Mir stellte sich die Frage, wie historisch ein Bewusstsein und ein Wille dafür aufkam, dass Kinder vor (elterlicher + schulischer) Gewalt zu schützen sind. Die Antwort auf diese Frage ist komplex. An anderer Stelle werde ich darauf zurückkommen. Zunächst macht es Sinn, sich einmal die Kindheitsbiografien von wichtigen Akteuren, die historisch den Kinderschutz vorantrieben, anzuschauen.
Beginnen wir mit Eglantyne Jebb (1876-1928), der Gründerin von Save The Children. Jebb gilt außerdem als Wegbereiterin der UN-Kinderrechtskonvention. Eglantyne wuchs mit fünf Geschwistern in wohlhabenden Verhältnissen auf und gehörte zur Upper-Class in Großbritannien. Ihr Vater galt als sanfter Intellektueller, „sensitive as a woman“, wie seine älteste Tochter einmal sagte (Mulley 2015. 9). Er wird außerdem als sympathischer Landbesitzer beschrieben; die Ehe der Jebb-Eltern sei sehr liebevoll gewesen (Mulley 2015, S. 10+11). Beide Elternteile waren hingebungsvolle Eltern, die Freude an ihrer Elternschaft hatten (Mulley 2015, S. 11). Eglantynes Vater, Arthur, „was also an affectionate father, reading aloud to the children and listining with delight to their own stories“ (Mulley 2015, S. 14).
Die Kinder scheinen zudem viele Freiheiten beim Spielen bekommen zu haben. Reiten auf Ponys, Bäume, die in den Erinnerungen zu Schlössern wurden, dunkle Wälder, überall wurde gespielt. Die Biografin schreibt zusammenfassend: „The three youngest children were particularly close, enjoying a childhood almost too good to be true" (Mulley 2015, S. 17).
Bezugspersonen waren außer den Eltern auch Kindermädchen und vor allem eine sehr aufgeweckte Tante, die mit in dem Anwesen wohnte. Eglantynes Mutter „was a loving and involved mother, but she was not expected to care for the children alone, and a succession of nurses and gouvernesses filed through The Lyth“ (Mulley 2015, S. 23). Die Mutter war aber auch Vorbild für die Kinder. Einmal traf sie auf einen Jungen, der weinte und vollkommen frustriert über eine 6-Tage-Arbeitswoche war. Daraufhin begann ihr soziales Engagement. Das Glück endete später abrupt, als Arthur starb. Eglantyne muss zu dieser Zeit ca. 18 Jahre alt gewesen sein.
Die politisch interessierte, diskussionsfreudige und sozial engagierte Atmosphäre bei den Jebbs war sicher prägend. Die Biografin schreibt zum Abschluss des Kapitels über Kindheit und Jugend von Eglantyne Jebb: „It was a legacy that all the children would benefit from, alone with their mothers`s efficient example of practical social work and their aunt`s intelligent questioning of the world around them. Brought up in a house where a human sympathy, if not radical politics, was the dominant perspectice, it is perhaps not suprising that all of the Jebb children later sought their own ways to contribute to enhancing more equitable social relations, but none more effectively than Eglantyne“ (Mulley 2015, S. 27).
Eine weitere bedeutende Frau habe ich für diesen Beitrag ausgewählt: Ellen Key (1849-1926).
Sie gehörte zu den einflussreichsten Vertretern der Reformpädagogik, sprach sich öffentlich gegen das Schlagen von Kindern aus und wurde weltweit durch ihren im Jahr 1900 veröffentlichten Bestseller „Das Jahrhundert des Kindes“ bekannt.
Die Schwedin Ellen wuchs in wohlhabenden Verhältnissen als ältestes von insgesamt sechs Geschwistern auf. „Die familiäre Atmosphäre soll eine Mischung aus solider Geborgenheit und aufgeklärter Intellektualität gewesen sein. Das Elternhaus war liberal gesinnt; die Keys beschäftigten sich mit den politischen und gesellschaftlichen Zeitabläufen ebenso wie mit der damals aktuellen nationalen und internationalen Literatur“ (Mann 2004, S. 9). Ellen fiel bereits früh durch ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl auf. Vor allem ihr Vater war eine wichtige Identifikationsfigur in ihrem Leben. Das Mädchen besuchte nie eine Schule, sondern wurde von verschiedenen Hauslehrerinnen unterrichtet. Die Biografin merkt dazu an: „Außerdem mag der Umstand, dass Ellen Key niemals den egalisierenden Schulzwang am eigenen Leib erleben musste, mit dazu beigetragen haben, aus ihr später eine relativ unabhängige und fortschrittlich denkende Frau werden zu lassen“ (Mann 2004, S. 11).
Über die konkrete Erziehung und den Umgang der Eltern mit den Kindern erfährt man relativ wenig in der verwendeten Quelle. Auffällig fand ich, dass Ellen oft und gerne den Erwachsenen bei Ihren Gesprächen zuhörte und dafür unter den Tisch kroch und so tat, als ob sie spielte. Noch etwas fand ich aufschlussreich: „Die intellektuellen Interessen Ellen Keys führten dazu, dass das Mädchen bezüglich praktischer Tätigkeiten im Haushalt mehr oder minder ungeübt war und blieb. Trotz mancher dadurch auftretender Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter tolerierte man offenbar die Entwicklung der jungen Ellen Key und honorierte schließlich ihr Bedürfnis, still und zurückgezogen lesen zu wollen, mit einem eigenen Zimmer, das dem Mädchen ab dem 12. Lebensjahr zur Verfügung stand. Noch als Erwachsene hat sich Elle Key immer wieder in dieses Zimmer ihres Elternhauses zurückgezogen und es als ihren Schutzraum betrachtet“ (Mann 2004, S. 11).
Bedenken wir an dieser Stelle noch einmal, dass Ellen im Jahr 1849 geboren wurde. Damals gehörte auch in Schweden die autoritäre Erziehung zur Routine. Ellen durfte aber unterm Tisch spielen, während die Erwachsenen sich unterhielten. Man unterwarf sie offensichtlich auch nicht und zwang sie, gegen ihren Willen, zur Hausarbeit. Sie durfte ungehorsam sein. Mehr noch, man ging auf sie und ihre besonderen Bedürfnisse ein und akzeptierte ihren Hang zum intensiven Lesen. Dies gibt uns einen deutlichen Einblick in die Familie und ihre Werte. Offensichtlich wurde in dieser Familie auf Kinder eingegangen und es scheint keine übermäßige Strenge geherrscht zu haben.
Bedeutsam ist darüber hinaus sicher auch noch ein tragischer Unfall. Zwei von Ellens Cousinen ertranken beim Baden. Die damals 17-Jährige Ellen war die einzige Überlebende bei diesem Unglück (Mann 2004, S. 12). Jeglicher religiöse Glaube war nach diesem Ereignis endgültig bei ihr - die schon früh an einem Christen-Gott gezweifelt hatte - abgetan. Wie sie dies Ereignis verarbeitete und ob und wie sie aufgefangen wurde, erschließt sich in der Quelle nicht.
Die Kindheit eines weiteren, wichtigen Akteures muss besprochen werden: Henry Bergh (1813-1888). Bergh war Gründungsmitglied und Vizepräsident der New York Society for the Prevention of Cruelty to Children (NYSPCC), der ersten Kinderschutzorganisation der Welt. Einige Jahre zuvor hatte Bergh, der auch eine Zeit lang Diplomat war, die erste Tierschutzorganisation in den USA gegründet. Im Rahmen dieser Tätigkeit wurde er auf den Fall Marry Ellen aufmerksam. Marry Ellen wurde damals schwer von ihrer Stiefmutter misshandelt und vernachlässigt. Die Polizei und auch die Behörden hatten jede Unterstützung von Mary Ellen abgelehnt, weil es keine gesetzliche Handhabe gab. Hilfe kam erst durch Tierschützer Henry Bergh, der in der Folge die Gründung der NYSPCC vorantrieb. „I regard a helpless child in the same light as a dumb animal. Both are God´s creatures. Neighter can protect themselves. My duty is imperative to aid them“, sagte Bergh einst (Furstinger 2016, S. 126). Was war das für ein Mensch, der Mitleid mit geschunden Tieren und Kindern hatte und sich engagierte? Und vor allem: Wie sah seine eigene Kindheit aus?
Auch Henry Bergh wurde – wie Jebb und Key - in wohlhabende Verhältnisse hineingeboren. Sein Vater, Christian, war ein erfolgreicher und bekannter Schiffsbauer in New York. Er hatte den Ruf, der „ehrlichste Mann“ der Stadt zu sein (Furstinger 2016, S. 6; Übersetzung: Sven Fuchs.). U.a. beschäftigte er ehemalige Sklaven und bezahlte ihnen den gleichen Lohn wie den Weißen. Henrys Mutter hatte offensichtlich ebenfalls eine hohe Moral. Beispielsweise fand Henry in seiner Kindheit einst ein Geldstück auf der Straße. Seine Mutter ermahnte ihn, das Geld zurückzulegen, für den Fall, dass der Besitzer zurückkommen würde. „From his Mother, he would learn kindness and honesty“ (Furstinger 2016, S. 7). Die Schiffswerft wurde für Henry und seine Geschwister, so die Biografin, zum großen Spielplatz. Was für ein Abendteuer! Über den konkreten Erziehungsstil der Eltern erfährt man in der verwendeten Quelle nichts. Allerdings lässt sich – wie oben gezeigt - wohl deutlich ableiten, dass seine Eltern sehr menschenfreundlich waren. Zu diesem Bild passt, wie Henry Bergh später als Erwachsener agierte.
Fazit
Alle drei untersuchten Akteure kamen aus wohlhabenden Verhältnissen. Das halte ich für keinen Zufall. Erstens brauchte es für ihre später wohltätige Arbeit entsprechende Ressourcen (und sicher auch Bildung). Zweitens: Im 19. Jahrhundert war das Leben für viele Kinder schwer und leidvoll. Wenn sie denn überhaupt überlebten, denn die Kindersterblichkeit war damals auch noch in den USA, Großbritannien und in Schweden sehr hoch. Der Wohlstand hatte bei allen drei Akteuren ganz sicher auch protektive Effekte. Auffällig ist auch, dass neben einer wohlwollenden und als Vorbild fungierenden Mutter, auch ein wohlwollender und als Vorbild fungierender Vater stand. Das war im 19. Jahrhundert sicherlich keine Selbstverständlichkeit. Gerade Väter waren in dieser Zeit oftmals autoritäre und traditionelle, patriarchale Männer.
Ich glaube nicht, dass mit Blick auf unsere heutige Zeit die These aufgestellt werden kann, dass Menschen, die sich für Tierschutz und Kinderschutz stark engagieren, meist eine behütete Kindheit und nette Eltern hatten. Ganz im Gegenteil ist meine persönliche Erfahrung die, dass in Kinderschutzvereinen und ähnlichen Institutionen Menschen mit einer belasteten Kindheit gar nicht so selten sind.
Mir geht es hier aber auch nicht um das Heute, sondern um Anfänge eines organisierten Kinderschutzes um die Jahrhundertwende. Damals wurde die Mehrheit aller Kinder geschlagen und gedemütigt. Und: Kaum jemand störte sich daran. Um aus diesem verdrehten und destruktivem Mehrheitsdenken und Handeln herauszutreten und eine andere Richtung einzuschlagen, brauchte es mehr. Nämlich eine eigens erlebte, positivere Kindheit und – in der Folge - einen Zugang zu eigenen Emotionen und die Fähigkeit zu Mitgefühl. Die aufkommende Kinderschutzbewegung wäre demnach auch ein Produkt der Evolution von Kindheit, in diesem Fall in den Familien Jebb, Key und Bergh.
Verwendete Quellen:
Furstinger, N. (2016): Mercy: The Incredible Story of Henry Bergh, Founder of the ASPCA and Friend to Animals. Houghton Mifflin Harcourt, Boston / New York.
Mann, K. (2004): Ellen Key. Ein Leben über die Pädagogik hinaus. Primus Verlag, Darmstadt.
Mulley, C. (2015): The Woman Who Saved the Children: A Biography Of Eglantyne Jebb: Founder Of Save The Children. Oneworld, London.