Mittwoch, 28. Januar 2009
Krieg der Kindergangs
Es ging um den aufgegebenen Stadtteil Norris Green in Liverpool. Dort beherrschen Jugendgangs die Straße. „Sie handeln mit Crack und Heroin, sind zwischen 12 und 18 Jahre alt, die meisten von ihnen bewaffnet. Jugendliche, die Krieg statt Fußball spielen, und die hier oben im Norden Liverpools jetzt die Macht übernommen haben.“, heißt es in dem Bericht.
„Was geht euch durch den Kopf wenn ihr mit den Waffen schießt?“, fragte ein Reporter.
„Glücklich. Das ist ein glückliches Gefühl. Ein normales Leben würde keiner mehr haben wollen, von uns keiner mehr. Viel zu langweilig. Wenn Du einmal in der Gang bist, willst du nicht mehr aufhören. Willst immer so weitermachen. So einfach ist das.“
Wer sich glücklich fühlt, wenn er auf andere schießt, zeigt deutlich, wie innerlich leer und tot er selbst bereits ist. Gefühlsregungen sind nur noch unter dem "Kick" von kriegsähnlichen Bedingungen möglich.
Eine solche Aussage erinnert mich auch wieder an einen Bericht, den ich bereits im Nachwort des Grundlagentextes erwähnt habe:
Am 18.10.07 gab es auf dem Sender N-TV eine Dokumentation über den „Terror der RAF“, in der auch der Ex-Terrorist Peter-Jürgen Boock interviewt wurde. Er sagte dort aus, dass der Moment der Schleyer Entführung (damals kamen während der Entführung auch Begleiter von Schleyer ums Leben; Schleyer selbst wurde später umgebracht) und nachdem alles so „glatt gelaufen“ wäre, er sich so lebendig gefühlt habe, wie nie zuvor in seinem Leben. Wenn sich ein Mensch nur mit Hilfe von Terror „lebendig“ fühlen kann, dann sagt das viel über tiefere, emotionale Ursachen seiner Taten aus, die im Kern nichts mit politischen Zielen oder der Zeit usw. zu tun haben, wie ich meine.
Lloyd deMause zitierte in seinem Buch den Gefängnispsychiater James Gilligan, der sein Leben damit verbracht hat, Kriminelle zu analysieren: „Manche Leute glauben, bewaffnete Räuber begehen ihre kriminellen Handlungen, um zu Geld zu kommen. Aber wenn du dich hinsetzt und mit den Leuten redest, die wiederholt solche Verbrechen begehen, ist die Antwort, die du hörst: "Noch nie in meinem Leben wurde mir so viel Respekt erwiesen, als zu dem Zeitpunkt, als ich das erste Mal die Waffe auf jemanden richtete." (vgl. deMause, 2005, S. 110ff)
Die Gefühle, die oben beschrieben werden, müssen dabei im Grund unecht und von ihrem eigentlichen Sinn her entleert und abgetrennt sein.
„sich glücklich fühlen“ = Ich schieße auf Menschen
“sich lebendig fühlen“ = Ich entführe und töte Menschen
„sich respektiert fühlen“ = Menschen mit Waffen bedrohen
Das ist schon ziemlich pervers...
Ich las einmal als Schüler - ich glaube in Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ - von einem Hauptmann, der in etwa sagte: „Ich musste erst in den Krieg ziehen, um mein Leben zu lieben.“ Diese Stelle fällt mir hier wieder ein und sie beschreibt dasselbe Phänomen. Positive Gefühle werden mit Tod, Gewalt und Vernichtung vermischt. Dies erschreckt uns Menschen natürlich. Es wird aber verstehbar, wenn man sich bewusst macht, dass – so nehme ich stark an - einst auch die Eltern der Akteure positive Wörter und Gefühle mit Gewalt vermischten: „Ich schlage Dich und nenne dies Liebe“ usw. usf.
Ganz offensichtlich scheint es den Akteuren auch eine emotionale Befriedigung und Erleichterung zu verschaffen, Gewalt anzuwenden. DeMause hat hier entsprechend den sehr gut passenden Begriff von "Giftcontainern" gewählt. Eigene unerträgliche innere Gefühle von Terror, Angst, Wut usw. all das Destruktive, was auf Grund früher kindlicher Gewalterfahrungen in den Menschen brodelt, wird in diese "Giftcontainer" gepackt; dies verschafft den Akteuren ein (kurzfristiges) "gutes Gefühl".
Ich denke, dass diese Gedanken u.a. sehr gut die beiden vorangegangenen Beiträgen zur "Irrationalität des Krieges" und zum "Gaza Krieg" ergänzen. Kriege müssen im Grundsatz immer auch emotional analysiert werden. Sonst wird sich dem jeweiligen Betrachter kein komplexes Bild der Wirklichkeit offenbaren.
Sehr deutlich wird der Zusammenhang der o.g. Gedanken zur kollektiven Gewalt auch durch folgendes: Als Deutschland Frankreich 1914 den Krieg erklärte, frohlockte eine deutsche Zeitung: "Es ist eine Freude zu leben, Deutschland jubelt vor Glück." (vgl. deMause,L. 2000: Was ist Psychohistorie? Psychosozial-Verlag, Gießen, S. 133)
Nationen sind eben keine "technischen", "rationalen" Gebilde (so wie es die Sozialwissenschaft oft sieht), die für sich stehen. Sie bestehen aus Menschen, die alle eine Psyche und Emotionen haben. Wenn eine Mehrheit dieser Menschen, die eine Nation bilden, als Kind traumatische Erfahrungen machen musste, wird auch das "kollektive Glück" bei einem Kriegseintritt verständlich, so wie es auch für einzelne Mitglieder von Kindergangs und Kriminelle verständlich ist.
Freitag, 9. Januar 2009
Nahostkonflikt: Krieg in Gaza - eine Ursachensuche
Oft sucht dann die Öffentlichkeit nach rationalen Erklärungen. Laut Israels Führung hat die Operation "Gegossenes Blei" zum Ziel, die Hamas entscheidend zu schwächen, wird berichtet. Sicherheit im Süden, das ist das eine „rationale“ Ziel. Darüber hinaus geht es darum, das Image eines starken Landes, das sich gegen jede Anfeindung mit Erfolg wehren kann, wiederherzustellen. (Auch die anstehenden Wahlen werden als Grund genannt. Dazu habe ich mich hier geäußert: "Knessetwahl in Israel als Kriegsgrund?")
Im Ergebnis erreichen sie genau das Gegenteil: Die Extremisten werden mittel- bis langfristig Auftrieb bekommen und das Image von Israel in der Welt ist schwer angekratzt.
Ach ja, in der öffentlichen Debatte wird auch als eine „Logik“ dieser Militäraktion die Abstrafung der palästinensischen Bevölkerung genannt, mit dem Ziel, dass diese sich dann gegen die Hamas auflehnen soll. Nach dem Motto: “Seht her, mein Haus liegt in Trümmern meine Kinder sind verletzt oder tot und wenn Ihr Hamasleute keine Raketen auf Israel abgefeuert hättet, dann wäre dies nicht passiert, also jage ich Euch aus dem Land!“
Man fragt sich, wer ernsthaft eine solche Logik glaubt? Wenn ich wirklich eine Opposition gegen radikale Kräfte stützen will, dann unterstütze ich die zivilen Strukturen und die Bevölkerung. Dann helfe ich ihnen bei dem Aufbau einer lebenswerten Zukunft. Dann stelle ich mich selbst nicht als Feindbild zur Verfügung. Wie soll denn ein Palästinenser Kraft und Mut dazu sammeln, alternative Wege als die der Radikalen zu unterstützen, wenn sein ganzes Leben am Boden liegt und er kriegstraumatisiert in eine ungewisse Zukunft schaut?
Man fragt sich also, ob die Führung überhaupt an Frieden und Sicherheit interessiert ist? Oder ob sie den Konflikt auch für die nächste Generation am Laufen halten will, damit wieder aufeinander geschossen werden kann, damit wieder ein äußerer aktiver Feind bereit steht, damit weiterhin „Giftcontainer“ gefunden werden können?
Eine militärische Operation, die rein zur Verteidigung dient, nennt man wohl kaum „gegossenes Blei“ (übrigens laut Wikipedia - Stand 05.01.2009 - lehnt sich diese Bezeichnung an ein israelisches Kinderlied an, was ich schon mal sehr merkwürdig finde, gerade auch im Kontext dieses Blogs); man spricht nicht von einem „Kampf bis zum bitteren Ende“ (Verteidigungsminister Ehud Barak, vgl. ZEIT-Online, 31.12.2008, „Der Krieg nach dem Krieg“), wenn man „verhältnismäßig“ vorgehen möchte; da Militante wohl kaum damit aufhören werden, Israel regelmäßig mit Raketen zu beschießen, wird es wohl - wenn es nach der Außenministerin geht - kein Ende der Offensive geben; denn Zipi Livni hatte laut einem SPIEGEL-Online Artikel betont, Israel werde die Militäroffensive im Gaza-Streifen so lange weiterführen bis der Beschuss aufhöre (vgl. SPIEGEL-Online, 02.01.2009, Israel rüstet sich für "Tag des Zorns"); dass haufenweise Zivilisten in einem der am dichtesten bevölkertsten Landstriche der Welt getroffen werden, war sagen wir todsicher, die Botschaft des Staates Israel ließ dagegen am 28.12.2008 verlauten, dass es sich beim Großteil der Opfer der gegenwärtigen Militäroperation im Gaza-Streifen ohnehin um Terroristen der Hamas handele. Ein Hohn, wenn man sich im Rückblick vor Augen führt, dass schätzungsweise 1,5 Millionen Tonnen Sprengstoff auf Gaza abgeworfen wurden, das macht pro Kopf der Bewohner eine Tonne! (vgl. Bericht "Eine Tonne Sprengstoff pro Kopf")
An dieser Stelle möchte ich auf einen Text hinweisen, der erschreckende Ansichten und Verhaltensweisen von israelischen Soldaten während der 1. Intifada darstellt: „Wenn israelische Soldaten das Schweigen brechen“ von Dalia Karpe, 21.09.2007 (gekürzte Übersetzung einer akademischen Forschungsstudie von Nofer Ishai-Karen und dem Psychologieprofessor Joel Elzur der hebr. Universität, die im ALPAYIM-Magazin, Vol.31 veröffentlicht wurde). Vier kurze Auszüge:
Ilan Vilenda, ein israelischer Soldat: „Wir - israelische Soldaten - wurden dorthin gebracht, um Palästinenser zu bestrafen. (...) Unser Job war es, sie zu schlagen. Ich persönlich schlug zwei Jungen Ich benützte meine Hände oder den Gummiknüppel. Die erwachsenen Palästinenser schlugen wir stärker. Wir handelten wie Polizisten, aber wir handelten jenseits des Gesetzes.“
Soldat B.: “Es war meine erste Patrouille. Die andern schossen einfach wie verrückt. Ich begann, so wie sie zu schießen. Sie hetzten mich auf. Ich nahm meine Waffe und schoss. Keiner war da, der mir etwas anderes sagte.”
Soldat C: “Die Wahrheit ist, dass ich dieses Chaos liebe - ich habe Spaß daran. Es wirkt wie Drogen. Wenn ich nicht wenigstens einmal die Woche eine Rebellion niederschlagen kann, dann werde ich verrückt.”
Soldat D: “Was großartig ist, ist dass man hier keinen Gesetzen und Regeln folgen muss. Man hat das Gefühl, selbst Gesetz zu sein. Ich kann entscheiden. Wenn man in die besetzten Gebieten geht, ist man wie Gott.”
Hier zeigt sich exemplarisch insbesondere an Hand der Aussagen von C. und D., dass emotionale Gründe im Vordergrund stehen, wenn man sich mit den Akteuren in Ruhe unterhält. Vermutlich wird man in einigen Jahren ähnliche Aussagen von israelischen SoldatInnen bekommen, wenn man diese rückblickend zu ihrem Einsatz in Gaza befragt.
Man fragt sich was wohl die Führung bei ihrer Entscheidung zur aktuellen militärischen Aktion gefühlt hat? Meines Wissens nach werden Führungspolitiker von JournalistInnen selten oder nie nach ihren Gefühlen gefragt, was eine erhebliche Lücke darstellt. „Herr George W. Bush, was fühlten Sie, als sie den Befehl zum Angriff auf den Irak gaben?“ „Herr Ehud Olmert, was fühlten Sie, als Sie ihre Zustimmung zur Operation gegen die Hamas gaben?“ Nun sind Politiker Vollprofis und antworten vielleicht nicht so direkt, wie einfache Soldaten. Trotzdem wäre eine solche Fragestellung und die Reaktion interessant. Wenn dann z.B. als Antwort käme, „ich fühlte gar nichts“, dann wäre das auch eine sehr aussagekräftige Antwort.
Oft heißt es, bei einem Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Ich würde sagen, dass zuerst der rationale Verstand und das Mitgefühl stirbt und dann eine kollektiv psychotische Episode folgt.
Es gibt bei Kriegen eigentlich immer drei entscheidende Punkte, die das ganze schon vor der Offensive zur Niederlage machen.
1. Es werden insbesondere auch Kinder (die nächste Generation) traumatisiert.
2. Es sterben Zivilisten, was den Hass auf den Angreifer und den Extremismus nährt.
3. Eine Generation von jungen SoldatInnen wird durch die Kriegshandlungen traumatisiert und brutalisiert. Ihre Taten, Erlebnisse und Gefühle nehmen sie mit zurück in Ihre Heimat und in ihre Familien.
Hier noch einige kurze aussagekräftige Positionen zum Nachdenken:
Eyad al-Sarat (Leiter der einzigen Psychiatrie in Gaza) macht sich Sorgen - nicht nur wegen der aktuellen Situation, sondern auch wegen dem, was die gegenwärtigen Erfahrungen der Kinder im Gaza-Streifen in der Zukunft auslösen könnten. Denn die Kinder erlebten sehr bewusst mit, dass niemand ihre Sicherheit garantieren könne, nicht einmal die eigenen Väter. Das mache sie anfällig dafür, später radikaler Rhetorik anheimzufallen. "So schafft man neue Extremisten", sagt der Arzt. "Das ist Israels größter Fehler." (vgl. SPIEGEL-Online,
29.12.2008, „Jeder hat nur noch Angst“)
"Am letzten Abend war ich eingeladen bei einer Familie mit einer siebenjährigen Tochter. Die sagte zu mir: »Wirst du denn auch jüdische Menschen treffen, wenn du jetzt ausreist?« Und da habe ich gesagt: »Selbstverständlich.« Dann fragte sie, ob ich denn da keine Angst hätte. Ich habe geantwortet: »Nein, es sind ja nicht alle Menschen in Israel solche, die euch vernichten wollen oder euch angreifen.« Das hat sie mir nicht geglaubt." Dr. Ralf Syring nach einem Besuch im zerstörten Gaza-Streifen.
Auf den Hinweis eines SPIEGEL Redakteurs, dass Israel die Raketenüberfälle von islamistischen Freischärlern ein für allemal beenden wolle antwortete der ehemalige UNO-Generalsekretär Butros Ghali: „Was das Militär jetzt tut, richtet hundertfachen Schaden an, mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Region, natürlich auch für die Israelis.“ und an einer anderen Stelle sagte er: „Schon jetzt steht fest, dass der israelische Angriff auf Gaza eine Katastrophe ist. Diese Militäroperation verschafft den Fundamentalisten Auftrieb - nicht nur in Palästina, sondern auch in allen anderen arabischen Ländern. Ich wundere mich, dass Israel das nicht gemerkt hat.„ (SPIEGEL-Online, 03.01.2009, "Israel ignoriert die Tatsachen")
Die Rufe nach Frieden in der israelischen Bevölkerung sind laut aktuellen Berichten bisher sehr leise. Doch ausgerechnet 500 Bewohner des Städtchens Sderot haben eine Petition unterschrieben, in der die Armee aufgefordert wird, ihre Operationen im Gaza-Streifen einzustellen und den Waffenstillstand zu erneuern. Sderot ist nah am Gaza-Streifen gelegen und der Ort, der am häufigsten von den Raketen palästinensischer Militanter getroffen wird. Denn eine militärische Operation, so Arik Yalin (der die Bürgerbewegung ins Leben gerufen hat), werde nur den Hass auf beiden Seiten vertiefen. (SPEIEGL-Online, 30.12.2008, "Es wurde höchste Zeit, dass Israel zurückschlägt")
Diese o.g. Positionen sind für jeden nachvollziehbar und derart offensichtlich, dass man Israels Aktion – trotz des regelmäßigen Beschusses durch Raketen - als irrational bezeichnen muss! Das Unverständnis mit dem man als Mensch vor einem Krieg steht, ist wirklich berechtigt. Krieg ist in der Tiefe rational nicht zu erklären. Emotionale Gründe und Störungen scheinen hier zu dominieren und zwar sowohl bei den Palästinensern als auch bei den Israelis.
DeMause zeichnet ein eindrückliches Bild von der elterlichen Gewalt gegen Kinder in islamisch, fundamentalistischen Familien und Gesellschaften und betont die weite Verbreitung von sexuellem Missbrauch in Palästina. (vgl. deMause, 2005, S. 40)
Laut UNICEF erleben in Palästina nur 5 % der Kinder keine Gewalt (damit ist dieses Land "Spitzenreiter" im UNICEF Report), 70 % erleben psychische und körperliche Gewalt, 23 % erleben nur psychische Gewalt und 2 % nur körperliche Gewalt. Die Gewalt geht dabei häufig von nahen Bezugspersonen der Kinder aus. (diese Info wurde am 16.10.09 nachgetragen, vgl. UNICEF, September 2009: Progress for Children - A Report Card on Child Protection, S. 8)
Im Grundlagentext schrieb ich bereits unter Bezug auf eine Quelle aus dem Jahr 2003:
Die palästinensischen Kinder sind einer ständigen Angst ausgesetzt. Sie werden Zeugen der Bombardements und des panikartigen Verhaltens ihrer Eltern. Das Ergebnis dieser Situation ist, dass 40 % der Kinder glauben, ihre Eltern könnten sie nicht mehr schützen. Von 3.000 befragten Heranwachsenden bestätigten außerdem 55 %, dass sie hilflose Zeugen waren, wie ihr Vater von israelischen Soldaten geschlagen wurde. Fast 32 % der Kinder haben starke posttraumatische Störungen. Von 945 untersuchten Kindern litten alle an einem direkten oder indirekten Trauma sowie den Folgen posttraumatischer Störungen (vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung, 2003, S.51ff) „Besonders beunruhigend ist, dass 24 % der palästinensischen Kinder davon träumen als Märtyrer zu sterben, also Selbstmordattentäter zu werden. Das ist beängstigend, denn jeder Selbstmordattentäter von heute ist ein Kind der ersten Intifada. Und wenn die Kinder der ersten Intifada schon so traumatisiert sind, dass allein 24 % von ihnen Märtyrer werden wollen, dann kann man sich vorstellen, was für zukünftige Politiker, Lehrer und Richter wir in diesem Land haben werden.“ (ebd., S.55) (Interessant wäre es, die palästinensischen Kinder zusätzlich zu Gewalterfahrungen in ihren Familien zu befragen und evtl. Zusammenhänge zwischen kumulierten traumatischen Erfahrungen und eigenen Gewaltfantasien und –handlungen herauszufinden.)
Auch folgende Zahlen machen deutlich, wie sehr hier psychische Störungen auf beiden Seiten das Fundament des Konfliktes sind: Laut einer Untersuchung an der Universität Tel Aviv sind 70% der palästinensischen Jugendlichen und 30 % der Kinder israelischer Siedler wegen dem Nahost-Konflikt traumatisiert (645 jüdische Israelis und 552 arabisch-palästinensische Jugendliche wurden befragt). (vgl. National Zeitung und Baseler Nachrichten, 03.07.2002, „Die Gewalt im Nahen Osten zerfrisst die Seelen der Kinder“)
Gemäß einer Studie leiden beinahe die Hälfte der israelischen Eltern und ein Drittel der Kinder in Sderot an post-traumatischem Stress. (vgl. Artikel von Eli Ashkenazi und Auszüge aus einem Artikel von Amos Harel, Ha’aretz, 13.06.2006, „Kassam-Beschuss:
Kinder in Sderot leiden an post-traumatischem Stress“)
Für die israelische Seite fand ich aussagekräftige Zahlen zum sexuellen Missbrauch an Kindern. Im Jahr 2007 gab es in Israel über 41.000 Missbrauchsfälle (Hellfeld), die zur Anzeige gelangten - 1997 waren es noch 21.000. (vgl. Jüdische Zeitung, Oktober 2008, „Rose Pizems Nachlass. Die Zahl der Kindesmisshandlungen in Israel ist drastisch gestiegen“) Die israelische Bevölkerung umfasste 2007 insgesamt 6.426.679 Menschen. Dazu mal ein Vergleich: Im Jahr 2005 kamen in Deutschland 17.526 Fälle von sexuellem Missbrauch zur Anzeige. Die deutsche Bevölkerung umfasste im selben Jahr 82.431.390 Menschen. Israel hat im Verhältnis zu Deutschland 7,8 % Einwohner und dabei 134 % mehr Missbrauchsfälle. Eine erschreckend hohe Zahl (auch wenn man die Zahlen aus dem Jahr 1997 zu Grunde legt und ins Verhältnis setzt)! Man bedenke an dieser Stelle auch, dass hinter jedem „Hellfeldfall“ ein vielfaches an Dunkelfeld steht. Es verwundert also kaum, dass nach einer Dunkelfeldstudie von Schein et al. (2000) 31% der befragten israelischen Frauen über eine Form von sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit berichten. Von den in der Studie befragten Männern gaben 16 % an, sexuell missbraucht worden zu sein.(Insgesamt wurden 1.242 Personen befragt) (vgl. Pagovich, O. 2004: Israel. In: Malley-Morrison, K. (Hrsg.): International Perspectives on Family Violence and Abuse. A Cognitive Ecological Approach. Routledge, S. 192)
Außerdem wird auf Grundlage von angezeigten Fällen geschätzt, dass von den ca. 2 Millionen israelischen Kindern 300.000 (also 15 %) gefährdet sind, Kindesmisshandlung zu erleben. (ebd.) Einer Studie von Sternberg & Krispin (1993) nach erlebten 30 % (33 von 110) der befragten israelischen Kinder körperliche Misshandlungen durch ihre Eltern innerhalb von 6 Monaten vor der Befragung. (ebd.)
Es sind zusammengefasst also zwei wesentliche tiefere Ursachen des Konfliktes sehr wahrscheinlich: Das hohe Ausmaß an Gewalt gegen Kinder und die hohe Traumatisierungsrate der Menschen durch das Kriegsgeschehen auf beiden Seiten. Somit kann der Konflikt aus meiner Sicht langfristig nur gelöst werden, wenn die Gewalt gegen Kinder erheblich reduziert wird und wenn traumatisierten Menschen systematisch und umfassend psychologische Hilfe zu Teil wird. Ein nachhaltiger Frieden ist immer ein innerer Prozess, kein äußerlicher, keiner durch Macht und Gewalt „gesicherter“.
"Die Armee kommt in Israel gleich nach Gott.", sagt eine Aktivistin von "Machsom Watch". Bereits Kinder würden dazu erzogen, den Armeedienst hochzustilisieren. Der Armeedienst in Israel sei das wichtigste gesellschaftliche Übergangsritual und würde zu einer starken Militarisierung der jüdischen Gesellschaft führen. (in Israel verrichten Frauen 2 Jahre und Männer 3 Jahre den Militärdienst.) (vgl. Jüdische Zeitung, September 2008, „Wir sind in Israel die Ausgestoßenen.“; ergänzend Homepage von Machsom Watch)
Ich denke, dass die israelische Gesellschaft auch hier umdenken und mehr an einer zivilen Gesellschaft arbeiten sollte. An dieser Stelle sei auch an das Kapitel 5. im Grundlagentext erinnert.
Im Übrigen frage ich mich, ob man dem israelischen Volk nicht vermitteln kann, dass – wenn man es mal ganz kalt und rechnerisch betrachtete – seit 2000 bei den Raketenangriffen der Hamas auf israelische Städte 22 Menschen starben (vgl. SPIEGEL-Online, 09.01.2009, „Israel trotzt der Uno - Gaza-Krieg geht weiter“), ca. 3 pro Jahr und dass man bei allem Verständnis für das seelische Leid der Bevölkerung nicht bereit ist, kriegerisch zu reagieren (im Zeitraum 27.12.2008 bis 09.01.2009 wurden übrigens nach palästinensischen Angaben 780 Palästinenser durch israelische Angriffe getötet. vgl. ebd.)?
Ich komme erneut zu dem Schluss, dass die israelische Reaktion irrational begründet zu sein schein. Sie macht einfach keinen Sinn. Man muss hier also vielmehr nach den emotionalen (unbewussten) Motiven suchen.
Ich frage mich, was passieren würde, wenn beide Seiten keine klaren Feindbilder mehr hätte? Könnten Sie überhaupt ohne Feind existieren? Wie sagte noch Soldat C.: „Wenn ich nicht wenigstens einmal die Woche eine Rebellion niederschlagen kann, dann werde ich verrückt.“
Hinweis: Diesen Beitrag habe ich um einige wichtige Informationen ergänzt, denn ganz offensichtlich gab es auch alternative Wege, den Beschuss zu stoppen. Lesen kann man diese hier.
Dienstag, 16. Dezember 2008
Die Irrationalität des Krieges
Die Irrationalität des Krieges lässt sich aktuell sehr gut am Beispiel des Irakfeldzuges festmachen. Dazu vorweg einige Informationen:
Ein Untersuchungsbericht vom November 2006 erstellt von einer Gruppe von Fachleuten genannt „Mental Health Advisory Team" schildert folgendes: „Geradezu erschreckende Resultate förderten die Militärpsychologen im Hinblick auf die ethisch-moralischen Einstellungsmuster der US-Soldaten am Golf zutage. Weit weniger als die Hälfte der Befragten stimmten der Aussage zu, dass die Zivilbevölkerung mit Würde und Respekt zu behandeln sei. Dagegen meinten mehr als vierzig Prozent, dass Folter erlaubt sein sollte, wenn das Leben von Kameraden auf dem Spiel stehe oder wenn es schlicht darum gehe, Informationen zu gewinnen. (...) Immerhin zehn Prozent gaben zu, eigenhändig irakische Zivilisten auf die ein oder andere Weise misshandelt zu haben. Diese Ergebnisse bestätigen Aussagen von englischen Offizieren, die bereits vor geraumer Zeit moniert hatten, das US-Militär würde die Iraker als "Untermenschen" behandeln. Wohlgemerkt: die Briten gebrauchten tatsächlich den deutschen Originalbegriff. (...)“ (NDR Info, „Streitkräfte und Strategien“ (Sendereihe), 25.08.2007: „Überfordert in asymmetrischen Konflikten? US-Soldaten im zermürbenden Kampf gegen Aufständische „Gastbeitrag von Dipl. Päd. Jürgen Rose (Oberstleutnant der Bundeswehr) http://www.bits.de/public/gast/07rose-02.htm)
In einem Einzelbericht des ehemaligen Obergefreiten Joshua Key (Buch "Ich bin ein Deserteur") heißt es: „In den Augen unserer Armee waren die Iraker keine Menschen, sondern Terroristen, Selbstmordattentäter, Sandnigger und Lumpenköpfe. Wir mussten sie geringer achten als Menschen, um überhaupt zu unseren Taten fähig zu sein. In der Militärausbildung brachte man uns bei, die Iraker als minderwertig zu betrachten, und diese Haltung überquerte mit uns die Meere, als wir in den Kampfeinsatz flogen“ (ebd.)Er macht dafür vor allem Defizite in der Ausbildung verantwortlich. Den Rekruten werde jede Regung von Mitmenschlichkeit ausgetrieben. Sie würden zu bedingungslos funktionierenden Kampfrobotern gedrillt.
Die vorsichtige Prognose des Ökonomen und Nobelpreisträgers Joseph Stiglitz lautet: Angenommen die US-Truppen ziehen sich bis 2012 schrittweise zurück, dann kostet zum Beispiel der weitere Militäreinsatz inklusive Milliardensummen für versehrte Veteranen und Zinsen für Kriegskredite: Insgesamt drei Billionen US-Dollar (vgl. ARD-Magazin „Monitor“, 13.03.2008) Man führe sich diese Summe vor Augen: 3.000.000.000.000 Dollar! (Mit dieser Summe könnte man z.B. auf einen Schlag die gesamte Staatsverschuldung Deutschlands tilgen und hätte immer noch ca. 1,5 Billionen über)
"Wenn man uns vorwirft, dass wir nur die Kosten addieren und nicht den Nutzen einberechnen, dann stimmt das", sagt Stiglitz, "aber es fällt mir schwer, überhaupt Nutzen zu erkennen." Auch die Vorhaltung, man ziehe ja schließlich nicht mit einer fertigen Kostenrechnung in den Krieg, will der Nobelpreisträger nicht gelten lassen: "Es war keine Antwort auf einen Überraschungsangriff wie Pearl Harbor, sondern ein selbst gewählter Krieg, ein präventiver Krieg. Da gehört es zu den demokratischen Spielregeln, offen zu sagen, mit welchen Kosten man rechnen muss." (ZEIT-Online, 26.02.2008, "Der Drei-Billionen-Krieg", http://www.zeit.de/online/2008/09/stiglitz-irakkrieg-kosten?page=2)
Ein Tagesschaubericht vom 31.10.2006 stellt die Kosten so dar: Der Irak-Krieg kostet zwei Milliarden Dollar pro Woche (http://www.tagesschau.de/ausland/meldung91602.html) Berechnet wurden hier offensichtlich nur direkte Kosten.
Diese enormen Ausgaben sind für die USA nie wieder durch Ausbeutung des Irak "reinzuholen". Es ging also nie um ökonomische Gründe!
Ein Team um Gilbert Burnham von der Johns Hopkins School of Medicine im amerikanischen Baltimore hat errechnet, dass zwischen März 2003 und Sommer 2006 im Irak 654965 Menschen an Kriegsfolgen ums Leben kamen. Das wären etwa 600 Todesopfer an jedem Tag. Diese aus Umfragen und Hochrechnungen ermittelte Zahl würde bedeuten, dass 2,5 Prozent der irakischen Bevölkerung seit Kriegsbeginn gestorben sind. Die Forscher hatten in den 16 Regierungsbezirken des Irak 50 Regionen zufällig ausgewählt und dort die Zahl der gewaltsamen Todesfälle erhoben. Dazu wurden fast 13.000 Menschen befragt, ob Familienmitglieder umgekommen seien, und Totenscheine eingesehen. (sueddeutsche.de, 11.01.2007, "600 Tote pro Tag", http://www.sueddeutsche.de/politik/205/362027/text/)
Die Befreiung und der Schutz des irakischen Volkes sind hier offensichtlich auch nicht die Gründe für den Feldzug. Was logisch ist, da ein Feldzug an sich nie die Bevölkerung schützen kann, sondern diese erfahrungsgemäß weit mehr schädigt, als die militärischen Akteure.
Ich fand es - nebenbei bemerkt - auch immer sehr erschreckend, wie Bunker, Paläste usw. im Irak eifrig aus der Luft bombardiert wurden, mit dem Ziel, mögliche Waffenlager auch von Massenvernichtungswaffen zu zerstören. Öffentlich war sich die US-Regierung ja sicher, dass der Irak solche Waffen hatte, auch wenn dies nicht der Wahrheit entsprach, wie wir heute wissen. Wenn aber auch nur eine gewisse Chance bestand, dass dort wirklich entsprechende Waffen hätten lagern können, entschuldigung: Dann widerspricht es jeder Logik, diese Stellungen anzugreifen! Denn die Folgen vor Ort für die dortige Bevölkerung wären verheerend gewesen, wenn dort z.B. nukleare Stoffe und andere extreme Gifte in die Umwelt gelangt wären. Auf solche Weise schafft man sich keinen Rückhalt bei dem irakischen Volk, sondern signalisiert nur, wie egal einem Menschenleben sind.
Solche Berichte enthüllen also exemplarisch wesentliche Aspekte, die mir bzgl. des Irakkrieges durch den Kopf gehen:
Soldaten, die logischerweise (durch extreme, systematische Belastungen in der Rekrutenzeit wie es die USA praktiziert) zum Töten ausgebildet werden, können keinen Frieden stiften und Aufbauhilfe leisten. Letzteres ist in ihrer Ausbildung gar nicht vorgesehen. Das ist eine eigentlich ganz banale Feststellung. Wenn die USA behaupten, sie hätten das irakische Volk befreien wollen (US-Präsident Bush erklärt am 20.03.2003 in einer Fernsehansprache, die militärische Operation zur "Entwaffnung Iraks und zur Befreiung seines Volkes" habe begonnen - siehe Artikel: "Chronik eines angekündigten Krieges"), kann man nicht mal mehr lachen.
Die psychohistorische Forschung weist darauf hin, dass Kriege im Grundsatz nicht aus rationalen Gründen („Wir brauchen Öl, also überfallen wir den Irak“) entstehen, sondern hier emotionale (vor allem unbewusste) Gründe überwiegen. Die obigen Berichte zeigen, dass es eigentlich um das Opfern von Menschen – in diesem Fall insbesondere von dem irakischen Volk, aber auch von den eigenen jungen US-Soldaten – geht. Es geht um das Finden von „Giftcontainern“ für eigene unerträglich (Kindheits-)Traumatisierungen, um sich zu erleichtern (siehe dazu ausführlich deMause, 2005). Lloyd deMause schreibt: „Die gesamte Lehrmeinung der rationalen Entscheidungen der Kriegstheoretiker, alle, die behaupten, Nutzen sei das ultimative Motiv für Krieg, scheitern an den extensiven empirischen Forschungsarbeiten der letzten Jahre über Hunderte von Kriegen, die übereinstimmend zeigen, dass Kriege destruktiv und nicht etwa nützlich sind; dass diejenigen, die einen Krieg beginnen, diesen normalerweise verlieren; und dass Führer, die Kriege ausrufen, sich nie darüber Gedanken machen, ob die Gewinne die Kosten übersteigen. (...) In Vietnam kostete Amerika die Tötung jedes feindlichen Soldaten mehrere hunderttausend Dollar; auch die heutige Welt gibt für Kriegszwecke und zur Erhaltung der militärischen Kräfte jedes Jahr Milliarden von Dollar aus, weit mehr, als durch einen Krieg eingenommen werden könnte. (...) Meine jahrzehntelange Untersuchung von Führeransprachen, die Nationen mitteilten, sie würden in den Krieg ziehen, weist nicht eine auf, wo durch diese Aktion materielle Vorteile versprochen worden wären. Führer versprechen „Opfer“, und nicht Gewinn.“ (deMause, 2005, S. 111)
Ich meine, dass die klassischen Kriegstheoretiker zukünftig über den Tellerrand schauen müssen und das Gebot der Stunde ist, sich mal mit den psychohistorischen Thesen zu beschäftigen!
Freitag, 12. Dezember 2008
Historische Kindererziehungspraktiken und Persönlichkeiten
gekürzte Beschreibung:
1a. Früher Infantizidmodus (Schizoide Psychoklasse); Zeit: Tribalismus, Banden und Stämme:
Primitive Elternschaft; sehr wenig Empathie für das Kind; Vater ist grundsätzlich in den ersten Jahren emotional abwesend; offener Inzest; Kindesvergewaltigungen; sehr häufig Kindestötungen; Körperverstümmelungen; Folterungen; emotionale Verstoßung; die Folgen sind zersplitterte Persönlichkeiten, vollkommen unfähig, sich selbst zu lieben; Schizoide können keine engen Beziehungen aushalten und sind folglich nicht in der Lage, höhere Stufen sozialer Organisation, die auf Vertrauen basieren, zu bilden.
1b. Später Infantizidmodus (Narzisstische Psychoklasse); Zeit: Altertum/Antike; von Königtümern bis zu frühen Staaten:
Kindestötungen immer noch häufig, ebenso sind Kindervergewaltigungen weiter Routine; allerdings wird das junge Kind nicht mehr so offen von der Mutter zurückgewiesen und der Vater fängt an, sich mehr mit Anleitungen des älteren Kindes zu beschäftigen; einengende Methoden wie das straffe Einwickeln vom Kleinkind finden Verbreitung, ebenso die Institutionalisierung von Fürsorge in Form von z.B. Ammen, In-Pflege-Geben, Verwendung von Kindern anderer als Sklaven und Diener usw.; das Verprügeln von Kindern ist weniger impulsiv und wird mehr als Disziplinierung verwendet.
2. Verstoßender Modus (Masochistische Psychoklasse); Zeit: Christentum, ab dem 1.Jahrhundert
Ausgehend vom Christentum bringen mehr Eltern ihre Kinder nicht um, sondern verstoßen sie, sowohl emotional als auch durch Weggeben zu Ammen, in Klöster usw.; vom Kind dachte man, es sei voll von Bösen auf die Welt gekommen und so wurde früher und härter geschlagen; vorherrschend war weiterhin eine missbrauchende Kinderfürsorge; jedoch konnten die frühen Christen zum ersten mal in der Geschichte hoffen, von ihren Müttern ein Stück weit geliebt zu werden, wenn sie diesen ihre (masochistischen) Leiden zeigten und deren Mitgefühl erregten.
3. Ambivalenter Modus (Borderline Psychoklasse); Zeit: Mittelalter, ab 12. Jh.:
Die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung von Ambivalenz - Liebe und Hass - gegenüber Kindern ist ein großer Fortschritt in diesem Modus (die ersten Schritte in Richtung Unabhängigkeitsrechte für Kinder); weniger Kinder wurden verstoßen, Gesetze gegen Kindervergewaltigung in Erwägung gezogen, die ersten Kinderschutzgesetze erlassen und die Schulbildung und Kindermedizin erweitert; die meisten Mütter weisen ihre Kinder aber immer noch zurück; das Kind wurde als weniger von Geburt an sündig und böse gesehen; die Verbesserung der Kindererziehung in diesem Modus erlaubte die Entdeckung des Individuums, nach deMause kam der technische und gesellschaftliche Forschschritt dieser Zeit wesentlich durch diese Verbesserungen in Gang.
4. Aufdringlicher Modus (Depressive Psychoklasse); Zeit: Renaissance, ab 16. Jh.: Das straffe Wickeln von Kleinkindern ging zurück, ebenso das Verprügeln und Vergewaltigen; die Wohlhabenden fingen an, ihre Kinder selbst aufzuziehen und erlaubten sich emotionale Bindungen an das Kind; speziell in England (zugleich am fortschrittlichsten entwickelte sich auch die Kindererziehung in Frankreich) wurde versucht, das Wachstum von Kindern nicht mehr zu unterbinden, sondern dieses zu kontrollieren und das Kind gehorsam zu machen; es gab eine aufdringliche Überkontrolle; die Eltern kamen ihren Kindern aber näher und schenkten ihnen mehr Aufmerksamkeit; es gab getrennte Kinderbetten und Lebensweisen; Empathie setzte mit diesem Modus ein, das daraus folgende "Heilen von Dissoziation" und die Zunahme von Individuation brachte nach deMause die religiösen, wissenschaftlichen, politischen und ökonomischen Revolutionen der Zeit hervor; da die Mehrheit der Bevölkerung in Europa allerdings weiterhin aus früheren Psychoklassen bestand, antworteten diese mit Gewalt auf den großen gesellschaftlichen Fortschritt. "Historiker waren lange verwundert darüber, dass in den fortschrittlichsten Jahrhunderten eine Epidemie der Hexerei ausbrach, wenn man aber die Manie als Reaktion auf Wachstumspanik betrachtet, wird dies nachvollziehbar." (deMause, 2005, S. 299)
5. Sozialisierender Modus (Neurotische Psychoklasse); Zeit: Moderne, ab 18.Jh.:
Die Kinderzahl sank bei den meisten Eltern auf auf drei oder vier, weil die Eltern mehr in der Lage sein wollten, ihren Kindern mehr Pflege zuteil werden zu lassen; die elterliche Absicht war weiterhin, den Kindern ihre eigenen Ziele aufzudrücken, insbesondere geschah dies durch psychologische Manipulation und weiterhin auch durch körperliche Gewalt gegen kleine Kinder; das sozialisierte Kind besaß wesentlich mehr Freiheit und Respekt als das in jedem vorausgegangenen Modus; Mütter fingen an, die Fürsorge für die Kinder zu genießen und selbst die Väter begannen, mit den Kindern zu spielen und brachten ihnen Dinge bei; "Der sozialisierende Modus hat die moderne industrialisierte Welt geschaffen und ihre neuen Werte des Nationalismus und der Demokratie repräsentieren die sozialen Modelle der meisten Menschen heute, weil das Ende des Kinderprügelns der sozialisierten Persönlichkeit erlaubt, ihrem Bedarf, sich an einen autoritären Führer zu klammern, zu reduzieren." (deMause, 2005, S. 187)
6. Helfender Modus (Individualisierte Psychoklasse); Zeit: Postmoderne, ab 20. Jh.: Die hauptsächliche Rolle der Eltern besteht in der Hilfestellung für das Kind in jeder Altersstufe, was viel Aufwand, Zeit und Energie bedeutet; das erste mal sind Kinder für die Eltern keine schwierige Aufgabe mehr, sondern eine Freude; sowohl Mutter als auch Vater sind vom Säuglingsalter an gleichwertig mit dem Kind befasst und helfen diesem, eine autonome, selbstbestimmte Person zu werden; die Kinder werden bedingungslos geliebt und werden nicht geschlagen; wenn Eltern unter Stress Fehler begehen und ihre Kinder z.B. anbrüllen, entschuldigen sie sich danach bei ihnen; diese so behandelten Kinder sind wesentlich empathischer gegenüber anderen Menschen in der Gesellschaft als frühere Generationen; "Es ist keine Frage, dass, würde die Welt Kinder nach dem helfenden Modus großziehen, Kriege und alle anderen selbstdestruktiven sozialen Bedingungen, unter denen wir im 21.Jahrhundert immer noch leiden, getilgt sein würden, weil die Welt einfach mit individualisierten Persönlichkeiten gefüllt sein würde, die empathisch gegenüber anderen und nicht selbstdestruktiv wären." (ebd., S. 305)
Diese vorgestellten Kindererziehungsmodi sind laut deMause durch fünf historische Studien und über 100 wissenschaftliche Artikel im Journal of Psychohistory bestätigt worden. (Wie ich in einem Text hier herausgestellt habe, könnte zur Unterstützung dieser Thesen auch die bedeutende Studie von Philippe Aries herangezogen werden, die leider oftmals als gegensätzlich zu deMause dargestellt wird) Heute existieren auch in modernen Nationen Eltern aus allen sechs Kindererziehungsmodi nebeneinander, was gewaltige Konflikte ergeben kann. Die meisten destruktiven Konflikte auf der Welt sind demnach im Grunde "Psychoklassenkonflikte".
Eine Tabelle unter wikipedia.org zeigt die Verteilung der "Psychoklassen" (Tabelle entnommen aus http://en.wikipedia.org/wiki/Psychohistory, ursprüngliche Quelle: DeMause, L. 1982: Foundations of Psychohistory. Creative Roots Publishing. S. 61 + 132–146. (Persönlicher Hinweis: Da diese Tabelle Anfang der 80er Jahre von deMause erstellt wurde, dürfte sich die Verteilung im letzten Abschnitt mittlerweile etwas verändert haben. Schließlich hat sich innerhalb der letzten 30 Jahre enorm viel zu Gunsten von Kindern entwickelt.)
Die Evolution von Psyche und Gesellschaft - folgend dem o.g. idealtypischen Muster - ging laut der psychogenen Theorie in der Geschichte hauptsächlich von sich veränderten Kindererziehungspraktiken aus. Die Vaterrolle ist dabei historisch betrachtet eine sehr späte Erfindung (der Moderne). Frauen (Großmütter, Tanten, Ammen, Dienerinnen usw.) bzw. Mütter waren hauptsächlich für die Kindererziehung verantwortlich. Demnach postuliert nur diese Theorie, dass für den größten Teil der Geschichte Frauen die wesentliche Ursache historischer Veränderungen und von sozialem Forschritt sind. (ebd. S. 177, S. 218) "Was wie ein Wunder scheint, (...) ist, dass Mütter über die gesamte Geschichte hindurch langsam und erfolgreich, ohne große Hilfe von anderen, gegen ihre Angst und ihren Hass ankämpften und es ihnen gelungen ist, die liebende und empathische Kindererziehung zu entwickeln, welche wir heute bei vielen Familien rund um die Welt finden können." (ebd., S. 218)
deMause, L.2005: Das emotionale Leben der Nationen. Drava Verlag, Klagenfurt/Celovec.
Dienstag, 9. Dezember 2008
Astrid Lindgrens Position: "Niemals Gewalt"
"Im Jahre 1978 erhielt Astrid Lindgren den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Ihre Rede sorgte schon vor der Verleihung für einen Eklat, weil die Verantwortlichen nach der Lektüre des Manuskripts sagten, sie solle den Preis "kurz und gut" ohne Rede entgegennehmen. Astrid Lindgren ließ sich darauf nicht ein, drohte mit Verzicht und durfte doch noch in Frankfurt am Main sprechen. In einer Zeit, da die Diskussion um neue Waffensysteme die Öffentlichkeit beherrschte und das Wettrüsten nicht zu stoppen schien, stellte sie ihre Rede unter die Überschrift "Niemals Gewalt" "
Auszug aus dem Artikel "Kinder an die Macht" erschienen in der Berliner Zeitung vom 29.02.2002
Die komplette Rede fand ich bei der ZEIT veröffentlicht am 13.11.2007 hier . Die für mich wichtigsten Auszüge habe ich nachfolgend zusammengestellt:
"(...) Ich glaube, wir müssen von Grund auf beginnen. Bei den Kindern. Sie, meine Freunde, haben Ihren Friedenspreis einer Kinderbuchautorin verliehen, und da werden Sie kaum weite politische Ausblicke oder Vorschläge zur Lösung internationaler Probleme erwarten. Ich möchte zu Ihnen über die Kinder sprechen. Über meine Sorge um sie und meine Hoffnungen für sie. Die jetzt Kinder sind, werden ja einst die Geschäfte unserer Welt übernehmen, sofern dann noch etwas von ihr übrig ist. Sie sind es, die über Krieg und Frieden bestimmen werden und darüber, in was für einer Gesellschaft sie leben wollen. In einer, wo die Gewalt nur ständig weiterwächst, oder in einer, wo die Menschen in Frieden und Eintracht miteinander leben wollen. Gibt es auch nur die geringste Hoffnung darauf, dass die heutigen Kinder dereinst eine friedlichere Welt aufbauen werden, als wir es vermocht haben? Und warum ist uns dies trotz allen guten Willens so schlecht gelungen? (...)
In keinem neugeborenen Kind schlummert ein Samenkorn, aus dem zwangsläufig Gutes oder Böses sprießt. Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun. "Überall lernt man nur von dem, den man liebt", hat Goethe einmal gesagt, und dann muss es wohl wahr sein. Ein Kind, das von seinen Eltern liebevoll behandelt wird und das seine Eltern liebt, gewinnt dadurch ein liebevolles Verhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt diese Grundeinstellung sein Leben lang. Und das ist auch dann gut, wenn das Kind später nicht zu denen gehört, die das Schicksal der Welt lenken.
Sollte das Kind aber wider Erwarten eines Tages doch zu diesen Mächtigen gehören, dann ist es für uns alle ein Glück, wenn seine Grundhaltung durch Liebe geprägt worden ist und nicht durch Gewalt. Auch künftige Staatsmänner und Politiker werden zu Charakteren geformt, noch bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben - das ist erschreckend, aber es ist wahr. Blicken wir nun einmal zurück auf die Methoden der Kindererziehung früherer Zeiten. Ging es dabei nicht allzu häufig darum, den Willen des Kindes mit Gewalt, sei sie physischer oder psychischer Art, zu brechen? Wie viele Kinder haben ihren ersten Unterricht in Gewalt "von denen, die man liebt", nämlich von den eigenen Eltern erhalten und dieses Wissen dann der nächsten Generation weitergegeben!
Und so ging es fort. "Wer die Rute schont, verdirbt den Knaben", heißt es schon im Alten Testament, und daran haben durch die Jahrhunderte viele Väter und Mütter geglaubt. Sie haben fleißig die Rute geschwungen und das Liebe genannt. Wie aber war denn nun die Kindheit aller dieser wirklich "verdorbenen Knaben", von denen es zurzeit so viele auf der Welt gibt, dieser Diktatoren, Tyrannen und Unterdrücker, dieser Menschenschinder? Dem sollte man einmal nachgehen. Ich bin überzeugt davon, dass wir bei den meisten von ihnen auf einen tyrannischen Erzieher stoßen würden, der mit einer Rute hinter ihnen stand, ob sie nun aus Holz war oder im Demütigen, Kränken, Bloßstellen, Angstmachen bestand. In den vielen von Hass geprägten Kindheitsschilderungen der Literatur wimmelt es von solchen häuslichen Tyrannen, die ihre Kinder durch Furcht und Schrecken zu Gehorsam und Unterwerfung gezwungen und dadurch für das Leben mehr oder weniger verdorben haben. (...)"
Das ein Mensch wie Astrid Lindgren so deutlich fühlt, wo die tieferen Ursachen für die Destruktivität in der Welt zu suchen sind, verwundert eigentlich kaum. Mich persönlich hat das Lesen dieser Rede aus dem Jahr 1978 nochmal sehr motiviert bzw. mir helfen solche Aussagen von Menschen, die bei klarem Versatnd und vor allem bei gesundem Gefühl sind in meiner eigenen Wahrnehmung. Manches mal komme ich mir doch wie ein Spinner vor, der nur übertreibt. Zu oft stößt man an die Grenzen dessen, was die Welt bereit ist wahrzunehmen.
Samstag, 6. Dezember 2008
Geschichte der Kindheit
Psychohistorie und klassische Geschichtsforschung sind auf den ersten Blick oftmals gegensätzlich. Hornstein & Thole (2005) schreiben beispielsweise:
„Kinder sind in die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse einbezogen und insofern in einem dezidierten Sinn des Wortes Kinder ihrer jeweiligen Zeit. Darauf hat die neuerdings sehr stark sich entwickelnde sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung mit aufmerksam gemacht. Insbesondere historische Forschungen aus den letzten 30 Jahren (Aries 1978; de Mause 1977; Shorter 1977; Elias 1977; Honig 2002) haben gezeigt, wie sich die Lebenssituation der Kinder mit dem Beginn der Neuzeit drastisch veränderte. In den sozialgeschichtlichen Rekonstruktionen und in den theoretischen Diskussionen zur Entstehung der Kindheit offenbaren sich jedoch auch die Ambivalenzen dieser geschichtlichen Entwicklung, insbesondere in den beiden zentralen Untersuchungen zur Geschichte der Kindheit (Aries 1978; De Mause 1977).“ (Hornstein & Thole, 2005, S. 530)
Die Untersuchungen von Aries zur „Geschichte der Kindheit“ und deMause mit seinem Buch „Hört ihr die Kinder weinen? Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit“ sind erstens die bedeutsamsten, wenn es um die Geschichte der Kindheit geht und zweitens werden beide häufig als gegensätzlich dargestellt. DeMause stellt historisch eine stetige Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung fest, was aus seiner Sicht (positive) gesellschaftliche Entwicklungsprozesse erst ermöglichte. Aries betrachtet die Entwicklung kritischer und hat ein sehr verträumtes Bild von der mittelalterlichen Gesellschaft (mit ihrem Gemeinschaftssinn), in der jeder mit jedem kommunizierte, jeder seinen Platz hatte, die Kinder eingebunden waren in die Erwachsenenwelt und nicht – wie seit Beginn der Neuzeit - aus dieser „herausgerissen“, in „ihrer Freiheit beschränkt“ und (durch Schule und Elternhaus) „streng diszipliniert“ wurden. Dem physische und psychische Wohlbefinden des Kindes im Mittelalter schenkt er - entgegen deMause - dabei kaum Beachtung und tendiert eher dazu, die aus seiner Sicht positiven Seiten dieser Zeit zu beleuchten. Diese unterschiedliche Betrachtungsweise nehme ich zum Anlass, da mal genauer hinzuschauen und Kernthesen aus beiden Arbeiten vorzustellen.
Hornstein & Thole meinen, dass Prozesse der Modernisierung, die Entstehung einer bürgerlichen, auf Kapitalakkumulation angelegten Gesellschaftsformation, im Hintergrund entscheidend Prozesse der sich veränderten Kinderwelt beeinflussten. „Erst hierüber konnte sich eine eigene Kinderwelt herausbilden, die sich in allem und grundlegend von derjenigen der Erwachsenen unterscheidet.“ (Hornstein & Thole, 2005, S. 531) Dass Veränderungen innerhalb von Familie und Erziehung so zusagen „von Oben kommen“, also durch gesellschaftliche Prozesse (insbesondere auch ökonomische) wesentlich beeinflusst werden, ist die übliche Darstellung. Natürlich ist diese Aussage im Kern nicht falsch, natürlich beeinflusst eine Gesellschaft und ihre Weltbilder ihre Mitglieder bis in den privatesten Bereich. Natürlich trägt auch „das Oben“ zu der Entwicklung von Kindern etwas bei, man denke z.B. an entsprechende Kinderschutz- und Förderungsgesetze bis hin zur gesetzlichen Möglichkeit, Kinder aus sehr problematischen Familien herauszunehmen, um sie besser und beschützt unterzubringen.
DeMause macht in seinen Arbeiten allerdings deutlich, wie eine erhebliche Veränderung von Kindererziehung stets erhebliche Veränderungen für die Gesellschaft (inkl. Ökonomie, Politik und symbolischer Ordnung) mit sich brachte und bringt. (siehe oben genannte Untersuchung und auch deMause, 2005) Die veränderte Gesellschaft wirkt dann natürlich wiederum rück auf die Kinder, aber am Anfang war die Erziehung (die Entstehung neuer „Psychoklassen“, um im Wortlaut von deMause zu schreiben) der Stein, der alles zum Rollen brachte, so seine Kernthese. Das spannende ist dabei, dass Aries, wenn man genau hinschaut, gar nicht soweit entfernt von deMause ist und man ersteren gut dafür nutzen kann, die Thesen von deMause zu stützen. Dazu weiter unten mehr.
Schauen wir uns also zunächst die Untersuchung von Aries an: Nach Aries waren die Kinder im Mittelalter und am Anfang der Neuzeit – in den ärmeren Schichten auch noch länger bis ins 19.Jahhundert – mit den Erwachsenen vermischt, sobald man ihnen zutraute, dass sie ohne Hilfe der Mutter oder der Amme auskommen konnte, d.h. in der Regel im Alter von etwa 5-7 Jahren. In diesem Augenblick traten die Kinder übergangslos in die Welt der Erwachsenen ein und sie wurden routinemäßig zu Fremden in die Lehre geschickt. Die mittelalterliche Zivilisation hatte laut Aries keine Vorstellung von so etwas wie „Erziehung“ (außer der Lehre), weil es aus ihrer Sicht überhaupt gar kein Problem oder einen Anlass dazu gab. Ebenso gab es kein bewusstes Verhältnis zu so etwas wie „Familie“ und „Kindheit“. (Diese Sicht wird von deMause kritisch beurteilt. Er verweist auf künstlerische Darstellungen von wirklichkeitsgetreuen Kindern im Mittelalter und auf die Antike, die ein Bild von "Kindheit" und "Erziehung" hatte. (deMause, 2000, S. 23ff) )
„Immerhin konnte das Kind in den allerersten Jahren, wenn es noch ein kleines drolliges Ding war, auf eine oberflächliche Gefühlszuwendung rechnen, die ich „Gehätschel“ genannt habe. Man vergnügte sich mit ihm wie mit einem Tier, einem ungesitteten Äffchen. Wenn es dann starb, wie es häufig vorkam, mochte dies den ein oder anderen berühren, doch in der Regel machte man davon nicht allzu viel Aufhebens: ein anderes Kind würde sehr bald seine Stelle einnehmen. Aus einer gewissen Anonymität gelangte es nie heraus.“ (Aries,1981, S. 46) Die mittelalterliche Familie hatte keine affektive Funktion, so Aries weiter. Gefühle zwischen Ehegatten und zwischen Eltern und Kindern waren keine unabdingbare Voraussetzung für die Existenz und für das Gleichgewicht der Lebensgemeinschaft. Für gefühlsmäßige Bindungen und soziale Kontakte war außerhalb der Familie gesorgt.
„Das große Ereignis zu Beginn der modernen Zeit war (...) die Renaissance des erzieherischen Interesses. Dies Interesse beseelte eine bestimmte Zahl von Männern der Kirche, des Gesetzes und der Wissenschaft, die im 15.Jahrhundert noch sehr vereinzelt, im 16. und 17. Jahrhundert (..) dann jedoch immer zahlreicher und einflussreicher wurden.“ (Aries, S. 560) Diese Rückkehr der Kinder in den Schoß der (Kern-)Familie verleiht der Familie des 17. Jahrhunderts im wesentlichen den Charakter, der es von der mittelalterlichen Familie unterschied. Das Kind wird zu einem unabdingbaren Bestandteil des Alltagslebens, man beschäftigt sich bevorzugt mit seiner Erziehung, seiner Unterbringung, seiner Zukunft. (vgl. ebd., S.554) Im 18. Jahrhundert kam dann noch das Bemühen um Hygiene und körperlicher Gesundheit dazu. (ebd., S . 217)
Die Familie begann, sich um das Kind herum zu organisieren, so dass es aus seiner einstigen Anonymität herausgerissen wurde. „Man konnte es nicht mehr ohne großen Schmerz verlieren oder ersetzen, den Vorgang der Kinderaufzucht nicht mehr allzu oft wiederholen, und es empfiehlt sich, die Anzahl der Kinder zu beschränken, damit man sich ihnen besser widmen kann.“ (ebd., S. 48) Diese Revolution auf dem Gebiet der schulischen Erziehung und gefühlsmäßigen Einstellung brachte auf lange Sicht eine freiwillige Geburtenbeschränkung mit sich.
Man stellte damals auch fest, dass das Kind für das Leben nicht reif sei, dass man es „einer speziellen Einflussnahme“ unterwerfen müsse, eh man es in die Welt der Erwachsenen entlässt. „Dieses neue Interesse an der Erziehung wird die Gesellschaft allmählich prägen, sie von Grund auf verwandeln. Die Familie hört auf, lediglich eine privatrechtliche Institution zum Zweck der Weitergabe von Eigentum und Namen zu sein, sie bekommt eine moralische und geistige Funktion, formt den Körper und die Seele. Zwischen der physischen Erzeugung und der rechtlichen Institution bestand eine Kluft, die fortan die Erziehung ausfüllen wird. Die Fürsorge für das Kind weckt neue Empfindungen, schafft eine neue Affektivität, die die Ikonographie des 17. Jahrhunderts mit ebensoviel Nachdruck wie Geschick zum Ausdruck gebracht hat: den modernen Familiensinn. Die Eltern begnügen sich nicht mehr damit, Kinder in die Welt zu setzen, einigen von ihnen eine Aussteuer zu geben und den anderen keine Beachtung zu schenken. Die Moral der Zeit verlangt von ihnen, dass sie sämtlichen Kindern, am Ende des 17. Jahrhundert sogar den Mädchen, und nicht nur den Ältesten das Rüstzeug fürs Leben verschaffen. Man ist sich darüber einig, dass dies nur durch die Schulbildung geschehen kann. Die Schule nimmt nun die Stelle der traditionellen Lehre ein, und zwar eine zum Instrument einer strengen Disziplin umgeformten Schule (....). Der außerordentliche Aufschwung der Schule im 17.Jahrhundert ist eine Konsequenz dieses neuen Interesses der Eltern an der Kindererziehung. (...)“ (ebd., S. 561)
Die Ablösung des Lehrverhältnisses durch die Schule drückt in gleichem Maße eine Annäherung zwischen Familie und den Kindern, zwischen Familiensinn und Sinn für die Kindheit aus, die einst getrennt waren. Aries spricht dabei von einer tiefgreifenden und langsam vonstatten gehender (gesellschaftlichen) Umwälzung. (vgl. ebd., S, 509)
Und weiter schreibt er: „Die Familie und die Schule haben das Kind mit vereinten Kräften aus der Gesellschaft der Erwachsenen herausgerissen. Die moderne Familie hat dem Gemeinschaftsleben nicht nur die Kinder, sondern auch einen großen Teil der Zeit und des Interesses der Erwachsenen entzogen. Sie entspricht dem Bedürfnis nach Intimität und nach Identität: die Familienmitglieder sind gefühlsmäßig wie durch Gewöhnung und Lebensweise miteinander verbunden. Das ständige Zusammensein mit Freunden, das die alte Sozialität verlangt hatte, widerstrebt ihnen.“ (ebd., S. 562)
Die (insbesondere bürgerliche) Familie mit ihrem Bedürfnis nach Intimität und einer eigenen Wohnung brachte auch eine Teilung der Gesellschaft in homogene Milieus mit sich, die als Gegenmodell zur alten „polymorphen Gesellschaft“ (den Sippen- und Stammesverbänden) standen. Vorher gab es keine Trennung von Wohnung, Lehre/Arbeitsplatz, „Freizeitbereich“ und auch politischem Leben. Und vorher – im kollektiven Leben - gab es auch eine gewisse Annäherung der unterschiedlichen Stände, die nun immer mehr wegfiel.
„Der Drang zur Intimität und die neuen Bedürfnisse nach Komfort, die dadurch geweckt wurden (denn zwischen Komfort und Intimität besteht eine enge Beziehung) verschärften zusätzlich den Gegensatz zwischen materiellen Lebensbedingungen des Volkes und des Bürgertums. (ebd., S. 564) (Anmerkung: Und schaffte somit neue Klassenunterschiede) Die Pflege traditioneller gesellschaftlicher Beziehungen, der unablässige Kontakt mit der Gesellschaft verloren immer mehr an Bedeutung. „Ein tiefgreifender Wandel sprengt nun die alten Beziehungen zwischen Herr und Diener, Groß und Klein, Freunden und Kunden. (...) Die Geschichte unserer Sitten reduziert sich teilweise auf diese langanhaltende Anstrengung sich von den anderen zu trennen, sich von einer Gesellschaft abzusondern, deren Druck man nicht mehr ertragen will. (...) Beruf und Familienleben haben jene andere Aktivität erstickt, die einst das gesamte Leben durchdrungen hatte, die Pflege gesellschaftlicher Beziehungen. Man ist versucht, den Schluss zu ziehen, dass Familiensinn und Sozialität nicht vereinbar waren und eines sich jeweils nur auf Kosten des anderen entwickeln konnte.“ (ebd., S. 558)
Die neue Moral oder auch der Sittenwandel gegenüber dem Kind brachte – zumindest in höhern Gesellschaftsschichten – ab dem 17. Jahrhundert auch mit sich, dass die „sexuellen Freiheiten“ (also den sexuellen Missbrauch, diesen Begriffe nutzt Aries nicht ein einziges mal), die man sich gegenüber Kindern erlaubt hatte, Stück für Stück nicht länger geduldet wurden. Die Trennung der Kinder von der Erwachsenenwelt bedeutete auch einen Schutz. (vgl. ebd., S. 187 + 196)
Ab dem 18. und vor allem 19. Jahrhundert hatte sich das neue Familieleben auf nahezu die ganze Gesellschaft ausgedehnt, so dass man schließlich seinen aristokratischen und bürgerlichen Ursprung vergessen hatte.(ebd., S. 555)
Diese von mir oben ausgewählten Zitate und Informationen könnten theoretisch (mit einer etwas anderen Wortwahl und Deutung) auch von einem Psychohistoriker wie Lloyd deMause stammen. Hier sind wesentliche Punkte benannt und angerissen, die psychohistorische Thesen unterstützen: Die stetige Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung und der Anstoß dieses Prozesses zunächst durch einige wenige Männer der Kirche, des Gesetzes und der Wissenschaft, die neue Erziehungsideale verbreiteten (deMause würde in etwa schreiben: Durch neue Variationen in der Kindererziehung, seien vereinzelt neue Psychoklassen entstanden, die den gesellschaftlichen Fortschritt vorantrieben.). Aries spricht bzgl. der gesellschaftlichen Wirkung dieses Prozesses von einem „große Ereignis“, einer „Revolution“ und einem „bemerkenswerten Wandel“, führt dies aber nicht in weitere Richtungen aus (außer im Rahmen der oben genannten Stichworte)
In einem Vorwort zur deutschen Ausgabe von der „Geschichte der Kindheit“ schreibt Hartmut von Hentig, dass sich zwischen Mittelalter und 19. Jahrhundert vor allem der Geltungsbereich von „Familie“ geändert habe: „(...) sie hat Funktionen an Armenhäuser, Spitäler für Alte und Kranke, Schulen, Banken, Versicherungen abgegeben und wurde schon dadurch kleiner, Aries versäumt es, Familie und Schule in einen weiteren sozialen und ökonomischen Kontext zu stellen.“ (ebd., S. 30) Die logische Folge von Aries Buch ist also, die sozialen, ökonomischen und auch politischen Veränderungen der Zeit in Zusammenhang mit dem „großen Ereignis“ der Entdeckung der Kindheit zu bringen. Von Hentigs Bemerkung macht beispielhaft klar, wohin die gedankliche Reise gehen könnte: Das ganze System änderte sich offensichtlich dadurch, dass – ausgehend von dem neuen Familiensinn - Individuen entstanden, dass „neue Bedürfnisse nach Komfort“ geweckt wurden (siehe oben kurz erwähnt), dass Wohnraum und auch Arbeit anders organisiert werden musste (denn beides musste nun getrennt werden), dass kollektive Aufgaben der Gemeinschaftsfamilien und Verbände nun auch außerhalb dieser erfüllt werden konnten, was folglich berufliche Spezialisierungen mit sich bringt usw.
Mir kommt auch in den Sinn, dass die langsame Auflösung einer kollektiven Gesellschaft, in der jeder seinen „natürlichen Platz“ hatte, erstens ein hohes Konflikt- und Krisenpotential inne hatte (und damit immer auch Kriegsgefahr bestand) und zweitens diese Individualisierung (ausgehend von der Kindererziehung) überhaupt erst die gedankliche Möglichkeit von einer neuen Gesellschaftsordnung zuließ: Wenn ich ein stückweit ein eigener Mensch sein darf, wenn Papa dort arbeitet, hier wohnt, und da seine Freizeit verbringt, wenn Lebenssphären getrennt werden, dann ist womöglich auch die kollektive Ordnung keine natürliche, Herr und Knecht, Oben und Unten usw., all dies wird anzweifelbar und veränderlich. Es wäre sicher interessant, wenn man z.B. die Französische Revolution (1789 bis 1799) – gerade Aries Buch bezieht sich viel auf Frankreich - in ihrer Entstehung und Entwicklung (mit dem zentralen Fokus auf die Entstehung der "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" im Jahr 1789) zusammen mit der Entwicklung des neuen Familiensinns und neuer Kindererziehungspraktiken untersuchen würde (dabei müssten vor allem gezielt die familiären Hintergründe – sprich Gemeinschaftsfamilie oder modernere Familie – der entscheidungstragenden und dominierenden Akteure untersucht werden). Natürlich wäre es auch sehr interessant, gesellschaftliche Entwicklungen insbesondere im 19. Jahrhundert im Sinne dieser Zusammenhänge zu untersuchen, da sich in diesem Jahrhundert der „Familiensinn“ auf nahezu die gesamte Gesellschaft ausdehnte.
Im letzten Absatz seines Buches schreibt Aries bzgl. der Wirkung des genannten Wandels: „Der Familiensinn, das Klassenbewusstsein, anderswo vielleicht auch das Rassenbewusstsein, scheinen verschiedene Äußerungsformen derselben Intoleranz gegenüber der Vielfalt und desselben Strebens nach Uniformität zu sein.“ (ebd., S. 564) Ich teile diese kritische Einschätzung nicht, denn die Welt ist durch die Individualisierungsprozesse komplexer und vielfältiger geworden, wie ich meine. Sein Schlusswort zeigt trotzdem eine interessante Richtung auf, die das Buch anregt. In wie weit wurde so etwas wie ein (neues) Klassenbewusstsein erst durch den neuen Familiensinn geschaffen? Vorher gab es das Kollektiv mit seinen Standesunterschieden. Trotzdem gehörte man „natürlich“ zusammen. Jetzt entwickelten sich neue Milieus usw. mit neuen Gegensätzen. Ja, die Bearbeitung des Themas „Geschichte des Kindes“ ist letztendlich immer noch in den Kinderschuhen, insbesondere bzgl. der gesellschaftlichen Wirkungsweise. .
Warum wird Aries nun trotz dieser offensichtlichen möglichen Folgerungen und möglicher Unterstützung psychohistorischer Thesen trotzdem häufig als gegensätzlich zu deMause betrachtet? Ganz einfach: Aries deutet gleiche historische Beobachtungen anders!
Die Ausweitung des privaten Bereiches bzw. die Individualisierung kam wesentlich durch das neue Interesse am Kind und einem neuen Familiensinn in Bewegung, wie oben beschrieben. Diesen Individualisierungsprozessen steht Aries grundsätzlich kritisch gegenüber. Diese sind für ihn kein Fortschritt und kein Weg zu mehr sozialem Gemeinsinn. Beispielsweise spricht er von „einer Art Quarantäne“, „einem Prozess der Einsperrung der Kinder (wie der Irren, der Armen und der Prostituierten), der bis in unsere Tage nicht zum Stilstand kommen sollte und den man als „Verschulung“ bezeichnen könnte.“ (ebd., S. 48) Die mittelalterliche Familie hätte in einem „dichteren und wärmeren sozialen Raum“ (ebd., S. 49), einem „Maximum von Lebensformen in einem Minimum von Raum“ gelebt. (ebd., S. 564). Bei ihm schwingt immer ein Stück weit Sehnsucht nach dem altem Gemeinschaftssinn mit, der – aus seiner Sicht - in moderneren Tagen verloren gegangen zu sein scheint.
Aries beschäftigt sich viel mit der damaligen Kleidung, den Kinderspielen, der Schule, der Einstellung zur Kindheit. Insbesondere letzteres ist sein großer Verdienst. Außen vor bleiben bei ihm weitgehend die Schattenseiten des Mittelalters, die routinemäßige Misshandlung und Vernachlässigung, der Missbrauch, die Kindestötung usw., die nur hier und da kurz und ohne großen Kommentar Erwähnung finden, während diese gerade bei den Psychohistorikern eine zentrale Rolle spielen und bzgl. gesellschaftlicher Entwicklungen weiterverarbeitet und gedeutet werden .
An einer speziellen Stelle des Buches fiel mir auch auf, wie wenig sich Aries in das Gefühlsleben von missbrauchten Kindern einfühlen konnte bzw. diese Erfahrungen einfach ganz anders deutete. Die ersten Lebensjahre von Ludwig XIII. waren von einer Fülle sexueller Übergriffe und Grenzüberschreitungen (Aries benutzt hier andere Wörter, im Sinne der damaligen Zeit) begleitet, die Aries ausführlich schildert. (vgl. ebd., S.175ff) Dann schreibt er: “(...) es fällt einem nicht schwer, sich vorzustellen, was der moderne Psychoanalytiker dazu sagen würde! Doch hätte dieser Psychoanalytiker unrecht. Die Einstellung zur Sexualität und zweifellos auch die Sexualität selbst ist von Milieu zu Milieu und insbesondere auch von Epoche zu Epoche und von Mentalität zu Mentalität verschieden. Heute scheinen uns Berührungen, wie Heroard sie beschrieben hat, hart an sexuelle Anomalie zu grenzen, und niemand würde sie öffentlich wagen. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts sah das noch anders aus. (...)“ (ebd., S.179) Dass auch damals sexueller Missbrauch für Kinder schwerwiegende Folgen hatte und sexuelle Gewalt nichts mit Sexualität zu tun hat, blendet er hier vollkommen aus. Es offenbart sich hier auch ein Grundproblem bei Aries: Er schreibt stets im Sinne und aus Sicht der historischen Zeit. Auch dadurch wurde sein Buch sicher zum Gegenpol zu deMause erklärt.
An einer anderen Stelle schreibt Aries: Die Familie und die Schule hat dem Kind „(...) die Zuchtrute, das Gefängnis, all die Strafen beschert, die den Verurteilten der niedrigsten Stände vorbehalten waren. Doch verrät diese Härte, dass wir es nicht mehr mit der ehemaligen Gleichgültigkeit zu tun haben: wir können vielmehr auf eine besitzergreifende Liebe schließen, die die Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert beherrschen sollte.“ (ebd., S. 562) Wenn Kindesmisshandlung mit Liebe in Verbindung gebracht wird, schlagen bei mir immer die Alarmglocken. Wenn ein Aries solche Verbindungen (wenn auch beiläufig) herstellt, wird auch deutlich, dass er für das Leid der (mittelalterlichen) Kinder nicht wirklich offen sein konnte. Er schildert die harte (neue) Disziplin gegen die Kinder zwar an manchen Stellen, ja ist diese gerade die Grundlage dafür, dass er von einer Verschlechterung der Situation für Kinder ausgeht (Nebenbei: Mir stellt sich hier die ernstgemeinte Frage, wie wohl die eigene Schulzeit von Aries aussah? Erlebte er Gewalt und harte Disziplin? Könnte dies die Quelle seiner Ablehnung gegenüber der neuen Schulform sein?), doch ausführliche Berichte über die Gewalt gegen Kinder fehlen oder werden wie im Einzelbeispiel von Ludwig in ganz andere Richtungen kommentiert.
In seinem Buch gibt es zum Schulleben auch ein Abschlusskapitel, dass er „Die Härte des Schullebens“ (ebd., S. 440ff) genannt hat. Erwartungsvoll las ich das Kapitel und dachte, dass er jetzt die harte Disziplin von Lehrern gegen Kinder schildern und anprangern würde. Fehlgedacht. Zu meinem Erstaunen behandelte er in dem Kapitel ausführlich diverse Schülerunruhen und –aufstände, Schülerstreiks, die Bewaffnung von Schülern, Trinkgelage von Schülern usw., um dann abschließend auf das Ziel der Schule einzugehen: Wohlerzogene Kinder zu formen. Diese Sicht vom wilden Schüler, der gezähmt werden muss, mag damalige Realität gewesen sein. Hier fehlte mir ein moderner Kommentar durch Aries und natürlich die Schilderung der Gewalt von Lehrern gegen Schüler.
In der aktualisierten Einleitung zu seinem Buch schreibt Aries 1973 allerdings auch selbstkritisch, wenn er das Buch neu konzipieren müsste, würde er es in erster Linie um das Phänomen der geduldeten Kindestötung ergänzen. (ebd., S. 54) Aries war eben auch ein Kind seiner Zeit, das Buch entstand in den 50er Jahren und wurde im Jahr 1960 zuerst veröffentlicht. Für vieles war er offensichtlich noch nicht offen und es gab noch zu wenig Informationen gerade zum Thema Kindesmisshandlung.
Warum habe ich mir die Mühe gemacht, dies hier alles so ausführlich auszuführen? Erstens ist dies hier eine gute Gelegenheit für mich, einige historisch bedeutsame Entwicklungen in der Kindererziehung vorzustellen, die für diesen Blog wichtig sind. Zweitens. Trotz all dieser o.g. Kritikpunkte und Differenzen: Ich meine, dass man Aries in vielen Teilen für die Bestätigung psychohistorischer Thesen heranziehen kann (solange man seine persönlichen Deutungen außen vorlässt und sich auf die Fakten des Buches konzentriert). Philippe Aries gilt als renommierter Historiker und trotz verschiedenster Kritik von wissenschaftlicher Seite gilt sein Buch als Meilenstein in der Geschichtsforschung über Familie und Kindheit, es begründete eine eigenständigen Geschichtsforschung zur Kindheit in Europa und Nord-Amerika Seine Arbeit wird ernst genommen. Um so wichtiger wäre es, wenn man mehr auf die Parallelen zwischen Aries und Lloyd deMause aufmerksam machen würde, als nur die Gegensätze zu erwähnen. Die wichtige Erkenntnis von deMause, dass eine verbesserte Kindererziehung auch eine Verbesserung von gesellschaftlichen Verhältnissen mit sich bringt, weiter zu stützen, dies war hier mein Hauptanliegen.
Literatur:
Aries, P. 1981: Geschichte der Kindheit. Deutscher Taschenbuch Verlag, München. (4. Aufl.; erste deutsche Aufl. 1975)
deMause, L. 1992: Evolution der Kindheit. In: deMause, L. (Hrsg.): Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M, (7. Auflage; erste deutsche Aufl. 1977)
deMause,L. 2000: Was ist Psychohistorie? Psychosozial-Verlag, Gießen.
deMause, L.2005: Das emotionale Leben der Nationen. Drava Verlag, Klagenfurt/Celovec.
Hornstein, W- | Thole, W. 2005: Kindheit. In: Kreft, D./ Mielenz, I. (Hrsg.): Wörterbuch Soziale Arbeit. Aufgaben, Praxisfelder, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Juventa Verlag. Weinheim/München.(5. Aufl.)
Donnerstag, 27. November 2008
UNICEF-Bericht zum Wohlergehen der Kinder in Industrieländern
Der Bericht „Child poverty in perspective: An overview of child well-being in rich countries“des UNICEF-Forschungsinstituts Innocenti aus dem Jahr 2007 liegt vor.
Deutsche Zusammenfassung hier: http://www.unicef.de/fileadmin/content_media/presse/fotomaterial/Kinderarmut/StudieD.pdf
Erfasst wurden folgende Dimensionen, um die Lebenssituation von Kindern beurteilen und vergleichen zu können:
1. Materielle Situation
1 a Relative Einkommensarmut
1 b Arbeitslosigkeit der Eltern
1 c Mangelsituationen
2. Gesundheit
2 a Säuglingssterblichkeit und Geburtsgewicht
2 b Anteil geimpfter Kinder
2 c Unfälle und Verletzungen
3. Bildung
3 a Schulisches Leistungsvermögen
mit 15 Jahren
3 b Besuch weiterführender Schulen
3 c Übergang in die Arbeitswelt
4. Beziehungen zu Eltern und
Gleichaltrigen
4 a Familienstruktur
4 b Familienalltag
4 c Beziehungen zu Gleichaltrigen
5. Lebensweise und Risiken
5 a Gesunde Lebensweise
5 b Risikoreiches Verhalten
5 c Erfahrungen mit Gewalt
6. Eigene Einschätzung der Kinder
und Jugendlichen
6 a Eigene Gesundheit
6 b Situation in der Schule
6 c allgemeine Zufriedenheit
Deutschland liegt im Ergebnis auf Rang 11. Besonders schlecht schneiden Großbritannien (letzter Platz Nr. 21) und die USA (vorletzter Platz Nr. 20) ab.
Es ist schon interessant, dass ein Land wie die USA, welches in den letzten 8 Jahren unter Bush erheblich den Weltfrieden gefährdet und gleichzeitig die eigene Gesellschaft herunter gewirtschaftet hat, ganz hinten im Ranking um die Sorge für Kinder steht. Ich kenne nicht die Zahlen aus den Jahren vor Bush. Zwei gedankliche Richtungen gehen mir hier aber durch den Kopf:
Erstens scheinen Regierungen, die in erheblicher Weise destruktiv und kriegerisch agieren, immer auch unfähig oder besser gesagt unwillig, sich der Sorge um die eigenen Kinder anzunehmen. Was wiederum die Vermutung nahe legt (gerade auch wenn man sich mit Thesen von Lloyd deMause auseinandersetzt), dass sie es in Ihrer eigenen Kindheit nicht anders erfahren haben und die kollektive Vernachlässigung von Kindern auf Grund unbewusster Prozesse geschieht. Zweitens ist immer auch die Frage, in wie weit eine kollektive schlechte Versorgung von Kindern wiederum dazu beiträgt, dass eine Gesellschaft sich destruktiv-kriegerisch entwickelt. Das immer auch andere Faktoren mit in entsprechende Gesellschaftsanalysen einbezogen werden müssen, versteht sich. Nur warum werden solche naheliegenden Zusammenhänge wie oben beschrieben in der Öffentlichkeit kaum oder eher nie dargestellt?
Mittwoch, 26. November 2008
Parallelen zwischen Folter und Kindesmisshandlung
„Bei Folter geht es im Wesentlichen darum, den Willen, die Menschlichkeit und den Geist des Individuums zu zerstören, sodass es die Kontrolle über sich verliert und bereit ist, seinen Folterern die Kontrolle über sich zu übergeben“, wird im aktuellen greenpeace magazin ein Mitglied des kanadischen Zentrums für Folteropfer zitiert. (greenpeace magazin, 01/02/2009: „Denk nach, wie du am Leben bleibst“, S. 52-54, von Sylvia Feist )
Der Protagonist des Artikels, der durch die CIA verschleppt in Syrien fast ein Jahr lang gefoltert wurde, war nach dieser Zeit nicht mehr der selbe. „Ich war wie ein Hund“, erinnert er sich an die erste Zeit nach seiner Rückkehr, „ich war unterwürfig, schwach und habe alle Entscheidungen an meine Frau abgetreten. Ich war vollkommen zerstört, emotional und psychisch.“
Ich ändere jetzt mal obige Definition für Folter folgendermaßen:
„Bei dem Missbrauch und der Misshandlung von Kindern geht es im Wesentlichen darum, den Willen, die Menschlichkeit und den Geist des Kindes zu zerstören, sodass es die Kontrolle über sich verliert und bereit ist, seinen Eltern die Kontrolle über sich zu übergeben“
Erschreckende Parallelen tun sich hier auf, wie ich finde, auch wenn es bei Folter um ein Extrembeispiel geht. Auch die Folgen der Folter beschreiben einen Teil der möglichen Wirkung auch von Kindesmisshandlung.
Weitere Gedanken zu diesen möglichen Parallelen zwischen "politisch motivierter" Folter und der Misshandlung von Kindern überlasse ich den LeserInnen dieses Blogs.
Donnerstag, 20. November 2008
Definition Krieg
Wie der Psychohistoriker Lloyd deMause Krieg definiert:
Krieg ist ein Ritual der Wiederaufführung früher Traumata zum Zweck der Rache und Selbstläuterung. Kriege sind klinische emotionale Störungen, kollektiv psychotische Episoden von wahnhaft erzeugter Schlächterei, mit der Absicht, einen schweren Kollaps der Selbstachtung zur Erreichung von Gerechtigkeit in Rache zu verwandeln. Kriege sind sowohl mörderisch als auch selbstmörderisch. (vgl. deMause, 2005, S. 119)
Krieg ist ein Opferritual, dazu bestimmt, Angst vor Individuation und Verlassenwerden abzuwehren, indem unsere frühen Traumata an Sündenböcken wiederaufgeführt werden. (ebd., S. 65)
Kriege sind Wohlstandsreduzierungsrituale. Sie sind Antworten auf Wachstumspanik - Antworten auf Fortschritt und Wohlstand, nicht auf Rückgang. Was tatsächlich schwindet, wenn Nationen entscheiden, in den Krieg zu ziehen, sind nicht ökonomische, sondern emotionale Ressourcen. (ebd., S. 112)
„Wachstumspanik“ entsteht nach deMause auf Grund früher Traumatisierungen und destruktiver Erziehung (ebd., S. 72ff + 96ff) (Dazu habe ich Näheres hier ausgeführt, im etwas hinteren Teil des Kapitels))
Eine solche Definition steht natürlich im krassen Gegensatz zu einer sozialwissenschaftlichen Definition von Krieg. DeMause bringt hier sowohl moralische Wertungen als auch ursächliche Erklärungen mit ein.
Der vollkommen anderer Ansatz wird noch deutlicher, wenn man sich z.B. die sozialwissenschaftliche Definition der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) anschaut (siehe hier ganz Unten im Text). Diese ist vollkommen wertneutral und beobachtet bzw. kategorisiert einfach das Geschehen. Für die Sozialwissenschaft sicherlich ein berechtigter Ansatz. Für die Art und Weise, wie ich mich hier mit dem Thema Krieg auseinandersetze, ist die „emotionale“ Definition von deMause die geeignetere.
Samstag, 15. November 2008
Fehlende Empathie und Krieg
Es ist für mich immer wieder erschreckend, wie sehr sich im Alltag das für mich bestätigt, über was ich hier schreibe.
Eine Bekannte von mir traf heute auf eine Bekannte (toller Satzbau...), nennen wir letztere einfach mal „Cordula“. Ich selbst habe das Gespräch zwischen den beiden nur bruchstückhaft mitbekommen, allerdings berichtete mir meine Bekannte anschließend ausführlich und sehr erschüttert:
Selbige hat vor einigen Monaten ein Kind bekommen und dies in dem Gespräch Cordula (diese ist ca. 65 Jahre alt) erzählt. Daraufhin bekam sie erst mal Glückwünsche und man kam ins Gespräch über Erziehung. Cordula kam gleich zur Sache und berichtete ganz offen (als Erziehungsempfehlung), wie sie früher einen ihrer Söhne regelmäßig mit einem Holzstab geschlagen hatte. Dieser Sohn sei im Gegensatz zu ihren anderen Kindern immer herausfordernder gewesen und habe sie stets auf die Palme getrieben. Die anderen Kinder waren einfach sensibler, meinte sie weiter. Doch dieser Sohn... Außerdem war sie oft alleine mit der Erziehung der Kinder, da musste sie sich durchsetzen. Ja und dieser Sohn habe sie sogar darum gebeten, bestraft zu werden. Sie wäre diesem Wunsch dann nachgekommen. Als der Holzstab schon etwas älter war, zerbrach er dann bei einer Ihrer Prügelaktionen. Der Sohn musste dann von seinem Taschengeld einen neuen kaufen, dies habe ihm ganz offensichtlich erheblich mehr weh getan, als die Bestrafungen. Cordula lacht und ist amüsiert. Jedenfalls, so meinte sie weiter, sei dieser Sohn von all ihren Kindern der robusteste und es habe ihm nicht geschadet.
Es ist für mich immer wieder ganz erstaunlich, wie empathielos Menschen sein können. Cordula fehlt offensichtlich jedes Unrechtsbewusstsein für ihre Handlungen. Mehr noch: Sie gibt im Jahr 2008 solche Erziehungsratschläge an eine junge Mutter. Es ist ihr nicht peinlich, sie scheint eher stolz darauf zu sein. Die Folgen für den Sohn werden kurz deutlich: Er sei der „robusteste“ von allen, die anderen seien sensibler. Robust bedeutet für sie, der schafft es im Leben. Robust bedeutet für mich in diesem Zusammenhang: Der arme Sohn, sehr wahrscheinlich musste er sich gefühlsmäßig ausschalten, um das alles zu ertragen.
Ich erinnere mich an ein anderes Erlebnis (ist schon ein paar Jahre her), das ich mit einer ehemaligen Kinderpflegerin hatte. Sie bekam mit, dass ich einen Text von Alice Miller las und fragte neugierig nach. Ich berichtete kurz, um was es ging und welche Thesen Miller vertritt. Daraufhin grübelte sie kurz. Dann meinte sie, „weißt Du, das ist nicht immer alles so zu sehen. Ich hatte in einem Kindergarten mal einen Jungen, der war wirklich schwierig. Außerdem hat er sich dauernd in die Hose gemacht. Irgendwann reichte es mir dann. Ich habe ihn geschnappt, bin mit ihm aufs Klo und habe ihn richtig durchgeprügelt. Danach war der nie wieder frech zu mir und hat sich benommen, wirklich vorbildlich. Außerdem habe ich seinen Eltern dann berichtete, dass ich ihn körperlich bestraft habe. Diese hatten damit kein Problem und meinten, dass das schon richtig so wäre.“ Diese Kinderpflegerin war sichtlich stolz auf ihren „Erfolg“. Für sie war es ihre Art mir zu sagen, dass Alice Miller ja wohl nicht immer recht haben könne.
Nachdem sie zu Ende berichtete hatte, fragte ich ohne weiteres Vorwort, wie sie denn ihre eigene Kindheit erlebt hatte und ob sie geschlagen worden war. Ihr stolzes Lächeln blieb in ihrem Gesicht und sie sagte: „Oh ja, wir sind richtig oft verprügelt worden. Wir mussten uns immer in der Reihe aufstellen und unserem Vater den Lederriemen überreichen. Danach konnten wir teilweise gar nicht mehr sitzen. Ach was haben wir Kinder damals Nachts zusammen über unsere Eltern geklagt“, sie lachte.
In beiden Beispielen sieht man, wie abgespalten diese Frauen von ihren Gefühlen sind. Im letzteren hat mich besonders erstaunt, dass die ehemalige Kinderpflegerin auch nach meiner deutlichen Nachfrage nicht den Zusammenhang verstanden hat, auf den ich sie hingewiesen hatte. Nämlich das sie weitergab, was sie selbst erlitten hatte. Sie lächelte einfach. Es war schlimm für mich zu sehen, wie gespalten diese Frau war.
Donnerstag, 6. November 2008
„Krieg kann tödlich sein“
Gestern lief auf dem TV-Sender ARTE die Kriegs-Dokumentation „Die Hölle von Verdun“. Eigentlich schaue ich nur noch selten solche Dokus, weil ich meine Lebenszeit auch mit schöneren Bildern ausfüllen kann. Diese Doku hat mich allerdings sehr beeindruckt, weil sie wie kaum eine zweite die Schrecken der Realität Krieg und die Hölle, die die Soldaten erleben, bildlich darstellt. Ganz besonders blieb mir ein sogenannter Zitter-Soldat in Erinnerung. Dieser kriegstraumatisierte Mann bekam den Schrecken, das blanke Entsetzen und das Zittern nicht mehr aus seinem Gesicht. Er war fast die zu fleisch gewordene Menschenfigur von Edvard Munchs Bild „Der Schrei“... Ich persönlich hielt nur die Hälfte der Sendung aus, weil mir der Krieg zu sehr ins Schlafzimmer kroch.
Irgendwie kam dann eine Fantasie dazu. Eigentlich wäre es doch sinnvoll, wenn Soldatenanwärter bevor sie ihre Zeitverträge oder auch ihre Entscheidung, Wehrdienst zu leisten, schriftlich absegnen, solche Dokus vorgeführt bekommen, gesetzlich verordnet in einem Raum mit anderen Anwärtern. Da sich o.g. Doku auf den ersten Weltkrieg bezieht und dieser ja „schon lange her ist“, müsste die Doku noch um eine aktuelle z.B. aus dem Irakkrieg ergänzt werden.
Auf den Soldaten-Verträgen müssten dann - wir nehmen mal an, ich bin jetzt z.B. Gesundheitsminister der BRD und bekomme eine Mehrheit für diese gesetzliche Regelungen – ähnlich wie auf Zigarettenpackungen aus gesundheitlichen Fürsorgepflichten der Bundesregierung heraus und auch auf Grund juristischer Absicherungen Sätze stehen wie: „Krieg lässt Sie altern“, „Das Soldatenleben kann tödlich sein“, Krieg fügt Ihnen und den Menschen in ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu“, „Krieg kann tödlich sein“, „Soldaten sterben früher“. usw.
Zugegeben, diese Idee lässt mich fast schmunzeln. Aber sie ist eigentlich ernst gemeint. Warum sollte so etwas nicht möglich sein? Letztlich soll es ja nur um einen symbolischen Akt gehen, der auch die leise Hoffnung beinhaltet, dass die Verdrängung vor der Realität Soldat bei dem ein oder anderen Anwärter durch solche Regelungen kurz aufbricht und er sich anders entscheidet. Und wahrscheinlich würden sich trotzdem noch genug Soldaten finden.
Sonntag, 2. November 2008
Grundsätzliche Hinweise
Meine Erfahrung bei diesem Thema ist, dass als erste Reaktion oftmals erst mal abgewehrt wird (teils auch mit sehr emotionalen oder manchmal auch wütenden Reaktionen). Das ist auch verständlich, u.a. deswegen, weil die meisten Menschen Verletzungen in ihrer eigenen Kindheit erfahren mussten. Wenn dann Zusammenhänge zu eigenem späteren Gewaltverhalten aufgezeigt werden, wird das oft in die Richtung gedeutete: "Dann hätte aus mir ja auch ein Gewalttäter werden müssen, dann bin ich mit diesem Hinweis auch gemeint, eine solche Äußerung verletzt mich sehr!" Eine solche Pauschalisierung liegt mir natürlich fern!
Viele Menschen haben auch Angst davor, auf Grund ihrer Kindheitserfahrungen stigmatisiert oder auf diese reduziert zu werden, gerade auch, wenn diese Erfahrungen von erheblicher Gewalt und schwerem Missbrauch geprägt waren. Auch eine Stigmatisierung oder Reduzierung von Menschen liegt mir fern! Wir müssen Menschen immer nach ihrem Verhalten beurteilen.
Eine weitere Angst fiel mir bei Diskussionen auf. Die Angst davor, dass das zerstörerische Verhalten von TäterInnen durch die Analyse ihrer destruktiven Kindheiten entschuldigt oder gar gerechtfertigt würde. Auch dies liegt mir fern. Einem Opfer kann es natürlich herzlich egal sein, was ein Täter als Kind erlitten hat. Ein Richter sollte den einen Täter vor dem Gesetz nicht anders behandeln, als den anderen, nur weil es dem einen „als Kind schlechter erging“. Und ein Therapeut kann zusammen mit einem Täter vielleicht vieles analysieren, was für dessen Heilung auch wichtig ist, wenn es aber zu Rechtfertigungen kommt, muss eine klare Grenze gezogen werden. Niemand hat das Recht, die Würde eines anderen Menschen zu verletzen, Punkt. Und: Als Menschen haben wir immer auch die Wahl und tragen Verantwortung für unser Handeln und unsere Entscheidungen.
Nichts desto Trotz finde ich in den Texten hier deutliche Worte und Zusammenhänge zwischen destruktiven Kindheiten und destruktiven Verhaltensweisen. Ich befinde mich dabei allerdings auch auf der Analyseebene, das bitte ich zu verstehen. Mir geht es dabei insbesondere um die Prävention von Gewalt und um die Schaffung von einem Bewusstsein dafür, wie entscheidend uns alle die Kindheit prägt. Ich persönlich sehe mich dabei eher als Vermittler des Themas. Es gibt (Fach-)Menschen, die wesentlich mehr Ahnung von dem Thema haben und bessere Worte finden, als ich. Mir persönlich hilft dieser Blog, einige Gedanken zu ordnen. Und ich meine, dass gar nicht genug auf dieses Thema hingewiesen werden kann.
Mir wurde schon einmal vorgeworfen, dass aus meinem Grundlagentext nur ein Entweder/Oder, ein hier „die guten nicht-misshandelten“ und dort die „bösen misshandelten Menschen“ hervorgehen würde. Ich sehe die Gefahr, dass eine solch schwarz-weiße Deutung je nach dem, wie der Text individuell verstanden und empfunden wird möglich ist. Allerdings möchte ich auch auf die „Grautöne“ im Text verweisen: Stichworte z.B. „Helfender Zeuge“, unterschiedliche Formen und Auswirkungen der Gewalterfahrungen, Einfluss gesellschaftlicher Prozesse wie sie z.B. der „Hamburger Ansatz“ beschreibt.
Wichtig ist mir hier zu sagen, dass meinem Empfinden nach unsere Welt auch kompliziert, ungerecht, herausfordernd und manches mal auch unglücklich machend bleiben würde, wenn die meisten Menschen als Kind Liebe und Achtung erfahren hätten. Ich behaupte nicht, dass das Leben einfach ist (was es ja auch so spannend macht :-) ) Außerdem sind wir nun mal Menschen, wir machen Fehler. Ich glaube aber in der Tat, dass so etwas enorm destruktives wie Krieg nicht mehr entstehen würde, wenn ein bedeutender Teil der Menschheit liebevoll und ohne Gewalt heranwachsen dürfte. Ich bin dabei im Grunde auch Optimist. Es wird noch so einige Generationen dauern, aber es zeichnet sich im historischen Rückblick ab, dass sich die Kindererziehung von Generation zu Generation verbessert und die Menschen dadurch immer emphatischer werden. Nie zuvor in der Geschichte wurden Kinder zu gut behandelt, hatten Kinder so viele Rechte und wurde Kindern und ihrer Entwicklung so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie heute (trotz aller immer noch erschreckender Zahlen, die vorliegen). Es ist somit nur eine Frage von Zeit. Haltet mich für verrückt: Ich bin mir sicher, dass spätere Generationen mit dem gleichen Erschrecken und Unverständnis in die Geschichte auf Kriege blicken werden, wie wir dies heute in Europa tun, wenn wir uns z.B. mit der mittelalterlichen Hexenverbrennung oder der mittelalterlichen Medizin beschäftigen. Kriege werden für spätere Generationen nicht mal mehr theoretisch vorstellbar sein.
Weitere Gedanken zu möglicher Kritik habe ich mir hier gemacht
Samstag, 1. November 2008
Kindesmisshandlung in Pakistan
In dem Grundlagentext schrieb ich:
"Außerdem wurde in den 90er Jahren in verschiedenen Untersuchungen festgestellt, dass das Ausmaß der häuslichen Gewalt gegen Frauen in Entwicklungsgesellschaften (Ausmaß: ca. 30 bis 80 %) im Vergleich zu westlichen Ländern (Ausmaß: ca. 20 – 28 %) oftmals erheblich höher ist. Pakistan (Ausmaß: 80 %) und Tansania (Ausmaß: 60%) stehen dabei an der Spitze der Liste. (vgl. Seager (1998) zit. nach amnesty journal, 03/2008, S. 16) Entsprechend erleben in diesen Ländern auch Kinder häufiger Gewalt mit. "
Diese Zeilen habe ich jetzt im Text wie folgt ergänzt:
"Untersuchungen aus den USA zeigen darüber hinaus, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Gewalt gegen Mütter und Gewalt gegen Kinder besteht. Die Überschneidung von häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung beträgt je nach Studiendesign 30 % bis 60 %. Zusätzlich wurde in medizinischen Versorgungseinrichtungen festgestellt, dass 45 % bis 59 % der Mütter von misshandelten Kindern gleichfalls von Gewalt betroffen sind. (vgl. Hellbernd / Brzank,. 2006, S. 93) Wenn man diese Zahlen auch für Entwicklungsgesellschaften zu Grunde legt, ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ein sehr hohes Ausmaß an Kindesmisshandlung. Für Pakistan mit 80 % betroffenen Frauen wäre dann z.B. anzunehmen, dass auch die Kindesmisshandlung in diesem Land extrem verbreitet ist."
Für Deutschland gilt, dass 10 bis 15 % der Kinder körperlich misshandelt werden. 25 % aller deutschen Frauen erleben in ihrem Leben Gewalt durch den Partner sprich häusliche Gewalt. Dieses Verhältnis ist natürlich nur sehr grob und steht nicht in direktem Zusammenhang. Zu Bedenken ist, dass von den 25 % zum Zeitpunkt der Gewalterfahrung ca. die Hälfte mit Kindern lebten; dass auch Frauen Kinder misshandeln usw.
Es dürfte trotzdem einleuchten, dass für Pakistan - mit 80 % von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen in den 90er Jahren - sicher auch entsprechend hohe Raten von Kindesmisshandlung zu verzeichnen sind. Es dürfte auf Grund dieser groben Zahlenspiele nicht übertrieben sein, wenn man für Pakistan von ca. 30-40 % misshandelten Kindern ausgeht.
Somit dürfte auch der alltägliche Terror, der Fundamentalismus und die politische Instabilität in diesem Land deutlich mit der weit verbreiteten Gewalt in den pakistanischen Familien zusammenhängen. Wenn diese familiäre Gewalt im Zusammenhang mit den aktuellen Modernisierungsprozessen (und entsprechenden Konklikten) in Pakistan betrachtet wird, lässt sich die politische Gewalt in diesem Land gut ursächlich erklären, wie ich meine. Leider wird erst genannter Zusammenhang oft gar nicht erst in entsprechende Analysen einbezogen.