Montag, 11. Juli 2022

Kindheiten von KZ-Kommandanten

Meine hier verwendete Quelle ist: Segev, T. (1992). Die Soldaten des Bösen. Zur Geschichte der KZ-Kommandanten. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg. 

Ich wurde auf dieses Buch durch ein Zitat in einer anderen Arbeit aufmerksam. Das Zitat zeigte deutlich auf Vernachlässigung in der Kindheit von Amon Leopold Göth (siehe dazu unten mehr), dem wollte ich nachgehen. Danach las ich zunächst über die die Kindheit von SS-Obergruppenführer, General der Waffen-SS und zeitweise Kommandant des Konzentrationslagers Dachau Theodor Eicke (1892–1943), die deutlich belastet gewesen zu sein scheint. Tom Segev hat diesem Mann ein eigenes Kapitel gewidmet.
Nachdem ich das Buch Stück für Stück weiter durcharbeitete, wurde mir bewusst, was ich hier eigentlich in den Händen hielt! Der Autor hat für die meisten der von ihm untersuchten KZ-Kommandanten zumindest einen kleinen biografischen Teil verfasst, indem i.d.R. auch etwas über die Kindheit zu finden ist. Natürlich können wir keine ausführlichen Berichte über den Erziehungsstil und den Alltag der Kinder erwarten. Aber: Bei fast allen KZ-Kommandanten finden sich Auffälligkeiten in der Kindheit, wie tote Familienmitglieder, Kriegskindheit, abwesende Väter und/oder strenger Erziehungsrahmen in der Familie oder z.B. im Rahmen einer Kadettenausbildung. 

Diese „Auffälligkeiten“ sehe ich immer auch kumuliert um die routinemäßigen Belastungen einer Kindheit um 1900 im Kaiserreich. Joachim Fest schreibt in seinem Buch „Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft“ (1977, R. Piper Verlag, München) in dem Kapitel über Rudolf Heß: „In seinem unbalancierten Verhältnis zur Autorität gleicht Heß auffallend vielen führenden Nationalsozialisten, die wie er aus sogenannten strengen Elternhäusern stammten. Es spricht denn auch einiges dafür, dass Hitler beträchtlich von den Erziehungsschäden einer Epoche profitierte, die ihre pädagogischen Leitbilder von den Kasernenhöfen holte und ihre Söhne in den Härtekategorien von Kadetten aufzog. In der eigentümlichen Mischung aus Aggressivität und hündischer Geducktheit (…), aber auch der inneren Unselbstständigkeit und Befehlsabhängigkeit, kamen nicht zuletzt die Fixierungen auf die Kommandowelt zum Vorschein, die der bestimmende Erfahrungshintergrund ihrer frühen Entwicklung war" (Fest 1977, S. 260). Und speziell bezogen auf Heß fügte er an, dass der „immer wieder gebrochene Wille“ sich Vater und Vaterersatz suchte, „wo immer er ihn fand: Man muss Führer wollen!“ 

Diese "strengen Elternhäuser" waren damals Alltag und formten eine ganze Generation und Gesellschaft. Wenn sich in den Kindheitsbiografien der KZ-Kommandanten Andeutungen in Richtung konservative oder strenge Erziehung finden, so spricht dies Bände (und schließt meist wohl auch Körperstrafen ein). Wenn diese Hinweise fehlen, so sollten wir die strenge, autoritäre Erziehungsnorm der Zeit immer mitdenken und vor allem nicht als unwahrscheinlich ausschließen. 

Der Vater von Paul Werner Hoppe starb beispielsweise, als Paul zweieinhalb Jahre alt war (sein Fall siehe unten). Er kam bei Verwandten unter und verlor dadurch auch noch seine Mutter. Dies ist an sich eine traumatische Belastung für ein kleines Kind. Über den Erziehungsstil erfahren wir in seinem Fall nichts. Denken wir einen strengen Erziehungsstil auf Grund von Wahrscheinlichkeiten (Normen der Zeit) hinzu, dann wird diese Kindheit zum reinen Alptraum. 

Beginnen wir nun aber mit der Kindheit von Theodor Eicke (der vom Autor am ausführlichsten besprochen wird).
Seine Verwandten hatten seinen Vater als pingeligen und humorlosen Hünen in Erinnerung. Sie sagten, seine Kinder hätten bei ihm eine sehr strenge Erziehung genossen“ (Segev 1992, S. 135). Der Vater war Bahnhofsvorsteher in seinem Heimatort und brachte dadurch sicherlich eine gewisse Autorität auch mit nach Hause.
Was um das Jahr 1900 herum wie schon gesagt unter einer „sehr strengen Erziehung“ zu verstehen ist, können wir uns vorstellen: Körperstrafen, Demütigungen und absolute Gehorsamsforderungen waren damals Erziehungsroutine. Wenn es solche eindeutigen Aussagen über die Kindheit gibt, bestehen meiner Auffassung nach kaum Zweifel daran, dass Theodor entsprechenden schweren Belastungen ausgesetzt war.
Die Verwandten ergänzten ihre Erinnerungen darum, dass Theodor „keine glückliche Kindheit hatte. Erst mit seinem Eintritt ins Militär wurde er der Mann, der er seiner Meinung nach bereits geworden war“ (Segev 1992, S. 135).
Im Alter von siebzehn Jahren ging er von der Schule ab und für zehn Jahre zum Militär. Theodor sei „ganz versessen darauf gewesen, endlich von zu Hause wegzukommen, wo man ihn immer noch wie einen kleinen Jungen behandelte. Er hatte zehn Brüder und Schwestern, die allesamt älter waren als er“ (Segev 1992, S. 135).
Wir wissen heute, dass sich ein strenger, autoritärer Erziehungsstil auch auf die Beziehungen der Geschwister untereinander negativ auswirken kann. Theodor war zudem das jüngste und somit potentiell schwächste Kind der Familie. Die Wahrscheinlichkeit, dass er Belastungen auch seitens mancher Geschwister erlebt hat, halte ich für hoch. Bei einer Familie mit elf Kindern stellt sich mir auch die Frage nach elterlicher Vernachlässigung. Für das einzelne Kind wird kaum Zeit gewesen sein. 

Seine Mutter habe „viel Zeit bei ihren Verwandten in Paris“ verbracht, berichtet Segev (1992, S. 135). Dauer und Zeitpunkt ihrer Abwesenheit werden nicht genannt. Die Frage ob und wie sich ihre Abwesenheit auf die Kinder ausgewirkt hat, sollte zumindest in den Raum gestellt werden. Zumal ihr Gatte ja kein fürsorglicher Kinderbetreuer gewesen zu sein scheint.
In der Familie gab es zudem einen Konflikt zwischen der mütterlichen Bindung an Frankreich und dem ganz auf Deutschland ausgerichteten Patriotismus des Vaters. Die Kinder hätten augenscheinlich darunter gelitten, meint Segev.
1928 trat Eicke in die NSDAP und SA ein.  Ca. zwei Jahre später wurde er Mitglied der SS und sollte später zu einem ihrer führenden Köpfe werden.
Aus heutiger Sicht war er anfangs ein klassischer Extremist auf dem Weg in den Terrorismus. „Im März 1932 wurde Eicke verhaftet und wegen terroristischer Umtriebe vor Gericht gestellt. Die Polizei fand bei ihm einige Dutzend selbstgebastelter Bomben. Seine Verhaftung fiel genau in die Zeit zunehmender politisch motivierter Gewalttaten, denen die deutschen Behörden machtlos gegenüberstanden“ (Segev 1992, S. 139).
Interessant, aber letztlich auch logisch ist, dass Theodor Eicke später von seinen Untergebenen „eiserne militärische Disziplin“ forderte und die Häftlinge im Konzentrationslager „einem grausigen Terror“ unterwarf (Segev 1992, S. 145). „Im Dienst gibt es nur eine rücksichtlose Strenge und Härte“, wird er zitiert (Segev 1992, S. 145). „Gleichzeitig war er gehorsam, stets bereit, sich seinen Vorgesetzten bis zur Kriecherei zu unterwerfen. Wie viele der Lagerkommandanten brauchte er sowohl die Macht als auch den Gehorsam. Die SS gab ihm erstere und verlangte letzteren“ (Segev 1992, S. 145f.).

Eicke neigte zudem zu plötzlichen Wutausbrüchen, pedantischere Streitlust, Arroganz und auch melodramatischen Anwandlungen. Er wird als Patriarch beschrieben, als strenger Vater, eifersüchtiger Ehemann und Haustyrann (Segev 1992, S. 119, 147, 150, 152). „Seine Männer seien ihm, so seine Haushälterin später, lieber gewesen als Frau und Familie“. Sie hätten ihm „etwas gegeben, was er zu Hause nicht habe finden können. Sie hätten ihn gern gehabt, und ihre Zuneigung habe ihm alles bedeutet“ (Segev 1992, S. 146).
O-Ton Eicke: „Wenn mich meine Männer auf ihren Stuben Vater nennen, dann ist dies der schönste Ausdruck für eine Herzensgemeinschaft, wie ihn nur der Vorgesetzte findet, der stets mit seinen Männern in Führung bleibt, von dem die Männer überzeugt sind, dass er sie nicht nur kommandiert, sondern auch für sie sorgt“ (Segev 1992, S. 146).
Die Schatten seiner Kindheit tauchen hier wieder auf: Autoritäres und strenges Verhalten, Gehorsam, fehlende emotionale Bindungen in der eigenen Familie und Suche nach Ersatzfamilie. 

Gerne und immer wieder wird verwundert die Frage in den Raum gestellt, warum aus (angeblich!) normalen, liebevollen Familienvätern und Ehemännern in der NS-Zeit grausame Sadisten und Täter hatten werden können. Der Fall Eicke zeigt erneut, dass diese Vorstellung eine Illusion ist! Zuhause verhielten sich diese Akteure ganz ähnlich, wie auf den Schlachtfeldern oder in den Konzentrationslagern. Ihre Familien hatten nichts zu lachen. 

Hilmar Wäckerle, der erste Kommandant des Lagers Dachau, war vierzehn Jahre alt, als sein Vater ihn ins Königlich Bayerische Kadettenkorps schickte (Segev 1992, S. 81). „Man unterwarf die Kadetten einer strengen Disziplin, der sie sich anstandslos zu fügen hatten. Das Maß des Erlaubten zu überschreiten, konnte, unter anderen Strafen, auch die Prügelstrafe nach sich ziehen. Von dem Tag an, an dem sie in der Schule eintrafen, erwartete man von ihnen, sich ganz im Geiste der Offiziersethik wie Männer, Soldaten und Patrioten zu verhalten, sowohl innerhalb der Schule wie außerhalb. Sie wohnten in großen Schlafsälen und wuchsen dort auf, stets in Uniform, immer Teil einer Gruppe. Es herrschte ein steter Wettbewerb“ (Segev 1992, S. 83).
Auch Alfred Jodl hatte, neben diversen anderen hohen Militärs, laut Segev diese Kadettenschule durchlaufen. Für eine entsprechende Beschreibung der dortigen Abläufe und des Erziehungsrahmens siehe auch meinen Beitrag über Jodls Kindheit.

Karl Künstler war einer der Kommandanten des Lagers Flossenbürg. Er wurde 1901 geboren. Im Alter von vierzehn Jahren ging er gegen den Willen der Eltern von Zuhause fort und begann in einem Postamt zu arbeiten (Segev 1992, S. 88). Was für Hintergründe in der Familie mögen einen so jungen Menschen dazu gebracht haben, sich unbedingt unabhängig von den Eltern machen zu wollen? Künstler wurde außerdem später zum Trinker, wie Segev ausführt. Suchtverhalten hat Ursachen!

Adam Grünewald war Kommandant des KZ Herzogenbusch. „Sein Vater starb, als Grünewald acht Jahre alt war; als der Krieg ausbrach, war er zwölf“ (Segev 1992, S. 89). Den Vater so früh zu verlieren, ist eine schwere traumatische Erfahrung. Eine Gesellschaft im Kriegszustand zu erleben, ist ein weiteres prägendes Ereignis für ein Kind. 

Arthur Rödl war Kommandant des KZ Groß-Rosen. Als er zehn Jahre alt war, musste der Zeitungs- und Tabakkiosk seiner Mutter schließen. „Rödl wurde in dem Glauben aufgezogen, der Grund dafür sei die erbarmungslose Konkurrenz des benachbarten Kiosk gewesen – der einem Juden gehört hatte“ (Segev 1992, S, 164). Die Familie sei streng katholisch gewesen. Nach der Grundschule entschloss sich Arthur, Schmied zu werden. Noch während seiner Lehrzeit schloss er sich einer paramilitärischen nationalistischen Organisation an. Als der Krieg ausbrach, eilte der Sechzehnjährige zur nächsten Rekrutierungsstelle. Er fälschte seine Papiere und gab sich als Achtzehnjähriger aus. „Die nächsten vier Jahre verbrachte er in verschiedenen Kampfeinheiten an der Front“ (Segev 1992, 165). Das selbst gewählte Schicksal, ein Kindersoldat zu werden, ist schon bemerkenswert. 

Egon Zill war Kommandant verschiedener Konzentrationslager. „Egon Zill war acht Jahre alt, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Der Krieg war das zentrale Ereignis seiner Kindheit. Sein Vater wurde sofort bei Kriegsbeginn eingezogen, war die ganzen vier Jahre über weg und kehrte schwerverwundet zurück“ (Segev 1992, S. 168). Außerdem wird berichtet, dass ein Bruder von Egon im Alter von acht Monaten starb. Ob Egon dies miterlebt hat, ist nicht klar. Bereits im Alter von Siebzehn schloss sich Egon Zill der SA an. 

Karl Fritzsch war u.a. stellvertretender Kommandant in Auschwitz. Er wurde 1903 geboren. Sein Vater war Kachelofenbauer und häufig auf Auslandsreise, wobei er seine Familie häufig mitnahm. Karl musste deswegen immer wieder die Schule wechseln. „Eine richtige Schulbildung hat er nie genossen; und er sollte zeit seines Lebens Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben. Später erzählte er seiner Frau, er hätte nie ein richtiges Zuhause und Freunde gehabt; er sei ein stilles, äußerst sensibles Kind gewesen, das sich vor allem zur Mutter hingezogen fühlte“ (Segev 1992, S. 171). „Mehr als einmal erzählte er seiner Frau, wenn sie Kinder hätten, würde er alles tun, damit sie eine glücklichere Kindheit hätten als er, und dass sie in eben jenem richtigen Zuhause aufwachsen müssten, das ihm als Kind gefehlt habe“ (Segev 1992, S. 172). Was genau er alles an Belastungen in seiner Kindheit erfahren hat, bleibt unserer Fantasie überlassen. Seine Aussagen zeigen in eine deutliche Richtung.
Als der Krieg ausbrach, wurde sein Vater sofort eingezogen und kam bis Kriegsende nicht mehr nach Hause. Als er zurückkam, war Karl fünfzehn Jahre alt. Auch dies waren ganz sicher prägende Ereignisse. 

Karl Koch war Kommandant verschiedener Konzentrationslager. „Der Schlimmste aller Lagerkommandanten war zweifelsohne Karl Koch. In seinem Leben vermischt sich Grausamkeit mit Leidenschaft und Korruption (…)“ (Segev 1992, S. 175). Als Karl acht Jahre alt war, starb sein Vater. Seine Mutter heiratete später erneut, der Stiefvater brachte drei Söhne mit in die Ehe, die alle älter waren als Karl. Als Siebzehnjähriger wollte er freiwillig in den Ersten Weltkrieg ziehen, seine Mutter verhinderte dies. „Allem Anschein nach war er über die Maßen versessen darauf, endlich von zu Hause fortzukommen. Von Zeit zu Zeit meldete er sich bei der Armee, und jedesmal verlangte seine Mutter, dass man ihn wieder nach Hause schickte“ (Segev 1992,. 183f.). Als Achtzehnjähriger schaffte er es schließlich doch, an die Front zu kommen.
Dieser Wille zur Flucht von Zuhause macht nachdenklich. Er war das jüngste Kind dieser Patchworkfamilie und Halbwaise. Was war in dieser Familie los?

Der Autor befasst sich auch mit Amon Leopold Göth, dessen Wirken im KZ Płaszów weltweit durch den Film „Schindlers Liste“ bekannt wurde. Mit der Kindheit von Göth habe ich mich bereits in meinem Buch befasst. Es gab deutliche Hinweise für Vernachlässigung, aber auch Belastungen in einem strengen Internat. Segev unterstreicht diese Erkenntnisse nochmals sehr deutlich: „Amon Göth erzählte seiner Frau später, seine Eltern hätten ihn als Kind vernachlässigt und dass er den bürgerlichen Werten, zu denen sie ihn zu erziehen hofften, den Rücken zugewandt hätte. Sein Vater, so erzählte Göth, sei oft auf Geschäftsreisen durch ganz Europa und in den Vereinigten Staaten gewesen; seine Mutter habe die Druckerei geleitet und Hausarbeit und Kinderpflege ihrer Schwägerin, Göths Tante Kathy, überlassen. So weit er zurückdenken könne, sagte Göth später, hätten sie ihm das Gefühl gegeben, er sei dazu verpflichtet, sich darauf vorzubereiten, die Firma zu übernehmen (…)“ (Segev 1992, S. 186). Das Thema Kindesvernachlässigung kann somit eindeutig als erwiesen abgehakt werden. 

Franz Xaver Ziereis war Kommandant des KZ Mauthausen. Er wurde 1905 geboren. Sein Vater starb im Krieg, als Franz elf Jahre alt war. "Es lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen, wie sich das auf Ziereis auswirkte, jedenfalls sprach er immer wieder davon. Vielleicht bildete diese Erfahrung den Grundstein für die unerbittliche Härte, die er im Laufe der Jahre entwickelte" (Segev 1992, S. 191).

Hermann Baranowski war u.a. Kommandant im KZ Sachsenhausen. Er wurde 1884 geboren. Als Hermann sieben Jahre alt war, starb sein Vater. Als er sechzehn Jahre alt war, entschloss er sich, Elternhaus und Schule zu verlassen. Er ging zur Marine und verpflichtete sich gleich für zwölf Jahre. Der Autor führt aus, dass die Marine mit Härte und Disziplin geführt wurde. Nicht selten wurden Untergebene grausam misshandelt und erniedrigt. "Baranowski begann als gemeiner Matrose und diente sich langsam nach oben. Mit seiner Beförderung zum Obermaat schließlich gab man ihm eine fast unbegrenzte Macht an die Hand, jüngere Untergebene genauso zu behandeln, wie man ihn behandelt hatte" (Segev 1992, S. 200f.)

Franz Stangl war Kommandant der Lager Sobibor und Treblinka. Er wurde 1908 geboren. Sein Vater habe die Familie "mit eiserner Faust nach Regimentsgrundsätzen" geführt (Segev 1992, S. 247). O-Ton Stangl: "Ich hatte eine Todesangst vor ihm (...). Ich wusste seitdem ich ganz klein war, ich erinnere mich nicht genau wann, dass mein Vater mich nicht wirklich gewollt hatte. Ich hörte sie darüber reden. Er glaubte, ich sei nicht von ihm" (Segev 1992, S. 247). "Zu seinen frühesten Kindheitserinnerungen gehörte die, dass ihn sein Vater einmal wegen eines kleinen Vergehens `irrsinnig` verdrosch" (Segev 19992, S. 247f.). Als Franz acht Jahre alt war (während des Ersten Weltkriegs), starb sein Vater an Unterernährung. Als er zehn Jahre alt war, heiratete seine Mutter erneut. Stangls Ehefrau berichtete später, ihr Mann hätte eine unglückliche Kindheit gehabt.

Paul Werner Hoppe war Kommandant der Konzentrationslager Stutthof und Wöbbelin. Er wurde 1910 geboren. Sein Vater starb, als Paul zweieinhalb Jahre alt war. „Als Waise schickte man Hoppe zu Verwandten seiner Mutter, wo er bis 1919 blieb“ (Segev 1992, S. 205). Warum die Mutter nicht bei ihrem Sohn blieb, wird nicht beschrieben. Jedenfalls verlor das Kleinkind somit beide Elternteile.
Nach dem Krieg kehrte Paul in das Haus seines Onkels in Berlin zurück. Er wuchs in gehobenen Verhältnissen auf. Onkel und Tante, die keine eigenen Kinder hatten, adoptierten noch ein Mädchen. 

Johannes Hassebrock war Lagerkommandant des Konzentrationslagers Groß-Rosen. Er wurde 1910 geboren. In seiner Familie herrschte eine „konservative, patriotische Erziehung“ (Segev 1992, S. 216). Sein Vater war Gefängniswärter. Man mag angesichts dieser Tatsache spekulieren, ob ein Gefängniswärter des Kaiserreichs auch Zuhause zu starker Autoritätshörigkeit aufforderte.
Als Johannes drei Jahre alt war, starb eines seiner Geschwister im Alter von einem Jahr, was eine schwere Belastung für Johannes bedeutet haben wird. Ebenfalls im Alter von drei Jahren erlebte er den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Sein Vater wurde sofort eingezogen und kam erst vier Jahre später wieder zurück. Nach dem Krieg schloss sich der Vater dem „Stahlhelm“ an, der größten legalen paramilitärischen Veteranenorganisation. Seinen Sohn schickte der Vater zum „Bismarckbund“, einer konservativen, paramilitärischen Organisation auf dem rechten Flügel. Johannes wird dort entsprechenden Prägungen ausgesetzt gewesen ein. 

Max Kögel (oder Koegel) war Kommandant verschiedener KZs. Er wurde 1895 geboren. Als er fünf Jahre alt war, starb seine Mutter bei der Geburt ihres fünften Kindes. Als Max zwölf Jahre alt war, starb auch sein Vater. Eine Bauernfamilie nahm den Jungen auf (Segev 1992, S. 226). Wo seine Geschwister unterkamen, wird nicht beschrieben. Offensichtlich wurde er auch von ihnen getrennt. Als der Erste Weltkrieg ausbrach war Max achtzehn Jahre alt und meldete sich sofort als Freiwilliger zur Armee, nach drei Monaten Ausbildung schickte man ihn an die Front. 

Hans Hüttig war Kommandant der Konzentrationslager Natzweiler-Struthof und Herzogenbusch. Er wurde 1894 geboren. Die Familie war sehr religiös und lebte streng nach dem evangelischen Glauben. „Der Vater züchtigte die Kinder häufig, wie es damals üblich war. `Das machte einen Mann aus mir`, meinte Hüttig dazu“ (Segev 1992, S. 230). Letzteres spricht für eine starke Identifikation mit dem Aggressor. Sein Vater träumte von einer Offizierskarriere seines Sohnes. Seinen jugendlichen Sohn schickte er zunächst auf ein Internat, das die Schüler auf den Armeedienst vorbereitete. Entsprechend war Hans von seiner Familie getrennt. Als Siebzehnjähriger flog er allerdings durch die Prüfung und musste wieder zu seiner Familie ziehen. Ein oder zwei Jahre später verließ er das Elternhaus. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, meldete er sich sofort freiwillig für das Ostafrikakorps. 

Auch die schwer belastete Kindheit von Rudolf Höß wird vom Autor ausführlich beschrieben. Da ich hier keine mir neuen Informationen fand und ich die Kindheit von Höß bereits in meinem Buch besprochen habe, spare ich mir diesen Teil an dieser Stelle.

Schlussbemerkung 

Schade ist, dass der Autor Tom Segev in seinem Schlusswort nicht zentral auf die Gemeinsamkeit „Kindheitsbelastungen“ hingewiesen hat. Und dies, obwohl er sogar explizit die Arbeiten der „Psychohistory“ erwähnt (was an sich selten ist!) bzw. auf die Ergänzungen für die Geschichtswissenschaften aus dem Bereich der Psychologie/Psychoanalyse verweist (Segev 1992, S. 261f,). Dass Kindheitsbelastungen ein wichtiger Ursachenfaktor sein können, hat er wohl wahrgenommen, bleibt aber zögerlich und skeptisch. Zusammenfassend schreibt er kritisch: "Einige psychohistorische Arbeiten erweitern den Horizont des Lesers, aber letzten Endes versprach die psychohistory doch mehr, als sie halten konnte. Im Grunde ging sie nie über den theoretischen Ansatz, über Spekulationen und Vermutungen, hinaus" (Segev 1992, S. 262).
In der Tat standen der Psychohistory damals noch nicht so viele Daten zur Verfügung wie heute. Leider hat der Autor wie gesagt selbst verpasst, die Kindheitshintergründe auf Grund seiner eigenen Recherchen herauszustellen, was eigentlich naheliegend gewesen wäre. Er stand vor den Ergebnissen, vor der Empirie und hat daran vorbeigesehen... 

Mittwoch, 6. Juli 2022

Kindheit von Alexander II. (Russland, 1818 - 1881)

Zar Alexander II. ist der Sohn von Nikolaus I. und Enkel von Paul I. Dies ist in diesem Kontext besonders interessant, weil ich sowohl die Kindheit seines Vaters als auch seines Großvaters hier im Blog bereits besprochen habe. Beide Vorfahren mussten sehr destruktive Kindheitserfahrungen machen und wurden in meinen Augen traumatisiert. Die Vermutung liegt entsprechend nahe, dass sich dies auch auf den Umgang mit Alexander II. ausgewirkt hat, was wir sogleich prüfen werden. 

Meine Quelle: „Alexander II. The Last Great Tsar” von Edvard Radzinsky (2005, Free Press, New York)

Alexander II. erlebte im Alter von sieben Jahren eine erste kurze Staatskrise. Die so genannten Dekabristen wagten nach dem Tod von Zar Alexander I.  Ende Dezember 1825 den Aufstand, der allerdings schnell scheiterte. Die Familie rechnete damals mit dem Schlimmsten:
"Alexander´s mother and grandmother were terrified. (…) His grandmother was now fully informed. Twenty-four years earlier she had seen the mutilated body of her husband, the emperor. Now she might have to look upon the corpse of her son, the emperor. Sitting with her was Nicholas`s wife, worried to death, knowing the names of all the Russian tsars killed by the guards. Alexander`s mother developed a lifelong nervous tic over that day`s event” (S. 31). Wie der junge Alexander die damalige Krise aufnahm und verarbeitete, scheint nicht überliefert. 

Alexander neigte in jungen Jahren zu Tränen und Weinen, wenn es Anlass dazu gab. Sein Vater hasste dies: „Nikolas hated the tears, and the boy was often punished for them” (S. 52). Wie genau diese Strafen aussahen, wird vom Biografen nicht beschrieben. 

Schon früh sollte Alexanders Interesse fürs Militär geweckt werden. Sein Vater schickte den damals 10-Jährigen „to study at the Cadet Corps, where he would be taught soldiering and become a junior officer so that he could become a staff captain at thirteen and take part in his father`s beloved parades” (s. 53f.). 

Sein Vater hasste nichts mehr als Ungehorsam. “Whenever the boy dared to be disobedient, he had to bear his father`s wrath, which all of Russia feared” (S. 54). “I can forgive anything except disobedience!”, sagte sein Vater einst (S. 54). Auch hier bleibt wieder unklar, welche Strafen auf Grund von Ungehorsam drohten. 

Der Vater wird weiter als oft abwesend und allgemein streng beschrieben. Außerdem zählte eiserne Disziplin für ihn über alles (S. 54, 65). Es bleibt unserer Fantasie überlassen, was alles an Belastungen durch diesen Vater bezogen auf seinen Sohn ausgegangen sein könnten.
Wie eingangs beschrieben zeigte die Kindheit von Nikolaus deutliche Schatten und war u.a. von Strenge und auch Körperstrafen bestimmt. Seine eigenen autoritären Verhaltensweisen und Charakterzüge scheinen hier ihren Ursprung zu haben. 

Die Ehe der Eltern wird als harmonisch beschrieben. In unserem heutigen Verständnis konnte dies kaum stimmen. Denn Niokolaus hatte offensichtlich ständig Liebschaften. Er konnte sogar Interesse an verheirateten Frauen anmelden oder den Vätern von Töchtern die „Ehre“ der Auswahl ihrer Töchter mitteilen lassen (S. 55f.). Alexander blieb dies wohl nicht ganz verborgen und es scheint ihn auch belastet zu haben. Bzgl. einer Geliebten des Vaters schreibt der Biograf: „It was horrible for him to find that his father kept her under the same roof as his adored mother” (S. 55). 

Die Informationen über die Kindheit von Alexander II. sind dürftig. Eine unbelastete Kindheit scheint dies allerdings nicht gewesen zu sein, so viel lässt sich zumindest aus dem Material ablesen.





Freitag, 24. Juni 2022

Kindheit von Kim Il-sung

(aktualisiert am 02.08.2022)

Ich habe bis heute keinen einzigen Diktator finden können, der nachweisbar eine glückliche und unbelastete Kindheit hatte! Auch die Kindheit des nordkoreanischen Diktators Kim Il-sung, der bis zu seinem Tod 1994 an der Macht war, zeigt deutliche Schatten.

Kim Il-sung wurde am 15. April 1912 geboren. Die Familie war arm. „To be sure, his parents were ordinary people who sufferd the poverty and oppression of the time and died early without giving much education or assistance to their children” (Suh 1988, S. 5). Der Vater von Kim hatte als Fünfzehnjähriger geheiratet, seine Braut war damals siebzehn Jahre alt (Stichwort: Kinderehe!). Bei der Geburt von Kim war sein Vater siebzehn und seine Mutter zwanzig Jahre alt. Obwohl der Vater so jung war, starb er früh.
His father died early in 1926 when Kim was only fourteen. In the spring of 1930, when he was released from jail, he began to follow various bands of guerrillas, leaving his widowed mother and two brothers behind” (Suh 1988, S. 3). Es gibt einen Bericht durch eine mit Kims Vater bekannte Person. Demnach wurde Kims Vater durch Kommunisten umgebracht (Un 1982, S. 253). Dies würde eine andere Art von Belastung für ein Kind bedeuten, als ein natürlicher oder krankheitsbedingter Tod. Ob diese Geschichte stimmt, kann ich nicht beurteilen. Die verwendete Quelle selbst stellt dies nicht als absolute Tatsache dar.
Kim Il-sung selbst beschreibt eine schwere Erkrankung des Vaters nach dessen Flucht vor Inhaftierung bei Kälte und anschließende Erfrierungen. Diese Folgeschäden hätten später seinen frühen, krankheitsbedingten Tod verursacht (Il Sung 1992, S. 116, 126ff.). Über seine Gefühle zum Tod des Vaters schreibt er: "His death was a heavy blow to me. The irreparable loss left a hollow in my heart. At times I would go and sit alone in tears on the riverside gazing at the far-off sky of the homeland" (Il Sung 1992, S. 132).
Eine andere Quelle beschreibt genauer die Umstände von Kims eigener, oben erwähnter Inhaftierung:
"He attended elementary school in Manchuria and, while still a student, joined a communist youth organization. He was arrested and jailed for his activities with the group in 1929–30” (Britannica, The Editors of Encyclopaedia 2022). Kim musste also schon als Jugendlicher Inhaftierungserfahrungen machen. 

Ähnlich war es wohl auch seinem Vater ergangen und Kim musste dies in der frühen Kindheit miterleben: “... still only five, the young Kim has a further political awakening, visiting his father in a Japanese prison. Quick to learn who and how to hate, he recalls how, `the physical wounds to my father made me feel to the marrow of my bones how fiendish was Japanese imperialism`” (Richardson 2015). Der Quelle nach folgte später sogar eine erneute Inhaftierung des Vaters. 

Da Kim Il-sung seine Familiengeschichte und Biografie rückblickend verklärt hat (siehe dazu Un 1982, S. 250ff.), ist allerdings auch eine gewisse Vorsicht geboten, wenn er darüber berichtet. In seinen eigenen Erinnerungen fängt Kim Il-sung (1992) unzählige Sätze mit "My father" an. Der Vater nimmt zentral Raum in seinen Erinnerungen ein und erscheint omnipräsent. Er beschreibt seinen Vater als Helden und Revolutionär von hoher Bedeutung und Wichtigkeit. Un (1982) bezweifelt dagegen die Bedeutsamkeit des Vaters.
Laut Kim Il-sung war sein Vater beständig in revolutionäre Tätigkeiten gegen die japanische Besatzung verwickelt. Dies war auch der Grund für die erste Inhaftierung des Vaters, als Kim sechs Jahre alt war (Il Sung 1992, S. 32f.; Hinweis: Richardson gibt stattdessen, wie zuvor zitiert,  das Alter von fünf Jahren an). Anfangs durfte er seinen Vater nicht besuchen. Die Inhaftierung hätte ihn damals schockiert. Im Herbst 1918 wurde der Vater entlassen, Kim war zu der Zeit immer noch sechs Jahre alt. 
An einer anderen Stelle beschreibt er, dass der Vater ca. ein Jahr abwesend war. Auch dies um das Jahr 2018 herum (Il Sung 1992, S. 48; hier klingt es aber so, dass diese Abwesenheit nichts mit der Inhaftierung zu tun hatte).
Bezogen auf seine Mutter meint er, dass sie einige Härten im Leben durchstehen musste: "When father criticized her once in a while, she never answered back. She would apologize for having done wrong and promise not to do it again. (...) She sheldom lived in comfort with her husband, because he was always away from home working for independence of the country" (Il Sung 1992, S. 105). In diesem Sinne wird auch das Kind Kim den Vater oft abwesend erlebt haben. Außerdem wird hier die starke Dominanz und Autorität des Vaters gegenüber der Mutter deutlich. 
Gepaart mit der häufigen Abwesenheit kam eine weitere Belastung für das Kind hinzu: häufige Umzüge. "As my father often moved the centre of his activities, we had to move house many times. When I was five years old I left my birthplace for the first time" (Il Sung 1992, S. 56). 
Laut Kim wurde sein Vater später erneut von der Polizei verfolgt. Die Familie war gezwungen, nach China zu fliehen. Dies sei damals sein vierter Umzug als Kind gewesen (Il Sung 1992, S. 61). Auch ein Onkel wurde verfolgt und später langjährig inhaftiert (Il Sung 1992, S. 66f.). 

1923 kam der Vater im chinesischen Exil auf den Gedanken, seinen Sohn zurück in die Heimat zu schicken. Kim war elf Jahre alt, als er alleine auf eine Reise von 250 Meilen geschickt wurde. Er kam dann für zwei Jahre bei seinen Großeltern in Korea unter und war von seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder getrennt (Il Sung 1992, S. 80ff.). 

Kim selbst hat auch berichtet, dass er als Kind die Ermordung von Menschen mit ansehen musste:
I, then seven years old, also joined the ranks of demonstrators in my worn-out shoes and went as far as the Pothong Gate, cheering (…) when the adults cheered for independence, I joined them. The enemy used swords and guns indiscriminately against the masses (… ) many people were killed (...) This was the first time I saw one man killing another” (Il Sung 1992, S. 39). Wenn dies stimmten sollte, dann ist das eine höchst traumatische Erfahrung für ein Kind. 

1932 starb Kims Mutter im Alter von nur vierzig Jahren. Kim war zu der Zeit zwanzig Jahre alt. Für den jungen Mann, der schon früh den Vater verloren hatte, muss dieses Ereignis ein erneuter Schlag gewesen sein.
Über seine Mutter hat er in seinen Erinnerungen viel weniger berichtet, als über den Vater. Am Ende des Kapitels über sie beschreibt er zunächst ihre Sorgen um die Verfolgung der Familie und ihre Überlegungen, die Kinder woanders hinzuschicken. Er schließt mit: "No love in the world can be so warm, so true and so eternal as maternal love. Even if a mother scolds or beats her children, she does not hurt them, she loves them. Her love can bring down a star from the sky if it is for her children" (Il Sung 1992, S. 110). Schläge und Schelte gegen die Kinder werden hier mit Liebe gleichgesetzt! Ich halte es entsprechend für höchst wahrscheinlich, dass er mütterliche Gewalt erlebt hat, wenn er seine Erinnerungen an seine Mutter so schließt. Kim war ein sehr belastetes und häufig verlassenes Kind. Auch seine Mutter idealisiert er hier stark. Der früh verstorbene Vater wird gleichsam fast gottgleich verehrt. Und als gottgleicher Führer und Retter/"Vater" der Nation inszenierte sich später Kim als Diktator Nordkoreas.


Quellen:

Britannica, The Editors of Encyclopaedia (2022, 11. April). Kim Il-Sung. https://www.britannica.com/biography/Kim-Il-Sung 

Il Sung, K. (1992). Kim Il Sung. Reminiscences. With the Century Vol. 1. Foreign Languages Publishing House, Pyongyang. 

Richardson, C. (2015, 31. Jan.). Hagiography of the Kims & the Childhood of Saints: Kim Il-sung. Sino-NK. 

Suh, D.-S. (1988). Kim Il Sung. The North Korean Leader. Columbia University Press, New York. 

Un, L. (1982). The Founding of a Dynasty in North Korea. An Authentic Biography of Kim Il-song. Jiyu-sha, Tokyo. 


Donnerstag, 16. Juni 2022

Kindheit von Iwan III. Wassiljewitsch, "der Große" (Russland; 1440-1505)

Je weiter man in der Geschichte zurückgeht, desto schwieriger gestaltet sich oftmals der Versuch, etwas über die Kindheitsbedingungen von einzelnen Akteuren herauszufinden. Vor allem konkrete Erziehungsmaßnahmen oder der Umgang mit dem Säugling werden in den Zeugnissen kaum oder gar nicht erwähnt. So ist es auch bzgl. Iwan (Ioann) III. Wassiljewitsch, der am 22.01.1440 in Moskau geboren wurde (Hinweis: Iwan III. ist der Großvater von Zar Iwan „dem Schrecklichen“). Allerdings gibt es einige Infos, die trotz fehlender Details aus dem Alltag eine deutliche Sprache sprechen und die an sich den Schluss zulassen, dass dieses Kind traumatischen Erfahrungen ausgesetzt war. 

Iwan sollte sich zu einem zentralen Herrscher in der russischen Geschichte entwickeln, der das russische Reich formte und ausdehnte. Sein Beiname spricht Bände: „Der Große“. Zahlreiche Kriege fielen unter seiner Herrschaft. 

Am Tag seiner Geburt soll ein Mönch in einem Kloster nahe Nowgorod proklamiert haben: „Today, there is joy for the grand prince in Moscow. A son Timothy is born, and he has been given the name of Ioann. He will be the heir of his father and he will destroy the customs of our city. To many lands he will be an object of fear” (Fennell 1963, S. ix).
Bevor sich der Junge zu einem Herrscher entwickeln konnte, der „Angst verbreitet“, erlebte er offensichtlich selbst Ängste. „The great unifier of the Russian lands was born into a principality racked by disunity and civil war” (Fennell 1963, S. ix).

In der Encyclopaedia Britannica werden seine frühen Jahre wie folgt zusammengefasst: „Ivan was born at the height of the civil war that raged between supporters of his father, Grand Prince Vasily II of Muscovy, and those of his rebellious uncles. His early life was dramatic and tumultuous: when his father was arrested and blinded by his cousin in 1446, Ivan was first hidden in a monastery and then smuggled to safety, only to be treacherously handed over to his father’s captors later in the year (…)” (Encyclopaedia Britannica 2022).

1447 zog sein Vater (Wassili II.) in Moskau ein und übernahm die Macht. Sein Vater  bereitete seinen Sohn Iwan in der Folge auf dessen zukünftige Herrschaft vor, was vor allem bedeutete, den Umgang mit Krieg zu erlernen. „For the remaining fifteen years of Vasily`s reign Ivan was to learn the art of ruling at his father`s side and to acquaint himself with the problems of warfare conducted against both internal and external enemies” (Fennell 1963, S. xii).

Im Alter von nur zwölf Jahren wurde Iwan verheiratet. Sechs Jahre später ging aus dieser arrangierten „Kinderehe“ der erste Sohn hervor. Ebenfalls im jungen Alter von zwölf Jahren bekam Iwan das offizielle Kommando über seine erste Militärexpedition und wurde zu einem Einsatz geschickt (Fennell 1963, S. xii).

Aus heutiger Sicht war dies ganz eindeutig eine Kriegskindheit. Wir dürfen annehmen, dass mit dem heranwachsenden Jungen in so manchen Situationen nicht gerade zimperlich umgegangen worden sein wird. Auch wenn es keine Zeugnisse dafür gibt, ist es naheliegend, dass eine Gesellschaft, die sich in einem Dauerkriegszustand befindet, ihre Söhne zu Kriegern drillt, was an sich wiederum den Krieg füttert. 


Quellen:

Encyclopaedia Britannica (2022, March 1). Ivan III. Russian prince, https://www.britannica.com/biography/Ivan-III

Fennell, J. L. I. (1963). Ivan the Great of Moscow. Macmillan & CO LTD, London. 


Dienstag, 7. Juni 2022

Kindheit von Jimmy Carter

Mich mit der Kindheitsbiografie des früheren US-Präsidenten Jimmy Carter zu befassen, war mal wieder ein Lehrstück der besonderen Art für mich, was ich sogleich erklären werde. 

Ich habe für meine Recherche seine Autobiografie durchgesehen: „An Hour Before Daylight: Memoirs of a Rural Boyhood“ (2001, Simon & Schuster, New York)

Zu erwarten ist natürlich, dass Informationen über seine Kindheit im vorderen Teil zu finden sind. Die ersten sechs Kapitel habe ich also gewissenhaft durchgelesen und wollte mich bereits an einen Beitrag setzen. In diesem Beitrag hätte ich folgende zwei Stellen zitiert:

Carter beschreibt zunächst das enge Verhältnis zu seinem besten Freund A. D. und hängt an: „We (…) were punished together if we violated adult rules“ (S. 74). Wie diese Bestrafungen aussahen, beschreibt er nicht. Auch nicht an dieser Stelle:
Mama was the one who did most of the refereeing at home, and maintained adequate discipline among us three children (…). She did a lot to protect us from more severe punishment from Daddy, and when one of us had violated a rule or abused another child, she would report the infraction and hasten to add, `Earl, I`ve already punished them!` (S. 110). “Earl” ist der Vater von Jimmy Carter und ich hätte an dieser Stelle in meinem ursprünglich geplanten Beitrag deutliche Mutmaßungen in Richtung Körperstrafen geäußert. Neben diesen Aussagen zu Bestrafungen durch den Vater hätte ich die Zeit (Carter wurde 1924 geboren) und die Region (Georgia, Südstaaten) als Begründung für eine hohe Wahrscheinlichkeit von elterlichem Gewaltverhalten herangezogen. 

Nun, ich hatte mir seine Autobiografie versehentlich und parallel auch als E-Book besorgt. Abschließend tippte ich also in den Suchindex einige Schlüsselwörter ein, darunter auch „whipping“ (auspeitschen, Prügel mit Gegenständen). Und tatsächlich, zu meiner Überraschung ergab die Suchanfrage Treffer im hinteren Teil des Buches, in dem ich keine Infos mehr über seine Kindheit erwartet hatte. 

Carter beschreibt eine Szene als er ca. zwölf Jahre alt war. Die Nachbarn feierten eine laute Party und Jimmy ging nachts nach draußen, weil er nicht schlafen konnte. Er kletterte in sein Baumhaus und schlief ein. Ein paar Stunden später hörte er seinen Vater wütend seinen Namen rufen. Jimmy kletterte zurück in sein Zimmer. Sein Vater kam herein und fragte, wo er die Nacht über gewesen sei und ob er ihn nicht habe rufen hören. „Yes, Sir“ war Jimmys Antwort (ja er hatte ihn gehört).
I had gotten a number of whippings in my life, but this was the one that hurt most. Later, Mama described to me how worried both of them had been, and how Daddy had not been able to go to sleep. Unlike past times, she didn`t express any regrets for the punishment I had received. But it was the last whipping I ever got from Daddy” (S. 226). 

Köperstrafen seitens des Vaters waren also üblich in der Kindheit von Jimmy Carter und konnten auch schwere Formen annehmen! Ohne die E-Book Version des Buches hätte ich diese Infos fast übersehen. Interessant daran ist, dass ich mit meinen ursprünglich geplanten Mutmaßungen auf Grundlage der ersten sechs Kapitel richtig gelegen hätte! Mutmaßungen über mögliches elterliche Gewaltverhalten macht oft Sinn, wenn es Indizien dafür gibt, das lerne ich persönlich (erneut) aus dieser Recherche. 

Interessant und hervorzuheben ist, dass Carter in seiner Kindheit eine Besonderheit erlebte: Seine Mutter hatte sich oftmals schützend vor der Gewalt des Vaters für ihre Kinder eingesetzt, was aus den Zitaten deutlich hervorgeht (in dem sie z.B. behauptete, die Kinder seien schon bestraft worden). Nach der wohl schwersten Prügelstrafe, die ihr Sohn erlitten hatte (siehe „Baumhausszene“), hatte sie ausnahmsweise keine Reue artikuliert, aber sie hat die „Gründe“ für die Strafe ausführlich erklärt. Das macht die Gewalt nicht weniger schlimm. Aber es macht einen Unterschied, ob Misshandlungen gegen Kinder einfach aus Launen heraus geschehen (was leider viele Kinder erleben), oder ob ein Stück weit die Kontrolle beim Kind bleibt, in dem es einschätzen kann, durch welches Verhalten Gewalt droht. Der zweite Punkt, den „Begründungen“ liefern, ist psychisch eine andere Möglichkeit, mit dem Gewalterleben umzugehen. Die Chancen, dass das Kind die Gewalt nicht absolut auf seine Person bezieht („Ich bin schlecht!“) sind höher, wenn „Begründungen“ artikuliert werden. Wie gesagt will ich die Gewalt dadurch nicht verharmlosen. Ich denke an dieser Stelle eher an die „Evolution von Kindheit“ und eine schützende Mutter und „Begründungen“ sind dahingehend schon ein Schritt nach vorne. 

In der Tat gilt Carter als erster Präsident, der nach dem Zweiten Weltkrieg keinen direkten Krieg führte. Wohl aber drohte er im Rahmen der „Carter-Doktrin“ mit militärischen „Abstrafungen“, sollten die Interessen der USA im Persischen Golf verletzt werden (“Let our position be absolutely clear: An attempt by any outside force to gain control of the Persian Gulf region will be regarded as an assault on the vital interests of the United States of America, and such an assault will be repelled by any means necessary, including military force”, Quelle siehe hier).

Auffällig ist allerdings auch, dass Carter keinerlei Kritik gegen die Bestrafungen durch seinen Vater äußert (was klassisch für misshandelte Kinder ist). Im Gegenteil wird sein Vater sogar stark verehrt: „(…) my Father was the center of my life and the focus of my admiration when I was a child” (S. 122) Carter untermalt dies auch mit Zeiten, in denen er viel mit seinem Vater unternahm, sowohl in Freizeit als auch im Rahmen der Arbeit auf dem Hof. Insofern kann in der Tat angenommen werden, dass der Vater beides für ihn war: Angstfigur (vor Strafen) und Vorbild (bzgl. Arbeit und Freizeitgestaltung). 

Zum Abschluss des Kapitels „My Mama and Daddy“ beschreibt Carter eine Szene, als er fischen war und sich auf dem Rückweg verlaufen hatte. Er fand schließlich doch den Weg zu dem Hause von Bekannten, wo sein Vater bereits wartete. Als sie Zuhause ankamen sagte sein Vater: „`I thought you knew better than to get lost in the woods`. I began to cry, and he reached out to me. Just being there enfolded in my fathers`s arms was one of the most unforgettable moments of my life” (S. 128).
Dass er diese Szene nie vergessen hat und derart hervorhebt, zeigt auch die tragische Seite des Ganzen. Oftmals hatte der Vater bei Fehlverhalten mit Körperstrafen reagiert. Aber er konnte auch anders und seinen Sohn in den Arm nehmen. Wir dürfen vermuten, dass letzteres eher selten der Fall war. Auch hier sehen wir im Rahmen der "Evolution von Kindheit" einen gewissen Fortschritt. 

Kommen wir nun zurück zu Carters Kindheit und Jugend. Nicht nur Zuhause wurde er geschlagen, sondern auch in der Schule. Besonders gefürchtet war der Lehrer Mr. Sheffield, der für schwere Körperstrafen bekannt war. Drei bis sieben schwere Schläge mit einem Gegenstand auf das Gesäß waren übliche Strafen vor allem für männliche Schüler. Jimmys Vater ergänzte diese Schulstrafen üblicher Weise durch Beschränkungen bzgl. Radiohören, Ausgang usw. für einige Tage oder Wochen (S. 212f.).  Er hatte also offensichtlich nichts gegen die Körperstrafe an der Schule einzuwenden. 

Carter beschreibt aber auch eine Szene in der Schule, in der er und seine Freunde einfach die Schule für einen Ausflug verlassen hatten. Bei ihrer Rückkehrt warteten bereits die Väter und Lehrer auf die Jungs. Maximal sieben Schläge und eine Sechs in allen Kursen wurden als Strafe angeordnet.  Auf dem Rückweg sagte sein Vater:
Are you prepared to take your punishemt at school?
Yes Sir.
You won`t get the same thing at home this time, but, except for going to school, you´ll not leave our yard and fields for a month.”
Yes, sir, Daddy.” (S. 219). 

In dieser Szene wird deutlich, dass der Vater manchmal auch Zuhause ergänzend zur Schule Körperstrafen vorgenommen hatte („You won`t get the same thing at home this time“), entgegen der oben geschilderten Schilderungen, dass der Vater nur nicht-gewaltförmige Strafen als Ergänzung zur Schule anwandte. Hier widerspricht sich Carter also selbst. 

Abschließend muss noch darauf hingewiesen werden, dass die Kinder oft ohne ihre Eltern auskommen mussten. Der Vater betrieb eine Farm und war entsprechend oft abwesend und eingespannt. Die Mutter arbeitete ergänzend als Krankenschwester. „Most of the time we didn`t expect Mama to be at home when we returned from school, but she would usually leave us a note on a little black table against the wall in the front room. It would let us know when she would be back home, and contain instructions concerning extra work, in addition to our regular chores. Later, my sister Gloria and I would tease Mama by claiming that we always thought the little black table was our real mother” (S. 111). 

Abschließender Hinweis: Fast alle US-Präsidenten der letzten Jahrzehnte wurden als Kind körperlich misshandelt (dazu kamen oft weitere Belastungen). Jimmy Carter fügt sich hier ein. Gerald Fort und Joe Biden habe ich bisher nicht untersucht. Einzig bzgl. Obama fand ich keine Belege für körperliche Gewalt in der Kindheit, aber auch keine Belege dagegen. 



Donnerstag, 19. Mai 2022

Kindheit von Zar Nikolaus II. (Russland, 1868 - 1918)

Nikolaus II. erhielt „nicht die bestmögliche Erziehung für sein künftiges Herrscheramt. Er wuchs als ältestes der fünf Kinder (…) in der spartanischen Atmosphäre auf, die sein Vater so schätzte“ (d'Encausse 1998, S. 69). Die Erziehung des jungen Nikolaus sei durch „Dürftigkeit, ja sogar Strenge der Lebensführung“ geprägt gewesen (d'Encausse 1998, S. 69). 

Nikolaus musste in seiner Kindheit den Tod seines jüngeren Bruders Alexander verkraften.  Sein Bruder Georg erkrankte an Tuberkulose und musste künftig in einem Sanatorium leben. „Dass er nicht mehr da war, bedeutete für Nikolaus den Verlust einer Kameradschaft, die ihren Einfluss auf ihn wahrscheinlich nicht verfehlt hätte“ (d'Encausse 1998, S. 70).

1881 erlebte der künftige Herrscher (…) hautnah die Gewaltbereitschaft seines Volkes, als der zerfetzte und mit abgerissenen Beinen im Todeskampf zuckende Leib seines Großvaters Alexander II. in den Zarenpalast gebracht wurde, wo sich die Familie um den Sterbenden versammelte. Nikolaus sollte diesen Moment nie mehr vergessen (…)“ (d'Encausse 1998, S. 70). Sein Großvater war einem Attentat zum Opfer gefallen. Nikolaus II. war damals gerade einmal dreizehn Jahre alt und war laut Berichten „totenblass“, als er all dies mitansehen musste (Ferror 1991, S. 19).

Schon unter Alexander II. war in Russland der erste Polizeistaat der westlichen Welt entstanden (Ferror 1991, S. 22ff.). Nach dem Attentat wurde Alexander III., der Vater von Nikolaus II., Zar von Russland und regierte „mit Hilfe eines Schreckensregimes“ (Ferror 1991, S. 26).
Alexander III. ließ alle liberalen Ansätze des früheren Regimes fallen und verkündete seinem Volk im Gegenteil sein Manifest vom 28. April 1881, dass er als absoluter Monarch regieren werde und die Geschicke des Reichs in Zukunft nur zwischen Gott und ihm zu erörtern seien“ (de Grünwald 1965, S. 13). Liberale Mitarbeiter wurden in der Folge entlassen, die Presse geknebelt, die Autonomie der Hochschulen praktisch aufgehoben, Überwachung ausgeweitet, Juden zu Sündenböcken gemacht usw. 

Der Vater von Nikolaus wird u.a. wie folgt beschrieben: „(…) seine hohe, massige Gestalt und sein bärtiges Gesicht erinnerten jeden seiner Untertanen an einen Bauern Zentralrusslands“ (de Grünwald 1965, S. 13). Der Biograf Marc Ferro beschreibt bzgl. diesen Vaters einen Widerspruch: „Für den jungen Nikolaus war Alexander III., dieses strenge und grobe Familienoberhaupt, als `Vater die Zärtlichkeit in Person`“ (Ferror 1991, S. 30). Er habe seinen Sohn geherzt und geküsst, während „die Mutter sich in den Beziehungen zu ihrem Sohn mit dem begnügte, was das Protokoll verlangte (…)“ (Ferror 1991, S. 30).
Strenge und Grobheit werden hier in einem Satz mit zärtlicher Zuneigung beschrieben. Für mich passt dies nicht ganz zusammen (und ich habe schon häufig bei solchen Recherchen diese Art von Widerspruch gefunden: Strenge und Liebe im gleichen Satz!). Auch die Kälte bzgl. des politischen Agierens passen hier nicht ins Bild. Ich würde nicht in Abrede stellen, dass dieser Vater Zuneigung ausdrückte (die Belege dafür gibt es offensichtlich). Ich warne aber davor, daraus auf eine grundsätzlich zugeneigte Vater-Sohn-Beziehung zu schließen, die z.B. Strafen und/oder Gewalt ausschließt. Für letzteres fand ich keine Belge, weder dafür noch dagegen. Wie der Erziehungsalltag und ggf. Strafen aussahen, bleibt also im Dunkeln. Dass die Mutter ihrem Sohn weit weniger zugeneigt war, geht ergänzend aus den o.g. Zitaten hervor. 

Ansonsten betont d'Encausse (1998, S. 72f.) die Unfähigkeit, Borniertheit und den Konservatismus von den Erziehern (darunter ein General), die Alexander III. seinem Sohn ausgesucht hatte. „Sein Vater bestimmte einen obskuren General namens Danilowitsch zu seinem Erzieher, einen Mann, der durch nichts, außer durch seine ultrakonservative Gesinnung, für diese verantwortungsvolle Aufgabe geeignet schien. (…) Er verstand es, die moralischen Ansichten des jungen Prinzen zu bestimmen und erzog ihn zu der außergewöhnlichen Zurückhaltung und Verschlossenheit, die der hervorstechendste Zug im Charakter von Nikolaus II. werden sollte. Die autoritäre Art Alexanders II. wirkte sich im gleichen Sinne aus: da der Zar auch nicht den leisesten Widerspruch duldete, zwang er Frau und Kinder, ihr Tun und Lassen vor ihm zu verbergen“ (de Grünwald 1965, S. 21). Hier wirkten also sowohl Erzieher als auch der autoritäre Großvater Alexander II. auf Nikolaus ein. Auch hier bleibt im Grunde unklar, wie der Erziehungsalltag wirklich aussah. 
Ein weiterer Erzieher, der allerdings nur fünf Monate wirkte, beschreibt lobend die Gelehrigkeit, Folgsamkeit und den spontanen Gehorsam von Nikolaus (de Grünwald 1965, S.22f.) Niemals hätten Rügen erteilt werden müssen, so der Erzieher. 

Zusammenfassend sehen wir einzelne, potentiell traumatische Erfahrungen (Attentat auf Großvater, Tod des Bruders, Verlust des zweiten Bruders), eine Mutter, die in den Berichten kaum auftaucht und ein widersprüchliches Bild über den Vater. Ergänzt wird dieses Bild über die negativen Berichte von Erziehern, allerdings ohne konkrete Schilderungen über evtl. Belastungen für den Jungen. 

Verglichen mit anderen Zaren erscheint die Kindheit von Nikolaus II. weniger belastet zu sein. Die Familie war auch etwas enger zusammen (de Grünwald (1965, S. 20) berichtet u.a. auch von einer harmonischen Ehe der Eltern und vom Zusammenleben der Familie in bescheidenen Gemächern), als bei vorherigen Zaren üblich. Dies passt auch in die Zeitachse: Je weiter wir in der Geschichte zurückschauen, desto schlimmer wird oft das Bild, das wir über Kindheit bekommen. 

Nikolaus II. war Russlands letzter Zar, er wurde 1918 ermordet. 


Quellen:

d'Encausse, H. C. (1998). Nikolaus II.: Das Drama des letzten Zaren. Paul Zsolnay Verlag, Wien.

de Grünwald, C. (1965). Der letzte Zar. Leben und Tod Nikolaus II. Paul Neff Verlag, Wien / Berlin. 

Ferro, M. (1991). Nikolaus II. Der letzte Zar. Benzinger Verlag, Zürich. 


The Childhood of Vladimir Putin

(original in German: https://kriegsursachen.blogspot.com/2022/05/die-kindheit-von-wladimir-putin.html; translation by Gabriella Becchina)

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Introduction

“Does Putin's traumatic childhood have a link with Ukraine and other wars? Looking at his backstory does not justify his actions but offers one of the many explanations for an unfolding crisis. And a lesson for many of us” (Singh 2022). I can’t but agree. His childhood explains a lot and yet excuses nothing!

In addition, one must keep in mind that there is also an inherent connection to childhood and trauma experiences in Russia. Russia is not just Putin. His actions would not be possible without the direct or tacit support of countless people. Childhood in Russia was and is a great source of strain (see: “The Cruel and Brutal Russian Family of the 17th Century and the Relation to Contemporary Times” (Fuchs 2022) and “Childhood in Russia” (Fuchs 2014). Of course, this also has (political) consequences.

Parents traumatized by war

Let us now tackle his childhood and family backgrounds. Putin's father fought on the front lines during World War II and was almost killed. Putin's mother also nearly died when her hometown of Leningrad was besieged and starved (Baker & Glasser 2005, p. 40).

In an article, Vladimir Putin (2015) explicitly described his parents' war experiences. His father was part of a diversion group of 28 people. They were once ambushed. His father survived only because he spent hours burying himself in a swamp and breathing through a reed. Of the 28 men, only four returned alive. Putin's father was immediately sent back to the front. There he was badly wounded and almost lost a leg. He had metal splinters in his body all his life. He was only fortuitously saved because a neighbor found him and dragged him to the military hospital at the risk of his life. While there, he diverted food for Putin's mother and their three-year-old son, which led to Putin's father sometimes fainting from hunger. Meanwhile, his mother had to withstand the siege of Leningrad. Her son was eventually taken away from her. He came into a home to save him from starvation. However, the little boy fell ill with diphtheria and died.

He was buried in a mass grave with over 470,000 further people (Myers 2015, p. 11). The family had previously lost a child who had died shortly after birth (Baker & Glasser 2005, p. 40).

At the time, Putin's mother was also closer to death than to life. Putin goes on to tell how one day his father was walking home on crutches. Paramedics were carrying bodies outside, including Putin's mother. The father discovered that she was still breathing. He cared for his wife and was able to save her (Putin 2015). Putin adds that five of his father's six brothers died in the war. His mother also lost relatives.

Putin's parents combined must have been highly traumatized people. We know today that this can put a heavy burden on the offspring (keyword: transgenerational transmission of trauma).

Childhood nightmare

The family lived in only one room and Vladimir's life arguably took place mainly outside and in backyards. "Everyone somehow lived within themselves," as recounted later by Putin in his description of that period and life with his parents. "I can't say that we were a very emotional family, that we discussed anything much. They kept a lot to themselves. I still wonder today how they dealt with the tragedies” (Seipel 2015, chapter: “Upheavals of the Past”). Another source describes how his parents left the boy to his own devices and he basically grew up as a type of street kid (Retter 2022). The living conditions were poor, they had to share the kitchen with others; to wash, the family went to public washhouses and often had to dodge hordes of rats in their home (Baker & Glasser 2005, p. 41).

Putin's father is described as a hard, strict and silent man who showed no feelings towards his son Vladimir and often argued with him. Once Vladimir left town with his friends without telling his parents. When he returned home, his father beat him with a belt (Baker & Glasser 2005, pp. 41f.). The biographer Steven Lee Myers (2015, p. 12) describes him in a very similar way: "Vladimir`s father was taciturn and severe, frightening even to people who knew him well." Myers (2015, p. 14) confirms the previously described fatherly violence against the son as well.

"His father was, by all accounts, concerned primarily with discipline, not with the quality of schooling his son received," writes Gessen (2014, p. 47f.) and adds that the boy initially had little interest in his education and most of the biographical descriptions from this period centered on the many "fistfights of his childhood and youth". On the street and with regard to the other boys, everything revolved around “constant drinking, cursing, fistfights. And there was Putin in the middle of all this,” reported a former classmate (Gessen 2014, p. 48).

Putin's former teacher, Vera Gurevich, relayed that she once visited the father and explained to him that his son was not developing his full potential. The father replied: "Well, what can I do? Kill him or what?" (Myers 2015, p. 15). Quite an unusual answer, which in turn testifies to the roughness of this person.

Putin, who was younger and slimmer than the other children around him, tried to hold up by persistently fighting. He also brought this violence to school, which got him into trouble and made him an outsider: "The school punished Putin by excluding him from the Young Pioneers Organization - a rare, almost exotic form of punishment, generally reserved for children who were held back repeatedly and essentially deemed hopeless. Putin was a marked boy: for three years, he was the only child in the school who did not wear a red kerchief around his neck, symbolizing membership in the Communist Organization for ten-to-fourteen-year-olds” (Gessen 2014, p. 48).

“As is almost always the case with bullies, Putin started out as a victim. (…) he was bullied and humiliated as a child” (Strick 2022). Myers also confirms that Putin was bullied and attacked because of his small size (Myers 2015, p. 15, 153). Ihanus (2022) describes another scene in which attacks against Putin took place: "His former teacher Vera Gurevich once said that the small Putin was locked by other schoolmates in the girls’ toilet where the girls slapped him."

Learning martial arts was evidently a way for the young Putin to be able to defend himself. He was used to violence since childhood. His teacher Vera Gurevich reported that when Putin broke the leg of one of his classmates at the age of 14, he said that some people "only understand violence" (Welt-Online 2022).

Are Putin's parents his biological parents?

In a research series (Dobbert 2015), Die ZEIT newspaper addressed the subject of Vera Putina, the woman who claims to be Vladimir Putin's real mother. Apparently, there is some evidence to justify publishing this story (including similarities in facial features between her and Putin). I myself don't want to skip this chapter, thus referring to the article (which can be viewed online and is very interesting). However, questions obviously still persist and there is no absolute certainty (through a genetic test) about this story. If the story is true, then Vladimir had an ominous odyssey of changing caregivers behind him, which would have implied an enormous burden for the child.

The story goes like this: Vera Putina fell in love with a man named Platon Privalov and became pregnant. Only then did she find out that he was married, and broke up with him. She moved in with her parents. During that time, she had to leave her barely two-year-old son with her parents for weeks at a time because her work took her out of town. Eventually, she met a Georgian, married him and moved to Georgia with her illegitimate son. A girl was born. For years there was a dispute about the boy. Her husband no longer wanted him to stay. Once her husband's sister simply gave the boy away to a strange man. The mother went looking for her son and brought him back. After that, she decided to place him with her parents again. However, her father became very ill and the boy had to move to foster parents who were distant (childless) relatives of her parents: Vladimir Spiridonovich Putin and Maria Ivanovna Putina (Putin's official parents).

Stanislav Belkovsky (2022, pp. 42f.) also doubted the official version of Putin's origins in his biography of Putin and basically explained the ZEIT story in a similar way (his book was originally published in 2013, i.e. before the ZEIT article). As a result of these experiences, Vladimir had become a withdrawn and grim child. In addition, he has hated Georgians as an ethnic group and as a category since then.

I find a further piece of information regarding the above-mentioned context noteworthy. Sadovnikova (2017, p. 30) specifies that Putin's father wanted a son. The mother actually didn't want a child (let’s also remember: she had lost two children before), but agreed. In this respect, Putin was an unwanted child on the part of his mother (which may have influenced the mother-son bond). For one. According to the source, the father wanted a son, which there is approximately a 50/50 chance for through natural pregnancy. The situation is different when a son is "offered" through relatives, as suggested in the above-mentioned ZEIT article. Just as an additional mental note.

Closing remarks

It is safe to say that Vladimir Putin's childhood was not "exotic" in the Russia of that time. Many Russians grew up with parents traumatized by war, in poverty and with violence, and were neglected and/or experienced the death of family members. With it loomed the shadows of Russian history: e.g. the oppression by the tsars, Stalin's terror, famines, all the wars, serfdom and despotism. Still, I would not use this information and background to say that not all people who grew up this way became like "Putin" (which is often used as an argument to downplay any contingent bearings). Needless to say, there is something psychopathic about Putin that few people develop in this fashion. However, his actions would not have been possible without the direct or tacit support of countless Russian people (including those following and helplessly frozen), as I already wrote at the beginning. The circle is now closing, especially in light of the suffering and trauma endured by many!

Or as Juhani Ihanus (2008, p. 255) expressed it: "The mystery and charisma of the leader reflect the secrets of abuse, shared by the majority of Russians in one form or another."



Bibliography

Baker, P. & Glasser, S. (2005). Kremlin Rising: Vladimir Putin's Russia and the End of Revolution. A Lisa Drew Book/Scribner, New York. Kindle e-book Edition.

Belkowski, S. (2022). Wladimir: Die ganze Wahrheit über Putin. Redline Verlag, München (3rd edition). Kindle e-book edition.

Dobbert, S. (2015, May 7): Vera Putina’s Lost Son. DIE ZEIT. https://www.zeit.de/feature/vladimir-putin-mother

Fuchs, S. (2022). Die grausame und rohe russische Familie des 17. Jahrhunderts und der Bezug zur heutigen Zeit. https://kriegsursachen.blogspot.com/2022/04/die-grausame-und-rohe-russische-familie.html

Fuchs, S. (2014). Kindheit in Russland. https://kriegsursachen.blogspot.com/2014/04/kindheit-in-russland.html

Gessen, M. (2014). The Man Without a Face: The Unlikely Rise of Vladimir Putin. Granta, London. Kindle e-book edition.

Ihanus, J. (2008). Putin the Aging Terminator: Psychohistorical and Psychopolitical Notes. The Journal of Psychohistory, Winter 2008, 35(3), S. 240-269. 

Ihanus, J. (2022). Putin, Ukraine, and Fratricide. (will be published in Clio's Psyche, spring issue, discussed in advance and sent to participants of the "Psychohistory Forum Virtual Meeting" on May 14, 2022)

Myers, S. L. (2015). The New Tsar: The Rise and Reign of Vladimir Putin. Alfred A. Knopf, New York. Kindle e-book edition. 

Putin, W. (2015, May 9). Das Leben ist eine einfache und grausame Sache. Frankfurter Allgemeine-online. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wladimir-putin-zum-70-jahrestag-des-kriegsendes-13578426.html

Retter, E. (2022, Feb. 23). Vladimir Putin's childhood explained - from 'miracle baby' to power-crazed president. Mirror. https://www.mirror.co.uk/news/world-news/vladimir-putins-childhood-explained-miracle-26303775?utm_source=twitter.com&utm_medium=social&utm_campaign=sharebar

Sadovnikova, A. (2017). Wenig folgsam und sehr frech. In: DER SPIEGEL-Biografie (Ed.). Wladimir Putin. 05/2017. SPIEGEL-Verlag, Hamburg.

Seipel, H. (2015): Putin. Innenansichten der Macht. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg. Kindle e-book edition.

Singh, D. (2022, March 15). Putin's rough childhood and its shadow over Ukraine and other wars. India Today. https://www.indiatoday.in/news-analysis/story/russia-ukraine-war-vladimir-putin-childhood-1925663-2022-03-15?t_source=rhs&t_medium=It&t_campaign=readthis&utm_source=twshare&utm_medium=socialicons&utm_campaign=shareurltracking

Strick, K. (2022, March 24). Is Vlad mad or bad? The life of Putin — from a childhood being chased by rats to today’s isolation and paranoia. Evening Standard. https://www.standard.co.uk/insider/vladimir-putin-russia-ukraine-war-background-president-life-covid-pandemic-b988399.html

Welt-Online (2022, Feb 22). Putin als Jugendlicher: „Wenn der Kampf unvermeidbar ist, muss man als Erster zuschlagen“. https://www.welt.de/politik/ausland/article237062307/Putin-Wenn-der-Kampf-unvermeidbar-ist-muss-man-als-Erster-zuschlagen.html


Author profile (in german): https://mattes.de/autoren/fuchs_sven.html


Dienstag, 17. Mai 2022

Sind naturnahe Völker "im Grunde gut"?

 „Bei den naturnahen Völkern helfen Kinder öfter, teilen mehr und wirken auch sonst glücklicher. Was können wir von deren Erziehungsgeheimnissen lernen?“ fragt Saara von Alten für einen Artikel im Tagesspiegel (15.05.2022: „Erziehungsgeheimnisse indigener Kulturen: Wie Kinder freiwillig im Haushalt helfen und teilen lernen“)

Ausgangspunkt ihrer Recherche ist das neue Buch „Kindern mehr zutrauen: Erziehungsgeheimnisse indigener Kulturen. Stressfrei – gelassen – liebevoll“ von Michaeleen Douclef. 

Ich bin kein Ethnologe und ich schließe nie aus, dass ich mich bei diesem Themenfeld auch irre. Aber ich musste einige Mal schwer durchatmen, als ich den Artikel las. Die Idealisierung von indigenen Kulturen ist mir schon oft begegnet. Meine Recherchen zeigten dagegen ein anderes Bild und auch viele dunkle Seiten, die sich bei diesen einfachen Kulturen offenbaren. Siehe dazu das Kapitel „Es gab kein Paradies! Gewalt in vorzivilisatorischen Gesellschaften“ in meinem Buch

Neben Doucleff verweist die Autorin auch auf die Arbeit von Jean Liedloff („Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“), die ich wiederum in meinem Buch kritisiert habe. 

Der Schlussteil des genannten Tagesspiegel-Artikels macht dann aber noch eine Wendung, die ich richtig und wichtig fand. Sie schreibt: „Sicherlich kann man den beiden Autorinnen entgegenhalten, dass sie die Yequana oder Mayas sehr idealisieren. So erwähnen sie nicht, dass der hohe Gemeinschaftssinn in naturnahen Völkern oft zulasten der Individualität geht, weshalb einige Indigene aus ihren Stämmen ausbrechen und in die Städte ziehen. Ebenso haben Mayas oder Yequana in ihrer Vergangenheit wie westliche Nationen Kriege geführt. Auch zum Thema Gleichberechtigung gibt es je nach Region unterschiedliche Beobachtungen: In einigen Jäger- und Sammlervölkern war beispielsweise Frauenraub ein legitimes Mittel zur Stammeserhaltung.“
Ich würde dem noch Stichwörter wie Kindes-/Säuglingstötungen, hohe Kindersterblichkeit, schmerzhafte bis traumatisierende Initiationsriten, Aussetzen oder Töten von kranken oder alten Mitgliedern des Stammes, hoher Konformitätsdruck und andere Formen der Kontrolle von Kindern (z.B. stark verängstigende Gruselgeschichten, „Lernen“ durch Verletzung/Unfälle z.B. unkontrolliertes Spielen am Feuer, mit Messern usw. oder Ausschluss aus der Gruppe) anhängen. 

Wenn es darum geht, positive Aspekte der Kindererziehung in indigenen Kulturen zu übernehmen (z.B. lange Stillzeit, viel Körperkontakt, keine getrennten Schlafräume für Babys usw.), dann bin ich sofort dabei! Auch dies betont die Autorin des Artikels, was ich wunderbar finde. 

Insofern möchte ich den Artikel auch gar nicht zu sehr kritisieren, weil er eine gewisse Ausgewogenheit erreicht. Etwas widersprüchlich wurde es dann aber noch an einer Stelle: „Auch nach einem cholerischen Wutanfall à la Klaus Kinski“ (siehe seinen Ausraster hier) könne man in indigenen Gemeinschaften lange suchen, so die Autorin. In diesem Zusammenhang fällt das Wort „Gelassenheit“. Allerdings erwähnt die Autorin in diesem Kontext auch, dass bei den damaligen Dreharbeiten im lateinamerikanischen Dschungel die Amazonas-Bewohner dem Regisseur angeblich anboten, Klaus Kinski nach dessen langem Wutanfall zu töten. Traditionelle Art von „Gelassenheit“ halt…, wenn ich das so anmerken darf.

Ähnlich argumentierte auch Rutger Bregman (2020) in seinem Buch „Im Grunde gut“. Er kritisiert in seinem Buch das schlechte Bild über Jäger- und Sammlerkulturen. Er betont dagegen den Zusammenhalt, die häufige Friedfertigkeit und die innere Ausgeglichenheit dieser Völker. An einer Stelle erzählt er dazu eine Geschichte, um seine Thesen zu untermauern: 

Natürlich hat es immer Menschen gegeben, die sich nicht an diese Ehrlich-teilen-Etikette gehalten haben. Aber damit gingen sie ein großes Risiko ein, denn wer sich arrogant oder gierig verhielt, konnte verbannt werden. Und wenn selbst das nicht half, gab es ein letztes Mittel: Nehmen Sie einen Vorfall, der sich unter den !Kung ereignete. Die Hauptperson war /Twi, ein Mitglied des Stammes, das zuvor zwei Menschen getötet hatte und sich immer untolerierbarer aufführte. Die Gruppe hatte genug davon: `Und dann feuerten sie giftige Pfeile auf ihn, bis er wie ein Stachelschwein aussah. Er lag still da. Alle traten näher heran, Männer und Frauen, und durchbohrten ihn mit Speeren, bis er tot war.` Anthropologen zufolge müssen sich solche Szenarien in prähistorischen Tagen von Zeit zu Zeit ereignet haben. Wenn jemand die Nase über den anderen rümpfte, rechnete die Gruppe mit ihm ab. So domestizierte der Mensch sich selbst“ (Bregman 2020, S. 120).
Die Aussage hier ist klar: Die Kultur ist im Grunde harmonisch und gut! Sie duldet keine Disharmonie und Destruktivität innerhalb der Gruppe. Man löst dies in diesen einfachen Kulturen durch Verbannung (was dem Tod gleichbedeutend ist) oder durch kollektiven (grausamen) Mord. Bleibt mir noch anzufügen, dass im kleinen Rahmen dieser Gruppen auch die Kinder Zeugen dieses Gemeinschaftsmordes geworden sein werden, eine höchst traumatische Erfahrung. 
Schauen wir abschließend auch auf die drei Morde aus diesem o.g. Fallbeispiel und setzen sie in Relation zu den oft sehr kleinen Gruppen: Die Mordrate bei dieser !Kung Gruppe wäre entsprechend hoch


Donnerstag, 12. Mai 2022

Die Kindheit von Wladimir Putin

aktualisiert am 18.05.2022

Does Putin's traumatic childhood have a link with Ukraine and other wars? Looking at his backstory does not justify his actions but offers one of the many explanations for an unfolding crisis. And a lesson for many of us” (Singh 2022). Dem kann ich nur zustimmen. Seine Kindheit erklärt vieles und entschuldigt dennoch nichts! 

Ergänzend muss bedacht werden, dass es auch eine Verbindung zu Kindheit bzw. Traumaerfahrungen an sich in Russland gibt. Russland ist nicht nur Putin. Seine Taten wären ohne eine direkte oder stillschweigende Unterstützung unzähliger Menschen nicht möglich. Kindheit in Russland war und ist sehr belastend (siehe: Die grausame und rohe russische Familie des 17. Jahrhunderts und der Bezug zur heutigen Zeit und Kindheit in Russland). Auch dies hat selbstverständlich (politische) Folgen. 

Kriegstraumatisierte Eltern 

Kommen wir nun zu seinen Kindheits- und Familienhintergründen. Der Vater von Putin kämpfte im Zweiten Weltkrieg an der Front und wurde dabei fast getötet. Putins Mutter kam ebenfalls fast zu Tode, als ihre Heimatstadt Leningrad belagert und ausgehungert wurde (Baker & Glasser 2005, S. 40). 

Wladimir Putin (2015) hat in einem Artikel die Kriegserlebnisse seiner Eltern deutlich beschrieben. Sein Vater war Teil einer Diversionsgruppe von 28 Mann. Sie gerieten einst in einen Hinterhalt. Sein Vater überlebte nur, weil er sich stundenlang im Sumpf vergrub und durch ein Schilfrohr atmete. Von den 28 Mann kamen nur vier lebend zurück. Putins Vater wurde sogleich wieder an die Front geschickt. Dort wurde er schwer verwundet und verlor fast ein Bein. Er hatte sein Leben lang Metallsplitter im Körper. Nur durch Zufall wurde er damals gerettet, weil ihn ein Nachbar fand und ihn unter Lebensgefahr zum Lazarett schleppte. Im Lazarett zweigte er Lebensmittel für Putins Mutter und den gemeinsamen dreijährigen Sohn ab, was dazu führte, dass Putins Vater teils Hungerohnmachten erlitt. Die Mutter musste derweilen der Belagerung von Leningrad standhalten. Ihr Sohn wurde ihr schließlich weggenommen. Er kam in ein Heim, um ihn vor dem Hungertod zu retten. Der Kleine erkrankte dort allerdings an Diphterie und starb.
Er wurde zusammen mit über 470.000 anderen Menschen in einem Massengrab beigesetzt (Myers 2015, S. 11). Die Familie hatte schon zuvor ein Kind verloren, das kurz nach der Geburt starb (Baker & Glasser 2005, S. 40).
Auch Putins Mutter war dem Tod damals näher als dem Leben. Putin berichtet weiter, wie eines Tages sein Vater auf Krücken nach Hause ging. Sanitäter trugen Leichen nach draußen, darunter die Mutter von Putin. Der Vater entdeckte, dass sie noch atmete. Er pflegte seine Frau und konnte sie retten (Putin 2015). Putin hängt an, dass fünf von sechs Brüder seines Vaters im Krieg gefallen sind. Auch seine Mutter habe Verwandte verloren.
Putins Eltern müssen zusammengefasst hoch traumatisierte Menschen gewesen sein. Wir wissen heute, dass dies die Nachkommen schwer belasten kann (Stichwort: transgenerationale Weitergabe von Traumata).  

Alptraum einer Kindheit

Die Familie lebte in nur einem Zimmer und Wladimirs Leben spielte sich wohl hauptsächlich draußen und den Hinterhöfen ab. „Jeder lebte irgendwie in sich selbst“, beschreibt Putin später diese Zeit und das Leben mit seinen Eltern. „Ich kann nicht behaupten, dass wir eine sehr emotionale Familie waren, dass wir uns austauschten. Sie behielten vieles für sich. Ich wundere mich noch heute, wie sie mit den Tragödien umgingen“ (Seipel 2015, Kapitel: „Vergangenheit und Umbruch“). In einer anderen Quelle wird beschrieben, wie seine Eltern den Jungen sich selbst überließen und er im Grunde als eine Art Straßenkind aufwuchs (Retter 2022). Die Wohnverhältnisse waren ärmlich, die Küche mussten sie sich mit Anderen teilen; um sich zu waschen, ging die Familie in öffentliche Waschhäuser und oft mussten sie in ihrem Haus Horden von Ratten ausweichen (Baker & Glasser 2005, S. 41). 

Putins Vater wird als harter, strenger und stiller Mann beschrieben, der seinem Sohn Wladimir gegenüber keine Gefühle zeigte und oft Streit mit ihm hatte. Einmal verließ Wladimir mit seinen Freunden die Stadt, ohne den Eltern Bescheid zu sagen. Als er wieder nach Hause kam, wurde er von seinem Vater mit einem Gürtel verprügelt (Baker & Glasser 2005, S. 41f.). Der Biograf Steven Lee Myers beschreibt (2015, S. 12) ihn ganz ähnlich: "Vladimir`s father was taciturn and severe, frightening even to people who knew him well." Auch die zuvor beschriebene väterliche Gewalt gegen den Sohn wird von von Myers (2015, S. 14) bestätigt. 
His father was, by all accounts, concerned primarily with discipline, not with the quality of schooling his son received” schreibt Gessen (2014, S. 47f.) und fügt an, dass auch der Junge anfänglich kaum Interesse an seiner Bildung hatte und sich die meisten biografischen Schilderungen aus dieser Zeit um die vielen „fistfights of his childhood and youth“ drehten. Auf der Straße und bzgl. der anderen Jungs drehte sich alles am „constant drinking, cursing, fistfights. And there was Putin in the middle of all this“, berichtete ein ehemaliger Klassenkamerad (Gessen 2014, S. 48). 
Putins ehemalige Lehrerin Vera Gurevich berichtete, dass sie einmal den Vater besuchte und ihm erklärte, dass sein Sohn nicht sein volles Potential entfalten würde. Der Vater antwortete: "Well, what can I do? Kill him or what?" (Myers 2015, S. 15). Eine ungewöhnliche Antwort, die wiederum von der Rauheit dieser Person zeugt. 

Putin, der jünger und schmaler gebaut war als die anderen Kinder um ihn herum, versuchte durch beharrliches Kämpfen gegenzuhalten. Diese Gewalt brachte er auch mit in die Schule, was ihm Probleme und eine Außenseiterstellung einhandelte:
The school punished Putin by excluding him from the Young Pioneers Organisation – a rare, almost exotic form of punishment, generally reserved für children who were held back repeatedly and essentially deemed hopeless. Putin was a marked boy: for three years, he was the only child in the school who did not wear a red kerchief around his neck, simbolizing membership in the Communist Organisation for ten-to-fourteen-year-olds” (Gessen 2014, S. 48). 

As is almost always the case with bullies, Putin started out as a victim. (…) he was bullied and humiliated as a child” (Strick 2022). Auch Myers bestätigt, dass Putin auf Grund seiner kleinen Größe gemobbt bzw. angegriffen wurde (Myers 2015, S. 15, 153). Ihanus (2022) beschreibt eine weitere Szene, in der Übergriffe gegen Putin stattfanden: "His former teacher Vera Gurevich once said that the small Putin was locked by other schoolmates in the girls’ toilet where the girls slapped him."
Kampfsport zu lernen war für den jungen Putin offensichtlich ein Mittel, sich verteidigen zu können. Von Kindheit an war er Gewalt gewohnt. Seine Lehrerin Vera Gurewitsch berichtete, als Putin im Alter von 14 Jahren einem seiner Mitschüler das Bein brach, habe er gesagt, dass manche „nur Gewalt verstehen“ (Welt-Online 2022). 

Sind Putins Eltern seine leiblichen Eltern? 

Die ZEIT hat sich in einer Recherchereihe (Dobbert 2015) mit Vera Putina befasst, der Frau, die behauptet, die echte Mutter von Wladimir Putin zu sein. Offensichtlich gibt es einige Belege, die eine Veröffentlichung dieser Geschichte rechtfertigen (inkl. Ähnlichkeiten der Gesichtszüge zwischen ihr und Putin). Ich selbst möchte dieses Kapitel nicht ausblenden, darum verweise ich auf den Artikel (der online einsehbar und sehr interessant ist). Allerdings bleiben Fragen und absolute Gewissheit (durch einen Gentest) über diese Geschichte gibt es offensichtlich nicht. Sollte die Geschichte stimmen, dann hatte Wladimir als Kind eine unheilvolle Odyssee an wechselnden Bezugspersonen hinter sich, was eine enorme Belastung für das Kind bedeuten würde.

Die Geschichte geht so: Vera Putina verliebte sich in einen Mann namens Platon Priwalow und wurde schwanger. Erst dann erfuhr sie, dass er verheiratet war und trennte sich von ihm. Sie zog zu ihren Eltern. Wochenlang musste sie in dieser Zeit ihren noch nicht ganz zwei Jahren alten Sohn bei ihren Eltern lassen, weil sie beruflich außerorts arbeiten musste. Sie lernte schließlich einen Georgier kennen, heiratete ihn und zog mit ihrem unehelich geborenen Sohn zu ihm nach Georgien. Ein Mädchen wurde geboren. Jahrelang gab es Streit wegen dem Jungen. Ihr Mann wollte nicht mehr, dass er bleibt. Einmal gab die Schwester ihres Mannes den Jungen einfach zu einem fremden Mann. Die Mutter suchte ihren Sohn und brachte ihn zurück. Danach entschloss sie sich, ihn wieder bei ihren Eltern unterzubringen. Allerdings wurde ihr Vater sehr krank und der Junge musste zu Pflegeeltern, entfernte (kinderlose) Verwandte ihrer Eltern: Wladimir Spiridonowitsch Putin und Maria Iwanowna Putina (die offiziellen Eltern von Putin).
Auch Stanislaw Belkowski (2022, S. 42f.) hat in seiner Putin-Biografie die offizielle Version von Putins Herkunft angezweifelt und im Prinzip die ZEIT-Story ähnlich ausgeführt (sein Buch wurde ursprünglich 2013 veröffentlicht, also noch vor dem ZEIT-Artikel). Wladimir sei durch diese Erlebnisse zu einem verschlossenen und grimmigen Kind geworden. Außerdem habe er seitdem die Georgier als Ethnie und Gruppe gehasst. 

Eine weitere Information finde ich bzgl. des o.g. Zusammenhangs bemerkenswert. In der Reihe DER SPIEGEL-Biografie (2017, S. 30) wird beschrieben, dass sich Putins Vater einen Sohn wünschte. Die Mutter wollte eigentlich kein Kind (wir erinnern uns auch: sie hatte zuvor zwei Kinder verloren), stimmte aber zu. Insofern war Putin seitens seiner Mutter ein ungewolltes Kind (was evtl. die Mutter-Sohn-Bindung beeinflusst haben wird). Das ist das Eine. Der Vater wollte der Quelle nach einen Sohn, was bei einer natürlichen Schwangerschaft eine Chance von ca. 50/50 bedeutet. Anders sieht es aus, wenn über Verwandte ein Sohn „angeboten“ wird, wie es in o.g. ZEIT-Artikel nahegelegt wird. Dies nur als gedanklicher Anhang. 

Schlussbemerkungen

Man könnte sicher sagen, dass die Kindheit von Wladimir Putin nicht "exotisch" im damaligen Russland war. Viele Russen wuchsen mit kriegstraumatisierten Eltern, in Armut und mit Gewalt auf, wurden vernachlässigt und/oder erlebten den Tod von Familienmitgliedern. Dazu kamen die Schatten der russischen Geschichte: z.B. die Unterdrückung durch die Zaren, Stalins Terror, Hungersnöte, all die Kriege, Leibeigenschaft und Willkür. Diese Informationen und Hintergründe würde ich aber nicht nutzen, um zu sagen, dass ja nicht alle so aufgewachsenen Menschen zu einem "Putin" wurden (was gerne getan wird, um die möglichen Zusammenhänge gering zu reden). Natürlich hat Putin etwas psychopathisches, was nur wenige Menschen so entwickeln. Seine Taten wären aber ohne eine direkte oder stillschweigende Unterstützung (inkl. Mitläufertum und Verharren in Ohnmacht) unzähliger russischer Menschen nicht möglich, wie ich eingangs bereits schrieb. Der Kreis schließt sich, gerade mit Blick auf das Leid und das Trauma der Vielen! 
Oder wie Juhani Ihanus (2008, S. 255) es ausdrückte: "The mystery and charisma of the leader reflect the secrets of abuse, shared by the majority of Russians in one form or another."


Hinweis: Dieser Beitrag ersetzt bzw. ergänzt meinen Blogbeitrag Kindheit von Wladimir Wladimirowitsch Putin


Quellen:

Baker, P. & Glasser, S. (2005). Kremlin Rising: Vladimir Putin's Russia and the End of Revolution. A Lisa Drew Book/Scribner, New York. Kindle e-book Edition.

Belkowski, S. (2022). Wladimir: Die ganze Wahrheit über Putin. Redline Verlag, München (3. Auflage). Kindle e-book edition.

DER SPIEGEL-Biografie (2017, 01. Mai). Wladimir Putin. SPIEGEL-Verlag, Hamburg. 

Dobbert, S. (2015, 07. Mai): Vera Putinas verlorener Sohn. DIE ZEIT, Nr. 19. https://www.zeit.de/feature/wladimir-putin-mutter#kapitel2. (in Englisch frei zugänglich online:  https://www.zeit.de/feature/vladimir-putin-mother)

Gessen, M. (2014). The Man Without a Face: The Unlikely Rise of Vladimir Putin. Granta, London. Kindle e-book edition.

Ihanus, J. (2008). Putin the Aging Terminator: Psychohistorical and Psychopolitical Notes. The Journal of Psychohistory, Winter 2008,  35(3), S. 240-269. 

Ihanus, J. (2022). Putin, Ukraine, and Fratricide. (wird noch in Clio's Psyche, spring issue veröffentlicht, vorab besprochen und an Teilnehmer des "Psychohistory Forum Virtual Meeting" vom 14.05.2022 versandt)

Myers, S. L. (2015). The New Tsar: The Rise and Reign of Vladimir Putin. Alfred A. Knopf, New York. Kindle e-book edition. 

Putin, W. (2015, 09. Mai). Das Leben ist eine einfache und grausame Sache. Frankfurter Allgemeine-online. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wladimir-putin-zum-70-jahrestag-des-kriegsendes-13578426.html

Retter, E. (2022, 23. Feb.). Vladimir Putin's childhood explained - from 'miracle baby' to power-crazed president. Mirror. https://www.mirror.co.uk/news/world-news/vladimir-putins-childhood-explained-miracle-26303775?utm_source=twitter.com&utm_medium=social&utm_campaign=sharebar

Seipel, H. (2015): Putin. Innenansichten der Macht. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg. Kindle e-book edition.

Singh, D. (2022, 15. März). Putin's rough childhood and its shadow over Ukraine and other wars. India Today. https://www.indiatoday.in/news-analysis/story/russia-ukraine-war-vladimir-putin-childhood-1925663-2022-03-15?t_source=rhs&t_medium=It&t_campaign=readthis&utm_source=twshare&utm_medium=socialicons&utm_campaign=shareurltracking

Strick, K. (2022, 24. März). Is Vlad mad or bad? The life of Putin — from a childhood being chased by rats to today’s isolation and paranoia. Evening Standard. https://www.standard.co.uk/insider/vladimir-putin-russia-ukraine-war-background-president-life-covid-pandemic-b988399.html

Welt-Online (2022, 22. Feb.). Putin als Jugendlicher: „Wenn der Kampf unvermeidbar ist, muss man als Erster zuschlagen“. https://www.welt.de/politik/ausland/article237062307/Putin-Wenn-der-Kampf-unvermeidbar-ist-muss-man-als-Erster-zuschlagen.html


Donnerstag, 5. Mai 2022

Neue Studie: Kindheiten von rechten Jugendlichen

Erneut habe ich eine Studie (Studie Nr. 35 !) gefunden, für die rechte Akteure über ihre Kindheit befragt wurden:

Fahrig, K. (2020). Rechte Jugendliche und ihre Familien: Eine Perspektiven triangulierende Rekonstruktion biografischer Hintergründe (Studien zur Kindheits- und Jugendforschung, Band 4). Springer VS, Wiesbaden.

Katharina Fahrig hat ausführlich mit sechs jungen Männern bzw. Jugendliche (Alter zwischen 18 und 23 Jahre), die sich rechten Gruppen angeschlossen hatten, gesprochen. Teils wurden ergänzend die Mütter der Jugendlichen befragt. Zwei der befragten Jugendlichen mussten Haftstrafen absitzen, bei einem drohte eine Jugendstrafe. Der rechte Organisationsgrad der Befragten unterschied sich zwischen „gering“ bis „sehr stark“. Ein Befragter („Piet“) hatte sogar eine eigene, rechte Kameradschaft gegründet. Der Einstieg in die rechte Szene erfolgte durch Freunde oder Bekannte.

Die Zusammenfassungen der Autorin über die Kindheits-/Familienhintergründe und Krisen der Befragten gleichen denen, die ich immer wieder in ähnlichen Studien fand: 

Bei allen Jugendlichen erfolgte der Anschluss an die rechte Szene im Zusammenhang mit sich krisenhaft zuspitzenden Ereignissen und Konstellationen ihres Lebens, die mit innerfamilialen und/oder schulischen Desintegrationserfahrungen verbunden waren“ (S. 334). 

Die rekonstruierten subjektiv belastenden Lebensumstände der Jugendlichen lassen sich zu emotionalen Ausgangslagen verdichten, die die Suche nach und Offenheit für neue rückhaltversprechende soziale/jugendkulturelle Einbindungen begründen und erkennen lassen, welche Funktion der Anschluss an die rechte Szene für die Jugendlichen hatte. Entscheidend ist hier, dass die sich Jugendlichen durch die Selbstpräsentation der Szene und die darüber vermittelten Strukturen von Spaß, Zusammenhalt, Respekt und Freizeiterleben, aber auch die Möglichkeit, Aggressionen auszuleben und dafür sogar positive Resonanz zu bekommen, emotional angesprochen fühlten. Sie bot einen Ausweg aus der als unbefriedigend und belastend erlebten Lebenssituation“ (S. 336). 

Hinsichtlich der viel diskutierten Frage nach den Einflüssen und der Bedeutung von Familie und Peers lässt sich konstatieren, dass bei den hier untersuchten Fällen die familiale Situation eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung von subjektiv empfundenen Problemlagen und krisenhaften Zuspitzungen spielte, die bei den Jugendlichen die Bereitschaft zu einem Anschluss an eine starke, Anerkennung und Zusammenhalt versprechende Jugendclique begründete. (…) Das Gefühl akzeptiert, verstanden und angenommen zu werden, wurde (…) durch die Szene geboten und verband sich mit der Chance auf ein neu gewonnenes Selbstbewusstsein“ (S. 338). 

Je nach Problemlage fungierte die rechte Clique als eine Ersatzgemeinschaft für die Klassen bzw. Schulgemeinschaft oder übernahm quasi-familiale emotionale Rückhalts- und Hilfsfunktionen für die Jugendlichen“ (S. 346) Das Umschlagen erlebter Ohnmachtserfahrungen in (zumindest partielle) Gewaltakzeptanz sei ein weiterer, wichtiger Punkt, so die Autorin 

Zusammenfassung
Die Autorin hat an mehreren Stellen (S. 337, 354, 362, 367, 368, 369) die Familien- und Kindheitshintergründe der Befragten zusammengefasst, was ich wiederum wie folgt zusammenfasse: 

Dennis: frühe Trennung der Eltern; leiblicher Vater unbekannt; schwere Krankheit der Schwester;  Aufwachsen mit gewalttätigen, oft abwesenden Stiefvater (schlechte Beziehung zu diesem) und erneute Trennung als Dennis 14 Jahre alt war; danach neuer Stiefvater; ambivalentes Verhältnis zur Mutter, die teilweise autoritär und abwertend war und unerfüllbare Anforderungen stellte; Vernachlässigung. 

Kai: Trennung der Eltern, als Kai sechs Jahre alt war; Aufwachsen mit Stiefvater (von Konflikten und Ambivalenz geprägte Beziehung zu diesem; Stiefvater war kritisierend, abwertend und negativ sanktionierend); Suizid des leiblichen Vaters, als Kai vierzehn Jahre alt war; schulischer Absturz.  

Piet: Trennung der Eltern, als Piet acht Jahre alt war; vorher schwere Krebserkrankung von Piet, Mutter konnte Piet in dieser Zeit nichts abschlagen und setzte kaum Grenzen; nach Gesundung Rückstellung in der Schule, Schulprobleme und fehlende Anerkennung.

Bastian: Mutter und Vater vernachlässigten ihn emotional; Vater war häufig abwesend; Bastian war als Kind häufig alleine.

Holger: bei Konflikten sei die Mutter hoch erregbar gewesen (siehe auch Anmerkungen über Interviews mit ihm unten).

Peter: Trennung der Eltern, als Peter sechszehn Jahre alt war; vorher von massiven Konflikten sowie langjähriger von psychischer und physischer Gewalt geprägte Beziehung zum Vater (später Beziehungsabbruch zu diesem); die Mutter hätte ihn „ordentlich“ erzogen und sei „immer lieb“ gewesen, obwohl sie eine Autorität war und ihm Gehorsam abverlangt hätte; massive Mobbingerfahrungen in der Schule 

Bei den Interviews speziell mit Bastian und Holger blieben, laut der Autorin, die Erzählungen über das Aufwachsen in der Familie vage, Nachfragen wurden nur knapp abgehandelt. Bastian war während der Interviews sogar hochgradig aggressiv, was intensivere Nachfragen erschwerte (S. 335). Insofern wird hier die Schwierigkeit, die ganze Wahrheit über als unangenehm empfundene Themenfelder zu erfahren, deutlich. Ich persönlich gehe grundsätzlich davon aus, dass Menschen über destruktive Kindheitserfahrungen routinemäßig meist eher zu wenig, als zu viel berichten. Trotz dieser Hürden hat die Autorin einiges zu Tage bringen können! 


Dienstag, 3. Mai 2022

Kindheit von Elisabeth I. (Russland, 1709-1761)

Über die Kindheit der Zarin Elisabeth I. fand ich nur wenige Informationen. Was ich fand, zeigt allerdings deutliche Tendenzen: 

Zar Peter der Große „konnte selten mehr als einige Tage hintereinander mit seinen Töchtern zusammensein. Oft vergingen Wochen, in denen sie ihn gar nicht zu Gesicht bekamen. Ihre Kinderzeit war außergewöhnlich einsam. (…) Anfangs wurden die Kinder von zwei Pflegerinnen betreut (…)“ (Rice 1970, S. 19). Auch die Mutter sei oft abwesend gewesen.
In einer anderen Quelle wird von "zwei derben Ammen" (Olivier 1963, S. 35) gesprochen, die das Mädchen und ihre Schwester aufzogen. Später kamen eine französische Gouvernante und als Erzieher ein Mann hinzu. 

Fremdbetreuung und frühe Weggabe der Kinder war üblich in diesen hohen Kreisen. Ich betone dies hier erneut (siehe meine anderen Beiträge über die Kindheiten der Zaren). Insofern wurden die Kinder systematisch von ihren Eltern entfremdet. 

Die Biografin bezieht sich auf Schilderungen von Katharina II., die bzgl. Elisabeth und ihrer Schwester berichtete: „Die beiden sind – zumindest anfangs – sehr vernachlässigt worden. Ihr Vater behandelte sie zunächst als Bastarde. Die zwei Mädchen hatten in frühster Kindheit niemanden außer den finnischen Bedienerinnen und später schrulligen Deutschen, denen die Kinder einzig und allein als Spielzeug dienten“ (Rice 1970, S. 19). Die Biografin hängt dem kritisch an: „Solche Äußerungen sind anfechtbar. Es sieht so aus, als stammten Katharinas Informationen in diesem Fall von voreingenommen Höflingen“ (Rice 1970, S. 19). Da die Biografin zuvor – wie oben zitiert – auf die außergewöhnliche Einsamkeit in der Kindheit von Elisabeth hingewiesen hat, scheinen Katharinas Eindrücke zumindest ins Bild zu passen.
Auch eine andere Quelle bestätigt die frühe Vernachlässigung: „Elisabeth war 1709 geboren (…). Sie sah ihre Eltern wenig, die viel auf Reisen waren; ihre Erziehung wurde vernachlässigt (…)“ (Cronin 2008, S. 39). Olivier (1963, S. 36) schreibt: "Der Herrscher fand nicht die Zeit, die Erziehung seiner Töchter zu überwachen. Seiner Gattin wiederum fehlten die Voraussetzungen dazu (...). Die Prinzessinnen sahen (...) ihre Eltern nur selten."

Elisabeths Vater – Peter der Große – starb 1725, Elisabeth war zu der zeit fünfzehn Jahre alt. Ca. zwei Jahre später starb die Mutter Katharina I.; Elisabeth war da siebzehn Jahre alt (Rice 1970, S. 24, 35).

Über die Kindheit von Peter dem Großen habe ich hier im Blog bereits geschrieben. Seine Kindheit war hoch traumatisch und der später Erwachsene hatte eine sehr grausame Seite. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass dieser Vater ein gutes Vorbild für seine Tochter war. Ganz im Gegenteil würde ich eher vermuten, dass von ihm deutliche Belastungen ausgingen (über die erwähnte Vernachlässigung hinaus), die dann auch Elisabeth geprägt haben dürften. Dies bleibt Spekulation, wäre aber nur logisch und nachvollziehbar.

Leider fand ich in den verwendeten Quellen keine Informationen zu den verstorbenen Geschwistern von Elisabeth. Insofern muss ich mich hier auf den Wikipedia-Eintrag über Elisabeth I. beziehen. Ihre Mutter soll bis zu elf Kinder bekommen haben. Nur Elisabeth und ihre Schwester Anna erreichten das Erwachsenenalter. Die Mutter hatte demnach vor der Geburt von Elisabeths Schwester Anna bereits drei Kinder verloren. Zwischen ihrem sechsten und sechszehnten Lebensjahr verlor Elisabeth sieben Geschwister an den Tod. 


Haupt-Quellen: 

Cronin, V. (2008). Katharina die Große. Piper Verlag, München

Olivier, D. (1963). Elisabeth von Rußland. Die Tochter Peters des Grossen. Paul Neff Verlag, Wien / Berlin / Stuttgart.

Rice, T. T. (1970). Elisabeth von Russland. Die letzte Romanow auf dem Zarenthron. Verlag George D. W. Callwey, München. 


Montag, 2. Mai 2022

Kindheit von Maximilien de Robespierre

Auch die Kindheit von Maximilien de Robespierre zeigte deutliche Schatten. 

Meine Quelle: Gallo, M. (1989). Robespierre. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart. 

Maximilien de Robespierre wurde am 6. Mai 1758 in Arras (Frankreich) geboren. Nach der Geburt eines fünften Kindes stirbt am 14. Juli 1764 seine Mutter. Maximilien ist zu der Zeit sechs Jahre alt. 

Der Vater wird von dem Biografen als labiler Mensch beschrieben, der innerhalb von vier Jahren vier Mal umzog, obwohl seine Frau in dieser Zeit fast ununterbrochen schwanger war. Nach dem Tod seiner Frau verschwindet der Vater Stück für Stück aus dem Leben seiner Kinder: „Maximilien ist sechs Jahre alt, als bei seinem Vater (…) erneut Anzeichen der seelischen Labilität spürbar werden (…).  Er beginnt immer häufiger, sich von zu Hause zu entfernen, verlässt Arras für längere Zeit und nimmt Anleihen bei seiner Schwester auf. (…) Das Fehlen des Vaters muss schwer auf dem empfindlichen Jungen gelastet haben“ (S. 24f.) 

Maximilien kommt zusammen mit seinem Bruder Augustin bei seinem Großvater mütterlicherseits unter. Die beiden Schwestern kommen zu einer Tante. Insofern wurden hier auch die Geschwister voneinander getrennt. Immerhin scheint es eine ganze Zeit lang sonntägliche Treffen mit den Schwestern gegeben zu haben. 

Bei seinem Großvater war man auf den Vater nicht gut zu sprechen. Er hatte zunächst die Mutter entehrt, die mit Maximilien bereits im fünften Monat schwanger war, als es zur Heirat kam und dann „durch die Vielzahl der Kinder den Tod seiner Frau verursacht. Maximilien muss diese Wunde, diese erdrückende Erbschande, die auf ihm lag, tief empfunden haben. Er fühlt sich schuldig für seinen Vater, dessen Gedächtnis er auslöschen muss und den er verleugnet, indem er ein radikal entgegengesetztes Verhalten an den Tag legt. Psychologisch gesehen hat er keine Wahl, als die Sorglosigkeit, den Leichtsinn und die Prinzipienlosigkeit seines Vaters durch Pflichtbewusstsein, Würde und Tugend zu ersetzen. `Eine radikale Veränderung ging in ihm vor`, schreibt seine Schwester Charlotte. `Vorher war er wie alle Kinder seines Alters sorglos, ausgelassen und leichtsinnig. Aber seit er sich als Ältester sozusagen in die Rolle des Familienoberhauptes gedrängt sah, wurde er vernünftig, gesetzt und strebsam (…)`“ (S. 25).

Maximilien muss „die Schuld seines Vaters, die auf ihn übergegangen ist, auslöschen, zunächst weil er der Sohn ist, aber auch und vor allem weil er sich in Beziehung auf diesen Vater, den er wie seine Umgebung verachtet, schuldig fühlt. Hat nicht auch er irgendeinen unbekannten Fehler begangen, der den Vater davongejagt hat? So kommt Maximilien dazu, sich selbst anzuklagen und für schuldig zu halten, weil er seinen Vater zugleich liebt und hasst. Diese Situation ist um so eindeutiger, als er seine Mutter sehr verehrte und nun, wie seine Umgebung, allen Grund dazu hat, dem Vater die Schuld an ihrem Tod zu geben. (…) Mehr als bei anderen werden bei ihm Charakter und Lebensweise durch diese frühen Erfahrungen geprägt.  Ohne Zweifel leidet er auch darunter, den anderen `zur Last zu fallen`, denn als Vollwaise ist er künftig vom Wohlwollen des Großvaters und bald auch von der Wohltätigkeit religiöser Institutionen abhängig“ (S. 25f.)

Im Alter von sieben Jahren wird Maximilien auf das örtliche Collège geschickt. „Er ist dort ein guter Schüler, diszipliniert, ernsthaft und fleißig, aber verschlossen. An den Spielen seiner Mitschüler beteiligt er sich nicht“ (S. 27). Das Kind scheint sich ein Stück weit emotional von seiner Umwelt entfernt zu haben. 

Als Maximilien ca. zehn Jahre alt ist, kommt seine Schwester Charlotte auf eine Art Internat, seine Schwester Henriette folgt, als er ca. fünfzehn Jahre alt ist. Maximilien selbst erhält im Alter von elf Jahren ein Stipendium für ein Collège in Paris (wo er zwölf Jahre bleibt) und wird „von neuem aus dem ihm vertrauten Milieu gerissen, wodurch ein weiterer Bruch in seiner Entwicklung eintritt. Zwar hat sich der entscheidende Umbruch beim Tod seiner Mutter und dem Verschwinden seines Vaters ereignet; aber die Abreise nach Paris muss den Jungen in seiner Verschlossenheit und in der unbewussten Überzeugung, die Wirklichkeit sei ihm feindlich gesonnen, bestärken, so dass sich in ihm die zähe `Melancholie` festsetzt, von der Charlotte spricht. Sie erwähnt auch, dass ihre jüngere Schwester Henriette starb, `während Maximilien in Paris seinen Studien nachging`. ´So kam es`, fügt sie hinzu, ´dass unsere Kindheit mit Tränen getränkt und jedes unserer frühen Jahre durch den Tod eines geliebten Wesens markiert war. (…)`“ (S. 27f.)

Auch im Pariser Collège sondert er sich eher von Mitschülern ab, glänzt aber durch seine Intelligenz und Leistungen. Die Achtung und das Interesse seiner Lehrer hätten allerdings nicht den „Durst nach Liebe“ stillen können, „um die Leere auszufüllen“ (S. 30). Seine Suche nach Achtung, Zuneigung und Liebe sei zum Scheitern verurteil gewesen. „Aus diesem Grunde ist es nicht verwunderlich, dass Maximilien Robespierre, dem Verfemten und Verfolgten, eine tiefe Bewunderung entgegenbringt“ (S. 30). Auch das Gefühl der Armut war ihm nicht fremd. 

Als Maximilien ca. siebzehn Jahre alt ist, stirbt seine Großmutter, drei Jahre später sein Großvater. Der Vater bleibt verschollen (S. 33f.).  

Über den Erziehungsalltag erfährt man leider nichts in der verwendeten Quelle. Im 18. Jahrhundert sind weitere Belastungen zumindest hoch wahrscheinlich, z.B. Körperstrafen, Kinderarbeit usw.

Die aufgezeigten Informationen über die Kindheit von Maximilien de Robespierre zeigen allerdings deutlich, dass er schwer traumatisiert wurde. Dazu kamen die Zeichen der Zeit, die seinen späteren Weg ebneten. Im Oktober 1793 beginnen im Verlauf der Französischen Revolution die Tage der Schreckensherrschaft, „der Terreur, an denen `die heilige Guillotine nie zur Ruhe kommt`" (S. 217).

Die Terrorherrschaft wurde vom sogenannten Wohlfahrtsausschuss ganz wesentlich von Maximilien de Robespierre angeführt. Robespierre definierte diese Herrschaft so: „`Terror ist nichts anderes als rasche, strenge und unbeugsame Gerechtigkeit. Er ist eine Offenbarung der Tugend.` Genau so hätten die Attentäter von Paris und Wien und die IS-Kämpfer in Syrien ihre Gräueltaten begründen können. Terror ist für sie kein krimineller Akt, sie wollen nicht bloß Angst und Schrecken verbreiten, sondern er hat für sie eine moralische Dimension “ (Die Presse, 05.11.2020, Europa erlebt das Ergebnis einer falsch verstandenen Toleranz

Der heutige Begriff „Terrorismus“ ist ganz wesentlich von dem damaligen Begriff „terreur“ abgeleitet.