dem Ort, der ein neues anderes Sein außerhalb der hässlichen Welt gestattete. Nie war ich freier, nie war ich gebundener an meine eigene Verantwortung als in dem Zustand völliger Abnabelung von der staatlichen Autorität und von gesellschaftlichen Vorgabe. Kein Gesetz, keine äußere Gewalt bestimmte mehr mein Verhältnis zur Welt, zu meinen Mitmenschen, zum Leben, zum Tod.„
So empfand sie die erste Zeit in der Gruppe. Im NDR Info Bericht wird nachfolgend über die Realität innerhalb der Gruppe berichtet. Dort herrschte massiver Gruppendruck, jede Kritik wurde als Verrat empfunden und sanktioniert, niemandem konnte man sich anvertrauen und starke Spannungen bauten sich immer mehr auf. Inge Viett wird dann erneut zitiert, wie sie sich an diesen Abschnitt in der RAF erinnert: „Es waren die miesesten und unfähigsten Jahre in meinem Guerilladasein. Zurückgefallen in totale Unfreiheit, Entscheidungslosigkeit, unwürdigen Anpassungsdrang, Will- und Orientierungslosigkeit, in Krankheit, Vereinsamung und Lebensunlust. Zurückgefallen in die Kindheit. Wie hatte das geschehen können?“
Diese beiden Zitate bringen das gequälte Kind und die emotionalen Beweggründe der Terroristin zum Vorschein. Inge Viett spricht emotional sehr berührt und glücklich von „einem Zustand völliger Abnabelung von der staatlichen Autorität“ durch ihren Gang in den Untergrund. „Nie war ich furchtloser“ heißt auch ihre Autobiographie, was zeigt, wie wichtig ihr dieser Zustand, dieses Gefühl von Freiheit und Furchtlosigkeit war. Das Wort „Abnabelung“ macht überdeutlich die Verbindung zu ihrer Kindheit klar. Doch was sie später in der Gruppe fand, war erneut ein Zurückgefallensein in die Kindheit, in Abhängigkeit, Willenlosigkeit und Unterdrückung. Das, was sie nie wieder wollte, vor dem sie floh, es hatte sie wieder eingeholt.
Gewalttäter sprechen oftmals verdeckt über das, was ihnen als Kind angetan wurde. Man muss nur hinsehen, sich ihre Worte genau anschauen. Dann erfährt man, worum es eigentlich geht.
Ich ändere auch einfach mal einige Wörter in ihrem Zitat wie folgt: „Nie war ich freier, nie war ich gebundener an meine eigene Verantwortung als in dem Zustand völliger Abnabelung von der elterlichen und vormundschaftlichen Autorität und von erzieherischen Vorgaben. Kein Gesetz, keine familiäre Gewalt bestimmte mehr mein Verhältnis zur Welt.“
Wie ihre Kindheit aussah, beschreibt sie letztlich selbst: Totale Unfreiheit, Entscheidungslosigkeit, unwürdigen Anpassungsdrang, Will- und Orientierungslosigkeit, in Krankheit, Vereinsamung und Lebensunlust.
Über Inge Viett habe ich bisher nicht viel gelesen. Auf wikipedia erfährt man über ihre Kindheit, dass das Jugendamt ihrer Mutter das Sorgerecht entzogen hatte und sie dann in einem Kinderheim, später in einer Pflegefamilie unterkam, aus der sie allerdings nach neun Jahren floh. Das sagt doch schon alles, oder?
Nachtrag vom 17.09.2019: Ich habe die Kindheit von Inge Viett ausführlich in meinem Buch besprochen. Wenn ich heute meinen Beitrag hier aus dem Jahr 2011 lese, dann war ich damals genau auf der richtigen Spur. Vietts Kindheit war unfassbar traumatisch! Ich habe selten über Kindheitserfahrungen gelesen, die so massiv und komplex traumatisch waren.
Inge Viett (ehemaliges RAF Mitglied) wurde in dem Beitrag aus ihrer Autobiographie „Nie war ich furchtloser“ wie folgt zitiert: „Nie in meinem Leben war ich sicherer und furchtloser als in dieser Zeit im Untergrund. Dem Ort, der ein neues anderes Sein außerhalb der hässlichen Welt gestattete. Nie war ich freier, nie war ich gebundener an meine eigene Verantwortung als in dem Zustand völliger Abnabelung von der staatlichen Autorität und von gesellschaftlichen Vorgabe. Kein Gesetz, keine äußere Gewalt bestimmte mehr mein Verhältnis zur Welt, zu meinen Mitmenschen, zum Leben, zum Tod.„
So empfand sie die erste Zeit in der Gruppe. Im NDR Info Bericht wird nachfolgend über die Realität innerhalb der Gruppe berichtet. Dort herrschte massiver Gruppendruck, jede Kritik wurde als Verrat empfunden und sanktioniert, niemandem konnte man sich anvertrauen und starke Spannungen bauten sich immer mehr auf. Inge Viett wird dann erneut zitiert, wie sie sich an diesen Abschnitt in der RAF erinnert: „Es waren die miesesten und unfähigsten Jahre in meinem Guerilladasein. Zurückgefallen in totale Unfreiheit, Entscheidungslosigkeit, unwürdigen Anpassungsdrang, Will- und Orientierungslosigkeit, in Krankheit, Vereinsamung und Lebensunlust. Zurückgefallen in die Kindheit. Wie hatte das geschehen können?“
Diese beiden Zitate bringen das gequälte Kind und die emotionalen Beweggründe der Terroristin zum Vorschein. Inge Viett spricht emotional sehr berührt und glücklich von „einem Zustand völliger Abnabelung von der staatlichen Autorität“ durch ihren Gang in den Untergrund. „Nie war ich furchtloser“ heißt auch ihre Autobiographie, was zeigt, wie wichtig ihr dieser Zustand, dieses Gefühl von Freiheit und Furchtlosigkeit war. Das Wort „Abnabelung“ macht überdeutlich die Verbindung zu ihrer Kindheit klar. Doch was sie später in der Gruppe fand, war erneut ein Zurückgefallensein in die Kindheit, in Abhängigkeit, Willenlosigkeit und Unterdrückung. Das, was sie nie wieder wollte, vor dem sie floh, es hatte sie wieder eingeholt.
Gewalttäter sprechen oftmals verdeckt über das, was ihnen als Kind angetan wurde. Man muss nur hinsehen, sich ihre Worte genau anschauen. Dann erfährt man, worum es eigentlich geht.
Ich ändere auch einfach mal einige Wörter in ihrem Zitat wie folgt: „Nie war ich freier, nie war ich gebundener an meine eigene Verantwortung als in dem Zustand völliger Abnabelung von der elterlichen und vormundschaftlichen Autorität und von erzieherischen Vorgaben. Kein Gesetz, keine familiäre Gewalt bestimmte mehr mein Verhältnis zur Welt.“
Wie ihre Kindheit aussah, beschreibt sie letztlich selbst: Totale Unfreiheit, Entscheidungslosigkeit, unwürdigen Anpassungsdrang, Will- und Orientierungslosigkeit, in Krankheit, Vereinsamung und Lebensunlust.
Über Inge Viett habe ich bisher nicht viel gelesen. Auf wikipedia erfährt man über ihre Kindheit, dass das Jugendamt ihrer Mutter das Sorgerecht entzogen hatte und sie dann in einem Kinderheim, später in einer Pflegefamilie unterkam, aus der sie allerdings nach neun Jahren floh. Das sagt doch schon alles, oder?
Nachtrag vom 17.09.2019: Ich habe die Kindheit von Inge Viett ausführlich in meinem Buch besprochen. Wenn ich heute meinen Beitrag hier aus dem Jahr 2011 lese, dann war ich damals genau auf der richtigen Spur. Vietts Kindheit war unfassbar traumatisch! Ich habe selten über Kindheitserfahrungen gelesen, die so massiv und komplex traumatisch waren.
Samstag, 5. November 2011
Gewalt gegen Kinder in Kenia, Uganda und Äthiopien
Ich bin auf eine weitere umfassende und erschreckende Studie über das Ausmaß an Gewalt in afrikanischen Ländern gestoßen: The African Child Policy Forum, 2006: Violence Against Girls in Africa: A Retrospective Survey in Ethiopia, Kenya and Uganda. Ethiopia. (Hauptautorin: Joanna Stavropoulos)
In dieser Studie wurden jeweils 500 junge Frauen im Alter von 18 bis 24, die aus unterschiedlichen sozialen Milieus stammen, in den Hauptstädten von Äthiopien, Kenia und Uganda zu Gewalterfahrungen vor dem 18. Lebensjahr befragt.
Die wesentlichen Ergebnisse:
-------------------------------------------------------------------------------
Körperliche Gewalt
Mindestens eine Form von körperliche Gewalt (definiert als Schläge mit einem Gegenstand, Prügel, Tritte, Würgen/Verbrennungen, sehr harte Arbeit, Heißes oder bitteres Essen in den Mund der Mädchen einflößen, Einsperren, Essensgabe verweigern) erlebten in
Kenia: 99 %
Uganda: 94,2 % (Zusatzinfo: 59 % der Frauen, die Schläge erlebten, hielten diese für gerechtfertigt)
Äthiopien : 84 % (wobei dieses Land von den drei untersuchten die höchste Rate an Gewalt gegen Mädchen unter fünf Jahren aufweist!)
Unterteilung einiger Formen von Gewalt:
Schläge mit einem Gegenstand erlebten in
Kenia: 81 %
Uganda: 86 %
Äthiopien: 71 %
Davon zwischen 35 bis 42 % der Befragten öfter als 10 mal (der höchste mögliche Wert)
Prügel erlebten in
Kenia: 60 %
Uganda: 55 %
Äthiopien : 60 %
Davon in Äthiopien und Kenia über 30 % und in Uganda um die 15 % öfter als 10 mal (der höchste mögliche Wert)
Tritte erlebten in
Kenia: 40 %
Uganda: 27 %
Äthiopien : 43 %
Davon in Äthiopien und Uganda um die 10 % und in Kenia um die 18 % öfter als 10 mal (der höchste mögliche Wert)
Würgen/Verbrennungen erlebten in
Kenia: 21 %
Uganda: 20 %
Äthiopien : 12 %
Einsperren erlebten in
Kenia: 14 %
Uganda: 18 %
Äthiopien: 10 %
Die Gewalt fand in allen drei Ländern am häufigsten im Alter zwischen 10 und 13 statt. Unter 5 Jahren wurde am wenigsten Gewalt berichtet, dazu muss angemerkt werden, dass gerade in dieser Altersspanne sehr viel vergessen wird. Die TäterInnen waren meist Familienangehörige und Lehrer. In Äthiopien und Kenia führen fast durchgängig die Mütter die Rangliste an, während in Uganda vor allem Stiefmütter als Täterinnen am häufigsten genannte wurden. Die schwersten Formen der Gewalt bezogen auf die Folgen erlebten die Mädchen in Uganda. Je nach den ersten beiden o.g. Gewaltformen mussten 60 bis 70 % auf Grund von Prügel/Schlägen einen Arzt aufsuchen. In Äthiopien und Kenia dagegen ca. 15 bis 20 %. Über die Hälfte der äthiopischen Mädchen, die Schläge oder Tritte erlebten, berichten zudem in Folge dieser Gewalt von Prellungen/Blutergüsse, Schrammen, Blutungen, gebrochenen Knochen oder ausgeschlagenen Zähnen. Über 32% berichten von denselben Folgen auf Grund von Schlägen durch einen Gegenstand. Insofern muss man hier fragen, ob den Mädchen vielleicht kein Arzt zur Verfügung stand, weil nur 15 % wie oben angegeben einen aufsuchten.
-------------------------------------------------------------------------------
Sexuelle Gewalt
Mindestens eine Form sexueller Gewalt erlebten in
Kenia: 85,2 %
Uganda: 95 %
Äthiopien: 68,5 %
(Ca, 40 – 50 % der Befragten erlebten sexuelle Gewalt durch Berührungen)
Vergewaltigung erlebten in
Kenia: 26,3 %
Uganda: 42 %
Äthiopien: 29,7 %
(Ja nach Land erlebten 40 bis über 70 % Vergewaltigungen unter 5 mal (die geringste mögliche Form). Alle anderen erlebten dies über fünf mal!)
Zudem wurde gefragt, ob die Befragten als Mädchen/Jugendliche für sexuelle Dienste verkauft wurden. Dies erlebten in
Kenia: 5,2 %
Uganda: 10,2 %
Äthiopien: 9,3 %
-------------------------------------------------------------------------------
Psychische Gewalt
Mindestens eine Form von psychischer Gewalt (Bloßstellen, Beschimpfungen, Anschreien, Drohung verlassen zu werden, Ignoriert werden, Wegnahme von Geld und Besitz, Diskriminierung auf Grund der Rasse, Ethnie oder Religion, Familienmitglied sagte, das Mädchen wäre am besten nicht geboren worden, Miterleben von Gewalt und Tötung eines Menschen, Gezwungen werden, einem anderen körperliche Gewalt zuzufügen oder eine Waffe zu benutzen, Androhung von Verletzungen und Tod) erlebten in
Kenia: 96,4 %
Uganda: 99,6 %
Äthiopien: 100 %
Unterteillung von vier ausgesuchten Formen von psychischer Gewalt
Ein bis zwei mal (niedrigste Stufe, wobei die höchste Stufe über 10 mal ist) Mitansehen müssen, wie eine bekannte Person umgebracht wird:
Kenia: 59,6 %
Uganda: 89,3%
Äthiopien: 77,3 %
Ein bis zweimal (niedrigste Stufe, wobei die höchste Stufe über 10 mal ist) Androhung von körperlichen Verletzungen oder Tod
Kenia: 60,9 %
Uganda: 61,5 %
Äthiopien: 67,2 %
Familienmitglied sagte ein bis zwei mal (niedrigste Stufe, wobei die höchste Stufe über 10 mal ist) das Mädchen wäre am besten nicht geboren worden (als Täterin am meisten genannt Mütter und Stiefmütter)
Kenia: 33,3 %
Uganda: 49,7 %
Äthiopien: 26,4 %
Ein bis zweimal (niedrigste Stufe, wobei die höchste Stufe über 10 mal ist) Androhung, verlassen zu werden (als Täterin am meisten genannt Mütter und Stiefmütter, gefolgt von Vätern und Stiefvätern)
Kenia: 44,8 %
Uganda: 29 %
Äthiopien: 28,4 %
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Insgesamt ist dies ein unglaublich erschütterndes Bild. Bzgl. der Folgen lässt sich in Anbetracht dieser Gewalterfahrungen stark vermuten, dass ein großer Teil der dortigen Frauen auf Grund ihrer Erfahrungen schwer traumatisiert sind.
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass die befragten Frauen in den jeweiligen Hauptstädten leben. Studien (z.B. auch aus Äthiopien, siehe Link unten) und Erfahrungswerte zeigen allerdings, dass Kinder auf dem Land meist häufiger und schwerer von Gewalt betroffen sind, als Kinder in der Stadt. Man fragt sich in Anbetracht obiger Zahlen, ob es denn überhaupt noch schlimmer geht? Leider muss ich bzgl. der Gewalt gegen Kinder sagen: Es geht immer schlimmer, man kann sich kaum vorstellen, was Kindern alles angetan wird.
Die Grundsätzliche Besprechung der Zahlen siehe unter “Gewalt gegen Kinder in Afrika”
Die Schlussworte der Studie enden mit dem Zitat einer jungen kenianischen Frau. Auch ich möchte dieses als Schlusswort nutzen:
“Thank you for conducting this research. I like to be treated like a human being not an animal.”
In dieser Studie wurden jeweils 500 junge Frauen im Alter von 18 bis 24, die aus unterschiedlichen sozialen Milieus stammen, in den Hauptstädten von Äthiopien, Kenia und Uganda zu Gewalterfahrungen vor dem 18. Lebensjahr befragt.
Die wesentlichen Ergebnisse:
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Körperliche Gewalt
Mindestens eine Form von körperliche Gewalt (definiert als Schläge mit einem Gegenstand, Prügel, Tritte, Würgen/Verbrennungen, sehr harte Arbeit, Heißes oder bitteres Essen in den Mund der Mädchen einflößen, Einsperren, Essensgabe verweigern) erlebten in
Kenia: 99 %
Uganda: 94,2 % (Zusatzinfo: 59 % der Frauen, die Schläge erlebten, hielten diese für gerechtfertigt)
Äthiopien : 84 % (wobei dieses Land von den drei untersuchten die höchste Rate an Gewalt gegen Mädchen unter fünf Jahren aufweist!)
Unterteilung einiger Formen von Gewalt:
Schläge mit einem Gegenstand erlebten in
Kenia: 81 %
Uganda: 86 %
Äthiopien: 71 %
Davon zwischen 35 bis 42 % der Befragten öfter als 10 mal (der höchste mögliche Wert)
Prügel erlebten in
Kenia: 60 %
Uganda: 55 %
Äthiopien : 60 %
Davon in Äthiopien und Kenia über 30 % und in Uganda um die 15 % öfter als 10 mal (der höchste mögliche Wert)
Tritte erlebten in
Kenia: 40 %
Uganda: 27 %
Äthiopien : 43 %
Davon in Äthiopien und Uganda um die 10 % und in Kenia um die 18 % öfter als 10 mal (der höchste mögliche Wert)
Würgen/Verbrennungen erlebten in
Kenia: 21 %
Uganda: 20 %
Äthiopien : 12 %
Einsperren erlebten in
Kenia: 14 %
Uganda: 18 %
Äthiopien: 10 %
Die Gewalt fand in allen drei Ländern am häufigsten im Alter zwischen 10 und 13 statt. Unter 5 Jahren wurde am wenigsten Gewalt berichtet, dazu muss angemerkt werden, dass gerade in dieser Altersspanne sehr viel vergessen wird. Die TäterInnen waren meist Familienangehörige und Lehrer. In Äthiopien und Kenia führen fast durchgängig die Mütter die Rangliste an, während in Uganda vor allem Stiefmütter als Täterinnen am häufigsten genannte wurden. Die schwersten Formen der Gewalt bezogen auf die Folgen erlebten die Mädchen in Uganda. Je nach den ersten beiden o.g. Gewaltformen mussten 60 bis 70 % auf Grund von Prügel/Schlägen einen Arzt aufsuchen. In Äthiopien und Kenia dagegen ca. 15 bis 20 %. Über die Hälfte der äthiopischen Mädchen, die Schläge oder Tritte erlebten, berichten zudem in Folge dieser Gewalt von Prellungen/Blutergüsse, Schrammen, Blutungen, gebrochenen Knochen oder ausgeschlagenen Zähnen. Über 32% berichten von denselben Folgen auf Grund von Schlägen durch einen Gegenstand. Insofern muss man hier fragen, ob den Mädchen vielleicht kein Arzt zur Verfügung stand, weil nur 15 % wie oben angegeben einen aufsuchten.
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Sexuelle Gewalt
Mindestens eine Form sexueller Gewalt erlebten in
Kenia: 85,2 %
Uganda: 95 %
Äthiopien: 68,5 %
(Ca, 40 – 50 % der Befragten erlebten sexuelle Gewalt durch Berührungen)
Vergewaltigung erlebten in
Kenia: 26,3 %
Uganda: 42 %
Äthiopien: 29,7 %
(Ja nach Land erlebten 40 bis über 70 % Vergewaltigungen unter 5 mal (die geringste mögliche Form). Alle anderen erlebten dies über fünf mal!)
Zudem wurde gefragt, ob die Befragten als Mädchen/Jugendliche für sexuelle Dienste verkauft wurden. Dies erlebten in
Kenia: 5,2 %
Uganda: 10,2 %
Äthiopien: 9,3 %
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Psychische Gewalt
Mindestens eine Form von psychischer Gewalt (Bloßstellen, Beschimpfungen, Anschreien, Drohung verlassen zu werden, Ignoriert werden, Wegnahme von Geld und Besitz, Diskriminierung auf Grund der Rasse, Ethnie oder Religion, Familienmitglied sagte, das Mädchen wäre am besten nicht geboren worden, Miterleben von Gewalt und Tötung eines Menschen, Gezwungen werden, einem anderen körperliche Gewalt zuzufügen oder eine Waffe zu benutzen, Androhung von Verletzungen und Tod) erlebten in
Kenia: 96,4 %
Uganda: 99,6 %
Äthiopien: 100 %
Unterteillung von vier ausgesuchten Formen von psychischer Gewalt
Ein bis zwei mal (niedrigste Stufe, wobei die höchste Stufe über 10 mal ist) Mitansehen müssen, wie eine bekannte Person umgebracht wird:
Kenia: 59,6 %
Uganda: 89,3%
Äthiopien: 77,3 %
Ein bis zweimal (niedrigste Stufe, wobei die höchste Stufe über 10 mal ist) Androhung von körperlichen Verletzungen oder Tod
Kenia: 60,9 %
Uganda: 61,5 %
Äthiopien: 67,2 %
Familienmitglied sagte ein bis zwei mal (niedrigste Stufe, wobei die höchste Stufe über 10 mal ist) das Mädchen wäre am besten nicht geboren worden (als Täterin am meisten genannt Mütter und Stiefmütter)
Kenia: 33,3 %
Uganda: 49,7 %
Äthiopien: 26,4 %
Ein bis zweimal (niedrigste Stufe, wobei die höchste Stufe über 10 mal ist) Androhung, verlassen zu werden (als Täterin am meisten genannt Mütter und Stiefmütter, gefolgt von Vätern und Stiefvätern)
Kenia: 44,8 %
Uganda: 29 %
Äthiopien: 28,4 %
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Insgesamt ist dies ein unglaublich erschütterndes Bild. Bzgl. der Folgen lässt sich in Anbetracht dieser Gewalterfahrungen stark vermuten, dass ein großer Teil der dortigen Frauen auf Grund ihrer Erfahrungen schwer traumatisiert sind.
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass die befragten Frauen in den jeweiligen Hauptstädten leben. Studien (z.B. auch aus Äthiopien, siehe Link unten) und Erfahrungswerte zeigen allerdings, dass Kinder auf dem Land meist häufiger und schwerer von Gewalt betroffen sind, als Kinder in der Stadt. Man fragt sich in Anbetracht obiger Zahlen, ob es denn überhaupt noch schlimmer geht? Leider muss ich bzgl. der Gewalt gegen Kinder sagen: Es geht immer schlimmer, man kann sich kaum vorstellen, was Kindern alles angetan wird.
Die Grundsätzliche Besprechung der Zahlen siehe unter “Gewalt gegen Kinder in Afrika”
Die Schlussworte der Studie enden mit dem Zitat einer jungen kenianischen Frau. Auch ich möchte dieses als Schlusswort nutzen:
“Thank you for conducting this research. I like to be treated like a human being not an animal.”
Mittwoch, 2. November 2011
Gewalt gegen Kinder in Tansania
Kurz nachdem ich etwas zur Gewalt gegen Kinder in Afrika geschrieben habe, bin ich auf eine aktuelle repräsentative Studie aus Tansania gestoßen. Diese ergänzt das Bild, dass ich in meinem Beitrag aufgezeigt habe.
3.739 Jungen/Männer und Mädchen/Frauen im Alter von 13 bis 24 Jahren wurden befragt. Hier die wesentlichen Ergebnisse:
- 27,9 % der Mädchen/Frauen und 13,4 % der Jungen/Männer berichteten von mindestens einer Form von sexueller Gewalt vor dem achtzehnten Lebensjahr.
- Fast 6 % der weiblichen Befragten berichteten, zum Geschlechtsverkehr gezwungen worden zu sein.
- Ca. drei Viertel (um die 75 %) aller Befragten erlebte mindestens eine Form körperlicher Gewalt. Unter körperlicher Gewalt wurden Schläge, Stoßen, mit der Faust schlagen, Tritte, zusammengeschlagen werden und Angriffe oder Drohungen mit einer Waffe wie einem Messer oder einer Pistole vor dem 18. Lebensjahr durch Verwandte, einer Autorität (wie Lehrer) oder Lebenspartner verstanden.
- Die Bedrohung mit einer Waffe wurde in der Studie zusätzlich gesondert dargestellt. 3,3 % der Mädchen/Frauen und 3,1 % der Jungen/Männer berichtet von einem solchen extremen Erlebnis.
- Die meiste Gewalt ging von Verwandten (dabei am häufigsten durch die eigenen Eltern) und Lehrern aus. Die weiblichen Befragten erfuhren häufiger Gewalt durch ihre Mütter, die männlichen durch ihre Väter.
- Der größte Teil der Befragten (78 % der weiblichen und 67,4 % der männlichen von Gewalt Betroffenen) erlebte mehr als fünf mal (der höchste mögliche Wert in der Studie) körperliche Gewalt.
- Ca. ein Viertel der Befragten hat emotionale Gewalt erfahren. Dazu gehörten Beschimpfungen, sich ungewollt fühlen oder die Drohung, verlassen zu werden.
- Die meisten der Befragten haben zudem verschiedenen Formen von Gewalt erfahren. Beispielsweise haben 84% der weiblichen Befragten, die als Kind sexuelle Gewalt erlebten, zusätzlich auch körperliche Gewalt erfahren.
- Die Studie zeigte auch, dass 60 % der weiblichen und 50 % der männlichen Befragten es für gerechtfertigt halten, wenn ein Ehemann seine Frau aus bestimmten Gründen schlägt. Dies zeigt eine hohe Akzeptanz von Gewalt und eine erschreckend hohe Identifikation mit den Tätern.
Alles in allem ist die Gewaltbetroffenheit der Kinder in Tansania sehr erschreckend, sowohl was das Ausmaß der Gewalt, als auch die Häufigkeit und Intensität angeht.
Quelle: United Republic of Tanzania, 2011: Violence Against Children in Tanzania. Findings from a National Survey 2009. Durchgeführt unter der Mithilfe von United Nations Children’s Fund, U.S. Centers for Disease Control and Prevention, Muhimbili University of Health and Allied Sciences
3.739 Jungen/Männer und Mädchen/Frauen im Alter von 13 bis 24 Jahren wurden befragt. Hier die wesentlichen Ergebnisse:
- 27,9 % der Mädchen/Frauen und 13,4 % der Jungen/Männer berichteten von mindestens einer Form von sexueller Gewalt vor dem achtzehnten Lebensjahr.
- Fast 6 % der weiblichen Befragten berichteten, zum Geschlechtsverkehr gezwungen worden zu sein.
- Ca. drei Viertel (um die 75 %) aller Befragten erlebte mindestens eine Form körperlicher Gewalt. Unter körperlicher Gewalt wurden Schläge, Stoßen, mit der Faust schlagen, Tritte, zusammengeschlagen werden und Angriffe oder Drohungen mit einer Waffe wie einem Messer oder einer Pistole vor dem 18. Lebensjahr durch Verwandte, einer Autorität (wie Lehrer) oder Lebenspartner verstanden.
- Die Bedrohung mit einer Waffe wurde in der Studie zusätzlich gesondert dargestellt. 3,3 % der Mädchen/Frauen und 3,1 % der Jungen/Männer berichtet von einem solchen extremen Erlebnis.
- Die meiste Gewalt ging von Verwandten (dabei am häufigsten durch die eigenen Eltern) und Lehrern aus. Die weiblichen Befragten erfuhren häufiger Gewalt durch ihre Mütter, die männlichen durch ihre Väter.
- Der größte Teil der Befragten (78 % der weiblichen und 67,4 % der männlichen von Gewalt Betroffenen) erlebte mehr als fünf mal (der höchste mögliche Wert in der Studie) körperliche Gewalt.
- Ca. ein Viertel der Befragten hat emotionale Gewalt erfahren. Dazu gehörten Beschimpfungen, sich ungewollt fühlen oder die Drohung, verlassen zu werden.
- Die meisten der Befragten haben zudem verschiedenen Formen von Gewalt erfahren. Beispielsweise haben 84% der weiblichen Befragten, die als Kind sexuelle Gewalt erlebten, zusätzlich auch körperliche Gewalt erfahren.
- Die Studie zeigte auch, dass 60 % der weiblichen und 50 % der männlichen Befragten es für gerechtfertigt halten, wenn ein Ehemann seine Frau aus bestimmten Gründen schlägt. Dies zeigt eine hohe Akzeptanz von Gewalt und eine erschreckend hohe Identifikation mit den Tätern.
Alles in allem ist die Gewaltbetroffenheit der Kinder in Tansania sehr erschreckend, sowohl was das Ausmaß der Gewalt, als auch die Häufigkeit und Intensität angeht.
Quelle: United Republic of Tanzania, 2011: Violence Against Children in Tanzania. Findings from a National Survey 2009. Durchgeführt unter der Mithilfe von United Nations Children’s Fund, U.S. Centers for Disease Control and Prevention, Muhimbili University of Health and Allied Sciences
Dienstag, 1. November 2011
Gewalt gegen Kinder in Afrika
Anmerkung: Dieser Beitrag ist leicht veraltet. In einem anderen Beitrag habe ich aktuellere Zahlen aus einer großen UNICEF-Studie besprochen, die zeigte, dass Afrika zusammen mit dem Nahen Osten zu den gewaltvollsten Regionen auf der Welt für Kinder gehört.
In der Vergangenheit habe ich in Bezug auf Afrika oft von einer „black box“ was die Kindererziehungspraxis betrifft gesprochen. Mehr Licht ins Dunkle bringt der aktuelle UNICEF Report 2011 „Kinder vor Gewalt schützen“ (erschienen im Fischer Taschenbuch Verlag; siehe auch einige Datengrundlagen 2 Jahre vorher online "Progress for Children. A Report Card on Child Protection") bzgl. der Verbreitung von Gewalt und der Akzeptanz von häuslicher Gewalt (Nachtrag: Mittlerweile habe ich weitere wichtige Studien besprochen, die ich im Textverlauf unten extra verlinkt habe!).
Gewalt gegen Kinder in Prozent wurde wie folgt definiert. „Kinder (2-14. J.), die 2005-2008 psychisch oder physisch bestraft wurden“ (Auf Grund des o.g. Links zu den UNICEF Grundlagendaten 2009 kann ich noch ergänzen, dass die nachfolgenden Zahlen mehrheitlich angeben, dass die Kinder beides erleben, körperliche und psychische Gewalt)
Akzeptanz von häuslicher Gewalt 2002-2009 in % wurde wie folgt definiert: Anteil der Mädchen und Frauen (15-49 Jahre), die die Anwendung von Gewalt durch ihren Ehemann für gerechtfertigt ansehen. Als Gründe, die Gewalt rechtfertigen, wurden genannt: das anbrennen von Essen, Streit mit dem Partner, Verlassen des Hauses ohne sein Wissen, Vernachlässigung der Kinder oder Verweigerung von Sexualverkehr.
Hier die Ergebnisse bzgl. einiger afrikanischer Länder:
Ägypten: Gewalt gegen Kinder = 92 % / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 39 %
Äthiopien: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 81 %
(siehe unbedingt Extraseite (unabhängig vom o.g. UNICEF Report): "Gewalt gegen Kinder in Kenia, Uganda und Äthiopien")
Burkina Faso: Gewalt gegen Kinder = 83 % / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 71 %
(siehe unbedingt Extraseite (unabhängig vom o.g. UNICEF Report): Gewalt gegen Kinder in Burkina Faso, Nigeria, Kamerun, Kongo und Senegal)
Elfenbeinküste: Gewalt gegen Kinder = 91 % / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 65 %
Gambia: Gewalt gegen Kinder = 87 % / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 74 %
Guinea-Bissau: Gewalt gegen Kinder = 82 % / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 52 %
Kamerun: Gewalt gegen Kinder = 93 % / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 56 %
(siehe unbedingt Extraseite (unabhängig vom o.g. UNICEF Report): Gewalt gegen Kinder in Burkina Faso, Nigeria, Kamerun, Kongo und Senegal)
Kenia: Extraseiten (unabhängig vom o.g. UNICEF Report) "Gewalt gegen Kinder in Kenia" und unbedingt wichtig:
"Gewalt gegen Kinder in Kenia, Uganda und Äthiopien")
Kongo, Dem. Rep.: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 76 %
(siehe unbedingt Extraseite (unabhängig vom o.g. UNICEF Report): Gewalt gegen Kinder in Burkina Faso, Nigeria, Kamerun, Kongo und Senegal)
Kongo, Dem. Volksrep.: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 76 %
Liberia: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 59 %
Mosambik: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 36 %
Namibia: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 35 %
(ergänzend: Kindererziehung in Namibia - Ein Erfahrungsbericht)
Niger: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 70 %
Nigeria: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 43 %
(siehe unbedingt Extraseite (unabhängig vom o.g. UNICEF Report): Gewalt gegen Kinder in Burkina Faso, Nigeria, Kamerun, Kongo und Senegal)
Ruanda: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 48 %
siehe ergänzend Extraseiten (unabhängig vom o.g. UNICEF Report): "Kindheit und Terror in Ruanda"
Sambia: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 62 %
Senegal: Keine UNICEF Angaben.
(siehe unbedingt Extraseite (unabhängig vom o.g. UNICEF Report): Gewalt gegen Kinder in Burkina Faso, Nigeria, Kamerun, Kongo und Senegal)
Sierra Leone: Gewalt gegen Kinder = 92 % / Akzeptanz von häuslicher Gewalt: 65 %
Simbabwe: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt 48 %
Somalia: Gewalt gegen Kinder = keine Angaben / Akzeptanz von häuslicher Gewalt 76 %
Tansania: Extraseite (unabhängig vom o.g. UNICEF Report) "Gewalt gegen Kinder in Tansania"
Togo: Gewalt gegen Kinder = 91 % / Akzeptanz von häuslicher Gewalt 53 %
Uganda: (siehe unbedingt Extraseite (unabhängig vom o.g. UNICEF Report): "Gewalt gegen Kinder in Kenia, Uganda und Äthiopien")
Zentralafrikanische Republik: Gewalt gegen Kinder = 89 % / Akzeptanz von häuslicher Gewalt keine Angaben (siehe auch "Ursachen der Gewalt in der Zentralafrikanischen Republik und wie man daran vorbeisehen kann")
Besprechung der Zahlen:
Leider ist die Definition von der Gewalt gegen Kinder auf Grund der Metaebene der Studie etwas schwammig. Trotzdem geben die Zahlen ein Bild über das sehr hohe Ausmaß der Gewalt, nicht jedoch über die Häufigkeit und Intensität. Wenn man einzelne schockierende Berichte aus dieser Region in der Tagespresse verfolgt und sich zusätzlich z.B. Studien wie nachfolgende anschaut, die mehr in die Tiefe gehen, dann gehe ich sehr stark davon aus, dass Gewalt gegen Kinder in dieser Region nicht nur in Form von seltenen Züchtigungen und gelegentlichen verbalen Demütigungen vorkommt, sondern Gewalt weit aus häufiger und intensiver ausgeübt wird:
In Ägypten sagten beispielsweise bei einer Umfrage 37 % der Kinder, dass sie von ihren Eltern geschlagen oder gefesselt würden. 26 % berichteten über Knochenbrüche, Bewusstlosigkeit oder eine bleibende Behinderung aufgrund der Misshandlungen. (vgl. Youssef, Attia & Kamel, 1998 zit. nach WHO, 2002, S. 62) In Äthiopien berichteten 21 % der befragten städtischen Schüler und 64 % der ländlichen Schüler von Blutergüsse oder Prellungen auf Grund körperlicher Bestrafungen durch ihre Eltern. (vgl. Ketsela & Kedebe, 1997 zit. nach WHO, 2002, S. 62); siehe ergänzend auch unbedingt "Gewalt gegen Kinder in Tansania", "Gewalt gegen Kinder in Kenia, Uganda und Äthiopien"und "Gewalt gegen Kinder in Burkina Faso, Nigeria, Kamerun, Kongo und Senegal".
Dazu kommt routinemäßige, institutionelle Gewalt an Schulen. 1998 wurde z.B. Gewalt an Schulen in Kamerun verboten. Doch zwei Jahre später zeigte eine Studie durch EMDIA, dass die Lehrkräfte weiterhin SchülerInnen körperlich bestraften. 97 % der befragten SchülerInnen berichteten, dass sie körperliche Gewalt durch Lehrkräfte erfahren hatten. (vgl. World Report on Violence against Children, 2006, S. 117)
Studien aus dem Jahr 2005 in Ägypten zeigten, dass 80 % der Schüler und 67 % der Schülerinnen Körperstrafen durch Lehrkräfte erlitten haben. (ebd., S. 118) Ähnliches zeigte eine große Studie in Südafrika. 12.793 SchülerInnen wurden befragt. 70,1 % der GrundschülerInnen und 47,5 % der SchülerInnen von weiterführenden Schulen wurden von Lehrkräfte geschlagen, obwohl dies gesetzlich verboten ist. Die Studie zeigte zudem, dass 47.3 % der befragten GrundschülerInnen und 20 % der SchülerInnen aus weiterführenden Schulen von ihren Eltern geschlagen werden, wenn sie etwas falsch gemacht haben. (vgl. Burton, P., 2008: Merchants, Skollies and Stones: Experiences of School Violence in South Africa, Cape Town: Centre for Justice and Crime Prevention) Auch in Kenia gibt es erschütternde Berichte über besonders schwere Gewalt gegen SchülerInnen - siehe hier.
Ich möchte an dieser Stelle auch hervorheben, dass die UNICEF-Zahlen sehr aktuelle Zahlen sind und die hier im Absatz genannten ebenfalls relativ aktuelle. Was die ältere Erwachsenengeneration alles an Gewalt und Gewaltintensität erfahren hat, wird erfahrungsgemäß noch schlimmer sein, als das, was wir heute sehen.
Auch in (West-)Europa finden wir eine hohe Gewaltbetroffenheit der Kinder von bis zu 2/3 könnte man jetzt kritisch in Anbetracht der UNICEF Zahlen sagen. Dabei überwiegen allerdings leichte körperliche, nicht häufige Züchtigungen. Ich denke, das macht u.a. den Unterschied. Eine aktuelle KFN Studie aus dem Jahr 2009 zeigte, dass 42,1 % der befragten Jugendlichen über keinerlei gewalttätige, körperliche Übergriffe seitens der Eltern berichteten. 42,7 % erlebten leichte körperliche Gewalt (eine runtergehauen, hart angepackt oder gestoßen und/oder mit einem Gegenstand geworfen). Insgesamt 15,3 % der Befragten geben an, vor ihrem zwölften Lebensjahr schwerer Gewalt (mit einem Gegenstand geschlagen, mit der Faust geschlagen/ getreten und/oder geprügelt, zusammengeschlagen) durch Elternteile ausgesetzt gewesen zu sein; von diesen können – laut Definition der Studie - 9 % als Opfer elterlicher Misshandlung in der Kindheit bezeichnet werden. Insgesamt sind also 57,9 % der Jugendlichen in Deutschland von körperlicher Gewalt durch Eltern betroffen, allerdings sind die schweren Formen von Gewalt erheblich niedriger. Je häufiger und je schwerer die Formen der Gewalt, desto schlimmer sind die Folgen für die Kinder und auch die später Erwachsenen. Bzgl. Afrika nehme ich wie gesagt an, dass schwerer Formen der Gewalt weitaus häufiger vorkommen als z.B. in Deutschland. Dazu kommen Bedrohungen durch Angstmachen vor Geistern, Hexen und Dämonen, wie oft bzgl. Afrika berichtet wird. (In dem genannten UNICEF Report wird z.B. auf Seite 111 berichtet, dass sich in der Stadt Mkaiki in der Zentralafrikanischen Republik zehn von zwölf Prozessen um Hexerei drehen. Die täglichen Anhörungen sind ein öffentliches Spektakel. Die Beschuldigungen sind haarsträuben – Menschen sollen sich in Tiere verwandelt haben, Stürme oder gestohlene Seelen. Der Bericht zeigt auf, dass auch Kinder willkürlich der Zauberei verdächtigt wurden und daraufhin körperliche Misshandlungen erfuhren. Ich finde zudem alleine das Aufwachsen unter solchen mystischen Angstszenarien bereits psychisch gewaltvoll und sehr belastend.) Systematisch traumatisch sind auch Initiationsrituale, sowohl für Jungen als auch für Mädchen. Das alles ist noch mal ein Thema für sich. Wir werden letztlich in vielen afrikanischen Regionen entsprechend dem stärkeren Gewaltverhalten gegen Kinder eine komplett andere Psychoklassen-Verteilung vorfinden, als im heutigen Europa. Der Kulturschock, der uns dort begegnet, ist eigentlich mehr ein "Psychoklassenschock".
Die Akzeptanz von häuslicher Gewalt ist im UNICEF Bericht schon genauer definiert und erschreckend hoch in den genannten Ländern. Die Akzeptanz ist mit 35 % am niedrigsten in Namibia und mit 81 % am höchsten in Äthiopien, die anderen Länder liegen dazwischen. Bei den Ländern, wo zugleich auch Zahlen bzgl. der Gewalt gegen Kinder vorliegen, zeigt sich durchgängig, dass die Gewaltraten im Vergleich zu den Raten bzgl. der Gewaltakzeptanz deutlich höher liegen. Insofern gehe ich davon aus, dass wir bei den Ländern, wo keine Zahlen zur Gewalt gegen Kinder aber Gewaltakzeptanzzahlen vorliegen, durch letztere Zahl auch Rückschlüsse zu ersterer ziehen können. Beispielsweise wird für Ruanda eine Akzeptanzrate bzgl. häuslicher Gewalt von 48 % berichtet, entsprechend würde ich schätzen, dass die Gewaltrate gegen Kinder dort zwischen 70 und 90 % liegen könnte.
Dieser Part des Berichtes ist zudem ganz besonders aufschlussreich, weil er letztlich etwas über das Phänomen „Identifikation mit dem Aggressor“ aussagt und sich auf Mädchen und Frauen bezieht, denjenigen also, die hauptsächlich für die Kindererziehung zuständig sind. Letztlich sagen die Prozentzahlen, dass ein Großteil der Mädchen/Frauen erlebte Gewalt für legitim halten. Gleichzeitig wird der Täter entlastet, da seine Tat ja durch das „unkorrekte“ Verhalten der Frauen ausgelöst wurde. Die Schuld für die Gewalt trägt demnach also die Frau selbst. Es ist nur logisch, dass eine solche Identifikation mit dem Täter bzw. eine Akzeptanz von Gewalt auch viel darüber aussagt, wie diese Frauen mit ihren eigenen Kindern umgehen, wenn diese sich einmal „unkorrekt“ verhalten. Frauen sind, was den Umgang mit Kindern angeht, alles andere als das friedlichere Geschlecht, was vielen Menschen gar nicht bewusst ist. Studien in westlichen Ländern zeigen, dass Frauen mindestens zur Hälfte an der Misshandlung von Kindern beteiligt sind. Sehr viel anders dürfte es auch nicht in Afrika aussehen. (das belegen übrigens auch die oben im Text extra verlinkten Studien)
Afrika ist der Kontinent, der einfach nicht zu Ruhe kommt, in dem Gewalt, Terror, Krieg und Elend oftmals Alltag ist. Die meisten Forschenden und Berichterstatter übersehen routinemäßig die sehr hohe Gewaltbetroffenheit von afrikanischen Kindern. Wenn auf die Gewaltbetroffenheit der Kinder (bezogen auf den sozialen Nahbereich) eingegangen wird, dann meist isoliert oder sie wird als Folge von Armut, Kriegen und Kolonialismus gedeutet. Dass eine gesellschaftlich gewaltvolle Gesamtlage und eine destruktive Struktur in der Tiefe durch die weit verbreitete Gewalt gegen Kinder entstehen kann (und die Gewalt gegen Kinder an sich wiederum aus eigenen Gewalterfahrungen heraus entsteht), wird selten gesehen oder besprochen.
Eine nachhaltige Entwicklungshilfe muss immer auch das vordergründige Ziel haben, Kinder vor (vor allem elterlicher) Gewalt zu schützen. Wer dies übersieht, wird langfristig kaum Erfolge vor Ort erzielen. Zudem sollten zukünftig die möglichen Unterschiede in der Kindererziehungspraxis von Land zu Land herausgearbeitet werden. Insofern ließen sich vielleicht auch einige Unterschiede in den Konfliktsituationen besser erklären. So weit ich weiß, ist die Republik Botsuana das einzige afrikanische Land, das seit 1945 keinen Krieg oder einen bewaffneten Konflikt erlebt hat. Insofern wäre es interessant, hier ggf. Unterschiede bzgl. des Umgangs mit Kindern herauszuarbeiten. Umgekehrt könnte man schauen, ob in den Ländern, die ganz besonders blutige Kriege erlebten - wie z.B. Ruanda, Kongo oder Sudan – ggf. eine weit verbreitete besondere Brutalität gegen Kinder nachweisbar ist.
Montag, 31. Oktober 2011
Lynchjustiz in Kenia - Und die Blindheit der Kommentatoren
Unter der Bildüberschrift „In Kenia steigt die Zahl der Fälle von Lynchjustiz rapide. Die Gründe? Armut, Drogen, korrupte Polizisten - und oft auch der Glaube an übernatürliche Kräfte.“ schreibt aktuell SPIEGEL-Online darüber, wie der einfache Ruf „Haltet den Dieb!“ eine Lynchmeute in Bewegung setzen kann, die häufig erst hinterher, nachdem der Verdächtigte verbrannt, gesteinigt, mit der Machete erschlagen oder todgeprügelt wurde, fragt, wer der „Bösewicht“ denn war und was genau ihm eigentlich vorgeworfen wird. „Hat die Menge ihre Opfer erst einmal markiert, ist sie unnachgiebig, verbissen und erbarmungslos.“ Aber auch der untreue Ehemann, der mit einer anderen Frau erwischt wurde oder Menschen, die einfach der Hexerei verdächtigt wurden, wurden und werden laut dem Bericht gelyncht.
„Dass die Kenianer die Rechtssprechung selbst in die Hand nehmen, hat vor allem mit dem nicht vorhandenen Vertrauen in Polizei und Justiz zu tun.“ erfährt man weiter in dem Bericht.
Neben der Schrecklichkeit des Berichteten macht mich immer wieder fassungslos, wie blind Kommentatoren und Journalisten bzgl. der tieferen Ursachen sind. Kaum jemand stellt in Angesicht solcher Taten die Frage, welche emotionalen Voraussetzungen ein Mensch überhaupt erfüllen muss, um derart brutal und willkürlich töten zu können.
Dass in Angesicht von extremer Armut und Elend und einer unfähigen Polizei das wenige Eigentum der Menschen lebenswichtig wertvoll ist, ist dabei unbestritten. Das Selbstjustizsystem wäre nur zu verständlich und geradezu sozial vorbildlich, wenn es wirklich um das Verhindern von Diebstählen und der Sicherung von Eigentum ginge. Wenn eine gerade bestohlene Frau ruft „Haltet den Dieb“ und die Nachbarn schnell zusammenkommen, den Dieb stellen, der Dieb sich erklären muss, das gestohlene Eigentum der Frau zurückgeben wird und der Dieb sozial abgestraft wird, in dem man ihn z.B. zu seiner Familie bringt und den Diebstahl eröffnet. Allerdings: Erstens sind die Delikte – laut Bericht – oftmals Bagatelldelikte bis hin zum Abbrechen eines Außenspiegels am Auto oder inszenierte Delikte wie Hexerei, die zum Morden führen. Zweitens scheint die Meute im Grunde nicht wirklich zu interessieren, was dem Beschuldigten vorgeworfen wird, sie wollen einfach Blut sehen. Drittens erklären diese „Auslöser“ (wie Diebstahl) nicht, warum Menschen, die gerade beim Abwaschen waren, mit ihrem Kind spielten, einfach rumsaßen usw. plötzlich aufstehen und einfach so einen Menschen brutal umbringen, ja geradezu zu Tode quälen können.
Nur Menschen, die ihre Emotionen, vor allem das Mitgefühl, abgespalten haben, können zu solchen Taten fähig sein. Das ist die emotionale Grundvoraussetzung für solche Taten. Elendige Lebenssituationen, tagtäglicher Überlebenskampf um Nahrung usw. sind eine Sache, die sicherlich emotional abstumpfen lassen (aber nicht unbedingt psychisch spalten). Die bedeutsamste Sache ist allerdings erfahrene elterliche Gewalt, die den Menschen früh und extrem nachhaltig spaltet und zudem – je nach dem Ausmaß der erfahrenen Gewalt – Rache- und Hassgefühle zurücklässt, die ihren Ausdruck suchen, um kurzfristig Erleichterung durch Opfern eines Anderen zu verspüren. Dass Gewalt gegen Kinder in Kenia Routine ist, teils auch sehr schwere Formen, hatte ich kürzlich in einem Beitrag geschrieben. Wer die grenzenlose Gewalt verstehen will, die uns oftmals in vielen afrikanischen Ländern begegnet (und die oftmals sehr an die Zustände im Europa früherer Zeit erinnert) , der muss zu aller erst die Kindheiten vor Ort anschauen und verstehen.
„Dass die Kenianer die Rechtssprechung selbst in die Hand nehmen, hat vor allem mit dem nicht vorhandenen Vertrauen in Polizei und Justiz zu tun.“ erfährt man weiter in dem Bericht.
Neben der Schrecklichkeit des Berichteten macht mich immer wieder fassungslos, wie blind Kommentatoren und Journalisten bzgl. der tieferen Ursachen sind. Kaum jemand stellt in Angesicht solcher Taten die Frage, welche emotionalen Voraussetzungen ein Mensch überhaupt erfüllen muss, um derart brutal und willkürlich töten zu können.
Dass in Angesicht von extremer Armut und Elend und einer unfähigen Polizei das wenige Eigentum der Menschen lebenswichtig wertvoll ist, ist dabei unbestritten. Das Selbstjustizsystem wäre nur zu verständlich und geradezu sozial vorbildlich, wenn es wirklich um das Verhindern von Diebstählen und der Sicherung von Eigentum ginge. Wenn eine gerade bestohlene Frau ruft „Haltet den Dieb“ und die Nachbarn schnell zusammenkommen, den Dieb stellen, der Dieb sich erklären muss, das gestohlene Eigentum der Frau zurückgeben wird und der Dieb sozial abgestraft wird, in dem man ihn z.B. zu seiner Familie bringt und den Diebstahl eröffnet. Allerdings: Erstens sind die Delikte – laut Bericht – oftmals Bagatelldelikte bis hin zum Abbrechen eines Außenspiegels am Auto oder inszenierte Delikte wie Hexerei, die zum Morden führen. Zweitens scheint die Meute im Grunde nicht wirklich zu interessieren, was dem Beschuldigten vorgeworfen wird, sie wollen einfach Blut sehen. Drittens erklären diese „Auslöser“ (wie Diebstahl) nicht, warum Menschen, die gerade beim Abwaschen waren, mit ihrem Kind spielten, einfach rumsaßen usw. plötzlich aufstehen und einfach so einen Menschen brutal umbringen, ja geradezu zu Tode quälen können.
Nur Menschen, die ihre Emotionen, vor allem das Mitgefühl, abgespalten haben, können zu solchen Taten fähig sein. Das ist die emotionale Grundvoraussetzung für solche Taten. Elendige Lebenssituationen, tagtäglicher Überlebenskampf um Nahrung usw. sind eine Sache, die sicherlich emotional abstumpfen lassen (aber nicht unbedingt psychisch spalten). Die bedeutsamste Sache ist allerdings erfahrene elterliche Gewalt, die den Menschen früh und extrem nachhaltig spaltet und zudem – je nach dem Ausmaß der erfahrenen Gewalt – Rache- und Hassgefühle zurücklässt, die ihren Ausdruck suchen, um kurzfristig Erleichterung durch Opfern eines Anderen zu verspüren. Dass Gewalt gegen Kinder in Kenia Routine ist, teils auch sehr schwere Formen, hatte ich kürzlich in einem Beitrag geschrieben. Wer die grenzenlose Gewalt verstehen will, die uns oftmals in vielen afrikanischen Ländern begegnet (und die oftmals sehr an die Zustände im Europa früherer Zeit erinnert) , der muss zu aller erst die Kindheiten vor Ort anschauen und verstehen.
Samstag, 29. Oktober 2011
Ergänzung: Kindheit von Friedrich II. (König von Preußen)
Ich habe im Grundlagentext die Kindheit von Friedrich II. um Textstellen aus der neuen Quelle "Kunisch, J. 2009: Friedrich der Große. Der König und seine Zeit. Deutscher Taschenbuch Verlag, Münschen." ergänzt. Neue Textstellen habe ich hier kursiv gekennzeichnet. Außerdem habe ich den Titel des Kapitels geändert. Dort stand "Ein kurzer Abriss von ...". Mittlerweile ich dieses Kapitel nicht mehr kurz, sondern sehr ausführlich geworden. Insofern beginnt es jetzt mit "Die Kindheit von Diktatoren und destruktiven Politikern: (...)" Auch zukünftig habe ich vor, dieses Kapitel zu erweitern, auch um neue Namen.
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Der Kronprinz Friedrich II. (der Große und König von Preußen, 1712 - 1786) verbrachte seine ersten vier Lebensjahre unter der Fürsorge einer Untergouvernante, über deren Erziehungsstil man nichts erfährt. Wie in damaligen hochadligen Familien üblich, überließen die leiblichen Eltern die Erziehung komplett Anderen, was im Grunde systematisch den ersten schweren Bruch mit dem Kind bedeutet. Friedrichs Mutter – Königin Sophie Dorothea – scheint kaum eine Rolle im Leben des Kronprinzen gespielt zu haben. Der Biograf Johannes Kunisch beschreibt im Grunde überhaupt keine Beziehung oder Begegnungen mit ihrem Sohn. Alles, was man dazu erfährt ist folgendes: „Ob dem Heranwachsenden in seiner Kindheit jemals mütterliche Zuwendung und Wärme zuteil geworden ist, mag (…) zweifelhaft erscheinen. Spätestens seit die dynastischen Ambitionen der Königin in Bezug auf ihre Kinder abgewiesen und enttäuscht worden waren, trat zutage, dass besonders der Kronprinz und seine Schwester Wilhelmine lediglich Werkzeuge eines machtpolitischen Kalküls waren, das ständig häusliche Konflikte und gelegentlich heftige Auseinandersetzungen heraufbeschwor (…).“ (Kunisch, 2009, S. 12)
Genauer beschrieben ist die Beziehung zum Vater – König Friedrich Wilhelm I. Dieser wird als jähzorniger, unberechenbarer, tyrannischer und aufs Militärische fixierter Vater beschrieben. Die Kindheit und Jugend Friedrichs war auf Anweisung und unter Beteiligung des Vaters von einer militärischen Erziehung mit Drill, körperlichen Züchtigungen und seelischen Verletzungen geprägt. (vgl. WDR, Planet Wissen, 01.06.2009 und Kunisch, 2009) Der junge Friedrich interessierte sich mehr für Musik, Literatur und Sprachen als für das Soldatentum, was dem Willen seines Vaters komplett entgegenlief. Heimlich spielte er Flöte, las französische Romane und lernte Latein. Wenn der Vater davon Wind bekam, setzte es Prügel, auch vor den Augen von Offizieren und Dienstboten. Einem Lehrer, der mit dem Sohn Latein übte, verabreichte der König höchst persönlich Prügel, wie Friedrich II. später selbst berichtete. Danach war der Sohn dran, der sich erschreckt durch den Wutausbruch des Vaters unter einem Tisch verkrochen hatte. Friedrich II. dazu: „Ich zitterte noch mehr; er packte mich an den Haaren, zieht mich unter dem Tisch hervor, schleppt mich so bis in die Mitte des Zimmers und versetzt mir endlich einige Ohrfeigen: "Komm mir wieder mit deiner mensa, und du wirst sehen, wie ich dir den Kopf zurechtsetze" “ (Kunisch, 2009, S. 20) Je älter der Kronprinz wurde, desto strenger und reglementierter wurde die durch den Vater angewiesene Erziehung. Aus der Jugendzeit des Kronprinzen ist eine Konfliktsituation überliefert, in der er vom Vater zunächst vor der versammelten Dienerschaft misshandelt wurde. „Dabei schrie er ihn an und gab ihm in provozierender Verächtlichkeit zu verstehen, dass er sich totgeschossen hätte, wenn er von seinem Vater so behandelt worden wäre; doch er, Friedrich, lasse sich ja alles gefallen.“ (ebd. S. 24) Hier wird der blanke Hass des Vaters deutlich, der sich wünscht, dass sein Sohn sich umbringt. Friedrich II. schrieb im Alter von Sechzehn Jahren noch einmal einen verzweifelten Brief an den Vater, in dem er den „grausamen Hass, den ich aus allem seinen (Anmerkung: des Königs) Tun genug habe wahrnehmen können“, von sich fernzuhalten hoffte. Die schriftliche Antwort des Königs beschreibt zusammenfassend die Haltung des Vaters: „Sein eigensinniger böser Kopf, der nicht seinen Vater liebet, denn wenn man nun Alles thut, absonderlich seinen Vater liebet, so thut man, was er haben will, nicht wenn er dabei steht, sondern wenn er nicht Alles sieht. (…)“ (ebd. S. 24f) Der Vater wollte eine Marionette, jeder Eigensinn sollte dem Sohn ausgetrieben werden. Friedrich versuchte sich immer mehr der Kontrolle des Vaters zu entziehen und wurde auch ein Meister darin, sich zu verstellen. Um dem jähzornigen Vater zu entkommen, beschloss der Thronfolger schließlich 1730 die Flucht. Doch die Pläne flogen auf, Friedrich wurde als Deserteur verhaftet und in Festungshaft genommen. Sein Vater verhängte die Todesstrafe über Friedrichs besten Freund, Hans Hermann von Katte, der in die Fluchtpläne eingeweiht war. Bei der Hinrichtung musste der Kronprinz zusehen. (vgl. ZDF, 11.11.2008) In der Folge beugte sich Friedrich II. nun dem Befehl seines Vaters und heiratete auf dessen Wunsch Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern, an der Friedrich keinerlei Interesse hatte. Als späterer König führte Friedrich II. häufig, ja fast ununterbrochen Krieg. Es scheint so, dass er letztendlich den Willen des Vaters komplett entsprochen wenn nicht gar noch übertroffen hat. Friedrich II. hat sich absolut mit dem Aggressor identifiziert und ist selbst zu einem unerbittlichen Aggressor und Kriegsherren geworden.
Die Geschichte von Friedrich II. hat insofern ein ganz besondere Tragik, wenn man sich die Entwicklungen vor Augen hält, die er selbst in dem Gedicht „An Jordan“ vom 10. Juni 1742 beschrieb:
"Als ich geboren ward, ward ich der Kunst geboren, (…)
Und für des Herrschers Hochmut schien dies Herz verloren,
Das voller Mitleid war und kindlich unbewußt.
Die ganze Welt war mir ein Garten duft'ger Blumen, (…)
Da riß das Schicksal mich aufs große Welttheater,
In der Tragödie »Krieg« ward mir der Heldenpart"
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Der Kronprinz Friedrich II. (der Große und König von Preußen, 1712 - 1786) verbrachte seine ersten vier Lebensjahre unter der Fürsorge einer Untergouvernante, über deren Erziehungsstil man nichts erfährt. Wie in damaligen hochadligen Familien üblich, überließen die leiblichen Eltern die Erziehung komplett Anderen, was im Grunde systematisch den ersten schweren Bruch mit dem Kind bedeutet. Friedrichs Mutter – Königin Sophie Dorothea – scheint kaum eine Rolle im Leben des Kronprinzen gespielt zu haben. Der Biograf Johannes Kunisch beschreibt im Grunde überhaupt keine Beziehung oder Begegnungen mit ihrem Sohn. Alles, was man dazu erfährt ist folgendes: „Ob dem Heranwachsenden in seiner Kindheit jemals mütterliche Zuwendung und Wärme zuteil geworden ist, mag (…) zweifelhaft erscheinen. Spätestens seit die dynastischen Ambitionen der Königin in Bezug auf ihre Kinder abgewiesen und enttäuscht worden waren, trat zutage, dass besonders der Kronprinz und seine Schwester Wilhelmine lediglich Werkzeuge eines machtpolitischen Kalküls waren, das ständig häusliche Konflikte und gelegentlich heftige Auseinandersetzungen heraufbeschwor (…).“ (Kunisch, 2009, S. 12)
Genauer beschrieben ist die Beziehung zum Vater – König Friedrich Wilhelm I. Dieser wird als jähzorniger, unberechenbarer, tyrannischer und aufs Militärische fixierter Vater beschrieben. Die Kindheit und Jugend Friedrichs war auf Anweisung und unter Beteiligung des Vaters von einer militärischen Erziehung mit Drill, körperlichen Züchtigungen und seelischen Verletzungen geprägt. (vgl. WDR, Planet Wissen, 01.06.2009 und Kunisch, 2009) Der junge Friedrich interessierte sich mehr für Musik, Literatur und Sprachen als für das Soldatentum, was dem Willen seines Vaters komplett entgegenlief. Heimlich spielte er Flöte, las französische Romane und lernte Latein. Wenn der Vater davon Wind bekam, setzte es Prügel, auch vor den Augen von Offizieren und Dienstboten. Einem Lehrer, der mit dem Sohn Latein übte, verabreichte der König höchst persönlich Prügel, wie Friedrich II. später selbst berichtete. Danach war der Sohn dran, der sich erschreckt durch den Wutausbruch des Vaters unter einem Tisch verkrochen hatte. Friedrich II. dazu: „Ich zitterte noch mehr; er packte mich an den Haaren, zieht mich unter dem Tisch hervor, schleppt mich so bis in die Mitte des Zimmers und versetzt mir endlich einige Ohrfeigen: "Komm mir wieder mit deiner mensa, und du wirst sehen, wie ich dir den Kopf zurechtsetze" “ (Kunisch, 2009, S. 20) Je älter der Kronprinz wurde, desto strenger und reglementierter wurde die durch den Vater angewiesene Erziehung. Aus der Jugendzeit des Kronprinzen ist eine Konfliktsituation überliefert, in der er vom Vater zunächst vor der versammelten Dienerschaft misshandelt wurde. „Dabei schrie er ihn an und gab ihm in provozierender Verächtlichkeit zu verstehen, dass er sich totgeschossen hätte, wenn er von seinem Vater so behandelt worden wäre; doch er, Friedrich, lasse sich ja alles gefallen.“ (ebd. S. 24) Hier wird der blanke Hass des Vaters deutlich, der sich wünscht, dass sein Sohn sich umbringt. Friedrich II. schrieb im Alter von Sechzehn Jahren noch einmal einen verzweifelten Brief an den Vater, in dem er den „grausamen Hass, den ich aus allem seinen (Anmerkung: des Königs) Tun genug habe wahrnehmen können“, von sich fernzuhalten hoffte. Die schriftliche Antwort des Königs beschreibt zusammenfassend die Haltung des Vaters: „Sein eigensinniger böser Kopf, der nicht seinen Vater liebet, denn wenn man nun Alles thut, absonderlich seinen Vater liebet, so thut man, was er haben will, nicht wenn er dabei steht, sondern wenn er nicht Alles sieht. (…)“ (ebd. S. 24f) Der Vater wollte eine Marionette, jeder Eigensinn sollte dem Sohn ausgetrieben werden. Friedrich versuchte sich immer mehr der Kontrolle des Vaters zu entziehen und wurde auch ein Meister darin, sich zu verstellen. Um dem jähzornigen Vater zu entkommen, beschloss der Thronfolger schließlich 1730 die Flucht. Doch die Pläne flogen auf, Friedrich wurde als Deserteur verhaftet und in Festungshaft genommen. Sein Vater verhängte die Todesstrafe über Friedrichs besten Freund, Hans Hermann von Katte, der in die Fluchtpläne eingeweiht war. Bei der Hinrichtung musste der Kronprinz zusehen. (vgl. ZDF, 11.11.2008) In der Folge beugte sich Friedrich II. nun dem Befehl seines Vaters und heiratete auf dessen Wunsch Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern, an der Friedrich keinerlei Interesse hatte. Als späterer König führte Friedrich II. häufig, ja fast ununterbrochen Krieg. Es scheint so, dass er letztendlich den Willen des Vaters komplett entsprochen wenn nicht gar noch übertroffen hat. Friedrich II. hat sich absolut mit dem Aggressor identifiziert und ist selbst zu einem unerbittlichen Aggressor und Kriegsherren geworden.
Die Geschichte von Friedrich II. hat insofern ein ganz besondere Tragik, wenn man sich die Entwicklungen vor Augen hält, die er selbst in dem Gedicht „An Jordan“ vom 10. Juni 1742 beschrieb:
"Als ich geboren ward, ward ich der Kunst geboren, (…)
Und für des Herrschers Hochmut schien dies Herz verloren,
Das voller Mitleid war und kindlich unbewußt.
Die ganze Welt war mir ein Garten duft'ger Blumen, (…)
Da riß das Schicksal mich aufs große Welttheater,
In der Tragödie »Krieg« ward mir der Heldenpart"
Sonntag, 23. Oktober 2011
Neue KFN-Studie: Deutlicher Rückgang von sexuellem Missbrauch
Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen hat im Jahr 2011 repräsentativ 11.428 Personen der Altersgruppe 16 bis 40 u.a. zu Gewalterfahrungen befragt. Das Zwischenergebnis (Langfassung hier) bzgl. sexuellen Missbrauch: 6,4 Prozent der weiblichen und 1,3 Prozent der männlichen Befragten gaben an, vor ihrem 16. Lebensjahr mindestens einen sexuellen Übergriff mit Körperkontakt erlebt zu haben. Das KFN vergleicht diese Zahlen mit einer älteren Studie im selben Hause: „Im Vergleich zur KFN-Untersuchung des Jahres 1992 ist ein deutlicher Rückgang des Missbrauchs zu verzeichnen. Damals hatten von den Frauen 8,6% und von den Männern 2,8% bis zum 16. Lebensjahr mindestens eine Missbrauchserfahrung mit Körperkontakt erlebt.“ Noch deutlicher wird dieser rückläufige Trend, wenn man sich drei Alterskohorten anschaut: „So haben die heute weiblichen 31 bis 40-jährigen der aktuellen Untersuchung bis zu ihrem 16. Lebensjahr zu 8,0% einen Missbrauch mit Körperkontakt erlitten, die 21 bis 30-jährigen zu 6,4%, die 16 bis 20-jährigen dagegen nur zu 2,4%. Bei den Männern lauten die Vergleichsquoten 1,8%, 1,1% und 0,6%.„
Je jünger die Menschen also sind, desto weniger sind sie vom sexuellem Missbrauch betroffen. Das ist zunächst einmal eine sehr gute Nachricht für unser Land und bestätigt auch den allgemeinen Trend, dass hierzulande die Kinder Jahr für Jahr weniger an Gewalt erfahren. Wie schon oft von mir gesagt, wird sich damit mittel- bis langfristig die gesamte deutsche Gesellschaft enorm verändern. Weniger Gewalt gegen Kinder und eine bessere Kindererziehungspraxis bringen mehr echte Gefühle, mehr Authentizität, mehr Selbstbewusstsein, Flexibilität, Freiheit und vor allem weniger Destruktivität in allen persönlichen und auch gesellschaftlichen Bereichen mit sich.
Trotzdem bleiben die o.g. Zahlen immer noch erschreckend. (Man muss an dieser Stelle auch wieder mit Erschrecken feststellen, dass das Ausmaß der sexuellen Gewalt gegen Kinder vor über 100 Jahren enorm gewesen sein muss, wenn wir den o.g. Trend historisch zurückrechnen.) Wenn man sich die Bevölkerungsstruktur anschaut, dann lebten laut Statistischem Bundesamt in Deutschland im Jahr 2009 31,05 Mio. Menschen, die zwischen 15 und 45 Jahren alt waren. Die o.g. Studie bezieht sich ja auf die 16 bis 40jährigen, insofern muss man von der genannten Statistik noch einiges abziehen. Ich ziehe mal einfach 4 Mio Menschen ab. Bleiben runde 27 Mio. Ums rechnerisch leichter zu machen, teile ich diese Zahl bzgl. der Geschlechter einfach durch zwei. Gehen wir jetzt von den 6,4 Prozent der weiblichen und 1,3 Prozent der männlichen Befragten aus, die sexuellen Missbrauch mit Körperkontakt angaben, dann ergibt sich daraus in absoluten Zahlen bzgl. der o.g. Altersgruppe: 864.000 Frauen und 175.000 Männer. Dabei sind wohlgemerkt die Kinder unter 16 und die Erwachsenen über 40 nicht enthalten!
Dazu kommen all die bekannten Probleme, die solche Studien aufweisen. Vor allem schwerere Missbrauchserfahrungen werden oftmals nicht oder in einem gewissen Zeitraum nicht erinnert, Erfahrungen vor dem 3. Lebensjahr werden dazu sowieso meist kaum bewusst auf Grund der Voraussetzungen des Gehirns erinnert. Diese und weitere Probleme lagen aber auch bei der Vergleichsstudie aus dem Jahr 1992 vor. Insofern ist der Rückgang der Zahlen ein realer.
Interessant ist hier noch, dass z.B. Dirk Bange alle bisher vorliegenden Studien zu der Thematik im Jahr 2002 besprochen hat und bei einer Anpassung der unterschiedlichen Definitionen von sexuellem Missbrauch zu dem übereinstimmenden Ergebnis kam, dass 10 -15 % der Frauen und 5-10 % der Männer bis zum Alter von 14 oder 16 Jahren mindestens einmal einen sexuellen Kontakt erlebt haben, der unerwünscht war oder durch die „moralische“ Übermacht einer deutlich älteren Person oder durch Gewalt erzwungen wurde. (vgl. Bange, D. 2002: Ausmaß. In: Bange / Körner (Hrsg.): Handwörterbuch - Sexueller Missbrauch. Hofgrefe-Verlag, Göttingen, S. 25)
Studien, die sich schwerpunktmäßig auf sexuelle Gewalt konzentrierten, sich auf Studierende konzentrierten (die meist zu mehr Selbstreflexion fähig sind und Befragungen an sich aufgeschlossener gegenüberstehen) oder auch z.B. durch persönliche Interviews durchgeführt wurden, scheinen meist höhere Raten festzustellen. Die Methodik und das Forschungsdesign haben immer Einfluss auf das Ergebnis. In der aktuellen KFN Studie wurde auch folgendes festgestellt:
"Im Vergleich der deutschen Befragten zu denen mit Migrationshintergrund fällt auf, dass vor allem die Frauen mit türkischem Migrationshintergrund erheblich seltener von Missbrauchserfahrungen berichtet haben, z.B. Missbrauch mit Körperkontakt bis zum 16. Lebensjahr zu 1,7%, deutsche Frauen dagegen 7,3%." Andere KFN Studien stellt bzgl. körperlicher Gewalt und Partnergewalt meist erheblich höhere Raten bei den Befragten mit türkischem Migrationshintergrund fest. Das passt insofern nicht ins Bild und scheint insofern mit dem sehr Scham- und Schuldgefühl belastetem Thema Missbrauch und/oder ggf. auch mit dem Aufbau der Studie in Zusammenhang zu stehen.
Trotzdem finde ich die aktuelle KFN Studie wichtig und bin zudem auf weitere Ergebnisse gespannt.
Je jünger die Menschen also sind, desto weniger sind sie vom sexuellem Missbrauch betroffen. Das ist zunächst einmal eine sehr gute Nachricht für unser Land und bestätigt auch den allgemeinen Trend, dass hierzulande die Kinder Jahr für Jahr weniger an Gewalt erfahren. Wie schon oft von mir gesagt, wird sich damit mittel- bis langfristig die gesamte deutsche Gesellschaft enorm verändern. Weniger Gewalt gegen Kinder und eine bessere Kindererziehungspraxis bringen mehr echte Gefühle, mehr Authentizität, mehr Selbstbewusstsein, Flexibilität, Freiheit und vor allem weniger Destruktivität in allen persönlichen und auch gesellschaftlichen Bereichen mit sich.
Trotzdem bleiben die o.g. Zahlen immer noch erschreckend. (Man muss an dieser Stelle auch wieder mit Erschrecken feststellen, dass das Ausmaß der sexuellen Gewalt gegen Kinder vor über 100 Jahren enorm gewesen sein muss, wenn wir den o.g. Trend historisch zurückrechnen.) Wenn man sich die Bevölkerungsstruktur anschaut, dann lebten laut Statistischem Bundesamt in Deutschland im Jahr 2009 31,05 Mio. Menschen, die zwischen 15 und 45 Jahren alt waren. Die o.g. Studie bezieht sich ja auf die 16 bis 40jährigen, insofern muss man von der genannten Statistik noch einiges abziehen. Ich ziehe mal einfach 4 Mio Menschen ab. Bleiben runde 27 Mio. Ums rechnerisch leichter zu machen, teile ich diese Zahl bzgl. der Geschlechter einfach durch zwei. Gehen wir jetzt von den 6,4 Prozent der weiblichen und 1,3 Prozent der männlichen Befragten aus, die sexuellen Missbrauch mit Körperkontakt angaben, dann ergibt sich daraus in absoluten Zahlen bzgl. der o.g. Altersgruppe: 864.000 Frauen und 175.000 Männer. Dabei sind wohlgemerkt die Kinder unter 16 und die Erwachsenen über 40 nicht enthalten!
Dazu kommen all die bekannten Probleme, die solche Studien aufweisen. Vor allem schwerere Missbrauchserfahrungen werden oftmals nicht oder in einem gewissen Zeitraum nicht erinnert, Erfahrungen vor dem 3. Lebensjahr werden dazu sowieso meist kaum bewusst auf Grund der Voraussetzungen des Gehirns erinnert. Diese und weitere Probleme lagen aber auch bei der Vergleichsstudie aus dem Jahr 1992 vor. Insofern ist der Rückgang der Zahlen ein realer.
Interessant ist hier noch, dass z.B. Dirk Bange alle bisher vorliegenden Studien zu der Thematik im Jahr 2002 besprochen hat und bei einer Anpassung der unterschiedlichen Definitionen von sexuellem Missbrauch zu dem übereinstimmenden Ergebnis kam, dass 10 -15 % der Frauen und 5-10 % der Männer bis zum Alter von 14 oder 16 Jahren mindestens einmal einen sexuellen Kontakt erlebt haben, der unerwünscht war oder durch die „moralische“ Übermacht einer deutlich älteren Person oder durch Gewalt erzwungen wurde. (vgl. Bange, D. 2002: Ausmaß. In: Bange / Körner (Hrsg.): Handwörterbuch - Sexueller Missbrauch. Hofgrefe-Verlag, Göttingen, S. 25)
Studien, die sich schwerpunktmäßig auf sexuelle Gewalt konzentrierten, sich auf Studierende konzentrierten (die meist zu mehr Selbstreflexion fähig sind und Befragungen an sich aufgeschlossener gegenüberstehen) oder auch z.B. durch persönliche Interviews durchgeführt wurden, scheinen meist höhere Raten festzustellen. Die Methodik und das Forschungsdesign haben immer Einfluss auf das Ergebnis. In der aktuellen KFN Studie wurde auch folgendes festgestellt:
"Im Vergleich der deutschen Befragten zu denen mit Migrationshintergrund fällt auf, dass vor allem die Frauen mit türkischem Migrationshintergrund erheblich seltener von Missbrauchserfahrungen berichtet haben, z.B. Missbrauch mit Körperkontakt bis zum 16. Lebensjahr zu 1,7%, deutsche Frauen dagegen 7,3%." Andere KFN Studien stellt bzgl. körperlicher Gewalt und Partnergewalt meist erheblich höhere Raten bei den Befragten mit türkischem Migrationshintergrund fest. Das passt insofern nicht ins Bild und scheint insofern mit dem sehr Scham- und Schuldgefühl belastetem Thema Missbrauch und/oder ggf. auch mit dem Aufbau der Studie in Zusammenhang zu stehen.
Trotzdem finde ich die aktuelle KFN Studie wichtig und bin zudem auf weitere Ergebnisse gespannt.
Samstag, 22. Oktober 2011
Libyen, das große Opferritual
"Das ist für Lockerbie", titelte die britische "Sun" zum Tod Muammar al-Gaddafis - und zeigte ein Bild seines geschundenen Leichnams, schreibt der SPIEGEL. Unter dem Sun- Titel steht dann noch: „Und für Yvonne Fletcher. Und für IRA Semtex Bomben Opfer“
Diese Rachegefühle beziehen sich auf Ereignisse aus den 80er Jahren, liegen also über 20 Jahre zurück. Ich glaube allerdings nicht, dass Rachegefühle die wesentliche Emotion ist, die von der Sun - stellvertretend für sicher einen nicht kleinen Anteil der britischen Bevölkerung – ausgedrückt wurde. Viel mehr dienen diese offenen „rächenswerten“ Ereignisse dazu, eine andere Emotion zu legitimieren: Freude und Spaß am qualvollen Tod des (selbst aufgebauten) Feindbildes Gaddafi.
Dieses öffentliche Zelebrieren eines Menschenopfers ist dazu ja nicht nur auf die Person Gaddafi bezogen. Letztlich könnte man tausende Bilder von zerschundenen, zerschossenen und zerstückelten Menschen zeigen, die auf Grund des Libyen Krieges ums Leben kamen und im Namen der Menschenrechte geopfert wurden. Insofern freuen sich die Menschen im Grunde auch über dieses große Opferritual, auch wenn wir im Westen mittlerweile soweit entwickelt sind, dass wir diese „Freude“ nicht offen aussprechen würden. Trotzdem liegt sie in der Luft. Irgendwie war der Tod der Vielen doch nützlich, wenn wir jetzt den Diktator erwischt haben…
Nein, es steht weiterhin nicht gut um die emotionale Entwicklung und Reife auch in vielen westlichen Ländern. Zudem wurde durch den NATO Einsatz und die Entfernung des Gaddafi Regimes der nächste große Konfliktherd geschaffen. Der libyische Übergangsrat hat bereits angekündigt, dass man in Libyen die Scharia zum obersten Gesetz erklären möchte. Wenn dieses Ziel auch mit beschwichtigenden Begleitworten geschmückt wurde, so steigt trotzdem das Risiko, dass dieses Land sich in eine islamistische, radikale Struktur zurückversetzen wird. Wer dann zunächst geopfert werden wird ist bekannt: Frauen und Kinder zuerst.
Diese Rachegefühle beziehen sich auf Ereignisse aus den 80er Jahren, liegen also über 20 Jahre zurück. Ich glaube allerdings nicht, dass Rachegefühle die wesentliche Emotion ist, die von der Sun - stellvertretend für sicher einen nicht kleinen Anteil der britischen Bevölkerung – ausgedrückt wurde. Viel mehr dienen diese offenen „rächenswerten“ Ereignisse dazu, eine andere Emotion zu legitimieren: Freude und Spaß am qualvollen Tod des (selbst aufgebauten) Feindbildes Gaddafi.
Dieses öffentliche Zelebrieren eines Menschenopfers ist dazu ja nicht nur auf die Person Gaddafi bezogen. Letztlich könnte man tausende Bilder von zerschundenen, zerschossenen und zerstückelten Menschen zeigen, die auf Grund des Libyen Krieges ums Leben kamen und im Namen der Menschenrechte geopfert wurden. Insofern freuen sich die Menschen im Grunde auch über dieses große Opferritual, auch wenn wir im Westen mittlerweile soweit entwickelt sind, dass wir diese „Freude“ nicht offen aussprechen würden. Trotzdem liegt sie in der Luft. Irgendwie war der Tod der Vielen doch nützlich, wenn wir jetzt den Diktator erwischt haben…
Nein, es steht weiterhin nicht gut um die emotionale Entwicklung und Reife auch in vielen westlichen Ländern. Zudem wurde durch den NATO Einsatz und die Entfernung des Gaddafi Regimes der nächste große Konfliktherd geschaffen. Der libyische Übergangsrat hat bereits angekündigt, dass man in Libyen die Scharia zum obersten Gesetz erklären möchte. Wenn dieses Ziel auch mit beschwichtigenden Begleitworten geschmückt wurde, so steigt trotzdem das Risiko, dass dieses Land sich in eine islamistische, radikale Struktur zurückversetzen wird. Wer dann zunächst geopfert werden wird ist bekannt: Frauen und Kinder zuerst.
Samstag, 15. Oktober 2011
Gewalt gegen Kinder in Kenia
Ich habe den Grundlagentext um folgenden Text ergänzt:
Afrika ist leider immer noch weitgehend eine „blackbox“, was die Forschung über die Kindererziehungspraxis und Kindesmisshandlung angeht. Bzgl. Kenia habe ich eine interessante HRW-Studie gefunden, die über das hohe Ausmaß von Gewalt gegen Kinder in Schulen berichtet: „For most Kenyan children, violence is a regular part of the school experience. Teachers use caning, slapping, and whipping to maintain classroom discipline and to punish children for poor academic performance. The infliction of corporal punishment is routine, arbitrary, and often brutal. Bruises and cuts are regular by-products of school punishments, and more severe injuries (broken bones, knocked-out teeth, internal bleeding) are not infrequent. At times, beatings by teachers leave children permanently disfigured, disabled or dead.„ (Human Rights Watch, 1999) Es ist naheliegend, dass eine solche Akzeptanz ja geradezu „Normalität“ von Gewalt an kenianischen Schulen gleichzeitig etwas über die Akzeptanz von elterlicher Gewalt aussagt. In der Studie heißt es dazu weiter. „Various forms of corporal punishment (and other punishments like manual labor) have a long pedigree in Kenya. Many Kenyans told Human Rights Watch that physical chastisement has long been accepted in Kenyan homes.” (ebd.)
Quelle: Human Rights Watch, 1999: Kenya Spare the Child: Corporal Punishment in Kenyan Schools. Vol. 11, No. 6 (A) (http://www.hrw.org/reports/1999/kenya/Kenya999.htm#P136_23301)
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Anmerkung: Interessant fand ich dazu auch einen Kommentar von Caroline Fetscher. Sie fragt, woher in Kenia die politische Gewalt kommt und bezieht sich in ihrer Antwort auf o.g. Studie. Fetscher: "Die Schlussfolgerung von Human Rights Watch - ein Schluss, der für jegliche Gewalt dieser Art, überall und in allen Gesellschaften gilt, ist, dass Gewalterfahrung in der Kindheit primär dazu beiträgt, aggressionsbereite Erwachsene hervorzubringen." und "Wenn Konfliktvermittler beginnen, solche Berichte auf die Weise ernst zu nehmen, wie es reife und aufgeklärte Erwachsene könnten, würden schnellere Konsequenzen gezogen. Politisch, diplomatisch und juristisch."
Afrika ist leider immer noch weitgehend eine „blackbox“, was die Forschung über die Kindererziehungspraxis und Kindesmisshandlung angeht. Bzgl. Kenia habe ich eine interessante HRW-Studie gefunden, die über das hohe Ausmaß von Gewalt gegen Kinder in Schulen berichtet: „For most Kenyan children, violence is a regular part of the school experience. Teachers use caning, slapping, and whipping to maintain classroom discipline and to punish children for poor academic performance. The infliction of corporal punishment is routine, arbitrary, and often brutal. Bruises and cuts are regular by-products of school punishments, and more severe injuries (broken bones, knocked-out teeth, internal bleeding) are not infrequent. At times, beatings by teachers leave children permanently disfigured, disabled or dead.„ (Human Rights Watch, 1999) Es ist naheliegend, dass eine solche Akzeptanz ja geradezu „Normalität“ von Gewalt an kenianischen Schulen gleichzeitig etwas über die Akzeptanz von elterlicher Gewalt aussagt. In der Studie heißt es dazu weiter. „Various forms of corporal punishment (and other punishments like manual labor) have a long pedigree in Kenya. Many Kenyans told Human Rights Watch that physical chastisement has long been accepted in Kenyan homes.” (ebd.)
Quelle: Human Rights Watch, 1999: Kenya Spare the Child: Corporal Punishment in Kenyan Schools. Vol. 11, No. 6 (A) (http://www.hrw.org/reports/1999/kenya/Kenya999.htm#P136_23301)
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Anmerkung: Interessant fand ich dazu auch einen Kommentar von Caroline Fetscher. Sie fragt, woher in Kenia die politische Gewalt kommt und bezieht sich in ihrer Antwort auf o.g. Studie. Fetscher: "Die Schlussfolgerung von Human Rights Watch - ein Schluss, der für jegliche Gewalt dieser Art, überall und in allen Gesellschaften gilt, ist, dass Gewalterfahrung in der Kindheit primär dazu beiträgt, aggressionsbereite Erwachsene hervorzubringen." und "Wenn Konfliktvermittler beginnen, solche Berichte auf die Weise ernst zu nehmen, wie es reife und aufgeklärte Erwachsene könnten, würden schnellere Konsequenzen gezogen. Politisch, diplomatisch und juristisch."
Freitag, 30. September 2011
Sabine Rückert - ZEIT für eine grundsätzliche Kritik
Mit der ZEIT Gerichtsreporterin Sabine Rückert und ihrer - meiner Auffassung nach - destruktiven Berichterstattung über Sexualstraftaten und anzeigende Frauen und Mädchen habe ich mich schon vor einigen Jahren befasst. Leider findet man immer noch relativ wenig kritisches über sie, obwohl man über sie und Gisela Friedrichsen vom SPIEGEL (die ähnlich agiert) mittlerweile ein ganzes Buch schreiben könnte. Insofern möchte ich das Internet um diesen kritischen Beitrag erweitern. Meine Kritik gegen Sabine Rückert richtet sich gegen ihren Umgang mit Sexualstraftaten insgesamt, dadurch werde ich die Bereiche Vergewaltigung/sexuelle Nötigung und sexueller Missbrauch hier etwas zusammenmischen.
Meine Kritik richtet sich kurz gesagt gegen einige deutliche Tendenzen ihrer Berichterstattung, die man wie folgt zusammenfassen kann: Falschbeschuldigungen bei Sexualstrafdelikten seien sehr häufig; viele vermeintliche Täter seien demnach vielmehr die eigentlichen Opfer; die falsch Beschuldigerinnen seien oftmals psychisch krank und labil; Gerichte, Jugendämter, Feministinnen und Kinderschützerinnen seien oftmals verblendet, hysterisch und übereifrig. Zusätzlich fällt mir immer wieder die schnippische, manchmal offen verächtliche Tonart in ihren Artikeln auf, die diesem ernsten Thema nicht angemessen ist.
Zuvor muss mann und frau wissen, wie Frau Rückert über Opfer von sexueller Gewalt denkt. Dies verrät sie in ihrem Buch „Unrecht im Namen des Volkes. Ein Justizirrtum und seine Folgen" (2007), in dem sie frei von der Leber schreibt:
"Der Missbrauchsvorwurf wird zur Generalerklärung für alles Frauenunglück dieser Welt, für Frustrationen, Misserfolg und Wahnsinn. Und er wird zum Blankoscheck für haltlose Verdächtigungen. Alles, was das vermeintliche Opfer braucht, ist ein unkonkretes Unwohlsein, und schon kann es sich guten Gewissens auf die Suche machen nach einem Sündenbock für das eigene Elend. „ (S. 77) Rückert zerreißt dann auch gleich das sehr erfolgreiche Selbsthilfebuch „Trotz allem", das allein in Deutschland bis 2007 über 100.000 mal verkauft wurde, wie mir der Verlag einst mitteilte und zudem in fast jeder öffentlichen Bücherhalle steht. „Das Buch erhebt den Anspruch, vergewaltigten Mädchen und Frauen in ihrer Not zur Seite zu stehen, in Wirklichkeit aber leistet es vor allem jenen gestörten Seelen Hilfestellung, die aus welchen Motiven auch immer, seien es Rache- oder Minderwertigkeitskomplexe, falsche Beschuldigungen gegen Männer erheben." (S. 77) Für sie ist das Buch "Trotz allem" so wörtlich eine reine "Suggestivlektüre" (S. 238) Im Zusammenhang mit ihrer Kritik gegen "Trotz allem" und der Bezeichnung von Missbrauchsopfern als "Überlebenden" fällt dann auch folgender Satz: "Sie werden als "Überlebende" bezeichnet, als wären sie den Bombennächten eines Weltkrieges entronnen. " (S. 73)
Dieser abfälligen Bemerkung der Autorin ist zu entnehmen, dass sie sich offensichtlich nicht wirklich mit den möglichen Folgen und Empfindungen von Opfern sexueller Gewalt beschäftigt hat und dies wohl auch nicht will, wenn man ihre Berichterstattung verfolgt. Einige Betroffene (die ungenaue Erinnerungen haben), die in "Trotz allem" von sich berichten, missbraucht worden zu sein, sind für die Autorin übrigens auch nur - so wörtlich in ihrem Buch - "vermeintliche Opfer" (siehe Zitat oben) oder so wörtlich bzgl. einer Betroffenen eine „angeblich missbrauchte Frau“ (S.74). Rückert schreibt: "In Trotz allem berichten missbrauchte oder vermeintlich misbrauchte Frauen von ihren Misbrauchserfahrungen" (S. 73) Lassen sich Falschbeschuldigerinnen jetzt schon für ein Selbsthilfebuch interviewen und sind die über 100.000 Leserinnen des Buches alles Frauen, die eine Falschanschuldigung planen und sich dort das „know how“ holen?, möchte man die Autorin fragen. Man fragt sich auch, ob eine Gerichtsreporterin jemals objektiv über Mädchen/Frauen, die vor Gericht sexuelle Gewalt anklagen, berichten kann, wenn sie schon den Wahrheitsgehalt von Berichten in Selbsthilfebüchern anzweifelt…
Solche und weitere haarsträubende Äußerungen der Autorin zeigen ein Bild einer Frau, die wohl ein Problem mit von sexueller Gewalt betroffenen Frauen zu haben scheint. Das an sich ist nichts Neues. Opfer (und deren Helfer) zu diffamieren und direkt oder indirekt zum Schweigen zu bringen hat eine lange Tradition, die bis in biblische Zeiten zurückreicht. Es verwundert nur, dass eine derart eingestellte Frau als hoch angesehene Journalistin für die ZEIT arbeitet und dort offen bzgl. dem sexuellen Missbrauch an Kindern über (O-Töne) den „Kreuzzug gegen den Missbrauch“, die „kollektive Hysterie“ und „Damen von der Aufdeckungsfront“, den „Aufdeckungsrausch“ und „kollektiven Wahn“, die „wahnhafte Fixierung auf den sexuellen Missbrauch" und "kollektive Verwirrung", "den Spiegel der dunklen Seite des Feminismus", die "irreale Konfusion" und von "Pseudoerinnerungen“ berichten darf. Große Artikel mit Titeln wie "Inquisitoren des guten Willens", "Unrecht im Namen des Volkes", „Lügen, die man gerne glaubt“, „Schuldig auf Verdacht“, Böse Eloquenz“ und „Nichts als die Unwahrheit“ zeigen, wo die Reise hingeht.
Sabine Rückert durfte in den letzten Monaten vor allem auch über Kachelmann und auch Strauß-Kahn schreiben, als „Expertin für Sexualstraftaten“ sozusagen. Auf Grundlage eines „Mangel an Ergebnisoffenheit“ ließen sich „die überstürzten Reaktionen der Staatsanwälte“ in beiden Fällen erklären.“, schreibt sie u.a. Im Fall Kachelmann war sie sich schon vor Beginn der Hauptverhandlung sicher, dass es sich um eine Falschbeschuldigung handelte. Zudem wurde eine E-Mail bekannt (siehe meedia.de), die Rückert im Mai dem Kachelmann-Verteidiger Birkenstock geschickt hatte. Wortlaut:
"Wir können nur zusammen kommen, wenn Ihre Verteidigung in dem angedeuteten Sinne professionalisiert wird, dazu sollten Sie sich überlegen, einen Kollegen einzubinden, der Verfahren dieser Art auch gewachsen ist. Wenn Sie mein Buch gelesen haben, wissen Sie, wen ich in einem solchen Fall wählen würde.",schrieb die Journalistin, die damit alle gebotenen Grenzen der journalistischen Berichterstattung sprengte. Johann Schwenn, der zwei wegen sexuellen Missbrauch verurteilte zusammen mit Rückert frei bekommen hatte (über dieses Verfahren handelt Rückerts Buch – siehe oben), ist der Mann, mit dem zusammen sich Rückert eine erfolgreiche Verteidigung von Kachelmann vorstellen kann. „Die 50-Jährige ist über ein Buchprojekt mit Kachelmanns Wahlverteidiger Johann Schwenn verbandelt und hat wohl maßgeblich mit dafür gesorgt, dass der Hamburger mitten im Verfahren den Platz des Kölner Rechtsanwaltes Reinhard Birkenstock einnahm.“, schreibt meedia.de weiter. Es hat einen sehr faden Beigeschmack, dass ausgerechnet Sabine Rückert zusammen mit einem Kollegen nach dem Freispruch ein ausführliches Interview mit Kachelmann führte.
Ich will hier nicht weiter über diese berichteten Einzelfälle streiten. Es geht um das drum herum, die Art und Weise und wie „Wahrheiten“ und Informationen gestreut werden. Denn mittlerweile lässt Sabine Rückert immer öfter auch „handfeste“ Zahlen durch einzelne Experten verlauten:
„Ralf Eschelbach, Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe, schätzt in seinem Strafprozessrechtskommentar vom Mai 2011 die Quote aller Fehlurteile auf ein ganzes Viertel. Den Löwenanteil vermutet er bei jenen Fällen, bei denen es wenige oder gar keine Beweise für die angezeigte Tat gibt und »Aussage gegen Aussage« steht. So ist es bei Vergewaltigungsvorwürfen besonders oft.“ (http://www.zeit.de/2011/28/DOS-Justiz) Auf welcher Grundlage der Richter zu dieser "Schätzung" kommt erfährt man nicht. Verwundert hat mich dann noch der diesem Zitat folgende weitere Abschnitt:
„Als eine der Hauptursachen für Justizirrtümer hat Eschelbach die Vorverurteilung des Angeklagten durch die – im Schulterschluss mit der Staatsanwaltschaft – agierenden Richter ausgemacht. Diese verließen sich allzu oft auf den Inhalt der Ermittlungsakte und eröffneten im Vertrauen auf die Arbeit der Staatsanwälte das Hauptverfahren. Die Fixierung auf die – den Angeklagten belastende – Akte führe dazu, dass in Deutschland die Freispruchsquote unter drei Prozent liegt.“ In den USA - wo das Urteil von einer nicht mit den Akten vertrauten Jury gefällt wird - würde ein Drittel der Strafprozesse mit Freispruch enden, fügte Rückert noch nach. Man versteht, dass dies die Zahl an Freisprüchen ist, die ihr rechtmäßiger erscheint. Dabei kann man Frau Rückert beruhigen.
Wenn man sich die Daten zwischen 2001 und 2006 bzgl. Vergewaltigung/schwerer sexuellen Nötigung anschaut, dann folgen auf im Schnitt ca. 1.395 Anklagen ca. 1.069 Verurteilungen. Sprich ca. 76,63 % der Anklagen enden mit einer Verurteilung des Täters (Anmerkung: wobei der Löwenanteil der Anzeigen erst gar nicht zu einer Anklage führt) bzw. 23,37 % mit Freispruch. Hier stehen also 23,37 % Freisprüche laut Statistik gegen die 3 % in Rückerts Artikel, die sich wiederum auf den Bundesrichter beruft. Da scheint was nicht zu stimmen, oder?
"Klaus Püschel, Direktor des Rechtsmedizinischen Instituts Hamburg, das die größte deutsche Opferambulanz betreibt, konstatiert, im Jahr 2009 hätten sich 27 Prozent der angeblich Vergewaltigten bei der ärztlichen Untersuchung als Scheinopfer erwiesen, die sich ihre Verletzungen selbst zugefügt hatten. Nur in 33 Prozent der Fälle habe es sich erwiesenermaßen um echte Opfer gehandelt, bei den restlichen 40 Prozent sei die Rechtsmedizin zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen.“ (http://www.zeit.de/2011/28/DOS-Justiz/seite-2) Die bewusst falsch Anklagenden seien oftmals „gestörte Persönlichkeiten“, die „krankheitsbedingt zu extrem manipulativem Verhalten“ neigten, heißt es dann in dem Artikel weiter.
Klaus Püschel wird in einem anderen Artikel erneut zitiert: „Früher sei man in der Rechtsmedizin davon ausgegangen, dass es sich bei fünf bis zehn Prozent der vermeintlichen Vergewaltigungen um Falschbeschuldigungen handelte, inzwischen aber gebe es Institute, die jede zweite Vergewaltigungsgeschichte als Erfindung einschätzten. In Püschels Opferambulanz haben sich im Jahr 2009 genau 132 Vergewaltigte vorgestellt: Bei 27 Prozent der Frauen hielten die Ärzte die Verletzungen für fingiert, bei 33 Prozent für echt. Bei den restlichen 40 Prozent haben die Hamburger Rechtsmediziner nicht ermitteln können, wer der Urheber der Blessuren war: der beschuldigte Mann oder das Opfer selbst.“ (http://www.zeit.de/2011/09/WOS-Kachelmann/seite-3)
Sabine Rückert berichtet in einer Talkrunde mit dem Titel „Kachelmann & Co. Wenn Journalisten zu Richtern werden“, dass sich die Betroffenen, bevor sie eine Anzeige machen, an dieses Hamburger Institut wenden und erst danach überlegen können, ob sie eine Anzeige machen oder nicht. Auch der Moderator der Runde hebt diesen Sachverhalt nochmal besonders hervor. Das ist eine wichtige Information, denn somit kann man die Zahl von 27 % „falschen Opfern“ nicht auf die real angezeigten Fälle übertragen! Man sehe sich jetzt erneut die beiden o.g. Ausschnitte aus der ZEIT an. Hier fehlt dieser wichtige Hinweis, so dass der Eindruck entsteht, die Zahlen ließen sich auf die angezeigten Fälle anwenden. Das Institut hätte über 1.500 PatientInnen im Jahr, berichtet Rückert in der Talkrunde weiter. Danach nennt sie dann wieder die Zahl von 27 % Scheinopfern. Auch hier spielt sie wieder mit den Zahlen und Informationen, denn in der Runde geht es um Vergewaltigungsdelikte. Auf 1.500 bezogen wären dass 405 „falsche Opfer“ alleine in Hamburg. In ihrem Artikel beziehen sich die 27% allerdings auf 132 Vergewaltigte im Jahr 2009, was „nur“ ca. 35 falsche Opfer bei Sexualdelikten sind.
Übrigens: In Hamburg sind Anzeigen gemäß §177 StGB (Vergewaltigung / Sexuelle Nötigung) stark gesunken. Zwischen 2000 und 2004 lagen sie um die 300. Zwischen 2007 und 2010 wurden laut Hamburger Polizeistatistik im Mittel nur noch 211,5 Anzeigen registriert (29,5 % weniger!). Irgendwie passt dieser Trend nicht ins Bild, wenn es um einen starken Anstieg von Falschbeschuldigungen geht.
Zurück zu den Artikelauszügen:
Der Gutachter Günter Köhnken (Hinweis: Dieser war zusammen mit einer anderen Gutachterin beauftragt, die Glaubwürdigkeit des mutmaßlichen Opfers im Fall Kachelmann zu beurteilen) schätzt im Interview, dass um die 30-40 Prozent der Fälle, die bereits als problematisch eingeschätzt worden sind, Falschaussagen seien, davon überwiegend Sexualstrafdelikte. „Und hier hat die Zahl der Erwachsenen – in der Regel Frauen – auffällig zugenommen, die behaupten, Opfer einer Sexualstraftat geworden zu sein und bei denen gleichzeitig eine psychiatrische Grundproblematik, meistens eine Persönlichkeitsstörung, vorliegt.“ Sabine Rückert fragt: „Warum sind es vor allem Frauen, die durch Falschbezichtigungen auffallen?“ Antwort des Gutachters: „Persönlichkeitsstörungen treten bei Frauen deutlich häufiger auf diese Weise zutage. (…)“ Man erfährt dann vom Gutachter, dass „geistig schlichte Mädchen“, die einen komplexen Tathergang berichten, glaubhaft sind. Die „hochbegabte und eloquente Zeugin“ müsse mit komplexeren Fragen rechnen, auch damit, dass der Fragende ihre Chronologie kaputt mache, kreuz und quer frage, um sie ggf. ins Schleudern zu bringen. (http://www.zeit.de/2008/15/Interview-Koehnken)
Am 11.07.2011 zitiert Rückert offensichtlich auf Grundlage des oben bereits zitierten Interwies mit Köhnken aus dem Jahr 2008 wie folgt „Der Kieler Psychologieprofessor Günter Köhnken, einer der gefragtesten Glaubwürdigkeitssachverständigen Deutschlands, schätzt die Quote der Falschbeschuldiger unter den von ihm Untersuchten auf 30 bis 40 Prozent.“ Aus als „problematisch eingeschätzten", selektiven Fällen wird nun „von ihm Untersuchten“, was gleich ganz anders klinkt, nämlich so, als ob er sich auf die Gesamtheit der Fälle beziehen würde.
Interessant ist hier, dass Günter Köhnken im Interviewa mit dem ZDF Magazin mona lisa (Sendung vom 27.08.2011) noch mal deutlicher die Zahlen zurechtrückt: „Ich bin mehrfach mit der Äußerung zitiert worden, dass 30 bis 40 Prozent der Aussagen über Vergewaltigungen falsch seien. Das ist ein ziemlich fundamentales Missverständnis, weil hier eine Äußerung aus dem Zusammenhang gerissen worden ist. Ich habe tatsächlich gesagt, dass ich natürlich nur die problematischen Fälle bekomme, also die Fälle, bei denen die Staatsanwaltschaft oder das Gericht schon einmal Probleme gesehen haben. (…) In diesen problematischen Fällen haben wir in der Tat einen höheren Anteil an Aussagen, die sich dann nicht bestätigen lassen, was nicht notwendigerweise heißt, dass sie falsch sein müssen.“ Auf die Frage, wie oft es denn bewusste Falschaussagen gebe, antwortet Köhnken: „Das habe ich eigentlich in den Gutachten, die ich gemacht habe, sehr selten erlebt.“ Das hört sich doch schon mal ganz anders an! Der Gutachter scheint gemerkt zu haben, dass er sich im Interview mit Sabine Rückert im Jahr 2008 unklar ausgedrückt hatte und sie seine Aussage zudem in ihrem Artikel vom 11.07.2011 falsch widergegeben hatte.
Rüdiger Deckers - Verteidiger in Düsseldorf und auf Sexualstraftaten spezialisiert – darf in einem anderen Artikel schätzen, dass die zu Unrecht Beschuldigten unter jenen Mandanten, die die Tat bestreiten (Anmerkung: was wohl fast alle tun), bei 40 bis 50 Prozent läge. Nur zwei Absätze über der o.g. Passage wurde übrigens eine Staatsanwältin zitiert, die nach 17 Jahren in ihrem Dezernat zu dem Schluss kam: »Die meisten Zeuginnen sagen die Wahrheit, auch wenn sie sich nicht immer nachweisen lässt« Das musste allerdings noch von Frau Rückert relativiert werden indem sie (deutlich aus einem anderen Zusammenhang gerissen) nachschiebt: „Aber sie sagt auch: »Ich traue jungen Frauen inzwischen alles zu.«“ Letzterer Satz wurde dann im Artikel als Zwischenüberschrift gleich noch dick gedruckt! Dann passte es wieder… So werden falsche Rückschlüsse und Bilder bei den LeserInnen erzeugt.
Vergessen sind offensichtlich die Dunkelfelduntersuchungen, die ein enormes Ausmass der sexuellen Gewalt belegen. „Von den Frauen zwischen Zwanzig und Sechzig sind 6,1 Prozent mindestens einmal von Familienangehörigen vergewaltigt oder genötigt worden. Hochgerechnet sind das rund 1,4 Millionen Frauen in Deutschland. Fast jede fünfte Frau ist als Kind einmal Opfer von sexuellen Übergriffen gewesen.“, schrieb Sabine Rückert noch 1995. Dass solche Zahlen - unter nicht juristischen, sondern objektiv beobachtenden Aspekten - nahelegen, dass die meisten Anklagen berechtigt sein könnten, scheint sie nicht mehr zu interessieren. 2007 schreibt Rückert: „Nur wenige Journalisten stemmen sich dem kollektiven Wahn um den sexuellen Missbrauch entgegen. Die meisten schwimmen uninformiert und erschüttert vom angeblichen Ausmaß der Katastrophe im Strom der Empörung mit.“ (http://www.zeit.de/2007/03/Inquisitoren_des_guten_Willens) In einer Email Antwort auf einen Leserbrief von mir schrieb Sabine Rückert 2003 u.a. "Durch die öffentliche Debatte und die mediale Informationsflut zum Thema Missbrauch bedingt, nehmen Falschbezichtigungen zu. Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre konnte ein Aussagepsychologe noch davon ausgehen, dass die Aussage eines Kindes, missbraucht worden zu sein, der Wahrheit entsprach. Heute ist das anders. Professor Undeutsch macht die Erfahrung, dass inzischen jede zweite Beschuldigung falsch ist. Die Vorwürfe seien ausgedacht oder induziert." Und sie hängte noch nach: "Was die Dunkelziffer betrifft, so gibt es leider viele Opfergruppen und vermeintliche Opfergruppen, die enorme Missbrauchszahlen in die Welt setzen, ohne den Schatten eines Beweises zu liefern." Nun, wenn man von einem enorm großen Ausmass von Falschbeschuldigungen ausgeht, dann passen halt die Zahlen aus wissenschaftlichen Dunkelfeldstudien einfach nicht mehr so Recht ins Bild...
Vergessen sind offenbar auch all die bekannten Möglichkeiten und Abläufe, um die vor allem die mit Opfern befassten Experten wissen, die zu juristischen Fehleinschätzungen und mangelhaften Beweisen führen, so dass viele Opfer keine Chance haben, die Täter je zur Rechenschaft zu ziehen. Vergessen ist, dass dieses Delikt seit je her von einem schweren Machtgefälle bestimmt ist. Vergessen ist, dass sexuelle Gewalt oft von Bekannten, Freunden, Partnern und Verwandten ausgeht und die Opfer gerade deswegen in ein großes Dilemma stürzen und sie ggf. verwirrenden Aussagen machen. Vergessen ist letztlich all die Aufklärungsarbeit der letzten Jahrzehnte.
In anderen Textstellen und Artikeln geht es um die Unglaubwürdigkeit von Anklägerinnen:
„ (…) immer häufiger stoßen die Sachverständigen bei den Zeuginnen auf vermeintliche Erinnerungen, die ihnen in Wirklichkeit von Lebensberatern, Sektengurus oder Therapeuten, also von Ratgebern, bei denen sie in einer psychisch labilen Phase Hilfe gesucht hatten, eingeimpft worden sind. Im Glauben, ein Sexualopfer zu sein, brechen die Irregeführten mit ihren Partnern und Familien und geraten tiefer und tiefer in die Krise“ und „Am Bundesgerichtshof in Karlsruhe registriert man sorgenvoll die Manipulation der Opferzeugen durch »rechtlich Ungebildete mit Helfersyndrom«, wie es der Bundesrichter Axel Boetticher formuliert.“ (http://www.zeit.de/2008/15/Falsche-Zeugen)
Die ganze Diskussion um "falsche Erinnerungen" ist noch mal ein Thema für sich. Was mir dabei allerdings aufgefallen ist: Diese Diskussion wird vorwiegend von einigen männlichen Psychologen und Gutachtern und vielen vielen Vertretern von Vätervereinen, „Männerrechtlern“ und natürlich von den Beschuldigten selbst geführt. Was meist komplett fehlt sind Wortmeldungen der „Opfer“ dieser „induzierten Erinnerungen“. Man müsste doch davon ausgehen, dass die „vielen vielen“ Betroffenen, die an ihnen verübten Taten (die eingeredeten Erinnerungen von Missbrauch und Vergewaltigung und ggf. der Bruch mit Familie oder Vertrauten) irgendwann anklagen und öffentlich machen. Doch es herrscht Schweigen. Manchmal frage ich mich auch, was die heute Erwachsenen, damals der falschen Aussage bezichtigten Kinder in dem bekannten "Montessori-Prozess" (1994) oder dem "Worms-Prozess" (1997) heute dazu sagen würden? Würden sie sagen: Wir waren Opfer von suggestiven Befragungen und einer Massenhysterie oder würden sie sagen, wir waren reale Opfer sexueller Gewalt, wir bilden uns das nicht ein, wir sind heute Erwachsen und wissen, was uns passiert ist...
„Eine Frau, die einen Mann vernichten will, braucht dazu manchmal weder Messer noch Pistole. Sie braucht bloß eine gute Geschichte, eine, die von Vergewaltigung handelt.“, so beginnt Rückert einen weiteren Artikel. „Hochgradig verhaltensauffällige Zeuginnen“ und „Borderlinerinnen“ gelten als wenig wahrheitsliebende Zeuginnen, erfährt man weiter.
Sofern den Anklägerinnen psychische Phänomene nicht zur Last gelegt werden, sondern zur möglichen Glaubwürdigkeit verhelfen, wie im Fall Kachelmann durch die Aussagen des Traumatologen und Therapeuten Prof. Seidler, der der Anklägerin (und Patientin von ihm) die Diagnose „posttraumatischen Belastungsstörung“ ausgestellt hatte und von einer möglichen Dissoziation während der Vergewaltigung ausging, schreibt Rückert als Antwort: „Viele forensische Sachverständige halten allerdings wenig von der Traumatologie.“ und bezieht sich dabei mal wieder auf den umstrittenen Max Steller. Wer die anderen „vielen Sachverständige“ sind, schildert sie nicht.
In Rückerts Buch führt sie auch ein Interview (leider ohne Datumsangabe) unter der Überschrift „Die Schäden sind enorm“ mit - ihrer oft zitierten Quelle - dem Gutachter Max Steller über „Falschbeschuldigungen“, "Missbrauchsverdachtswelle", „Gutmenschentum“, "Pseudoerinnerungen" und über die Frage „was die Opferrolle so attraktiv macht“. Steller sagt bzgl. des sexuellen Missbrauchs: „Die Falschbeschuldigungen – das sind keine kleinen Zahlen mehr. Niemand kann genau sagen, wie viel Prozent die Fehlverurteilungen inzwischen ausmachen und wie viele Unschuldige im Gefängnis sitzen, aber ich bin sicher, dieses Dunkelfeld ist erheblich. Und dabei ist das Strafrecht noch am wenigsten betroffen. Weit größer sind die Kollateralschäden im Familienrecht. Da wird dann eben schnell ein geschiedener Ehemann vom Umgangsrecht mit seinem Kind ausgeschlossen. (…) Die Kinder (…) wachsen mit dem eingeimpften Gedanken auf, missbrauchte Kinder zu sein.“ (S. 89+90)
Solche Einschätzungen eines Fachmannes verleihen Rückerts Thesen auf den ersten Blick ganz schön Gewicht, obwohl Wörter wie „erheblich“ an sich erst einmal wenig aussagen. Sehr viel aussagekräftiger werden die o.g. Angaben allerdings, wenn man sich vor Augen führt, dass pro Jahr hoch angesetzte und maximal 1.000 Väter wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt werden. (Siehe meinen Beitrag vom 04.01.2011, in dem ich diese Zahl nachvollziehbar auf Grundlage statistischer Daten eingrenzen konnte) Von diesen werden laut Verurteilungsquote nur ca. 10 % verurteilt - sprich ca. 100 Väter. Laut Statistik wurden zudem z.B. im Jahr 2004 nur 27,1 % der Verurteilten mit einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung bestraft (Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, S. 103). Das bedeutet, dass von den 100 fiktiven Vätern nur 27 ins Gefängnis mussten. Ob unter diesen 27 Vätern auch einige unschuldig verurteilte sind, bleibt Spekulation. Ich persönlich halte es eher für unwahrscheinlich, dass bei einer solch extrem vorsichtigen Vorgehensweise der Justiz und niedrigen Verurteilungsquote der Anteil von Fehlurteilen besonders hoch ist. Nehmen wir - um Zahlen zu bekommen - einfach mal Rückerts oft genannte Zahl bei Sexualdelikten von 30 % Falschbeschuldigungen und niedrige 4 % auf der anderen Seite. Das wären dann höchstens 8 Väter (bei hohen 30 %) bis ein Vater (bei 4%), die fälschlich im Gefängnis sitzen. Was sagte Experte Steller noch? „Die Falschbeschuldigungen – das sind keine kleinen Zahlen mehr.“ Da er die „Kollateralschäden im Familienrecht„ als weit größer ansieht, als im Strafrecht, fragt man sich, wie viele Fehlurteile denn nun im allgemeinen Strafrecht bzgl. des Deliktes vorkommen sollen, wenn schon die mögliche Zahl von falsch verurteilten Vätern rechnerisch so niedrig ausfällt. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich finde es selbstverständlich schrecklich, wenn jemand unschuldig im Gefängnis sitzt. Das versteht sich irgendwie schon von alleine. Was ich aber auch erschreckend finde ist, wenn ein „Experte“ mit Angstszenarien um sich wirft, die sich ganz deutlich widerlegen lassen und zudem von einer hochrangigen Journalistin immer wieder zitiert wird. Zudem ist die Art und Weise und die Wortwahl, die Steller im Interview präsentiert, alles andere als sachlich und objektiv, sondern hochgradig politisch und emotional.
Übrigens gibt es auch eine große Untersuchung, die höchstpersönlich u.a. von Max Steller mit durchgeführt wurde: Busse, D., Steller, M. & Volbert, R. (2000): Forschungsbericht. Sexueller Missbrauch in familiengerichtlichen Verfahren. Von mir zitiert nach Bange, D. 2002: Falschbeschuldigungen. In: Bange, D. / Körner, W. (hrsg.) Handwörterbuch Sexueller Missbrauch. Hofgrefe Verlag, Göttingen.
Ausgewertet wurden 1.394 Berliner Akten zur Regelung des Umgangs und 1.500 Akten bzgl. Sorgerechtsregelungen. In nur 3,3 % (Umgang) bzw. 3% (Sorgerecht) der Fälle kam überhaupt ein sexueller Missbrauchsverdacht zur Sprache. Bange schreibt zusammenfassend: „Die Gesamtbetrachtung der Sorgerechtsfälle zeigt, dass in den seitens des Gerichtes nicht bestätigten Missbrauchsfällen, der Vorwurf in fast allen Fällen für die beschuldigten Elternteile keine negativen Konsequenzen bezüglich der Sorgerechtsentscheidungen hatte. Etwas anders ist das Ergebnis bei den Umgangsrechtsfällen mit sexuellen Missbrauchsverdacht. In fünf Fällen erfolgten Einschränkungen des Kontaktes des Kindes mit dem Verdächtigten, obwohl der Verdacht nicht bestätigt werden konnte.“ (Bange, 2002, S. 95) Diese fünf Fälle beziehen sich auf 45 Fälle, in denen überhaupt ein Verdacht zur Sprache kam. Sprich es stehen 40 Fälle, in denen sich der Verdacht etweder erhärten ließ und eine Einschränkung bzw. Ausschluss des Umgangs erfolgte oder er sich nicht erhärten ließ, aber keine Konsquenzen bzgl. der richterlichen Entscheidung zum Umgang erfolgten gegen diese fünf Fälle. Man fragt sich, ob sich Max Steller nicht mehr an seine eigene Studie erinnern kann wenn er sagt: „Da wird dann eben schnell ein geschiedener Ehemann vom Umgangsrecht mit seinem Kind ausgeschlossen.“
Schauen wir uns nun einige fundierte Zahlen an. Zwischen 1977 und 2006 endeten ca. im Mittel 17 % aller Anzeigen (bei Vergewaltigung und ab 1998 auch inkl. sexueller Nötigung) mit einer Verurteilung. (http://www.frauen-gegen-gewalt.de/dokumente/files/e905d4c573adfbd168a14f3993c1f35e.pdf) Wer sich zudem die polizeiliche Kriminalstatistik und Daten des statistisches Bundesamtes anschaut, wird ergänzend zu dem Ergebnis kommen, dass beim sexuellen Kindesmissbrauch nur bei ca. 10 % aller Anzeigen auch eine anschließende Verurteilung erfolgt.
Diese Zahlen an sich zeigen, dass niemand „Schuldig auf Verdacht“ ist, sondern die Justiz sich dem Delikt entsprechend sehr schwer tut, Beweise zu finden und Urteile zu sprechen. Die Studie (siehe letzten Link) zeigt zudem, dass nur bei 3 % der Anzeigen eine Falschbeschuldigung nachgewiesen werden konnte. Dabei wurden allerdings nur 100 Fälle untersucht, was nicht repräsentativ ist. Aussagekräftiger ist eine bayrische Studie aus dem Jahr 2005. In 7,4% (140 von 1894 Fällen) erfolgte eine Anzeige wegen Vortäuschung oder falscher Verdächtigung (wobei mir nicht ersichtlich ist, ob diese Anzeigen auch zu einer Verurteilung führten und somit auch juristisch einwandfrei wären.). Diese Zahl aus der realen Statistik liegt fern ab von den Schätzungen, die in Rückerts Artikeln auftauchen. Interessant ist dazu noch folgendes: Soweit dies in den Akten vermerkt war ging nur in 40 von den 140 Fällen (28,6%) die Initiative zur Anzeige wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung direkt und ohne erkennbare Beeinflussung durch Dritte vom angeblichen „Opfer“ aus. Diese Informationen sind noch mal wichtig, da sie letztlich belegen, dass Frauen, die aus eigener Initiative anzeigen, seltener eine Tat vortäuschen oder falsch verdächtigen. Mit beinahe einem Drittel stellten zudem die Minderjährigen unter 18 Jahren einen relativ großen Anteil unter den 140 „falschen Opfern“, auch dies finde ich eine wichtige Information.
Allerdings zeigt die Studie auch, dass die an der Sachbearbeiterbefragung beteiligten polizeilichen Sachbearbeiter schätzen, dass der Anteil der Vortäuschungen und falschen Verdächtigungen an allen Anzeigen gem. § 177 StGB im Durchschnitt ein Drittel (33,4%) beträgt. Gefühlte und geschätzte Werte bzgl. Falschanschuldigungen liegen auch hier relativ hoch. Warum ist das so? Die am häufigsten von den Sachbearbeitern genannten Gründe für Zweifel am Vorliegen einer Vergewaltigung / sexuellen Nötigung waren das Vortat- und das Nachtatverhalten des Opfers, widersprüchliche oder wenig detaillierte Aussagen, der Widerruf der Anzeige durch das Opfer, mangelndes Interesse an der Strafverfolgung und der Einfluss psychotroper Substanzen zur Tatzeit. Aber heißt das gleich, dass die Anschuldigerinnen lügen?
Hier einige beispielhafte Notizen der Sachbearbeiter, die zu ihren Zweifeln führten:
„Das Opfer ging mit dem Beschuldigten (nach der Tat) noch in eine
Gaststätte - als ob nichts gewesen wäre!“
Für mich ist dies kein Beweis für oder gegen die Glaubwürdigkeit. Man müsste hier nachforschen, ob das Opfer evtl. unter traumatischem Schock stand, zu dem Besuch der Gaststätte genötigt wurde, wie in Trance weiter funktionierte und ähnliches.
„Das Opfer ließ den Tatverdächtigen immer wieder freiwillig in die
Wohnung.“
Vergewaltigungen sind oftmals Beziehungstaten. Frauen, die vielleicht schon oft Gewalt durch den Partner erlitten haben, neigen zu einem Verharren in der Opferrolle und zu diffusem Verhalten. Auch hier müsste man weiteres abklären. Dazu schrieb übrigens höchst persönlich Sabine Rückert 1995 bzgl. Frauen, die in Frauenhäuser geflüchtet waren:
„Die meisten ihrer Frauen streben wieder heimwärts, kaum daß die blauen Flecken verblaßt und die Schürfwunden verheilt sind. Der Hannoveraner Staatsanwalt Thomas Klinge muß laufend Akten schließen und Verfahren einstellen, weil geschlagene oder vergewaltigte Ehefrauen ihre Anzeigen zurückziehen oder von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen.“ (http://www.zeit.de/1995/15/Die_Keimzelle_der_Gewalt) Interessant ist an dieser Stelle auch folgende Info aus dem „Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland“: Frauen, die Opfer von sexuellem Missbrauch vor dem 16. Lebensjahr geworden waren, wurden in ihrem Erwachsenenleben doppelt so häufig wie andere Frauen Opfer von häuslicher Gewalt durch Partner und viermal so häufig Opfer von sexueller Gewalt. (vgl. S. 659) Sexueller Missbrauch in der Kindheit hat destruktive Folgen bzgl. der psychischen Situation der später Erwachsenen. Diese Situation wird offensichtlich von Tätern erkannt und ausgenutzt. Anstatt dies zu erkennen, wird den Frauen ihre psychische Situation vor Gericht leider manches mal dahingehend ausgelegt, dass sie grundsätzlich weniger glaubwürdig sind.
„Das Opfer wollte sich zunächst nicht vom Täter - zugleich Ehemann - trennen.“
Siehe vorherige Anmerkungen
„Opfer verweigerte eine Atemalkoholmessung und die Untersuchung in der Rechtsmedizin.“
Ich kann mir vorstellen, dass einige vergewaltigte Frauen es für sehr belastend empfinden, wenn ihr Intimbereich untersucht werden soll oder es als Anmaßung erleben, wenn sie auf Alkohol hin getestet werden sollen.
„Opfer hätte von sich aus keine Anzeige gemacht und sprach erst von Vergewaltigung, als sich der Tatverdächtige überall mit dem Geschlechtsverkehr mit ihr brüstete, und dies drohte, Ortsgespräch zu werden.“
Für mich ein nachvollziehbares Verhalten.
„Opfer erstattete erst rund zwei Monate später im Rahmen der Scheidungsauseinandersetzung Anzeige.“
Darf sich eine Frau nicht auch später überlegen, den Täter anzuzeigen? Vielleicht erfuhr sie weitere Demütigungen im Scheidungsverfahren und kam zu dem Schluss, jetzt doch auch die Tat anzuzeigen.
„Opfer stand zum Zeitpunkt der Anzeigeerstattung deutlich sichtbar unter Medikamenten- bzw. Drogeneinfluss, schlief ständig ein und konnte anfangs keine detaillierten Angaben machen.“
Auch Abhängige können vergewaltigt werden.
Dazu kommt, dass die Glaubwürdigkeit der Anzeigenden nach Angaben der Sachbearbeiter bröckelte, wenn z.B. „die Geschädigte keinerlei Gegenwehr leistete, obwohl dies problemlos möglich und Erfolg versprechend gewesen wäre.“, „das Opfer unter dem Einfluss von freiwillig konsumierten Substanzen wie Alkohol, illegalen Drogen oder Medikamenten stand und deshalb Erinnerungslücken hatte“, „die Initiative zur Aufnahme von Kontakten mit sexueller Komponente vom Opfer ausging.“, „das Opfer den Eindruck erweckte, es stünde der Anbahnung einer Beziehung positiv gegenüber.“
Die Polizei und die Justiz brauchen offensichtlich das perfekte Opfer. Nun, die Realität ist anders. Das „perfekte Opfer“ gibt es nicht. Dass das juristische System seine eigenen Regeln hat, ist bekannt. Dabei kann ich so einige juristische Hürden nachvollziehen, denn vor Gericht zählen nun einmal handfeste Beweise. Wir leben in einem Rechtsstaat und das ist auch gut so. Mir geht es hier nicht um die Justiz, sondern um Medien und Menschen wie Sabine Rückert, die trotz aller Erkenntnisse u.a. aus der Arbeit mit Opfern die Realität verdrehen, letztlich zum Vorteil für mutmaßliche Täter. Wenn die Menschen anfangen zu glauben, dass fast die Hälfte aller Anschuldigungen grundsätzlich falsch und erfunden sind, dann freuen sich vor allem die Täter da draußen und ihre mannigfaltigen Schutzpatronen. Wer etwas im Internet recherchiert wird schnell feststellen, dass Rückerts Artikel zitiert und kommentiert auf unzähligen Internetpräsenzen u.a. von Antifeministen, Maskulisten, der destruktiven Väterbewegung und von Pädosexuellen zu finden sind. Das an sich sollte einem schon zu denken geben. Noch mehr Sorgen macht mir allerdings, dass diese Artikel in der ZEIT stehen, die neben vielen einflussreichen Personen sicher auch von vielen Anwälten und RichterInnen gelesen wird. Frau Rückert sucht zusätzlich gezielt die Nähe zu JuristInnen, indem sie ihr Buch „Unrecht im Namen des Volkes“ u.a. am 20.04.2007 im Hamburger Ziviljustizgebäude und am 09.10.2007 im Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht vorstellte und daraus las. (http://www.richterverein-hamburg.de/kultur/gbhver.htm#2007) Ihr Engagement erstreckte sich zudem - neben Fernsehauftritten - u.a. auch auf eine Podiumsdiskussion innerhalb der "Fachgruppentagung Rechtspsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie" (Ende August 2009), die unter dem Titel „Justizirrtümer: Juristische und psychologische Ursachen“ stattfand und von einem Richter am OLG Frankfurt moderiert wurde. Rechtsanwalt Johann Schwenn war auch gleich mit von der Partie, ebenso wie der Gutachter Günter Köhnken, den Rückert in ihren Artikeln (siehe oben) zitiert hatte (man kennt sich halt).
Während ich mir vor Kurzem Gedanken zu diesem Text machte, kam ich zufällig mit einer mir unbekannten Frau ins Gespräch. Dies Frau war merkwürdig und schilderte mir als ihr Unbekannten von sich aus sehr intime Details. Ich erfuhr – ohne es zu wollen oder das Gespräch gesucht zu haben –, dass sie derzeit unter Medikamenten stehe. Sie hätte außerdem vor kurzem einen merkwürdigen Konflikt mit ihrem ehemaligen Arbeitgeber, den sie mir dann schilderte. Der Arbeitgeber habe außerdem früher, als sie noch da war, Sex gewollt. Sie aber nicht, sie habe kurz darauf gekündigt. Außerdem sei sie als Kind misshandelt worden. Ein wirres Gespräch. Ich dachte, was wäre gewesen, wenn diese psychisch auffällige Frau von ihrem Arbeitgeber vergewaltigt worden wäre? Die Antwort war relativ klar, sie hätte vermutlich so gut wie keine Chance gehabt, dass sie ernst genommen würde.
Auch die durch Rückert und ihrem Lieblingsanwalt Schwenn der Falschbeschuldigung überführte „Amelie“ (über die in ihrem Buch und in ZEIT-Artikeln ausführlich berichtet wird) litt an der Persönlichkeitsstörung Borderline und Rückert kritisierte, dass diese Tatsache ihr im Prozess nicht angelastet wurde. Dieser aufgedeckte „ganz normale Justizirrtum“ baute allerdings auf sehr realen schweren Gewalterfahrungen von Amelie seitens ihres Vaters auf, die wohl auch zu der Persönlichkeitsstörung führten. Zitat aus Rückerts Artikel: "Er terrorisiert seine Frau, misshandelt seine vier Kinder, zerstört die Einrichtung. Am härtesten trifft es Amelies ältere Schwester Bianca. Sie wird getreten, in den dunklen Heizungskeller gesperrt und muss zur Strafe auf einem Bein im winterlichen Garten stehen. Nachbarn sehen es und helfen nicht. Bianca hört auf zu essen, sie erbricht sich bei den Mahlzeiten aus Angst vor ihrem Vater, und er zwingt sie, das Erbrochene wieder aufzuessen. (...)" Amelie wurde als Kind offensichtlich derart psychisch und physisch von ihrem Vater misshandelt, dass sogar der von Amelie ungerechtfertigt ins Gefängnis gebrachte Onkel M. in der Verhandlung um seinen Freispruch aussagt: „Ich hätte es verstanden, wenn sie ihren Vater mit einer Axt erschlagen hätte.“ (Rückert, 2007, S. 232)
Die entlarvte Lüge bzgl. des sexuellen Missbrauchs konnte ihre Kraft nur entfalten, weil drum herum vieles passte, weil Amelie real von ihrem Vater misshandelt worden war. Lassen wir an dieser Stelle auch einmal Amelie zu Wort kommen in einem Brief an ihren Vater, den Rückert in ihrem Buch zitiert: "(...) Oder Mama. Weißt Du, wie oft sie geheult hat, wenn Du mal wieder durchgedreht bist oder uns rausgeschmissen hast? Du hast geschrieben, Mama hätte gesagt, ich hätte Angst vor Dir. Ich hatte mal Angst, ja, besonders als ich noch zu Hause wohnte. Auch bei Oma konnte ich kein neues Leben beginnen, weil ich immer Schiss hatte, an unserem Haus vorbeizugehen. Du wolltest mir ja den "Arsch aufreißen", mich plattmachen und was weiß ich noch alles. (...) Du weißt gar nicht, wie weh Du allen getan hast. Was ich im Moment fühle, kann ich mit Worten nicht beschreiben. Sie sind dafür zu schwach. Nachts habe ich Albträume, und Du sagst einfach nur "Entschuldigung". " (Rückert, 2007, S. 21)
Die Misshandlung von Schutzbefohlenen § 225 wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. Amelies Vater hätte für seine realen Verbrechen abgestraft gehört. Amelie wählte die Falschbeschuldigung wegen sexuellen Missbrauchs als Weg und belastete zusätzlich den unbeteiligten Onkel (auch das steht unter Strafe und Amelie wurde dafür auch von Anwalt Schwenn angezeigt.). Das Ganze ist ein einziges tragisches Familiendrama und die Justiz machte zudem Fehler. Aber „ganz normal“ und „häufig“, wie Frau Rückert es auf die allgemeine Justiz überträgt und sieht? Wohl kaum, denn der Fall hat seine besondere und komplexe Geschichte und Dynamik.
Rückert nutzt diesen Einzelfall zudem für eine überleitende heftige Kritik gegen feministische Beratungsstellen. Fettgedruckt erscheinen in ihrem Artikel „Inquisitoren des guten Willens“ die Namen „Wildwasser“ und „Allerleirauh“. Rückert schreibt: „Feministische Beratungsstellen für sexuell missbrauchte Kinder und Frauen schießen Anfang der neunziger Jahre aus dem Boden. Sie tragen bedeutungsschwangere Namen: Zartbitter, Wildwasser, Allerleirauh, Hautnah, Zerrspiegel, Schattenriss, Alraune, Belladonna, Kobra oder Trotz allem. (…) Als Amelie ihre Beschuldigungen erhebt, herrscht eine Art Inquisition des guten Willens im ganzen Land. Auch in Osnabrück.“ „Der Druck, der auf den Kindern laste,“ zitiert sie eine Absatz darüber mal wieder den Psychologieprofessor Max Steller, „führe zu den unglaublichsten, fantastischsten und absurdesten Schilderungen sexueller Übergriffe.“ Im Fall Amelie gründete die Lüge allerdings auf der realen Misshandlungsgeschichte, das war „der Druck, der auf ihr lastete.“, nicht der Einfluss durch feministische Beraterinnen. An dieser Stelle verwundert es überhaupt, dass die Beratungsstellen genannt und einfach so "abgeurteilt" werden. Denn im Fall Amelie war - so weit mensch den Recherchen von Frau Rückert folgt - keine Mitarbeiterin einer (feministischen) Fachberatungsstelle beteiligt.
In Rückerts Buch wird Verteidiger Schwenn zitiert, wie er einen einst Amelie betreuenden Psychiater befragt. Dieser Psychiater hatte Amelie eine Anwältin empfohlen, die ihm wiederum durch eine örtliche Beratungsstelle für missbrauchte Mädchen und Frauen bekannt war (das ist der einzige indirekte Kontakt zu einer solchen Beratungsstelle, von der man im Fall Amelie überhaupt erfährt!). Schwenn nennt die Namen der Beratungsstellen Wildwasser, Allerleirauh und Hautnah und sagt im Verlauf der Befragung: „Solche Vereine haben nachweislich reihenweise zu Fehlurteilen beigetragen.“ (S. 251) Und Punkt. Eine solche Behauptung wird von Rückert einfach so ohne weitere Kommentare oder gar Beispiele für konkret nachgewiesenes Fehlverhalten der genannten Stellen übernommen, als „Wahrheit“, die man wohl nicht weiter erklären muss...
Ich denke, ich konnte klar machen, dass Sabine Rückert oftmals unsauber arbeitet und gezielt das Meinungsbild bzgl. der Anklägerinnen von sexueller Gewalt zu deren Ungunsten beeinflusst. Dabei habe ich grundsätzlich nichts dagegen, dass über Falschbeschuldigungen berichtet wird (ich finde die o.g. 7,4% Anzeigen wegen Vortäuschung oder falscher Verdächtigung auch nicht gerade wenig). Es kommt aber auf die Art und Weise und einen bewussten Umgang mit der Thematik an.
Gehen wir schließlich noch einmal zurück in das Jahr 1995. Sabine Rückert zitiert ausführlich Katharina Rutschky – DIE Protagonistin der „Missbrauch mit dem Missbrauch“-Bewegung vor allem in den 90er Jahren - , u.a. mit angeblich belegten 100 Fällen von Falschbeschuldigungen bei sexuellem Missbrauch. „Angeblich“ muss ich hier schreiben, weil Rutschky eine denkbar schlechte „Expertin“ ist. Rutschky, die überall eine aufkommende Missbrauchshysterie und unzählige falsch Beschuldigte sah und dies durch scheinbar wissenschaftliche Artikel und Bücher belegen wollte – schrieb im Jahr 2004 für das kleine Magazin „Campo de Criptana“ Ausgabe Nr. 4 (übrigens vor einem Interview unter der Überschrift "Die Pädos sind heute politisch auf sich allein gestellt" mit Prof. Dr. Rüdiger Lautmann (Autor des sehr umstrittenen Buches "Die Lust am Kind. Portrait des Pädophilen") und dem "Chefredakteur" der früheren Pädogruppe "Krumme 13" Dieter Giesekin !!) u.a. die strafrechtliche Verfolgung des Besitzes und des Handels mit Kinderpornographie würde „durch die Behauptung gerechtfertigt, dass zu ihrer Herstellung ja Kinder missbraucht werden“. und „Das traurige Triebschicksal eines pädophil veranlagten Menschen (welches Kind verliebt sich schon in einen älteren Menschen) soll und darf nach diesem Gesetz nicht einmal den Ausweg in die Imagination nehmen.“ (O-Ton Rutschky S. 23) und „Die Vorstellung, dass Pornographiekonsumenten mittelbar „Missbrauch“ fördern, ist auch insofern fragwürdig, als ja Film- und Schneidetechnik die täuschende Simulation von allem und jedem erlauben. Für Kriegsfilme wird ja auch kein Krieg geführt.“ (O-Ton Rutschky, S. 23) Die Frau, die früher lautstark (und oft auch gerne gehört) gegen die feministische Hysterie um sexuelle Gewalt wetterte, hat offenbar endgültig ihre Maske abgesetzt. Das hier noch mal zu erwähnen, war mir wichtig, dieser ganze Themenbereich ist ein Bereich mit unzähligen Abgründen.
Nun, Rückert zitiert in ihrem Artikel aus den 90er Jahren auch Zahlen zum Dunkelfeld und dem hohem Ausmass der sexuellen Gewalt. Sie schrieb: „Trotzdem sind es zigtausende Fälle in Deutschland, die gegen Frau Rutschkys hundert belegte Falschverdächtigungen stehen.“ Einige Jahre später scheint sich Sabine Rückert nicht mehr so recht an diesen Satz erinnern zu wollen. Denn auf einmal sind angeblich die Falschbeschuldigungen zur Normalität geworden, tauchen überall psychisch gestörte und rachsüchtige Frauen auf...
Am Ende des Textes habe ich mir noch eine Presseerklärung von Nafissatou Diallo, die Dominique Strauss-Kahn Vergewaltigung vorwirft, angesehen. Mir schossen die Tränen in die Augen, weil bei mir – trotz ihres Versuch, sich gefasst zu zeigen – ihre ganze verzweifelte Lage ankam. In solchen Momenten geht es auch um Wahrhaftigkeit, nicht um die Justiz. Wer ist wahrhaftiger, diese Frau oder Strauss-Kahn? Zwischen diesen zwei Unbekannten, die unterschiedlicher kaum sein könnten, wobei die Frau auch noch schlechtes Englisch spricht und bei ihrer Arbeit war, soll innerhalb von neun Minuten auf dem Boden einvernehmlicher Sex stattgefunden haben und das obwohl der ärztliche Bericht des St. Luke’s-Roosevelt Hospital in Manhattan nach Einlieferung der Anklägerin zu dem Schluss kam: "Diagnose: Aggression. Ursache der Verletzungen: Aggression. Vergewaltigung" (gemäss dem Bericht erlitt Diallo Verletzungen an der Vagina, eine Schulterzerrung und einen Bänderriss)? Glauben tut dies offensichtlich Sabine Rückert und viele andere auch. Es wird Zeit, dass diesem gesellschaftlichen Rückschlag – für den nicht nur Rückert verantwortlich ist – bzgl. des Umgangs mit Frauen, die sexuelle Gewalt anklagen, mehr entgegen getreten wird. Mein ausführlicher Text hier soll einen Beitrag dazu leisten.
- siehe ergänzend auch "Falschbeschuldigungen bei sexellen Missbrauch und falsche Informationen" Mit Zahlen, die auf Aussagen durch Experten beruhen, ist das manchmal so eine Sache...
Meine Kritik richtet sich kurz gesagt gegen einige deutliche Tendenzen ihrer Berichterstattung, die man wie folgt zusammenfassen kann: Falschbeschuldigungen bei Sexualstrafdelikten seien sehr häufig; viele vermeintliche Täter seien demnach vielmehr die eigentlichen Opfer; die falsch Beschuldigerinnen seien oftmals psychisch krank und labil; Gerichte, Jugendämter, Feministinnen und Kinderschützerinnen seien oftmals verblendet, hysterisch und übereifrig. Zusätzlich fällt mir immer wieder die schnippische, manchmal offen verächtliche Tonart in ihren Artikeln auf, die diesem ernsten Thema nicht angemessen ist.
Zuvor muss mann und frau wissen, wie Frau Rückert über Opfer von sexueller Gewalt denkt. Dies verrät sie in ihrem Buch „Unrecht im Namen des Volkes. Ein Justizirrtum und seine Folgen" (2007), in dem sie frei von der Leber schreibt:
"Der Missbrauchsvorwurf wird zur Generalerklärung für alles Frauenunglück dieser Welt, für Frustrationen, Misserfolg und Wahnsinn. Und er wird zum Blankoscheck für haltlose Verdächtigungen. Alles, was das vermeintliche Opfer braucht, ist ein unkonkretes Unwohlsein, und schon kann es sich guten Gewissens auf die Suche machen nach einem Sündenbock für das eigene Elend. „ (S. 77) Rückert zerreißt dann auch gleich das sehr erfolgreiche Selbsthilfebuch „Trotz allem", das allein in Deutschland bis 2007 über 100.000 mal verkauft wurde, wie mir der Verlag einst mitteilte und zudem in fast jeder öffentlichen Bücherhalle steht. „Das Buch erhebt den Anspruch, vergewaltigten Mädchen und Frauen in ihrer Not zur Seite zu stehen, in Wirklichkeit aber leistet es vor allem jenen gestörten Seelen Hilfestellung, die aus welchen Motiven auch immer, seien es Rache- oder Minderwertigkeitskomplexe, falsche Beschuldigungen gegen Männer erheben." (S. 77) Für sie ist das Buch "Trotz allem" so wörtlich eine reine "Suggestivlektüre" (S. 238) Im Zusammenhang mit ihrer Kritik gegen "Trotz allem" und der Bezeichnung von Missbrauchsopfern als "Überlebenden" fällt dann auch folgender Satz: "Sie werden als "Überlebende" bezeichnet, als wären sie den Bombennächten eines Weltkrieges entronnen. " (S. 73)
Dieser abfälligen Bemerkung der Autorin ist zu entnehmen, dass sie sich offensichtlich nicht wirklich mit den möglichen Folgen und Empfindungen von Opfern sexueller Gewalt beschäftigt hat und dies wohl auch nicht will, wenn man ihre Berichterstattung verfolgt. Einige Betroffene (die ungenaue Erinnerungen haben), die in "Trotz allem" von sich berichten, missbraucht worden zu sein, sind für die Autorin übrigens auch nur - so wörtlich in ihrem Buch - "vermeintliche Opfer" (siehe Zitat oben) oder so wörtlich bzgl. einer Betroffenen eine „angeblich missbrauchte Frau“ (S.74). Rückert schreibt: "In Trotz allem berichten missbrauchte oder vermeintlich misbrauchte Frauen von ihren Misbrauchserfahrungen" (S. 73) Lassen sich Falschbeschuldigerinnen jetzt schon für ein Selbsthilfebuch interviewen und sind die über 100.000 Leserinnen des Buches alles Frauen, die eine Falschanschuldigung planen und sich dort das „know how“ holen?, möchte man die Autorin fragen. Man fragt sich auch, ob eine Gerichtsreporterin jemals objektiv über Mädchen/Frauen, die vor Gericht sexuelle Gewalt anklagen, berichten kann, wenn sie schon den Wahrheitsgehalt von Berichten in Selbsthilfebüchern anzweifelt…
Solche und weitere haarsträubende Äußerungen der Autorin zeigen ein Bild einer Frau, die wohl ein Problem mit von sexueller Gewalt betroffenen Frauen zu haben scheint. Das an sich ist nichts Neues. Opfer (und deren Helfer) zu diffamieren und direkt oder indirekt zum Schweigen zu bringen hat eine lange Tradition, die bis in biblische Zeiten zurückreicht. Es verwundert nur, dass eine derart eingestellte Frau als hoch angesehene Journalistin für die ZEIT arbeitet und dort offen bzgl. dem sexuellen Missbrauch an Kindern über (O-Töne) den „Kreuzzug gegen den Missbrauch“, die „kollektive Hysterie“ und „Damen von der Aufdeckungsfront“, den „Aufdeckungsrausch“ und „kollektiven Wahn“, die „wahnhafte Fixierung auf den sexuellen Missbrauch" und "kollektive Verwirrung", "den Spiegel der dunklen Seite des Feminismus", die "irreale Konfusion" und von "Pseudoerinnerungen“ berichten darf. Große Artikel mit Titeln wie "Inquisitoren des guten Willens", "Unrecht im Namen des Volkes", „Lügen, die man gerne glaubt“, „Schuldig auf Verdacht“, Böse Eloquenz“ und „Nichts als die Unwahrheit“ zeigen, wo die Reise hingeht.
Sabine Rückert durfte in den letzten Monaten vor allem auch über Kachelmann und auch Strauß-Kahn schreiben, als „Expertin für Sexualstraftaten“ sozusagen. Auf Grundlage eines „Mangel an Ergebnisoffenheit“ ließen sich „die überstürzten Reaktionen der Staatsanwälte“ in beiden Fällen erklären.“, schreibt sie u.a. Im Fall Kachelmann war sie sich schon vor Beginn der Hauptverhandlung sicher, dass es sich um eine Falschbeschuldigung handelte. Zudem wurde eine E-Mail bekannt (siehe meedia.de), die Rückert im Mai dem Kachelmann-Verteidiger Birkenstock geschickt hatte. Wortlaut:
"Wir können nur zusammen kommen, wenn Ihre Verteidigung in dem angedeuteten Sinne professionalisiert wird, dazu sollten Sie sich überlegen, einen Kollegen einzubinden, der Verfahren dieser Art auch gewachsen ist. Wenn Sie mein Buch gelesen haben, wissen Sie, wen ich in einem solchen Fall wählen würde.",schrieb die Journalistin, die damit alle gebotenen Grenzen der journalistischen Berichterstattung sprengte. Johann Schwenn, der zwei wegen sexuellen Missbrauch verurteilte zusammen mit Rückert frei bekommen hatte (über dieses Verfahren handelt Rückerts Buch – siehe oben), ist der Mann, mit dem zusammen sich Rückert eine erfolgreiche Verteidigung von Kachelmann vorstellen kann. „Die 50-Jährige ist über ein Buchprojekt mit Kachelmanns Wahlverteidiger Johann Schwenn verbandelt und hat wohl maßgeblich mit dafür gesorgt, dass der Hamburger mitten im Verfahren den Platz des Kölner Rechtsanwaltes Reinhard Birkenstock einnahm.“, schreibt meedia.de weiter. Es hat einen sehr faden Beigeschmack, dass ausgerechnet Sabine Rückert zusammen mit einem Kollegen nach dem Freispruch ein ausführliches Interview mit Kachelmann führte.
Ich will hier nicht weiter über diese berichteten Einzelfälle streiten. Es geht um das drum herum, die Art und Weise und wie „Wahrheiten“ und Informationen gestreut werden. Denn mittlerweile lässt Sabine Rückert immer öfter auch „handfeste“ Zahlen durch einzelne Experten verlauten:
„Ralf Eschelbach, Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe, schätzt in seinem Strafprozessrechtskommentar vom Mai 2011 die Quote aller Fehlurteile auf ein ganzes Viertel. Den Löwenanteil vermutet er bei jenen Fällen, bei denen es wenige oder gar keine Beweise für die angezeigte Tat gibt und »Aussage gegen Aussage« steht. So ist es bei Vergewaltigungsvorwürfen besonders oft.“ (http://www.zeit.de/2011/28/DOS-Justiz) Auf welcher Grundlage der Richter zu dieser "Schätzung" kommt erfährt man nicht. Verwundert hat mich dann noch der diesem Zitat folgende weitere Abschnitt:
„Als eine der Hauptursachen für Justizirrtümer hat Eschelbach die Vorverurteilung des Angeklagten durch die – im Schulterschluss mit der Staatsanwaltschaft – agierenden Richter ausgemacht. Diese verließen sich allzu oft auf den Inhalt der Ermittlungsakte und eröffneten im Vertrauen auf die Arbeit der Staatsanwälte das Hauptverfahren. Die Fixierung auf die – den Angeklagten belastende – Akte führe dazu, dass in Deutschland die Freispruchsquote unter drei Prozent liegt.“ In den USA - wo das Urteil von einer nicht mit den Akten vertrauten Jury gefällt wird - würde ein Drittel der Strafprozesse mit Freispruch enden, fügte Rückert noch nach. Man versteht, dass dies die Zahl an Freisprüchen ist, die ihr rechtmäßiger erscheint. Dabei kann man Frau Rückert beruhigen.
Wenn man sich die Daten zwischen 2001 und 2006 bzgl. Vergewaltigung/schwerer sexuellen Nötigung anschaut, dann folgen auf im Schnitt ca. 1.395 Anklagen ca. 1.069 Verurteilungen. Sprich ca. 76,63 % der Anklagen enden mit einer Verurteilung des Täters (Anmerkung: wobei der Löwenanteil der Anzeigen erst gar nicht zu einer Anklage führt) bzw. 23,37 % mit Freispruch. Hier stehen also 23,37 % Freisprüche laut Statistik gegen die 3 % in Rückerts Artikel, die sich wiederum auf den Bundesrichter beruft. Da scheint was nicht zu stimmen, oder?
"Klaus Püschel, Direktor des Rechtsmedizinischen Instituts Hamburg, das die größte deutsche Opferambulanz betreibt, konstatiert, im Jahr 2009 hätten sich 27 Prozent der angeblich Vergewaltigten bei der ärztlichen Untersuchung als Scheinopfer erwiesen, die sich ihre Verletzungen selbst zugefügt hatten. Nur in 33 Prozent der Fälle habe es sich erwiesenermaßen um echte Opfer gehandelt, bei den restlichen 40 Prozent sei die Rechtsmedizin zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen.“ (http://www.zeit.de/2011/28/DOS-Justiz/seite-2) Die bewusst falsch Anklagenden seien oftmals „gestörte Persönlichkeiten“, die „krankheitsbedingt zu extrem manipulativem Verhalten“ neigten, heißt es dann in dem Artikel weiter.
Klaus Püschel wird in einem anderen Artikel erneut zitiert: „Früher sei man in der Rechtsmedizin davon ausgegangen, dass es sich bei fünf bis zehn Prozent der vermeintlichen Vergewaltigungen um Falschbeschuldigungen handelte, inzwischen aber gebe es Institute, die jede zweite Vergewaltigungsgeschichte als Erfindung einschätzten. In Püschels Opferambulanz haben sich im Jahr 2009 genau 132 Vergewaltigte vorgestellt: Bei 27 Prozent der Frauen hielten die Ärzte die Verletzungen für fingiert, bei 33 Prozent für echt. Bei den restlichen 40 Prozent haben die Hamburger Rechtsmediziner nicht ermitteln können, wer der Urheber der Blessuren war: der beschuldigte Mann oder das Opfer selbst.“ (http://www.zeit.de/2011/09/WOS-Kachelmann/seite-3)
Sabine Rückert berichtet in einer Talkrunde mit dem Titel „Kachelmann & Co. Wenn Journalisten zu Richtern werden“, dass sich die Betroffenen, bevor sie eine Anzeige machen, an dieses Hamburger Institut wenden und erst danach überlegen können, ob sie eine Anzeige machen oder nicht. Auch der Moderator der Runde hebt diesen Sachverhalt nochmal besonders hervor. Das ist eine wichtige Information, denn somit kann man die Zahl von 27 % „falschen Opfern“ nicht auf die real angezeigten Fälle übertragen! Man sehe sich jetzt erneut die beiden o.g. Ausschnitte aus der ZEIT an. Hier fehlt dieser wichtige Hinweis, so dass der Eindruck entsteht, die Zahlen ließen sich auf die angezeigten Fälle anwenden. Das Institut hätte über 1.500 PatientInnen im Jahr, berichtet Rückert in der Talkrunde weiter. Danach nennt sie dann wieder die Zahl von 27 % Scheinopfern. Auch hier spielt sie wieder mit den Zahlen und Informationen, denn in der Runde geht es um Vergewaltigungsdelikte. Auf 1.500 bezogen wären dass 405 „falsche Opfer“ alleine in Hamburg. In ihrem Artikel beziehen sich die 27% allerdings auf 132 Vergewaltigte im Jahr 2009, was „nur“ ca. 35 falsche Opfer bei Sexualdelikten sind.
Übrigens: In Hamburg sind Anzeigen gemäß §177 StGB (Vergewaltigung / Sexuelle Nötigung) stark gesunken. Zwischen 2000 und 2004 lagen sie um die 300. Zwischen 2007 und 2010 wurden laut Hamburger Polizeistatistik im Mittel nur noch 211,5 Anzeigen registriert (29,5 % weniger!). Irgendwie passt dieser Trend nicht ins Bild, wenn es um einen starken Anstieg von Falschbeschuldigungen geht.
Zurück zu den Artikelauszügen:
Der Gutachter Günter Köhnken (Hinweis: Dieser war zusammen mit einer anderen Gutachterin beauftragt, die Glaubwürdigkeit des mutmaßlichen Opfers im Fall Kachelmann zu beurteilen) schätzt im Interview, dass um die 30-40 Prozent der Fälle, die bereits als problematisch eingeschätzt worden sind, Falschaussagen seien, davon überwiegend Sexualstrafdelikte. „Und hier hat die Zahl der Erwachsenen – in der Regel Frauen – auffällig zugenommen, die behaupten, Opfer einer Sexualstraftat geworden zu sein und bei denen gleichzeitig eine psychiatrische Grundproblematik, meistens eine Persönlichkeitsstörung, vorliegt.“ Sabine Rückert fragt: „Warum sind es vor allem Frauen, die durch Falschbezichtigungen auffallen?“ Antwort des Gutachters: „Persönlichkeitsstörungen treten bei Frauen deutlich häufiger auf diese Weise zutage. (…)“ Man erfährt dann vom Gutachter, dass „geistig schlichte Mädchen“, die einen komplexen Tathergang berichten, glaubhaft sind. Die „hochbegabte und eloquente Zeugin“ müsse mit komplexeren Fragen rechnen, auch damit, dass der Fragende ihre Chronologie kaputt mache, kreuz und quer frage, um sie ggf. ins Schleudern zu bringen. (http://www.zeit.de/2008/15/Interview-Koehnken)
Am 11.07.2011 zitiert Rückert offensichtlich auf Grundlage des oben bereits zitierten Interwies mit Köhnken aus dem Jahr 2008 wie folgt „Der Kieler Psychologieprofessor Günter Köhnken, einer der gefragtesten Glaubwürdigkeitssachverständigen Deutschlands, schätzt die Quote der Falschbeschuldiger unter den von ihm Untersuchten auf 30 bis 40 Prozent.“ Aus als „problematisch eingeschätzten", selektiven Fällen wird nun „von ihm Untersuchten“, was gleich ganz anders klinkt, nämlich so, als ob er sich auf die Gesamtheit der Fälle beziehen würde.
Interessant ist hier, dass Günter Köhnken im Interviewa mit dem ZDF Magazin mona lisa (Sendung vom 27.08.2011) noch mal deutlicher die Zahlen zurechtrückt: „Ich bin mehrfach mit der Äußerung zitiert worden, dass 30 bis 40 Prozent der Aussagen über Vergewaltigungen falsch seien. Das ist ein ziemlich fundamentales Missverständnis, weil hier eine Äußerung aus dem Zusammenhang gerissen worden ist. Ich habe tatsächlich gesagt, dass ich natürlich nur die problematischen Fälle bekomme, also die Fälle, bei denen die Staatsanwaltschaft oder das Gericht schon einmal Probleme gesehen haben. (…) In diesen problematischen Fällen haben wir in der Tat einen höheren Anteil an Aussagen, die sich dann nicht bestätigen lassen, was nicht notwendigerweise heißt, dass sie falsch sein müssen.“ Auf die Frage, wie oft es denn bewusste Falschaussagen gebe, antwortet Köhnken: „Das habe ich eigentlich in den Gutachten, die ich gemacht habe, sehr selten erlebt.“ Das hört sich doch schon mal ganz anders an! Der Gutachter scheint gemerkt zu haben, dass er sich im Interview mit Sabine Rückert im Jahr 2008 unklar ausgedrückt hatte und sie seine Aussage zudem in ihrem Artikel vom 11.07.2011 falsch widergegeben hatte.
Rüdiger Deckers - Verteidiger in Düsseldorf und auf Sexualstraftaten spezialisiert – darf in einem anderen Artikel schätzen, dass die zu Unrecht Beschuldigten unter jenen Mandanten, die die Tat bestreiten (Anmerkung: was wohl fast alle tun), bei 40 bis 50 Prozent läge. Nur zwei Absätze über der o.g. Passage wurde übrigens eine Staatsanwältin zitiert, die nach 17 Jahren in ihrem Dezernat zu dem Schluss kam: »Die meisten Zeuginnen sagen die Wahrheit, auch wenn sie sich nicht immer nachweisen lässt« Das musste allerdings noch von Frau Rückert relativiert werden indem sie (deutlich aus einem anderen Zusammenhang gerissen) nachschiebt: „Aber sie sagt auch: »Ich traue jungen Frauen inzwischen alles zu.«“ Letzterer Satz wurde dann im Artikel als Zwischenüberschrift gleich noch dick gedruckt! Dann passte es wieder… So werden falsche Rückschlüsse und Bilder bei den LeserInnen erzeugt.
Vergessen sind offensichtlich die Dunkelfelduntersuchungen, die ein enormes Ausmass der sexuellen Gewalt belegen. „Von den Frauen zwischen Zwanzig und Sechzig sind 6,1 Prozent mindestens einmal von Familienangehörigen vergewaltigt oder genötigt worden. Hochgerechnet sind das rund 1,4 Millionen Frauen in Deutschland. Fast jede fünfte Frau ist als Kind einmal Opfer von sexuellen Übergriffen gewesen.“, schrieb Sabine Rückert noch 1995. Dass solche Zahlen - unter nicht juristischen, sondern objektiv beobachtenden Aspekten - nahelegen, dass die meisten Anklagen berechtigt sein könnten, scheint sie nicht mehr zu interessieren. 2007 schreibt Rückert: „Nur wenige Journalisten stemmen sich dem kollektiven Wahn um den sexuellen Missbrauch entgegen. Die meisten schwimmen uninformiert und erschüttert vom angeblichen Ausmaß der Katastrophe im Strom der Empörung mit.“ (http://www.zeit.de/2007/03/Inquisitoren_des_guten_Willens) In einer Email Antwort auf einen Leserbrief von mir schrieb Sabine Rückert 2003 u.a. "Durch die öffentliche Debatte und die mediale Informationsflut zum Thema Missbrauch bedingt, nehmen Falschbezichtigungen zu. Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre konnte ein Aussagepsychologe noch davon ausgehen, dass die Aussage eines Kindes, missbraucht worden zu sein, der Wahrheit entsprach. Heute ist das anders. Professor Undeutsch macht die Erfahrung, dass inzischen jede zweite Beschuldigung falsch ist. Die Vorwürfe seien ausgedacht oder induziert." Und sie hängte noch nach: "Was die Dunkelziffer betrifft, so gibt es leider viele Opfergruppen und vermeintliche Opfergruppen, die enorme Missbrauchszahlen in die Welt setzen, ohne den Schatten eines Beweises zu liefern." Nun, wenn man von einem enorm großen Ausmass von Falschbeschuldigungen ausgeht, dann passen halt die Zahlen aus wissenschaftlichen Dunkelfeldstudien einfach nicht mehr so Recht ins Bild...
Vergessen sind offenbar auch all die bekannten Möglichkeiten und Abläufe, um die vor allem die mit Opfern befassten Experten wissen, die zu juristischen Fehleinschätzungen und mangelhaften Beweisen führen, so dass viele Opfer keine Chance haben, die Täter je zur Rechenschaft zu ziehen. Vergessen ist, dass dieses Delikt seit je her von einem schweren Machtgefälle bestimmt ist. Vergessen ist, dass sexuelle Gewalt oft von Bekannten, Freunden, Partnern und Verwandten ausgeht und die Opfer gerade deswegen in ein großes Dilemma stürzen und sie ggf. verwirrenden Aussagen machen. Vergessen ist letztlich all die Aufklärungsarbeit der letzten Jahrzehnte.
In anderen Textstellen und Artikeln geht es um die Unglaubwürdigkeit von Anklägerinnen:
„ (…) immer häufiger stoßen die Sachverständigen bei den Zeuginnen auf vermeintliche Erinnerungen, die ihnen in Wirklichkeit von Lebensberatern, Sektengurus oder Therapeuten, also von Ratgebern, bei denen sie in einer psychisch labilen Phase Hilfe gesucht hatten, eingeimpft worden sind. Im Glauben, ein Sexualopfer zu sein, brechen die Irregeführten mit ihren Partnern und Familien und geraten tiefer und tiefer in die Krise“ und „Am Bundesgerichtshof in Karlsruhe registriert man sorgenvoll die Manipulation der Opferzeugen durch »rechtlich Ungebildete mit Helfersyndrom«, wie es der Bundesrichter Axel Boetticher formuliert.“ (http://www.zeit.de/2008/15/Falsche-Zeugen)
Die ganze Diskussion um "falsche Erinnerungen" ist noch mal ein Thema für sich. Was mir dabei allerdings aufgefallen ist: Diese Diskussion wird vorwiegend von einigen männlichen Psychologen und Gutachtern und vielen vielen Vertretern von Vätervereinen, „Männerrechtlern“ und natürlich von den Beschuldigten selbst geführt. Was meist komplett fehlt sind Wortmeldungen der „Opfer“ dieser „induzierten Erinnerungen“. Man müsste doch davon ausgehen, dass die „vielen vielen“ Betroffenen, die an ihnen verübten Taten (die eingeredeten Erinnerungen von Missbrauch und Vergewaltigung und ggf. der Bruch mit Familie oder Vertrauten) irgendwann anklagen und öffentlich machen. Doch es herrscht Schweigen. Manchmal frage ich mich auch, was die heute Erwachsenen, damals der falschen Aussage bezichtigten Kinder in dem bekannten "Montessori-Prozess" (1994) oder dem "Worms-Prozess" (1997) heute dazu sagen würden? Würden sie sagen: Wir waren Opfer von suggestiven Befragungen und einer Massenhysterie oder würden sie sagen, wir waren reale Opfer sexueller Gewalt, wir bilden uns das nicht ein, wir sind heute Erwachsen und wissen, was uns passiert ist...
„Eine Frau, die einen Mann vernichten will, braucht dazu manchmal weder Messer noch Pistole. Sie braucht bloß eine gute Geschichte, eine, die von Vergewaltigung handelt.“, so beginnt Rückert einen weiteren Artikel. „Hochgradig verhaltensauffällige Zeuginnen“ und „Borderlinerinnen“ gelten als wenig wahrheitsliebende Zeuginnen, erfährt man weiter.
Sofern den Anklägerinnen psychische Phänomene nicht zur Last gelegt werden, sondern zur möglichen Glaubwürdigkeit verhelfen, wie im Fall Kachelmann durch die Aussagen des Traumatologen und Therapeuten Prof. Seidler, der der Anklägerin (und Patientin von ihm) die Diagnose „posttraumatischen Belastungsstörung“ ausgestellt hatte und von einer möglichen Dissoziation während der Vergewaltigung ausging, schreibt Rückert als Antwort: „Viele forensische Sachverständige halten allerdings wenig von der Traumatologie.“ und bezieht sich dabei mal wieder auf den umstrittenen Max Steller. Wer die anderen „vielen Sachverständige“ sind, schildert sie nicht.
In Rückerts Buch führt sie auch ein Interview (leider ohne Datumsangabe) unter der Überschrift „Die Schäden sind enorm“ mit - ihrer oft zitierten Quelle - dem Gutachter Max Steller über „Falschbeschuldigungen“, "Missbrauchsverdachtswelle", „Gutmenschentum“, "Pseudoerinnerungen" und über die Frage „was die Opferrolle so attraktiv macht“. Steller sagt bzgl. des sexuellen Missbrauchs: „Die Falschbeschuldigungen – das sind keine kleinen Zahlen mehr. Niemand kann genau sagen, wie viel Prozent die Fehlverurteilungen inzwischen ausmachen und wie viele Unschuldige im Gefängnis sitzen, aber ich bin sicher, dieses Dunkelfeld ist erheblich. Und dabei ist das Strafrecht noch am wenigsten betroffen. Weit größer sind die Kollateralschäden im Familienrecht. Da wird dann eben schnell ein geschiedener Ehemann vom Umgangsrecht mit seinem Kind ausgeschlossen. (…) Die Kinder (…) wachsen mit dem eingeimpften Gedanken auf, missbrauchte Kinder zu sein.“ (S. 89+90)
Solche Einschätzungen eines Fachmannes verleihen Rückerts Thesen auf den ersten Blick ganz schön Gewicht, obwohl Wörter wie „erheblich“ an sich erst einmal wenig aussagen. Sehr viel aussagekräftiger werden die o.g. Angaben allerdings, wenn man sich vor Augen führt, dass pro Jahr hoch angesetzte und maximal 1.000 Väter wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt werden. (Siehe meinen Beitrag vom 04.01.2011, in dem ich diese Zahl nachvollziehbar auf Grundlage statistischer Daten eingrenzen konnte) Von diesen werden laut Verurteilungsquote nur ca. 10 % verurteilt - sprich ca. 100 Väter. Laut Statistik wurden zudem z.B. im Jahr 2004 nur 27,1 % der Verurteilten mit einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung bestraft (Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, S. 103). Das bedeutet, dass von den 100 fiktiven Vätern nur 27 ins Gefängnis mussten. Ob unter diesen 27 Vätern auch einige unschuldig verurteilte sind, bleibt Spekulation. Ich persönlich halte es eher für unwahrscheinlich, dass bei einer solch extrem vorsichtigen Vorgehensweise der Justiz und niedrigen Verurteilungsquote der Anteil von Fehlurteilen besonders hoch ist. Nehmen wir - um Zahlen zu bekommen - einfach mal Rückerts oft genannte Zahl bei Sexualdelikten von 30 % Falschbeschuldigungen und niedrige 4 % auf der anderen Seite. Das wären dann höchstens 8 Väter (bei hohen 30 %) bis ein Vater (bei 4%), die fälschlich im Gefängnis sitzen. Was sagte Experte Steller noch? „Die Falschbeschuldigungen – das sind keine kleinen Zahlen mehr.“ Da er die „Kollateralschäden im Familienrecht„ als weit größer ansieht, als im Strafrecht, fragt man sich, wie viele Fehlurteile denn nun im allgemeinen Strafrecht bzgl. des Deliktes vorkommen sollen, wenn schon die mögliche Zahl von falsch verurteilten Vätern rechnerisch so niedrig ausfällt. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich finde es selbstverständlich schrecklich, wenn jemand unschuldig im Gefängnis sitzt. Das versteht sich irgendwie schon von alleine. Was ich aber auch erschreckend finde ist, wenn ein „Experte“ mit Angstszenarien um sich wirft, die sich ganz deutlich widerlegen lassen und zudem von einer hochrangigen Journalistin immer wieder zitiert wird. Zudem ist die Art und Weise und die Wortwahl, die Steller im Interview präsentiert, alles andere als sachlich und objektiv, sondern hochgradig politisch und emotional.
Übrigens gibt es auch eine große Untersuchung, die höchstpersönlich u.a. von Max Steller mit durchgeführt wurde: Busse, D., Steller, M. & Volbert, R. (2000): Forschungsbericht. Sexueller Missbrauch in familiengerichtlichen Verfahren. Von mir zitiert nach Bange, D. 2002: Falschbeschuldigungen. In: Bange, D. / Körner, W. (hrsg.) Handwörterbuch Sexueller Missbrauch. Hofgrefe Verlag, Göttingen.
Ausgewertet wurden 1.394 Berliner Akten zur Regelung des Umgangs und 1.500 Akten bzgl. Sorgerechtsregelungen. In nur 3,3 % (Umgang) bzw. 3% (Sorgerecht) der Fälle kam überhaupt ein sexueller Missbrauchsverdacht zur Sprache. Bange schreibt zusammenfassend: „Die Gesamtbetrachtung der Sorgerechtsfälle zeigt, dass in den seitens des Gerichtes nicht bestätigten Missbrauchsfällen, der Vorwurf in fast allen Fällen für die beschuldigten Elternteile keine negativen Konsequenzen bezüglich der Sorgerechtsentscheidungen hatte. Etwas anders ist das Ergebnis bei den Umgangsrechtsfällen mit sexuellen Missbrauchsverdacht. In fünf Fällen erfolgten Einschränkungen des Kontaktes des Kindes mit dem Verdächtigten, obwohl der Verdacht nicht bestätigt werden konnte.“ (Bange, 2002, S. 95) Diese fünf Fälle beziehen sich auf 45 Fälle, in denen überhaupt ein Verdacht zur Sprache kam. Sprich es stehen 40 Fälle, in denen sich der Verdacht etweder erhärten ließ und eine Einschränkung bzw. Ausschluss des Umgangs erfolgte oder er sich nicht erhärten ließ, aber keine Konsquenzen bzgl. der richterlichen Entscheidung zum Umgang erfolgten gegen diese fünf Fälle. Man fragt sich, ob sich Max Steller nicht mehr an seine eigene Studie erinnern kann wenn er sagt: „Da wird dann eben schnell ein geschiedener Ehemann vom Umgangsrecht mit seinem Kind ausgeschlossen.“
Schauen wir uns nun einige fundierte Zahlen an. Zwischen 1977 und 2006 endeten ca. im Mittel 17 % aller Anzeigen (bei Vergewaltigung und ab 1998 auch inkl. sexueller Nötigung) mit einer Verurteilung. (http://www.frauen-gegen-gewalt.de/dokumente/files/e905d4c573adfbd168a14f3993c1f35e.pdf) Wer sich zudem die polizeiliche Kriminalstatistik und Daten des statistisches Bundesamtes anschaut, wird ergänzend zu dem Ergebnis kommen, dass beim sexuellen Kindesmissbrauch nur bei ca. 10 % aller Anzeigen auch eine anschließende Verurteilung erfolgt.
Diese Zahlen an sich zeigen, dass niemand „Schuldig auf Verdacht“ ist, sondern die Justiz sich dem Delikt entsprechend sehr schwer tut, Beweise zu finden und Urteile zu sprechen. Die Studie (siehe letzten Link) zeigt zudem, dass nur bei 3 % der Anzeigen eine Falschbeschuldigung nachgewiesen werden konnte. Dabei wurden allerdings nur 100 Fälle untersucht, was nicht repräsentativ ist. Aussagekräftiger ist eine bayrische Studie aus dem Jahr 2005. In 7,4% (140 von 1894 Fällen) erfolgte eine Anzeige wegen Vortäuschung oder falscher Verdächtigung (wobei mir nicht ersichtlich ist, ob diese Anzeigen auch zu einer Verurteilung führten und somit auch juristisch einwandfrei wären.). Diese Zahl aus der realen Statistik liegt fern ab von den Schätzungen, die in Rückerts Artikeln auftauchen. Interessant ist dazu noch folgendes: Soweit dies in den Akten vermerkt war ging nur in 40 von den 140 Fällen (28,6%) die Initiative zur Anzeige wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung direkt und ohne erkennbare Beeinflussung durch Dritte vom angeblichen „Opfer“ aus. Diese Informationen sind noch mal wichtig, da sie letztlich belegen, dass Frauen, die aus eigener Initiative anzeigen, seltener eine Tat vortäuschen oder falsch verdächtigen. Mit beinahe einem Drittel stellten zudem die Minderjährigen unter 18 Jahren einen relativ großen Anteil unter den 140 „falschen Opfern“, auch dies finde ich eine wichtige Information.
Allerdings zeigt die Studie auch, dass die an der Sachbearbeiterbefragung beteiligten polizeilichen Sachbearbeiter schätzen, dass der Anteil der Vortäuschungen und falschen Verdächtigungen an allen Anzeigen gem. § 177 StGB im Durchschnitt ein Drittel (33,4%) beträgt. Gefühlte und geschätzte Werte bzgl. Falschanschuldigungen liegen auch hier relativ hoch. Warum ist das so? Die am häufigsten von den Sachbearbeitern genannten Gründe für Zweifel am Vorliegen einer Vergewaltigung / sexuellen Nötigung waren das Vortat- und das Nachtatverhalten des Opfers, widersprüchliche oder wenig detaillierte Aussagen, der Widerruf der Anzeige durch das Opfer, mangelndes Interesse an der Strafverfolgung und der Einfluss psychotroper Substanzen zur Tatzeit. Aber heißt das gleich, dass die Anschuldigerinnen lügen?
Hier einige beispielhafte Notizen der Sachbearbeiter, die zu ihren Zweifeln führten:
„Das Opfer ging mit dem Beschuldigten (nach der Tat) noch in eine
Gaststätte - als ob nichts gewesen wäre!“
Für mich ist dies kein Beweis für oder gegen die Glaubwürdigkeit. Man müsste hier nachforschen, ob das Opfer evtl. unter traumatischem Schock stand, zu dem Besuch der Gaststätte genötigt wurde, wie in Trance weiter funktionierte und ähnliches.
„Das Opfer ließ den Tatverdächtigen immer wieder freiwillig in die
Wohnung.“
Vergewaltigungen sind oftmals Beziehungstaten. Frauen, die vielleicht schon oft Gewalt durch den Partner erlitten haben, neigen zu einem Verharren in der Opferrolle und zu diffusem Verhalten. Auch hier müsste man weiteres abklären. Dazu schrieb übrigens höchst persönlich Sabine Rückert 1995 bzgl. Frauen, die in Frauenhäuser geflüchtet waren:
„Die meisten ihrer Frauen streben wieder heimwärts, kaum daß die blauen Flecken verblaßt und die Schürfwunden verheilt sind. Der Hannoveraner Staatsanwalt Thomas Klinge muß laufend Akten schließen und Verfahren einstellen, weil geschlagene oder vergewaltigte Ehefrauen ihre Anzeigen zurückziehen oder von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen.“ (http://www.zeit.de/1995/15/Die_Keimzelle_der_Gewalt) Interessant ist an dieser Stelle auch folgende Info aus dem „Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland“: Frauen, die Opfer von sexuellem Missbrauch vor dem 16. Lebensjahr geworden waren, wurden in ihrem Erwachsenenleben doppelt so häufig wie andere Frauen Opfer von häuslicher Gewalt durch Partner und viermal so häufig Opfer von sexueller Gewalt. (vgl. S. 659) Sexueller Missbrauch in der Kindheit hat destruktive Folgen bzgl. der psychischen Situation der später Erwachsenen. Diese Situation wird offensichtlich von Tätern erkannt und ausgenutzt. Anstatt dies zu erkennen, wird den Frauen ihre psychische Situation vor Gericht leider manches mal dahingehend ausgelegt, dass sie grundsätzlich weniger glaubwürdig sind.
„Das Opfer wollte sich zunächst nicht vom Täter - zugleich Ehemann - trennen.“
Siehe vorherige Anmerkungen
„Opfer verweigerte eine Atemalkoholmessung und die Untersuchung in der Rechtsmedizin.“
Ich kann mir vorstellen, dass einige vergewaltigte Frauen es für sehr belastend empfinden, wenn ihr Intimbereich untersucht werden soll oder es als Anmaßung erleben, wenn sie auf Alkohol hin getestet werden sollen.
„Opfer hätte von sich aus keine Anzeige gemacht und sprach erst von Vergewaltigung, als sich der Tatverdächtige überall mit dem Geschlechtsverkehr mit ihr brüstete, und dies drohte, Ortsgespräch zu werden.“
Für mich ein nachvollziehbares Verhalten.
„Opfer erstattete erst rund zwei Monate später im Rahmen der Scheidungsauseinandersetzung Anzeige.“
Darf sich eine Frau nicht auch später überlegen, den Täter anzuzeigen? Vielleicht erfuhr sie weitere Demütigungen im Scheidungsverfahren und kam zu dem Schluss, jetzt doch auch die Tat anzuzeigen.
„Opfer stand zum Zeitpunkt der Anzeigeerstattung deutlich sichtbar unter Medikamenten- bzw. Drogeneinfluss, schlief ständig ein und konnte anfangs keine detaillierten Angaben machen.“
Auch Abhängige können vergewaltigt werden.
Dazu kommt, dass die Glaubwürdigkeit der Anzeigenden nach Angaben der Sachbearbeiter bröckelte, wenn z.B. „die Geschädigte keinerlei Gegenwehr leistete, obwohl dies problemlos möglich und Erfolg versprechend gewesen wäre.“, „das Opfer unter dem Einfluss von freiwillig konsumierten Substanzen wie Alkohol, illegalen Drogen oder Medikamenten stand und deshalb Erinnerungslücken hatte“, „die Initiative zur Aufnahme von Kontakten mit sexueller Komponente vom Opfer ausging.“, „das Opfer den Eindruck erweckte, es stünde der Anbahnung einer Beziehung positiv gegenüber.“
Die Polizei und die Justiz brauchen offensichtlich das perfekte Opfer. Nun, die Realität ist anders. Das „perfekte Opfer“ gibt es nicht. Dass das juristische System seine eigenen Regeln hat, ist bekannt. Dabei kann ich so einige juristische Hürden nachvollziehen, denn vor Gericht zählen nun einmal handfeste Beweise. Wir leben in einem Rechtsstaat und das ist auch gut so. Mir geht es hier nicht um die Justiz, sondern um Medien und Menschen wie Sabine Rückert, die trotz aller Erkenntnisse u.a. aus der Arbeit mit Opfern die Realität verdrehen, letztlich zum Vorteil für mutmaßliche Täter. Wenn die Menschen anfangen zu glauben, dass fast die Hälfte aller Anschuldigungen grundsätzlich falsch und erfunden sind, dann freuen sich vor allem die Täter da draußen und ihre mannigfaltigen Schutzpatronen. Wer etwas im Internet recherchiert wird schnell feststellen, dass Rückerts Artikel zitiert und kommentiert auf unzähligen Internetpräsenzen u.a. von Antifeministen, Maskulisten, der destruktiven Väterbewegung und von Pädosexuellen zu finden sind. Das an sich sollte einem schon zu denken geben. Noch mehr Sorgen macht mir allerdings, dass diese Artikel in der ZEIT stehen, die neben vielen einflussreichen Personen sicher auch von vielen Anwälten und RichterInnen gelesen wird. Frau Rückert sucht zusätzlich gezielt die Nähe zu JuristInnen, indem sie ihr Buch „Unrecht im Namen des Volkes“ u.a. am 20.04.2007 im Hamburger Ziviljustizgebäude und am 09.10.2007 im Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht vorstellte und daraus las. (http://www.richterverein-hamburg.de/kultur/gbhver.htm#2007) Ihr Engagement erstreckte sich zudem - neben Fernsehauftritten - u.a. auch auf eine Podiumsdiskussion innerhalb der "Fachgruppentagung Rechtspsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie" (Ende August 2009), die unter dem Titel „Justizirrtümer: Juristische und psychologische Ursachen“ stattfand und von einem Richter am OLG Frankfurt moderiert wurde. Rechtsanwalt Johann Schwenn war auch gleich mit von der Partie, ebenso wie der Gutachter Günter Köhnken, den Rückert in ihren Artikeln (siehe oben) zitiert hatte (man kennt sich halt).
Während ich mir vor Kurzem Gedanken zu diesem Text machte, kam ich zufällig mit einer mir unbekannten Frau ins Gespräch. Dies Frau war merkwürdig und schilderte mir als ihr Unbekannten von sich aus sehr intime Details. Ich erfuhr – ohne es zu wollen oder das Gespräch gesucht zu haben –, dass sie derzeit unter Medikamenten stehe. Sie hätte außerdem vor kurzem einen merkwürdigen Konflikt mit ihrem ehemaligen Arbeitgeber, den sie mir dann schilderte. Der Arbeitgeber habe außerdem früher, als sie noch da war, Sex gewollt. Sie aber nicht, sie habe kurz darauf gekündigt. Außerdem sei sie als Kind misshandelt worden. Ein wirres Gespräch. Ich dachte, was wäre gewesen, wenn diese psychisch auffällige Frau von ihrem Arbeitgeber vergewaltigt worden wäre? Die Antwort war relativ klar, sie hätte vermutlich so gut wie keine Chance gehabt, dass sie ernst genommen würde.
Auch die durch Rückert und ihrem Lieblingsanwalt Schwenn der Falschbeschuldigung überführte „Amelie“ (über die in ihrem Buch und in ZEIT-Artikeln ausführlich berichtet wird) litt an der Persönlichkeitsstörung Borderline und Rückert kritisierte, dass diese Tatsache ihr im Prozess nicht angelastet wurde. Dieser aufgedeckte „ganz normale Justizirrtum“ baute allerdings auf sehr realen schweren Gewalterfahrungen von Amelie seitens ihres Vaters auf, die wohl auch zu der Persönlichkeitsstörung führten. Zitat aus Rückerts Artikel: "Er terrorisiert seine Frau, misshandelt seine vier Kinder, zerstört die Einrichtung. Am härtesten trifft es Amelies ältere Schwester Bianca. Sie wird getreten, in den dunklen Heizungskeller gesperrt und muss zur Strafe auf einem Bein im winterlichen Garten stehen. Nachbarn sehen es und helfen nicht. Bianca hört auf zu essen, sie erbricht sich bei den Mahlzeiten aus Angst vor ihrem Vater, und er zwingt sie, das Erbrochene wieder aufzuessen. (...)" Amelie wurde als Kind offensichtlich derart psychisch und physisch von ihrem Vater misshandelt, dass sogar der von Amelie ungerechtfertigt ins Gefängnis gebrachte Onkel M. in der Verhandlung um seinen Freispruch aussagt: „Ich hätte es verstanden, wenn sie ihren Vater mit einer Axt erschlagen hätte.“ (Rückert, 2007, S. 232)
Die entlarvte Lüge bzgl. des sexuellen Missbrauchs konnte ihre Kraft nur entfalten, weil drum herum vieles passte, weil Amelie real von ihrem Vater misshandelt worden war. Lassen wir an dieser Stelle auch einmal Amelie zu Wort kommen in einem Brief an ihren Vater, den Rückert in ihrem Buch zitiert: "(...) Oder Mama. Weißt Du, wie oft sie geheult hat, wenn Du mal wieder durchgedreht bist oder uns rausgeschmissen hast? Du hast geschrieben, Mama hätte gesagt, ich hätte Angst vor Dir. Ich hatte mal Angst, ja, besonders als ich noch zu Hause wohnte. Auch bei Oma konnte ich kein neues Leben beginnen, weil ich immer Schiss hatte, an unserem Haus vorbeizugehen. Du wolltest mir ja den "Arsch aufreißen", mich plattmachen und was weiß ich noch alles. (...) Du weißt gar nicht, wie weh Du allen getan hast. Was ich im Moment fühle, kann ich mit Worten nicht beschreiben. Sie sind dafür zu schwach. Nachts habe ich Albträume, und Du sagst einfach nur "Entschuldigung". " (Rückert, 2007, S. 21)
Die Misshandlung von Schutzbefohlenen § 225 wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. Amelies Vater hätte für seine realen Verbrechen abgestraft gehört. Amelie wählte die Falschbeschuldigung wegen sexuellen Missbrauchs als Weg und belastete zusätzlich den unbeteiligten Onkel (auch das steht unter Strafe und Amelie wurde dafür auch von Anwalt Schwenn angezeigt.). Das Ganze ist ein einziges tragisches Familiendrama und die Justiz machte zudem Fehler. Aber „ganz normal“ und „häufig“, wie Frau Rückert es auf die allgemeine Justiz überträgt und sieht? Wohl kaum, denn der Fall hat seine besondere und komplexe Geschichte und Dynamik.
Rückert nutzt diesen Einzelfall zudem für eine überleitende heftige Kritik gegen feministische Beratungsstellen. Fettgedruckt erscheinen in ihrem Artikel „Inquisitoren des guten Willens“ die Namen „Wildwasser“ und „Allerleirauh“. Rückert schreibt: „Feministische Beratungsstellen für sexuell missbrauchte Kinder und Frauen schießen Anfang der neunziger Jahre aus dem Boden. Sie tragen bedeutungsschwangere Namen: Zartbitter, Wildwasser, Allerleirauh, Hautnah, Zerrspiegel, Schattenriss, Alraune, Belladonna, Kobra oder Trotz allem. (…) Als Amelie ihre Beschuldigungen erhebt, herrscht eine Art Inquisition des guten Willens im ganzen Land. Auch in Osnabrück.“ „Der Druck, der auf den Kindern laste,“ zitiert sie eine Absatz darüber mal wieder den Psychologieprofessor Max Steller, „führe zu den unglaublichsten, fantastischsten und absurdesten Schilderungen sexueller Übergriffe.“ Im Fall Amelie gründete die Lüge allerdings auf der realen Misshandlungsgeschichte, das war „der Druck, der auf ihr lastete.“, nicht der Einfluss durch feministische Beraterinnen. An dieser Stelle verwundert es überhaupt, dass die Beratungsstellen genannt und einfach so "abgeurteilt" werden. Denn im Fall Amelie war - so weit mensch den Recherchen von Frau Rückert folgt - keine Mitarbeiterin einer (feministischen) Fachberatungsstelle beteiligt.
In Rückerts Buch wird Verteidiger Schwenn zitiert, wie er einen einst Amelie betreuenden Psychiater befragt. Dieser Psychiater hatte Amelie eine Anwältin empfohlen, die ihm wiederum durch eine örtliche Beratungsstelle für missbrauchte Mädchen und Frauen bekannt war (das ist der einzige indirekte Kontakt zu einer solchen Beratungsstelle, von der man im Fall Amelie überhaupt erfährt!). Schwenn nennt die Namen der Beratungsstellen Wildwasser, Allerleirauh und Hautnah und sagt im Verlauf der Befragung: „Solche Vereine haben nachweislich reihenweise zu Fehlurteilen beigetragen.“ (S. 251) Und Punkt. Eine solche Behauptung wird von Rückert einfach so ohne weitere Kommentare oder gar Beispiele für konkret nachgewiesenes Fehlverhalten der genannten Stellen übernommen, als „Wahrheit“, die man wohl nicht weiter erklären muss...
Ich denke, ich konnte klar machen, dass Sabine Rückert oftmals unsauber arbeitet und gezielt das Meinungsbild bzgl. der Anklägerinnen von sexueller Gewalt zu deren Ungunsten beeinflusst. Dabei habe ich grundsätzlich nichts dagegen, dass über Falschbeschuldigungen berichtet wird (ich finde die o.g. 7,4% Anzeigen wegen Vortäuschung oder falscher Verdächtigung auch nicht gerade wenig). Es kommt aber auf die Art und Weise und einen bewussten Umgang mit der Thematik an.
Gehen wir schließlich noch einmal zurück in das Jahr 1995. Sabine Rückert zitiert ausführlich Katharina Rutschky – DIE Protagonistin der „Missbrauch mit dem Missbrauch“-Bewegung vor allem in den 90er Jahren - , u.a. mit angeblich belegten 100 Fällen von Falschbeschuldigungen bei sexuellem Missbrauch. „Angeblich“ muss ich hier schreiben, weil Rutschky eine denkbar schlechte „Expertin“ ist. Rutschky, die überall eine aufkommende Missbrauchshysterie und unzählige falsch Beschuldigte sah und dies durch scheinbar wissenschaftliche Artikel und Bücher belegen wollte – schrieb im Jahr 2004 für das kleine Magazin „Campo de Criptana“ Ausgabe Nr. 4 (übrigens vor einem Interview unter der Überschrift "Die Pädos sind heute politisch auf sich allein gestellt" mit Prof. Dr. Rüdiger Lautmann (Autor des sehr umstrittenen Buches "Die Lust am Kind. Portrait des Pädophilen") und dem "Chefredakteur" der früheren Pädogruppe "Krumme 13" Dieter Giesekin !!) u.a. die strafrechtliche Verfolgung des Besitzes und des Handels mit Kinderpornographie würde „durch die Behauptung gerechtfertigt, dass zu ihrer Herstellung ja Kinder missbraucht werden“. und „Das traurige Triebschicksal eines pädophil veranlagten Menschen (welches Kind verliebt sich schon in einen älteren Menschen) soll und darf nach diesem Gesetz nicht einmal den Ausweg in die Imagination nehmen.“ (O-Ton Rutschky S. 23) und „Die Vorstellung, dass Pornographiekonsumenten mittelbar „Missbrauch“ fördern, ist auch insofern fragwürdig, als ja Film- und Schneidetechnik die täuschende Simulation von allem und jedem erlauben. Für Kriegsfilme wird ja auch kein Krieg geführt.“ (O-Ton Rutschky, S. 23) Die Frau, die früher lautstark (und oft auch gerne gehört) gegen die feministische Hysterie um sexuelle Gewalt wetterte, hat offenbar endgültig ihre Maske abgesetzt. Das hier noch mal zu erwähnen, war mir wichtig, dieser ganze Themenbereich ist ein Bereich mit unzähligen Abgründen.
Nun, Rückert zitiert in ihrem Artikel aus den 90er Jahren auch Zahlen zum Dunkelfeld und dem hohem Ausmass der sexuellen Gewalt. Sie schrieb: „Trotzdem sind es zigtausende Fälle in Deutschland, die gegen Frau Rutschkys hundert belegte Falschverdächtigungen stehen.“ Einige Jahre später scheint sich Sabine Rückert nicht mehr so recht an diesen Satz erinnern zu wollen. Denn auf einmal sind angeblich die Falschbeschuldigungen zur Normalität geworden, tauchen überall psychisch gestörte und rachsüchtige Frauen auf...
Am Ende des Textes habe ich mir noch eine Presseerklärung von Nafissatou Diallo, die Dominique Strauss-Kahn Vergewaltigung vorwirft, angesehen. Mir schossen die Tränen in die Augen, weil bei mir – trotz ihres Versuch, sich gefasst zu zeigen – ihre ganze verzweifelte Lage ankam. In solchen Momenten geht es auch um Wahrhaftigkeit, nicht um die Justiz. Wer ist wahrhaftiger, diese Frau oder Strauss-Kahn? Zwischen diesen zwei Unbekannten, die unterschiedlicher kaum sein könnten, wobei die Frau auch noch schlechtes Englisch spricht und bei ihrer Arbeit war, soll innerhalb von neun Minuten auf dem Boden einvernehmlicher Sex stattgefunden haben und das obwohl der ärztliche Bericht des St. Luke’s-Roosevelt Hospital in Manhattan nach Einlieferung der Anklägerin zu dem Schluss kam: "Diagnose: Aggression. Ursache der Verletzungen: Aggression. Vergewaltigung" (gemäss dem Bericht erlitt Diallo Verletzungen an der Vagina, eine Schulterzerrung und einen Bänderriss)? Glauben tut dies offensichtlich Sabine Rückert und viele andere auch. Es wird Zeit, dass diesem gesellschaftlichen Rückschlag – für den nicht nur Rückert verantwortlich ist – bzgl. des Umgangs mit Frauen, die sexuelle Gewalt anklagen, mehr entgegen getreten wird. Mein ausführlicher Text hier soll einen Beitrag dazu leisten.
- siehe ergänzend auch "Falschbeschuldigungen bei sexellen Missbrauch und falsche Informationen" Mit Zahlen, die auf Aussagen durch Experten beruhen, ist das manchmal so eine Sache...
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