Mittwoch, 13. Mai 2020

Kritische Rezension des Buches "Kindheit 6.7" von Michael Hüter


Ein aktueller Artikel der Stiftung Zu-Wendung für Kinder, in dem meine These vom stetigen Rückgang der Gewalt gegen Kinder und auch mein optimistischer Blick auf die Zukunft und positive Entwicklungen den eher pessimistischen Thesen von Michael Hüter gegenübergestellt wurden, motivierte mich sehr dazu, das Buch Kindheit 6.7 von Michael Hüter (2018 in dem von Hüter gleichzeitig gegründeten Verlag Edition Liberi & Mundo erschienen) zu lesen. Das Buch an sich hatte ich schon früher wahrgenommen. Jetzt folgt also meine recht kritische Rezension.

   Noch ein Wort vorweg: Ich hoffe sehr, dass meine Rezension nicht als „Hahnenkampf zwischen Männern“ aufgefasst wird. In dem o.g. Artikel wurden meine und seine Sichtweisen gegenübergestellt, was nicht meine Idee war. Mir geht es nicht darum, diese Gegenüberstellung aus Eitelkeit zu „gewinnen“. Meine Motivation, etwas über Hüters Buch zu schreiben, resultiert viel mehr aus einem Gefühl der Notwendigkeit heraus, denn ich halte seine Thesen zum Teil für kontraproduktiv. Und: Hüter vertritt seine Sichtweisen relativ laut und findet auch Gehör. Hüter tauchte z.B. mehrfach als Interviewpartner für die Verschwöhrungstheorienplattform KenFM auf. Aber auch Focus-Online hat breite Gastkommentare von Hüter veröffentlicht. In einem Focus-Artikel  (09.04.2020: Kindheitsforscher warnt: Hört auf, eure Kinder in Kitas zu geben!) schreibt Hüter u.a.: „Noch nie in der Geschichte der Menschheit – außerhalb von Kriegszeiten – erging es der großen Mehrheit an Kindern seelisch und emotional – man mag es auch psychisch nennen – so schlecht wie heute.“
   Das ist der zentrale Befund, der auch sein Buch durchzieht. Die wesentliche Ursache für diese von ihm ausgemachte Situation für Kinder sieht er vor allem in der frühen „Weggabe“ von Kindern in Krippen, Kitas und später auch (Ganztags-)Schulen. Der oben zitierte Satz lädt dazu ein, kritisch hinterfragt zu werden. Was mich vor allem interessiert hat war, welche Datengrundlage Hüter für seine steile und auch anklagende These zu bieten hat.

   Sein Buch sei „jahrelang investigativ recherchiert“, steht in der Inhaltsangabe. Im Untertitel des Buches steht „Ein Manifest“. Hüter selbst wird u.a. als Kindheitsforscher und Historiker vorgestellt. In Anbetracht dieses Vorspanns sollte man davon ausgehen, dass der Autor sich gründlich auf viele wissenschaftliche Erkenntnisse, Daten und Veröffentlichungen bezieht, um sein Manifest zu untermauern. Dem ist aber zu meinem großen Erstaunen nicht wirklich der Fall. Nur 76 Bücher sind im Literaturverzeichnis angegeben, darunter vor allem Erziehungsratgeber, Pädagogikbücher und zum nicht unwesentlichen Teil auch so etwas wie Lebensberichte, Romane oder einzelne philosophische Arbeiten. Forschungsarbeiten von Wissenschaftlern finden sich kaum. Wissenschaftliche Fachartikel aus entsprechenden Journalen und Fachzeitungen findet man gar nicht. Ebenso findet man im Verzeichnis keine Verweise auf naheliegende Datenquellen wie Forschungsinstitute, Statistikportale, Bundesministerien, Kinderschutzorganisationen oder Organisationen wie der WHO. Dies alles erstaunt. Das Literaturverzeichnis alleine deutet also auf eine dünne Datengrundlage hin, was sich bei der Lektüre des Buches auch bestätigt. 

   Im Inhaltsverzeichnis steht folgendes: „Wir haben in der gesamten industrialisierten Welt den Blick für die Kompetenzen von Kindern verloren und eine Welt erschaffen, die gegenwärtig etwa 50 Prozent(!) der Kinder krank und viele junge Menschen buchstäblich verrückt werden lässt.“ Diese Textstelle findet sich so auch im Buch auf Seite 14.
   Auch die erste Seite des Vorspanns beginnt mit einem pessimistischen Blick auf die Situation von Kindern und Jugendlichen: „Bereits über 5o Prozent aller heranwachsenden Kinder in Deutschland und Österreich (und auch andernorts) zeigen nicht altersadäquate Auffälligkeiten oder Defizite. Entweder im somatischen Bereich (Adipositas/Magersucht), im Bereich sozialer Kompetenzen (Sozialisierungsmängel, Regelabsentismus, Beziehungsarmut), oder motorischer und kognitiver Kompetenzen. Hinzu kommt ADHS, immer früher einsetzender regelmäßiger Alkohol- und Drogenkonsum, und schließlich auch noch (vereinzelt schwere) Gewalt- und Kriminaldelikte, manchmal schon von 12 und 13-Jährigen. Das alles wird bei Kindern unter 14 Jahren in einem breiten Ausmaß beobachtet und festgestellt. Zweifelsohne ist dies alles mehr als alarmierend“ (S. 11). Immerhin wird an dieser Stelle deutlicher, was Hüter in diesem Kontext eigentlich unter „krank“ und „verrückt“ versteht. 

   Vor allem im ersten Kapitel werden dann auch einige Zahlen und auch Quellen genannt (die o.g. Aussagen wurden vorher in den Raum gestellt). Im gesamten ersten Kapitel, das einleitend die katastrophale Situation der Kinder deutlich machen soll, bedient sich der Autor häufig bei Zeitungsartikeln (vor allem aus dem KURIER). Zwischendrin werden allerdings immer wieder auch Zahlen und Daten aufgeführt und auch Feststellungen gemacht, ohne dass dafür Quellen genannt werden. Beispiele: Auf Seite 19: Raufunfälle im Jahr 2005 = 95.000 (ohne Quelle!);  auf Seite 21: Ca. 24 bis 28 % der Kinder in Deutschland und Österreich im Alter zwischen 7 bis 14 Jahren seien übergewichtig (ohne Quelle!); Seite 33: 60 % der Lehrer stünden vor dem psychischen und physischen Kollaps (ohne Quelle!).
   Im weiteren Textverlauf finden sich dann Sätze wie diese, die sich auf „verschiedene Berichte von Lehrern, Direktoren, Pädagogen und Psychologen“ beziehen würden: „Alle, die ihren Beruf schon Jahrzehnte ausführen, stellen zumeist im Nebensatz oder als Schlussbemerkung fest: Vor 30 Jahren habe es alle diese Verhaltensauffälligkeiten und Defizite der Kinder (Schüler) nicht gegeben. Keiner sagte, vor 10 Jahren, vor 20 Jahren oder 40 Jahren. Ziemlich präzise bemerken alle, vor 30 Jahren gab es alle diese Defizite und Auffälligkeiten unserer Kinder, die im ersten Teil meines Essays beschrieben wurden, noch nicht oder marginal“ (S. 38). Und wieder: keine Belege und Quellen dafür! Dabei geht es hier doch um DIE zentralste These des Autors, nach der früher vieles besser und heute alles so schlimm wie nie wäre.

   Insofern fasse ich meine Grundkritik an dem Buch hier schon einmal als Zwischenstand wie folgt zusammen: Hüter arbeitet häufig unwissenschaftlich, unpräzise und tendiert zu Mutmaßungen oder der Verallgemeinerung von einzelnen Zeitungsberichten.

   Ich komme jetzt zu einem weiteren Kritikpunkt: Hüter sucht sich Zahlen heraus, die sich schlimm anhören und setzt sie in der Folge nicht ins Verhältnis oder geht auf Trends ein. Ein Beispiel: Der Autor nannte ja wie oben erwähnt die Zahl von 95.000 Raufunfällen im Jahr 2005 (gemeldete Fälle von Unfällen und Frakturen an die Unfallversicherung auf Grund von Schülerraufereien). Ich selbst fand für das Jahr 2007 die absolute Zahl von 88.704 Raufunfällen („Achtung in der Schule – Unterrichtsmaterial zur Gewaltprävention“). Ich gehe insofern davon aus, dass die von Hüter genannte Zahl für 2005 ungefähr stimmt. Nun zeigt die Datenlage, dass seit Jahren sowohl die absoluten Zahlen an Raufunfälle, als auch die Zahlen pro 1.000 Schüler stetig rückläufig waren. So hat die Häufigkeit von „Raufunfällen“ je 1.000 versicherte/r Schüler/innen vom Höchstwert im Jahr 1999 (14,9) bis 2015 (8,7) um 41,7 % abgenommen (2018: Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland Schwerpunkte: Jugendliche und Flüchtlinge als Täter und Opfer, S. 21) Auf der Homepage der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen findet man auch eine eindrucksvolle Grafik dazu.
   Noch nie war es bezogen auf Raufunfälle so sicher auf dem Schulhof wie heute! Hüter setzt dagegen im Verlauf des Buches noch einen obendrauf, indem er schreibt, dass Deutschland gemessen an der Einwohnerzahl mit (schwerer) Gewalt an Schulen führend sei (S. 296).

   Noch ein Beispiel: Hüter geht auf Seite 19 auf den Alkoholkonsum von Jugendlichen ein und stellt auf den ersten Blick schlimme Zahlen und Sachlagen fest. Auch hier stellt er keine Trends vor. Dagegen zeigen die Daten von dem Kriminologen Christian Pfeiffer und Kollegen: „Der Anteil Jugendlicher Raucher ist demnach seit 1997 kontinuierlich von 28,1 auf 7,8 % um fast drei Viertel gesunken. Zum Alkoholkonsum zeigt sich zunächst ein Aufwärts-, dann ein starker Abwärtstrend. 1997 gaben 14,6 % der Jugendlichen an, mindestens wöchentlich Alkohol zu trinken; dieser Wert steigt bis 2007 auf 21,6 % an, um anschließend auf 10,0 % zu sinken. Das Rauschtrinken, das umfasst, dass zu einer Trinkgelegenheit mindestens fünf alkoholische Getränke konsumiert werden, wird erst seit 2004 erfasst. Von 2007 bis 2015 ist der Anteil an Jugendlichen, die in den zurückliegenden 30 Tagen mindestens einmal Rauschtrinken praktiziert haben, von 25,5 auf 12,5 % gesunken, hat sich also innerhalb dieser kurzen Zeit halbiert“ (Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland Schwerpunkte: Jugendliche und Flüchtlinge als Täter und Opfer, S. 50) Im Jahr 2015 hatten wir also den bisher niedrigsten gemessen Wert von Rauchern, regelmäßigen Alkoholkonsumenten und Rauschtrinkern unter Jugendlichen in Deutschland überhaupt! Es steht bzgl. Rauschverhalten also so gut wie nie um die Jugend.

   Es gibt diverse weitere positive Trends (deutlicher Rückgang der Jugendkriminalität z.B.) bzw. Belege dafür, dass die aktuelle Situation der Kinder in Deutschland nicht katastrophal ist, die ich hier Hüter weiter entgegenhalten könnte. Aber sparen wir uns das; ich verweise an dieser Stelle stattdessen gerne auf das Buch „Die Modernisierung der Seele: Kind-Familie-Gesellschaft“ von dem Soziologen und Entwicklungspsychologen Martin Dornes, der sehr fakten- und zahlenbasiert recherchiert und gearbeitet hat. Es wird deutlich, dass Hüters Bild von wegen „alles ist heute so schlecht wie nie“ sehr große Risse bekommt, wenn man sich seine Quellen und seine Herangehensweise genau anschaut.

   Durch diese Feststellung bröckelt auch eine weitere These des Autors. Nämlich seine These, dass die Verschulung von Kindheit zu eben diesen Missständen (die bei genauer Betrachtung oft gar nicht so „miss“ sind) führen würde. Oder anders gesagt: Würden alle Kinder nur in ihren Familien sozialisiert, würde alles besser werden. Das an sich ist eine sehr vereinfachte Sicht auf die Welt. Sie blendet all die Gewalt und Demütigungen aus, die Kinder nachweisbar seit vielen Jahrhunderten in ihren Familien erlebten. Und bezogen auf heute blendet diese Sicht komplett die sehr heterogenen Familienverhältnisse aus. Viele Familien können ihren Kindern zu Hause gar keine Anregungen, kein Entdecken der Welt und keine Bildung bieten; aus zeitlichen, ökonomischen, intellektuellen, sprachlichen, krankheitsbedingten, kulturellen oder sonst wie gelagerten Umständen heraus. (Nicht jede Familie hat die Möglichkeiten und Mittel, die die Familie Stern hatte, auf die auch Hüter in seinem Buch gerne verweist. Der vielfach begabte André Stern ging nie zur Schule. Bei genauer Betrachtung ist der fehlende Schulbesuch aber gar nicht der zentrale Punkt, sondern das Umfeld, das seine Familie schuf bzw. hatte und die zugewandte Art dem Kind gegenüber.)

   Die Schule ist DIE Chance für alle Kinder, die keine Bilderbuchfamilie haben und das sind nicht wenige. Die Schule ist auch DIE Chance, um Ungleichheit ein Stück weit zu bekämpfen. Die Schule ist auch eine wesentliche Möglichkeit für Kinder, heute überhaupt auf andere Kinder zu treffen. Bei der niedrigen Geburtenrate und überalterten Gesellschaft muss man Kinder in der Nachbarschaft schon manchmal mit der Lupe suchen und findet selbst dann oftmals keine Kinder (ich spreche da bezogen auf meine Familie aus Erfahrung).

   All die Defizite, die es heute sicherlich an Schulen gibt, will ich nicht ausblenden. Viele Defizite sind mir bewusst, ich sehe aber auch die Fortschritte, die an Schulen passieren und passierten. Mir fehlten da von Michael Hüter Anregungen in die Richtung, wie man denn Schule besser machen könnte. Ein Zurück zur reinen Familiensozialisation und Abschaffung der Schulen wird den heutigen Verhältnissen nicht gerecht und ist keine Lösung.

   Sein Blick auf Schule ist mir zudem zu schwarz-weiß, ohne jeden Grauton. So schreibt er beispielsweise an einer Stelle sein vernichtendes Urteil: „Die (staatliche) Pflicht-Regelschule für alle ist einer der gravierendsten gesamtgesellschaftlichen Probleme seit Jahrhunderten und die größte künftige Gefahr für den Fortbestand einer friedlichen, gerechten, humanen, gesunden, sozialen und gebildeten Gesellschaft und Gemeinschaft“ (S. 248). An anderer Stelle spricht er von dem Problem der „totalen Beschulung“ oder der „Eskalation der Schule und Erziehung“ (S. 273, 288). Außerdem differenziert er zu wenig zwischen den möglichen Auswirkungen einer Krippenbetreung von Säuglingen und Kleinkindern und dem Schulbesuch ab ca. dem 7. Lebensjahr (beides entwicklungspsychologisch betrachtet zwei komplett unterschiedliche Lebensphasen). Die „totale Beschulung“ ist für ihn schlicht das Dreigespann „Krippe, Kindergarten und Schule“ (S. 288).

   Das gesamte Buch, um darauf zurück zu kommen, bleibt stets dem Bild treu, dass heute alles schlechter wäre: Zu viele Kaiserschnitte, zu viele Alleinerziehende, zu viele Scheidungen, zu viel Fremdbetreuung, zu viel Leistungsdruck, zu wenig Familie, zu wenig Vertrauen in die Kompetenzen von Kindern usw. Dem möchte ich detailliert gar nicht weiter entgegnen. Wenn man das Buch als Anklageschrift versteht, als Streitschrift, als große persönliche Aufregung und ja auch als Sorge um die heutigen Kinder, so soll man es meinetwegen lesen. Was das Buch nicht leistet, ist eine realistische und faktenbasierte Analyse der IST-Situation von Kindern und Jugendlichen. Der Autor differenziert auch zu wenig und beleuchtet die Dinge zu einseitig. Ein klarer Fluss oder konstruktive Anregungen sind ebenfalls nicht zu erkennen. Und summa summarum trieft das Buch nach meinem Geschmack einfach zu durchgehend von einer dunklen Sicht auf die heutige Welt.
   Negative Aspekte zu beleuchten ist wichtig. Eine triefend dunkle Weltsicht ist dagegen mit Verlaub teils auch gefährlich, weil sie potentiell zum Einreißen alles Bestehenden aufruft. (Insofern verwundert es nicht, dass Hüter gern gesehener Interviewpartner bei Verschwörungsportalen wie KenFM ist.)

   Ich muss gestehen, dass ich es sehr schade finde, in dem Buch keine für mich nützlichen Informationen gefunden zu haben. Der Titel an sich machte mich neugierig und versprach viel. Denn bei aller Kritik bin ich vom Grundsatz her in der Nähe von Hüter: Ich bin gegen zu viel Verschulung, gegen zu viel Wertigkeit von Schule, ich bin auch ein Gegner von Krippen für Kinder 0 bis 3 Jahre (würde aber gleichzeitig nicht die Eltern verteufeln, die ihre Kinder in Krippen geben), ich bin für mehr freie Zeit und freies Spiel von Kindern, ich bin gegen ein Zu-viel und ein Zu-früh von Fernsehen, Computerspielen + sozialen Netzwerken, für mehr Familie und für bessere Schulen und tolle Kitas. Ich bin aber – im Gegensatz zu Hüter wie mir scheint – für einen Prozess, für Veränderungen und Entwicklungen und auch Anpassungen, die auf Kreativität, Wissen und Forschung aufbauen. Und ich bin auch für einen komplexen Blick auf die Welt der Kinder heute in Deutschland und Europa, zu dem gehört, auch die vielen positiven Entwicklungen und Veränderungen anzuerkennen.  Und schlussendlich: Ich bin nicht für ein Infragestellen vom gesamten System.

Mittwoch, 6. Mai 2020

Lloyd deMause (1931 – 2020), ein Nachruf von Christian Lackner


(Mit Einverständnis von Christian Lackner hier veröffentlicht. Vielen Dank dafür!)


Lloyd deMause erzählte mir gerne von seiner Kindheit in Detroit, wo er als Sohn eines Autodesigners  aufwuchs. Aus unseren vielen Gesprächen schließe ich, dass Autos in seinem Leben immer eine gewisse Rolle gespielt haben.

Während seines Studiums der Psychologie an der Columbia University in New York interessierte er sich besonders für psychoanalytische Theorien. Ein Interesse, das seine damaligen Professoren nicht teilten. Nichtsdestotrotz begann er, die Geschichte der Kindheit zu beforschen.

1977 erschien sein erstes großes Werk „Hört ihr die Kinder weinen“ (Im Original: The History of Childhood, 1974). Damit schuf er die Basis für die Erklärung der Wechselwirkungen zwischen der Eltern-Kind-Beziehung und kollektiven Entwicklungen. Dieses Werk erregte großes internationales Aufsehen, wurde in viele Sprachen übersetzt und zum Schlüssel für seine weiteren Forschungsarbeiten, die sich der Erkundung der Ursachen für Fortschritt, oder, wie er es nannte: der psychogenen Evolution, widmete. Lloyd deMause gilt bis heute als die Gründerfigur der Psychohistorie als Wissenschaft. Zahlreiche universitäre Institute auf der ganzen Welt nahmen seine Publikationen gerne auf und übernahmen seine Entdeckungen und Theoriemodelle in ihre Curricula. Unter der Dominanz eines psychologisch-naturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnisses war es für die Psychohistorie nicht einfach, als Disziplin in der Welt der Wissenschaften wahrgenommen zu werden, legte sie sich doch mit anderen Wissenschaften wie der Geschichte, Anthropologie oder der ökonomiekritisch ausgerichteten Sozialpsychologie an.

In den 70er Jahren gründete Lloyd deMause das Institute of Psychohistory. Die ökonomische Basis dieses Instituts bildete ein Verlag. Als ich ihn 1985 das erste Mal persönlich kennenlernte, trafen wir uns in seinem Büro am Broadway, wo an die 30 Angestellte an einer wöchentlich erscheinenden Anzeigengazette für den Verkauf von Gebrauchtwagen arbeiteten. Die Erlöse des Verlages flossen in seine Forschungsarbeiten, die Gründung der International Psychohistory Association und in die Herausgabe des Journal of Psychohistory. Mit dem Verkauf des Verlages Ende der 80er Jahre konzentrierte er sich ganz auf psychohistorische Grundlagenforschung; auf sein Ziel, eine wissenschaftliche Organisation auf die Beine zu stellen und sich weltweit mit Kolleginnen und Kollegen weiter zu vernetzen. Unter vielen anderen stand er mit Alice Miller und Erich Fromm in Verbindung. Er besuchte Deutschland damals regelmäßig, und aus dem Kreis der an seinen Workshops Teilnehmenden ging die bis heute größte psychohistorische Vereinigung außerhalb der USA hervor.

1984 erschien sein dritter großer Wurf (nach den Foundations of Psychohistory 1982): Reagan’s America, ins Deutsche übersetzt von Klaus Theweleit. Darin versuchte sich deMause in einem einzigartigen simultanhistorischen Experiment, den amerikanischen Präsidenten während dessen Amtszeit zu analysieren und zu interpretieren. Er wandte darin seine Hypothesen auf die damaligen politischen und gesellschaftlichen Ereignisse an – teilweise mit prophetisch anmutenden Methoden, die die Ereignisse in naher Zukunft voraussagten, wie zum Beispiel das Schuss-Attentat auf Ronald Reagan, welches er während einer Lehrveranstaltung durch die Analyse kollektiver Phantasiebilder vorhersagte. Er nannte diese von ihm geschaffene Methode „Fantasy Analysis“: Anhand von medialen Bildern (Cartoons, Titelblätter, Filme) ließen sich politische Ereignisse vorhersagen.

Zu seinen bedeutenden wissenschaftlichen Errungenschaften gehört das von ihm kreierte Modell der Psychoklassen, das den Fortgang der Menschheit in rhythmischen Aufeinanderfolgen derselben beschreibt. Die Grundlage bilden die sechsstufigen Kindererziehungsmodi, wobei jeder Modus eine Psychoklasse hervorbringt – innovativ oder rückschreitend.

Die Arbeiten von deMause waren stets transdisziplinär; er verband historische, anthropologische, psychoanalytische, politologische und neuropsychologische Erkenntnisse aus der Pränatalforschung, erstellte logische Zusammenhänge zwischen religiösen, fantasierten und pragmatischen historischen Entwicklungen, schilderte die fatalen Folgen der Gewalt an Kindern als Ursache kriegerischer Auseinandersetzungen – und er startete Projekte, die seine Theorie empirisch untermauerten, wie z.B. die Errichtung von Elternschulen in Boulder, Colorado, mit langfristiger Evaluation der sozialen und ökonomischen Folgen.

Mit seinem vorletzten großen Werk – einer Summa – Das emotionale Leben der Nationen – legte Lloyd im Jahre 2002 sein Lebenswerk der Öffentlichkeit vor. Es ist ein Opus von symphonischer Qualität, ein flüssig lesbarer Erklärungszusammenhang menschlicher Entwicklung, der geradezu herausfordert, kritisch diskutiert zu werden. Es war sein letztes Buch. The Childhood Origins of War konnte er nicht mehr in Buchform herausgeben. Eine Alzheimer Erkrankung verhinderte dies.

Die Arbeiten und Publikationen von Lloyd deMause machten ihn in der wissenschaftlichen Community zur bedeutenden Persönlichkeit und lösten dort Kontroversen aus. Ein zentraler Konflikt bestand in der rigorosen Ablehnung von deMause gegenüber ökonomischen Theorien von kapitalistischer Ausbeutung als Ursache für Gewalt. Die Ökonomie wäre immer nur so gewalttätig wie die darin Agierenden, während jedoch die Politik sich gar nicht ökonomisch vernünftig verhalte,
wenn sie Kriege anzettle, die deutlich mehr kosteten, als sie bringen würden. Demütigung und Rache, frühkindlich induziert, stellen das Problem psychogener Evolution dar, so deMauses Erkenntnis aus seinen Studien.

Die Bedeutung der Arbeiten und Theoriemodelle von Lloyd deMause werden sich noch über Generationen auswirken. Sein Grundgedanke hat sich sowohl legislativ als auch in konkreten Fortschritten in vielen westlichen Ländern niedergeschlagen, zum Beispiel in Form von Gesetzen, die Gewaltausübung gegen Kindern unter Strafe stellen. Er beurteilte den psychogenen Zustand eines Kollektivs gerne anhand – sofern vorhanden – der Statistiken über Kindesmissbrauch. Er verblüffte mich oft mit harschen Antworten auf meine Fragen, wie etwa die, ob es vernünftig sei, die Türkei in die EU aufzunehmen. Er meinte, das wäre noch viel zu früh; und es würde noch mindestens drei Generationen brauchen, bis man so etwas auch nur in Erwägung ziehen sollte.

Nach unseren Begegnungen in den 80er Jahren verloren wir uns aus den Augen, bis Jerrold Atlas, ein Weggefährte von deMause, dem ich eine Gastprofessur an der AlpenAdria Universität Klagenfurt verschaffte, 2003 mit dem Wunsch an mich herantrat, „The Emotional Life of Nations“ auf Deutsch herauszugeben; was in einer Übersetzungsarbeit mündete, die ich an die Bedingung knüpfte, dass Lloyd zur Buchpräsentation 2005 nach Österreich käme, was er nur widerwillig tat, es dann letztlich doch auch sehr genoss. Danach trafen wir uns 2006 in London wieder. Er war zu einem Vortrag in der Winnicott Clinic eingeladen worden. Sein Vortrag wurde zum Skandal, weil er behauptete, dass Österreich und Deutschland an Ländern wie Amerika und Großbritannien in Bezug auf moderne Kindererziehung vorbei gezogen wären.

In seiner Wohnung in Manhattan, wo ich des öfteren übernachtete, lernte ich ihn und seine Familie kennen, und einen Mann so voller aufrichtiger Herzlichkeit und Wärme, wie es sie nur selten gibt. Bei unserer letzten Begegnung 2013 in NYC umarmten wir uns, um im nächsten Moment Fremde zu sein. Aufgrund seiner damals beginnenden Alzheimer Erkrankung erkannte er mich nicht mehr.

Christian Lackner, Klagenfurt, am 29. April 2020, im Auftrag des Vorstandes der Gesellschaft für Psychohistorie und Politische Psychologie, GPPP

Dienstag, 28. April 2020

Der Psychohistoriker Lloyd deMause ist gestorben


Der Psychohistoriker Lloyd deMause ist im Alter von 88 Jahren gestorben. Dies berichteten einige Weggefährten in der Diskussionsgruppe von „Clios Psyche“. Mittlerweile ist der Tag seines Todes auch bei Wikipedia eingetragen.

Für mich ist es somit Zeit für eine persönliche Rückschau. Es muss ca. im Jahr 2007 gewesen sein, als ich sein bahnbrechendes Buch „Das emotionale Leben der Nationen“ (das in Deutschland 2005 herausgegeben wurde) in die Hände bekam. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich auf das Buch aufmerksam geworden bin. Aber ich erinnere mich sehr genau an den Moment, als ich das Inhaltsverzeichnis las. Das Inhaltsverzeichnis für sich haute mich damals geradezu vom Hocker! Das Buch war für mich ein Schlüsselmoment in meinem Leben.

Ich muss zunächst noch etwas weiter zurückschauen. Seit dem Jahr 2002 befasse ich mich mehr oder weniger intensiv mit dem Gesamtthema Kindesmisshandlung und den Folgen. Damals hatte ich als Student an der UNI Hamburg zunächst die Bücher „Am Anfang war Erziehung“ und „Das Drama des begabten Kindes“ von Alice Miller in die Hände bekommen. In einem Buch über männliche Sozialisation und kritische Männerforschung las ich dann ein Zitat von Arno Gruen, das in etwa so lautetet: „Hass hat seine Ursache im Selbsthass“. Daraufhin besorgte ich mir Bücher von Arno Gruen, der 2001 für sein Buch „Der Fremde in uns“ den Geschwister-Scholl-Preis erhalten hatte. „Der Fremde in uns“ war ebenfalls ein Schlüsselmoment für mich.

Parallel hatte ich am Fachbereich Erziehungswissenschaften ein studentisches Seminar ins Leben gerufen und geleitet, in dem zukünftige Lehrer und Lehrerinnen über das Thema „Sexueller Missbrauch von Kindern“ aufgeklärt wurden (das Thema stand damals nämlich nicht auf dem Lehrplan für zukünftige Pädagogen, was ich als Mangel empfand. Wie das heute ist? Keine Ahnung...). Damals studierte ich Soziologie und im Nebenfach auch Politik. In einem Seminar über die Kriegsursachen am Fachbereich Politikwissenschaften brachte ich mein Wissen über Kindesmisshandlung, Kindesmissbrauch, Arno Gruen und Alice Miller in einer Hausarbeit zusammen. Diesen Text – den ich als (mittlerweile veralteten) Grundlagentext für diesen Blog bezeichne - arbeitete ich dann in meiner Freizeit weiter aus.

2008 gründete ich diesen Blog. Aber: Dem voraus ging die Lektüre des o.g. Buches von Lloyd deMause! Denn eigentlich hatte ich 2007 schon ein ganzes Stück weit mit dem Thema abgeschlossen. Ich dachte mir: Es gibt da eigentlich kaum noch mehr zu entdecken. DeMause hat mich eines Besseren belehrt. Ich las weitere Bücher und Artikel von ihm und tauchte immer mehr in das Thema Psychohistorie ein. Ich bin nicht ganz sicher, aber im Grunde würde ich behaupten, dass dieser Blog wahrscheinlich nicht entstanden wäre, wenn ich damals nicht die Arbeit von deMause entdeckt hätte. Und in der Folge wäre dann auch mein Buch nicht entstanden. Daran denke ich heute und möchte mich für seine enorm wichtige Arbeit hier öffentlich bedanken!

Ich nahm auch seine Schwächen war, z.B. sein Hang zu „Extremen“, sein Hang immer die schlimmsten Zahlen zu zitieren und nicht ein Mittelmaß zu finden oder auch sich - so empfand ich dies - manchmal mit großer Selbstsicherheit zu sehr in psychoanalytische Deutungen zu verstricken. Er kam aber auch aus einer anderen Zeit und seine Arbeiten waren Pionierleistungen. Vermutlich brauchte es da auch ein besonderes Nachvornepreschen.

Was mich immer besonders beeindruckt hat ist (bei allen Extremen, die er hatte) seine oftmals bestechende Klarheit in der Sprache und Sicht. Und seine Texte reißen einen auch mit (das gilt auch für seine Kritiker, die sich ausgiebig mit ihm befasst haben und nicht von ihm lassen konnten).

Diese Klarheit zeigt sich eindrucksvoll auch in einem kurzen Interviewausschnitt mit DeMause, das als Video online zu sehen ist. Kurz, authentisch und präzise macht er klar, dass Hitlers Kampf für das Dritte Reich gegen die mächtigsten Länder der Welt von vornherein rational keinen Sinn machte und dass Kriege emotionale Ursachen haben können. Es war klar, dass Hitlerdeutschland auf Dauer nur verlieren konnte. Dass das „Verlieren“, dass auch der eigene Tod und das Opfern von Millionen Menschen der eigentliche (emotionale) Sinn hinter solchen Phänomenen sein kann, dass hat DeMause in diesem Interview auf seine ihm eigene Art so herrlich deutlich gemacht.
Gut, dass es diesen Menschen gab!

Samstag, 25. April 2020

Step Inside the Circle: Die Kindheitserfahrungen von Gefängnisinsassen

Das Beste, was ich seit langem gesehen habe (hat mich glatt zu Tränen gerührt)! "Step Inside the Circle". (siehe dazu auch das Projekt: Compassion Prison Project)

Gefängnisinsassen gehören zu den mit am häufigsten in der Kindheit traumatisierten und belasteten Menschen überhaupt. Siehe Infos dazu hier im Blog: Kindheit von Gewalt- und Straftätern. Wann endlich werden diese Daten von der Gesellschaft ernst genommen?

Donnerstag, 16. April 2020

China und die Ein-Kind-Politik. Eine traumatisierte Gesellschaft?

Ich habe gestern den Dokumentarfilm „Land der Einzelkinder“ (orig. Titel: One Child Nation) in der ARD-Mediathek gesehen (leider ist der Film seit heute nicht mehr aufrufbar).

Den englischen Trailer dazu gibt es hier zu sehen.

Der Film hat mich tief erschüttert! Die Ein-Kind-Politik hat in China zwischen 1979 und 2015 eine traumatisierte Gesellschaft hinterlassen. Das ist zumindest der Schluss, den ich aus den gezeigten Informationen ziehe.

  • Kinder schämten sich für ihre Geschwister, denn nur ein Kind war gesetzlich erlaubt. 
  • Säuglinge und Kleinkinder wurden (wenn es bereits ein Kind in der Familie gab) ihren Familien entrissen und oftmals über ein Waisenhaussystem an Eltern in westlichen Gesellschaften „verkauft“. 
  • Frauen wurden zu Abtreibungen und Sterilisationen gezwungen. 
  • Wer gegen die Regeln verstieß oder wer sein Kind nicht ausliefern wollte, dem wurde auch schon Mal das Haus eingerissen. 
  • Vor allem weibliche Säuglinge wurden in Körben an Straßenrändern oder auf Märkten abgelegt. In der Hoffnung, jemand würde sie vielleicht mitnehmen. Viele starben einfach. Mädchen waren einfach nichts wert. 
  • Zurück blieben Angehörige (und auch Geschwisterkinder), die bis heute nicht wissen, was mit diesen ausgesetzten oder entrissen Kindern passierte, ob sie noch leben und wie es ihnen geht

Es ist zutiefst erschütternd, wie ein Mann berichtet, dass er als Jugendlicher ständig tote Säuglinge am Straßenrand gesehen hatte. Irgendwann beschloss er zu helfen und brachte die gefunden Säuglinge in ein Waisenhaus. Daraus entwickelte sich aber bald ein Geschäftsmodell, denn die Waisenhäuser bezahlten die „Finder“ und „verkauften“ die Kinder gen Westen.

Besonders tragisch und berührend ist der Bericht über eine Hebamme. Sie hat hunderte Kinder abgetrieben. Nicht selten lebten die Föten (nicht selten abgetrieben im 8. oder 9. Monat) noch. Ihre Schuld ist ihr sehr bewusst. Die Befehle kamen von Oben, aber ausgeführt habe die Befehle doch sie, sagte sie ganz direkt. Im hohen Alter setzt sie sich jetzt nur noch für Paare ein, die Probleme haben, Kinder zu bekommen. Sie hofft, dass sie ihre Schuld dadurch wiedergutmachen kann. In einem Raum zeigt sie die Bilder all der Kinder, die mit ihrer Hilfe auf die Welt gekommen sind…

Wer die Geschichte Chinas etwas kennt, der weiß, dass diese Nation oft traumatisiert wurde. Alleine der Terror unter Mao hinterließ überall traumatisierte Menschen und natürlich Millionen Tote. Der o.g. Bericht zeigt ein weiteres kollektives Trauma auf. Besonders fatal: All dies darf und kann in einer weiterhin bestehenden Diktatur nicht aufgearbeitet werden. Hinzu kommt ein hohes Ausmaß von körperlicher und psychischer Gewalt gegen Kinder im Elternhaus (Early childhood exposure to non-violent discipline and physical and psychological aggression in low-and middle-income countries: National, regional, and global prevalence estimates / siehe Figure 3. Estimated proportion of 2- to- 4-y-olds exposed to physical aggression in LMICs + Figure 4 / + Gewalt gegen Kinder im Elternhaus ist weiterhin legal in China: siehe entsprechenden Länderreport + weitere Daten zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder hier).

Da sich die chinesische Gesellschaft ökonomisch und technisch rasant entwickelt hat und die Menschen dadurch auch ein Stück weit zur Ruhe kommen (nicht mehr im Existenzkampf sind), befürchte ich, dass die kollektiven Traumata irgendwann mit einem großen Knall nach oben kommen. Eine solche Trauma-Geschichte lässt sich auf Dauer nicht kollektiv verdrängen. Ich hoffe sehr, dass dieser Knall nicht wiederum mit Gewalt endet.

Montag, 30. März 2020

Corona-Virus: Als wäre ein Krieg ausgebrochen…

(aktualisiert am 01.04.2020)

Gleich ein Hinweis vorweg: Ich nehme die Gefahr durch das Corona-Virus (COVID-19) sehr ernst (dabei vor allem die potentielle Überlastung des Gesundheitssystems und die besondere Gefahr für ältere oder vorerkrankte Menschen). Ich glaube an die Wissenschaft und derzeit wird die Politik ganz deutlich durch Ratschläge aus der Wissenschaft bestimmt. Wie das Ganze im nachhinein zu beurteilen ist, wird sich wohl erst ca. in einem Jahr zeigen.

Mir geht es in diesem Beitrag um etwas anderes: Ich habe in den letzten Tagen und Wochen sehr viel „Kriegs-Rhetorik“ in den Medien oder auch Reden von Politikern wahrgenommen. Auf das Ausmaß dieser Rhetorik (die sich auch international findet) möchte ich hiermit hinweisen.

Von "Krieg" ist ganz offen die Rede, ebenfalls von "Fronten" oder es werden Vergleiche mir "Waffen" gezogen, die man gegen den "Feind" oder den "Gegner" einsetzen wolle. Und die "Einschläge" kämen näher. Ärzte und Pflegepersonal werden als "Kanonenfutter" dargestellt, die unvorbereitet in "die Schlacht" ziehen müssten. Bzgl. der Folgen für Wirtschaft und Menschen ist immer häufiger auch von "Kollateralschäden" die Rede, einem Begriff, der so auch im Krieg oft fällt.
(Gleichzeitig ist von "Helden" die Rede, die in diesen "Kriegs-"Zeiten gefeiert werden müssten und von den "Opfern", die wir jetzt alle bringen müssen. Und es wird von einer "Luftbrücke" gesprochen, um deutsche Urlauber heim zu holen. Zu diesen zuletzt genannten Bereichen habe ich unten aus Zeit- und Platzgründen nichts aufgestellt, aber wer mag und sucht, wird sehr schnell etliche Artikel mit diesen Begriffen finden.)

Mich befremdet dieser „Kriegsvergleich“ sehr! Wir haben es mit einer sehr ernsten und großen Krise zu tun, die gemeistert werden muss und die gemeistert werden wird. Ein Virus ist kein Feind, er ist ein Gesundheitsproblem. Die „Kriegsrhetorik“ zeigt mir, dass aktuell viele Menschen offensichtlich emotional sehr tief berührt oder gar getriggert werden und in einen inneren Zustand des „Freund-Feind-Schemas“ verfallen. Gleichzeitig drängen andere Probleme in den Hintergrund und die große Gemeinschaft, "das Ganze" wird beschworen. Svenja Flaßpöhler (Philosophin und Publizistin) hat  bei "maybrit illner" am 12.03.2020 folgendes gesagt: "Wir haben endlich mal wieder einen gemeinsamen Feind, ein Virus." Ihren Ausspruch verstehe ich als Deutung der aktuellen, gesellschaftlichen Situation und der gesellschaftlichen Befindlichkeiten, nicht unbedingt als ihre Ansicht. Ich bin kein Psychoanalytiker oder Traumaexperte, es macht aber Sinn, sich diese Rhetorik anzuschauen und sich Gedanken darüber zu machen.

Ich habe in der folgenden Aufstellung vor allem Schlagzeilen oder manchmal auch Zwischenüberschriften aus verschiedenen Medien ausgewählt (die Liste hätte noch länger sein können), die für sich sprechen: 


Zwischenüberschrift: „Der Feind ist erkannt. Doch unsere Waffen gegen das Virus sind noch nicht geschärft. Die Logik erzwingt, dass wir uns eingraben.“ (Stern, Nr. 13, 19.03.2020, S. 61, von Christoph Koch)

Ungarns Premier Viktor Orbán sprach von einem "Zwei-Fronten-Krieg": „Einerseits gibt es die Frontlinie namens Migration und es gibt die der Coronavirus-Epidemie.“ 
https://www.dw.com/de/coronavirus-in-orb%C3%A1ns-ungarn-soros-die-migranten-und-die-seuche/a-52804365

"Corona-Hilfen für die Wirtschaft. Scholz und Altmaier zücken die Bazooka" und im Textverlauf des Artikels: "Es ist die Bazooka", sagte Scholz über ein gemeinsam mit Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) vorgestelltes Hilfspaket gegen die Folgen der Corona Krise. "Was wir dann noch an Kleinwaffen brauchen, das gucken wir später." (Hervorhebung durch mich)
https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/coronavirus-so-wollen-olaf-scholz-und-peter-altmaier-der-wirtschaft-helfen-a-4a59424b-9721-4905-bdc5-0d3c87ea8882

Roberto Burioni. "Wir führen Krieg gegen einen Feind, der unsere Gewohnheiten ausnutzt"
https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-03/roberto-burioni-italien-virologe-coronavirus

ANTÓNIO GUTERRES. Dem Coronavirus den Krieg erklären
https://www.derstandard.de/story/2000115815507/covid-19-gemeinsam-durchstehen

O-Ton Joe Biden über Corona: "Das hier ist Krieg. Und im Krieg tust du alles, um deine Leute zu retten."
https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/bernie-sanders-corona-joe-biden-tv-duell

Ausgehsperre in Frankreich. "Wir sind im Krieg"
(Insgesamt sechs Mal habe Frankreichs Präsident Macron diesen oben im SPIEGEL-Titel zitierten Satz in einer Rede an die Nation wiederholt, heißt es im Artikel weiter!!)
https://www.spiegel.de/politik/ausland/coronavirus-in-frankreich-wir-sind-im-krieg-a-50b0dce2-6f7e-4cba-bda1-87fe05bfc7ca

Trump verweigert Hilfe. Schutzlos an vorderster Front: Virus tötet Bus- und Bahnfahrer in New York
https://www.focus.de/politik/ausland/die-stadt-die-schlafen-muss-corona-zwingt-new-york-in-die-knie_id_11822136.html

MICHAEL INACKER KRITISIERT KANZLERIN MERKEL WEGEN CORONA-UMGANG. „Die tatsächliche Lage an der Front ist katastrophal“
https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/coronavirus-die-tatsaechliche-lage-an-der-front-ist-katastrophal-69489554.bild.html

An vorderster Front gegen das Virus: So fühlen sich Rostocks Corona-Helden
https://www.ostsee-zeitung.de/Mecklenburg/Rostock/An-vorderster-Front-gegen-das-Virus-So-fuehlen-sich-Rostocks-Corona-Helden

Corona: Sachsen macht Front gegen das Virus
https://www.lvz.de/Region/Mitteldeutschland/Sachsen-macht-Front-gegen-Corona

Papstsekretär: Priester müssen "an der Front" der Corona-Epidemie sein
https://www.katholisch.de/artikel/24873-papstsekretaer-priester-muessen-an-der-front-der-corona-epidemie-sein

Arzt zu Corona: „Man schickt uns ungeschützt an die Front“
https://www.waz.de/region/rhein-und-ruhr/corona-viele-hausaerzte-im-revier-haben-keine-schutzkleidung-id228596713.html

CORONA-PANDEMIE. Vietnams Kriegserklärung an Corona
https://www.dw.com/de/vietnams-kriegserkl%C3%A4rung-an-corona/a-52923517

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu: "Wir befinden uns im Krieg mit einem Feind: dem Coronavirus" (im Textverlauf)
https://www.die-tagespost.de/politik/aktuell/Betet-zuhause;art315,206436

KRANKHEIT. „Maßnahmen für Krieg“: Eskaliert die Situation um den Coronavirus?
https://www.kosmo.at/massnahmen-fuer-krieg-eskaliert-die-situation-um-den-coronavirus/

Das Coronavirus versetzt Norditalien in den Kriegszustand
https://web.de/magazine/news/coronavirus/coronavirus-versetzt-norditalien-kriegszustand-34535976

„Kriegspräsident“ Trump rüstet zum Kampf
https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/trump-ruestet-zum-kampf-gegen-corona-gesetz-fuer-kriegszeiten-16686390.html

Trump in der Corona-Krise. Der unentschlossene Kriegspräsident
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus-usa-trump-100.html

Donald Trump kämpft jetzt als „Kriegspräsident“ gegen das Coronavirus
https://rp-online.de/panorama/coronavirus/coronavirus-usa-donald-trump-kaempft-jetzt-als-kriegspraesident_aid-49801477

„Wir befinden uns in der bedeutendsten Mobilmachung der Industrie seit dem Zweiten Weltkrieg“, sagte Trump-Berater Peter Navarro bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Trump im Weißen Haus zum Thema Corona-Krise
https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/trump-im-krieg-gegen-corona-mehr-als-100-000-infizierte-in-usa-16700550.html

"Wir werden uns nie ergeben und wir werden siegen" erklärte der spanische Präsident Pedro Sánchez zum Thema Corona-Virus
https://www.zdf.de/comedy/heute-show/heute-show-vom-20-maerz-2020-100.html (relativ am Anfang der Sendung)

"Wir befinden uns im Krieg", mahnte der griechische Regierungschef Mitsotakis auf Grund der Corona-Krise in einer TV-Ansprache. "Der Feind ist hinterhältig und unsichtbar"
https://www.handelsblatt.com/dpa/wirtschaft-handel-und-finanzen-virus-mitsotakis-zu-coronakrise-wir-befinden-uns-im-krieg/25654426.html?ticket=ST-1588965-pSjrt3TPveYn7elRDkxy-ap3

CORONA-KRISE. Die Weltmacht im Kriegszustand
https://www.nwzonline.de/hintergrund/new-york-washington-corona-krise-die-weltmacht-im-kriegszustand_a_50,7,3319944325.html

Corona-Krise in Italien: Die "Schlacht um Mailand" steht bevor
https://www.wort.lu/de/international/corona-krise-in-italien-die-schlacht-um-mailand-steht-bevor-5e763aafda2cc1784e3597c7

Arzt schildert Lage in Bergamo. "Der Krieg ist losgebrochen, die Schlachten sind erbarmungslos"
https://www.t-online.de/nachrichten/panorama/id_87492038/coronavirus-italien-arzt-berichtet-ueber-dramatische-zustaende-in-bergamo.html

Vom Mali-Einsatz an die Virus-Front – Bundeswehrkrankenhaus erwartet die Corona-Schlacht
https://www.schwaebische.de/ueberregional/panorama_artikel,-vom-mali-einsatz-an-die-virus-front-bundeswehrkrankenhaus-erwartet-die-corona-schlacht-_arid,11204406.html

CORONAVIRUS. Die Wissenschaft wirft gegen Covid-19 alles in die Schlacht
https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/wissen/forschung/2054561-Die-Wissenschaft-wirft-gegen-Covid-19-alles-in-die-Schlacht.html

(Untertitel) Die Pandemie wird zu einem neuen Schlachtfeld in einem schon lange währenden Informationskrieg.
https://www.dw.com/de/desinformation-und-propaganda-in-corona-zeiten/a-52952995

Rechte US-Medien: Waffenbrüder
Um Donald Trump zu verstehen, muss man rechte US-Medien verfolgen. In der Corona-Krise haben sich deren Protagonisten und der Präsident auf ein Narrativ geeinigt: Krieg.
https://www.zeit.de/kultur/2020-03/rechte-us-medien-coronavirus-berichterstattung-stephen-bannon-tucker-carlson/komplettansicht

Gemeinde Vò in Norditalien: „Wir haben gelernt, dass das Coronavirus wie ein Scharfschütze ist.“ (Zitat aus dem Artikeltext)
https://www.welt.de/politik/ausland/plus206855551/Vo-in-Italien-Die-Kleinstadt-die-Corona-besiegt-hat.html

 Bürgermeister von Bergamo (Italien): "Es ist erschütternd, was Freunde, die dort fast wie im Schützengraben arbeiten, erzählen. Sie arbeiten rund um die Uhr, ohne zu schlafen." (Zitat aus dem Artikeltext)
https://www.sueddeutsche.de/panorama/coronavirus-italien-bergamo-1.4851056

„Das Spital Papst Johannes XXIII ist das drittgrößte in der Lombardei – und es ist in den letzten drei Wochen zu einer Art nationalem Schützengraben im Krieg gegen das Coronavirus geworden.“ (Aus dem Artikeltext)
https://www.rnd.de/panorama/corona-in-italien-wie-ist-die-aktuelle-lage-der-rnd-report-aus-rom-4Z4IRS7XHJDNZAUV445S6VFWEU.html

Coronavirus-Pandemie. "Medizin wie im Krieg": Kliniken im Elsass arbeiten am Limit
https://www.badische-zeitung.de/medizin-wie-im-krieg-kliniken-im-elsass-arbeiten-am-limit--184385358.html

Notstand in Norditalien. Wie im Krieg: Nur Viruskranke mit guten Chancen dürfen auf die Intensivstation
https://www.focus.de/politik/ausland/dramatischer-krankenhaus-notstand-triage-wie-im-krieg-norditaliens-aerzte-waehlen-intensivpatienten-nach-infektionsschwere-aus_id_11796601.html

„Die Menschen haben wie im Krieg ganz viele Vorräte eingekauft“
https://www.welt.de/vermischtes/video206454089/Sperrzone-Italien-Die-Menschen-haben-wie-im-Krieg-ganz-viele-Vorraete-eingekauft.html

"Wie im Krieg": Leer gefegte Straßen, rigorose Kontrollen in Italien
https://www.tt.com/artikel/30722924/wie-im-krieg-leer-gefegte-strassen-rigorose-kontrollen-in-italien

"Der Einschlag wird kommen"
https://www.spiegel.de/panorama/drohende-corona-welle-in-deutschland-der-einschlag-wird-kommen-a-945438f3-a4eb-4c93-ba1d-672df7088f7b

Corona: Die Einschläge kommen näher
https://www.ingolstadt-today.de/news/corona-die-einschlaege-kommen-naeher-a-27557

Titel: "Ausnahmezustand"
Im Untertitel: Die Pandemie "versetze unsere Gesellschaft in den Kriegsmodus - ohne Krieg"
Im Text bzw. Interview mit dem Soziologen Armin Nassehi: "In der jetzigen Krise müssen die unterschiedlichen Kräfte sich aufeinander beziehen. Historisch gesehen ist das immer nur in Situationen des Ausnahmezustands gelungen. Und das waren meist Kriegssituationen" und etwas weiter ergänzt er: "Kriegswirtschaft ohne Krieg".  (Hervorhebung durch mich)
(DER SPIEGEL, 28.03.2020, Nr. 14, S. 110)

Merkels Corona-Rede: Mit der Kanzlerin im Schützengraben
Im Text heißt es weiter, dass Merkel "in den Verteidigungsmodus" geschaltet habe und weiter heißt es: "Die Kanzlerin im Schützengraben – und sie zieht die Bevölkerung mit hinter die Sandsäcke. Die Verantwortung für eine erfolgreiche Abwehrschlacht gegen Covid-19, so die Botschaft Merkels, liegt bei jedem einzelnen." (Hervorhebung durch mich)
https://www.theeuropean.de/ansgar-graw/kanzlerin-ruft-auf-zu-gemeinsamen-anstrengungen/

Amerikaner decken sich wegen Coronavirus mit Waffen und Munition ein
https://www.focus.de/finanzen/boerse/wirtschaftsticker/virus-amerikaner-decken-sich-wegen-coronavirus-mit-waffen-und-munition-ein_id_11797230.html

CORONAVIRUS. Die Wirtschaft geht in den Kriegsmodus. Was nötig ist, wird produziert
https://www.welt.de/wirtschaft/article206715127/Coronavirus-Die-Wirtschaft-geht-in-den-Kriegsmodus.html

Nahost. Wie gegen Terroristen
Israel schaltet auf Kriegsmodus, um die Ausbreitung der Pandemie in den Griff zu bekommen.
 https://www.weltwoche.ch/ausgaben/2020-12/artikel-569692/wie-gegen-terroristen-die-weltwoche-ausgabe-12-2020.html

Angst vor dem unsichtbaren Feind: Syrien und das Coronavirus
https://www.dw.com/de/angst-vor-dem-unsichtbaren-feind-syrien-und-das-coronavirus/a-52857118

WHO-Chef Ghebreyesus nennt Coronavirus „Feind der Menschheit“
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/111172/WHO-Chef-Ghebreyesus-nennt-Coronavirus-Feind-der-Menschheit

Das Coronavirus als gemeinsamer Feind. So könnte das Gemeinwesen genesen
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/das-coronavirus-als-gemeinsamer-feind-so-koennte-das-gemeinwesen-genesen/25643730.html

Für die WHO ist das Coronavirus der „Staatsfeind Nummer eins“
https://www.welt.de/vermischtes/video206805593/Kampf-gegen-COVID-19-Fuer-die-WHO-ist-das-Coronavirus-der-Staatsfeind-Nummer-eins.html

Krefelder Corona-Patient verlässt Intensivstation: Feuerwehr „kämpft gegen unsichtbaren Feind“
https://rp-online.de/nrw/staedte/krefeld/coronavirus-in-krefeld-feuerwehr-kaempft-gegen-unsichtbaren-feind_aid-49597271

Merkel zu Coronavirus: "Gegner, den wir nicht kennen"
https://www.sueddeutsche.de/politik/merkel-zu-coronavirus-gegner-den-wir-nicht-kennen-1.4844791

Kampf gegen einen unsichtbaren Gegner
https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/coronavirus-in-deutschland-kampf-gegen-einen-unsichtbaren-gegner-16653146.html

CORONAVIRUS. Bundesregierung spannt gigantischen Schutzschirm: „Alle Waffen auf den Tisch“
https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/coronavirus-bundesregierung-spannt-gigantischen-schutzschirm-alle-waffen-auf-den-tisch/25642060.html?ticket=ST-2202840-eT9frk9gwXEwJL4jcjgT-ap5

Der Sommer - unsere Waffe gegen das Coronavirus?
https://www.mdr.de/thueringen/corona-klima-resistenz-sommer-winter-virus-100_box--1088467669092664022_zc-194f1a06.html

Rinesh Parmaar, der Chef der britischen Ärztevereinigung:
„Die Ärzte fühlen sich wie Lämmer auf dem Weg zur Schlachtbank oder wie Kanonenfutter. Hausärzte fühlen sich im Stich gelassen. Wir appellieren an den Premierminister, wir müssen die Leute hier an der Front schützen.“ (Hervorhebung durch mich)
https://www.deutschlandfunk.de/coronavirus-in-grossbritannien-britisches-gesundheitssystem.1773.de.html?dram:article_id=473075

Der französische Hausarzt Alain Colombié hat Berichten zu Folge auf Facebook aus Protest wegen der fehlenden Unterstützung in der Corona-Krise ein Nacktfoto von sich veröffentlicht.
Auf einer Kopfbinde schrieb er "chair à canon" (Kanonenfutter). Präsident Emmanuel Macron verlange von Ärzten, "in demselben Aufzug in die Schlacht zu ziehen, den ich auf dem Foto trage" (Hervorhebung durch mich)
https://www.derstandard.at/story/2000116121465/coronavirus-arzt-protestiert-online-mit-nacktfoto-gegen-zustaende-in-frankreich

In einer Onlinepetition von Pflegekräften heißt es: "Nein, es ist nicht wertschätzend, Kanonenfutter zu sein!" (Hervorhebung durch mich)
https://www.change.org/p/covid2019-gemeinsamer-pflegefachkr%C3%A4fte-aufruf-an-jensspahn

Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte zur Corona-Krise:
"Wir sind alle an der Front" und "Wenn nur ein Vorposten nachgibt, nur ein Schützengraben zusammenbricht, dann breitet sich der Feind im Inneren aus."
https://www.afp.com/de/nachrichten/3966/italiens-ministerpraesident-will-deutschland-von-corona-bonds-ueberzeugen-doc-1qb0kw3
Titel: Interview mit Jean Asselborn. "Sind Kollateralschaden geworden": Luxemburg-Minister übt harte Kritik an Deutschland
https://www.focus.de/politik/ausland/aussenminister-asselborn-es-geht-jetzt-um-die-existenz-der-europaeischen-union_id_11838212.html

Wirtschafts-Crash als Kollateralschaden der Virusbekämpfung?
https://computerwelt.at/news/kommentar/wirtschafts-crash-als-kollateralschaden-der-virusbekaempfung/

Siehe weitere Beispiele unten in den Kommentaren!


Montag, 23. März 2020

Hitlers Kindheit im Schatten des Todes und Gedanken zum "Traumagesamtpaket"

(aktualisiert am 07.12.2020)

Über die Kindheit von Adolf Hitler habe ich hier im Blog bereits in einem älteren Beitrag aus dem Jahr 2008 sowie in meinem Buch etwas geschrieben. Dabei habe ich mich auf häufige Gewalterfahrungen (ausgehend vor allem vom Vater) konzentriert. Ich bedaure mittlerweile, dass ich in meinem Buch nicht einen weiteren Punkt besonders hervorgehoben habe, aber dies hole ich hiermit nach: Hitlers Familie und Kindheit stand stets im Schatten des Todes!

Alois Hitler (Hitlers Vater) heiratete kurz nach dem Tod seiner ersten Frau Anna seine Geliebte Franziska Metzelsberger, mit der er bereits während seiner Ehe ein Verhältnis hatte. Die neue Ehefrau drängte Klara (die spätere Mutter Adolf Hitlers), die sich zuvor um die kränkelnde Anna gekümmert hatte, aus dem Haus. Franziska erkrankte allerdings bald an Tuberkulose. Die junge Klara kehrte daraufhin zurück in den Haushalt, als Pflegerin und Haushaltshilfe. Vor der dem Tod geweihten Franziska begannen Klara und Alois schließlich ein Verhältnis. Nach dem Tod von Franziska im Jahr 1884 wurde alsbald Hochzeit gefeiert. Bei der Eheschließung war Klara 24 und Alois 47 Jahre alt (Leidinger & Rapp 2020, Kapitel: „Komplizierte Familienverhältnisse“).

Der Tod sollte eine alles bestimmende Größe im Hause Hitler bleiben. Klara bekam zunächst zwei Kinder: Gustav wurde am 15.05.1885 und Ida am 23.09.1886 geboren. Wenig später erkrankten die beiden Kinder an Diphterie: Gustav starb am 08.02.1887 und Ida am 02.01.1888 (Toland 1977, S. 24, 29). Am 20.04.1889 wurde schließlich Adolf Hitler geboren, im Schatten von zwei toten Kindern. Toland berichtet, dass Klara Hitler stets in Furcht gelebt habe, auch dieses Kind zu verlieren (Toland 1977, S. 24). Vermutlich steht dies in einem Zusammenhang mit dem Verhätscheln und dem – bis zur Geburt von Bruder Edmund am 24.03.1894 - ständigen Beaufsichtigen des Kindes durch seine Mutter, wovon Toland weiter berichtet.
Eine weitere Tragödie kam hinzu. Am 17.6.1892 wurde Otto geboren, er hatte allerdings einen "Wasserkopf" und lebte nur wenige Tage. Als Otto starb, war Adolf Hitler 3 Jahre alt (Nordwest Zeitung, 01.06.2016). 

Aber der Tod blieb nicht lange fern im Hause Hitler: Am 02.02.1900 starb Adolfs sechsjähriger Bruder Edmund an Masern (Toland 1977, S. 31). Adolf war zu der Zeit 10 Jahre alt. Wie er mit dem Tod des Bruders umging, wird nicht berichtet.

Am 03.01.1903 starb Alois Hitler in dem Wirtshaus, in dem er häufig einzukehren und Wein zu trinken pflegte (Toland 1977, S. 34). Ob der Tod des sehr gewalttätigen und strengen Vaters den damals dreizehnjährigen Adolf besonders berührte, mag dahingestellt sein. Manchmal aber ist gerade der frühe Tod von einem Elternteil, mit dem man zu Lebzeiten nie Frieden fand, eine besondere Belastung. So oder so, spurlos wird der frühe Tod des Vaters nicht an dem Jungen vorbei gegangen sein.

Anfang des Jahres 1907 wurde bei Klara Hitler Brustkrebs diagnostiziert. Am 21.12.1907 starb Klara Hitler, Adolf war zu der Zeit gerade einmal 18 Jahre alt und stand nun ohne Eltern da (Toland 1977, S. 49).

Als junger Mann musste Adolf Hitler schließlich – wie so viele seiner Genration - haufenweise den Tod von Menschen im Kampf während des Ersten Weltkriegs miterleben. Sein gesamtes Leben vor seiner Machtergreifung stand im Zeichen des Todes! Und das Leben nach seiner Machtergreifung stand millionenfach im Zeichen des Todes.

Machen wir hier einen Schnitt. 

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Prof. Dr. Gertrud Hardtmann hat mein Buch für socialnet besprochen und am Ende folgende Kritik eingefügt: „Unterschiede zwischen unvermeidlichen Wunden beim Tod von Geschwistern, Eltern und Freunden, Krankheiten und unverschuldeten körperlichen oder seelischen Beeinträchtigungen sind zu unterscheiden von durchaus vermeidbaren und damit auch bewusst gewollten und gewünschten Verletzungen der Würde und Unantastbarkeit eines Kindes, was von Fuchs zu wenig differenziert wurde.
Sie hat Recht, ich habe in meinem Buch die Kindheits-Belastungen diverser Akteure zusammengefasst und weitgehend den Lesenden überlassen, wie Sie dies deuten und bewerten. Mir war es vor allem wichtig, die Bandbreite der Belastungen von Gewalttätern, Diktatoren und Massenmördern aufzuzeigen und auf grundsätzliche Zusammenhänge zur Kindheitsgeschichte hinzuweisen.

Ein Blogleser hat kürzlich meine Besprechung der Kindheit des NS-Täters Werner Best hier wie folgt kritisch und ironisch kommentiert: „Aus dem Artikel lässt sich nichts anderes schließen, als dass Kinder, die einen Elternteil verloren haben, potentielle Naziverbrecher sind.“

Ich möchte beiden Kommentaren hiermit am Beispiel von Adolf Hitler entgegnen: 

Ich kann dies nicht durch wissenschaftliche Erkenntnisse belegen, allerdings bin ich davon überzeugt, dass schwere Schicksalsschläge in der Kindheit – Hardtmann nannte dies „unvermeidliche Wunden“ – wie der frühe Tod von Elternteilen oder Geschwistern nicht ausreichen, um einen solchen Hass auf die Welt zu entwickeln, dass ein Mensch zum Massenmörder wird. Auf der anderen Seite bin ich davon überzeugt, dass diese „unvermeidlichen Wunden“ kumulative Effekte haben und auch in einem Zusammenhang zu Hass und Hasstaten stehen können.

Wie klärt sich dies nun auf? Adolf Hitler wurde von seinem Vater schwer und häufig misshandelt und auch emotional gedemütigt, was ich u.a. in meinem Buch quellenbasiert ausgeführt habe. Seine Mutter hatte zudem eine sehr ungesunde, angstbesetzte Beziehung zu ihm, ja sie bewunderte und erhöhte ihren Sohn sogar. Der Psychoanalytiker Arno Gruen hat diese gestörte Mutterbeziehung Hitlers in seinem Buch "Der Fremde in uns" beschrieben.
Diese Grundlage, dieser elterliche Missbrauch ist das Fundament für Selbsthass und Hass auf Andere oder auch Hass auf die ganze Welt. Wir sehen dies immer wieder auch in den Kindheitsbiografien von rechtsextremen Gewalttätern, die ich hier im Blog besprochen habe. Wenn zu dieser Grundlage noch weitere Schicksalsschläge und traumatische Erfahrungen hinzukommen, dann wird das „Gesamttraumapaket“ des Individuums hochexplosiv. Im Falle Hitlers wird dies überdeutlich!

Betrachten wir es auch einmal so: Wäre Adolf Hitler in einem emotional gesunden, liebevollen Elternhaus aufgewachsen, ohne elterliche Gewalt, Demütigen und Missbrauch und hätte er ähnliche unvermeidbare Schicksalsschläge wie den Tod von Vater, Mutter und Bruder erlebt, er wäre meiner Auffassung nach nicht zum massenmörderischen Diktator geworden. Wohl aber wäre er schwer angeschlagen, wahrscheinlich auch traumatisiert durch sein Leben gegangen, vielleicht wäre er in der Folge auch in Depressionen und Angst gefangen. Aber er wäre bei einer liebevollen Grundlage nicht zum Massenmörder geworden.

Zweitens: Unvermeidbare Schicksalsschläge in der Kindheit wie Tod der Eltern können in einem Zusammenhang zu späterem Hass und Gewalthandeln stehen, wenn nach diesen Schicksalsschlägen durch diese bedingt weitere traumatische Erfahrungen auf das entsprechende Kind einprasseln, wie z.B. systematische Vernachlässigung, weil niemand sich um diese Kind kümmert oder sogar Misshandlungen in Heimkontexten oder in Pflegefamilien. Auch hier wäre dann das „Gesamttraumapaket“ relevant, nicht alleine die Schicksalsschläge.

Und noch zum Schluss: Natürlich hat der o.g. Kritiker nur bezogen auf Werner Best Recht mit seinem Einwand, denn bei Best fand ich wie in dem entsprechendem Blogbeitrag beschrieben keine Belege für elterliche Gewalt oder autoritäre Erziehung, ich fand nur Indizien und interpretierte dies. Und ich sehe die Kindheit von Werner Best im Grundkontext der damaligen Zeit: es deutet nun einmal sehr viel darauf hin, dass die um 1900 Geborenen im Deutschen Reich mehrheitlich autoritär erzogen wurden. Der Tod des Vaters im Fall von Werner Best und die entsprechenden Folgen wäre auch hier nur ein wichtiges Teil des „Gesamttraumapaketes“.

In meinem Buch habe ich die Kindheiten mehrerer NS-Täter besprochen. Neben oftmals routinemäßiger strenger, autoritärer Erziehung fand ich sehr oft ergänzende schwere Belastungen, wie Tod von Familienmitgliedern, Tod der besten Kindheitsfreundin, lange Krankenhausaufenthalte, Mobbing usw. Diese ergänzenden belastenden Erfahrungen sind nicht unbedeutend bei der Ursachenanalyse der NS-Zeit. Aber: Am Anfang war Erziehung!


Verwendete Quellen:

Leidinger, H. & Rapp, C. (2020): Hitler - Prägende Jahre - Kindheit und Jugend 1889-1914. Residenz Verlag, Salzburg – Wien. Kindle E-Book Version.

Nordwest Zeitung (2016, 01 Juni): NEUE ERKENNTNISSE ÜBER SEINE KINDHEIT. Hat der Tod von Hitlers Bruder den späteren Diktator geprägt? 

Toland, J. (1977): Adolf Hitler. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach.

Freitag, 20. März 2020

Anschlag in Hanau: Der Fall Tobias Rathjen

Um den Attentäter Tobias Rathjen, der am 19.02.2020 zehn Menschen ermordet hat, ist es schon lange recht still in den deutschen Medien geworden. Das ist auch gut so, weil solche Täter keine lange Aufmerksamkeit bekommen sollten, auch um Nachahmer ggf. abzuschrecken. Trotzdem darf aus präventiven Gründen nicht vergessen werden, die Hintergründe der Tat aufzudecken.

Ich gehe davon aus, dass in den nächsten Wochen oder Monaten weitere Erkenntnisse durch die Behörden öffentlich gemacht werden. Schon jetzt möchte ich einige Gedanken zu dem Fall hier loswerden:
  • Der Täter wandte sich in einem Video an die US-Amerikaner und warnte diese vor unterirdischen Militärbasen: "In manchen davon wird der Teufel persönlich angebetet. Sie missbrauchen, foltern und töten kleine Kinder." (SPIEGEL-Online, 21.02.2020:  Psychogramm eines Terroristen) Diese Fantasien von schwerer Gewalt gegen Kinder (parallel fühlte er sich auch seit seiner Kindheit von einem Geheimdienst überwacht) möchte ich hier besonders hervorheben, da ich dies auffällig finde.
  • Nach bisherigem Kenntnisstand tötete er nach seiner Mordserie zunächst seine Mutter und dann sich selbst, den Vater ließ er am Leben. Dieser Sachverhalt wurde zwar in den Medien vielfach besprochen, aber es wurden ergänzend keine Fragen gestellt, die in Richtung Selbsthass und Hass auf Elternteile gehen. 
  • In der WELT (Hock, A., Naber, I., Pfahler, L. & Lutz, M. (2020, 23. Feb.): Tobias R.‘s Vater galt als „Patriarch, der die Familie unterjochte“.) wurde ein ehemaliger Schulfreund (wohl der einzige, der dem Täter einigermaßen nahe gestanden hatte) zitiert: „Als Patriarch, der die Familie unterjochte, beschreibt Schulfreund F. den Vater.“ Der Vater, erzählte ein Nachbar dem Artikel folgend, sei „ein schwieriger Typ“. Jeder in der Gegend kenne Hans-Gerd Rathjen. 
Ich will nicht vorschnell urteilen. Noch gibt es auch keine Aussage des Vaters. Ich möchte aber einen Kommentar loswerden:

Ich habe in den vergangenen Jahren immer wieder derartige Fälle und die entsprechende Berichterstattung verfolgt. Auffällig häufig fanden sich entweder überdeutlich destruktive Kindheitshintergründe bei solchen Tätern (das Paradebeispiel dafür ist der Fall Breivik) oder sie deuteten sich zumindest an. Bei dem Amokläufer von Winnenden Tim Kretschmer fand ich z.B. im Grunde fast nichts über seine Kindheit. Allerdings sagte seine Mutter rückblickend: „Hätte er doch mich erschossen“ (Stuff, B. (2014, 19. Mai): Tims Eltern brechen ihr Schweigen – „Er fehlt mir so“). Gab es also eine begründete Wut auf die Mutter, von der sie wusste oder eine Ahnung hatte? Die Atmosphäre innerhalb der Familie wurde von Tims Schwester als „gefühlskalt“ beschrieben (FAZ.net, 09.09.2009: „Die Eltern sind mitverantwortlich“). Was sich hinter diesem einen Wort „gefühlskalt“ verbirgt, werden wir wohl nicht erfahren. Vielleicht werden wir auch im Fall von Tobias Rathjen nicht erfahren, was sich hinter den Worten  „Patriarch, der die Familie unterjochte“ verbirgt. Fakt bleibt aber, dass es diese mehr als auffälligen Wörter aus dem Umfeld dieser Täter gibt!

Und Fakt ist auch, dass es etliche Studien gibt, die destruktive Kindheitshintergründe von rechten Gewalttätern erfasst haben. Einige davon habe ich in den letzten Beiträgen hier im Blog vorgestellt, manch andere Studien in den letzten Jahren (siehe Inhaltsverzeichnis unter „Extremismus“). Die mediale Berichterstattung darf und sollte sich auf solche Studien beziehen, was bisher in Anbetracht von neuen Einzelfällen fast nie geschieht. Diese Studien lassen es einmal mehr als unwahrscheinlich erscheinen, dass solcher Art Täter aus fürsorglichen und liebevollen Familienverhältnissen stammen bzw. eine unbelastete Kindheit hatten. Ich erinnere ergänzend an einen Blogbeitrag von mir aus dem Jahr 2019: „Massenmord in El Paso und Dayton. Die Kindheit der Täter und Kindheitshintergründe in über 150 weiteren Fällen“. In über 150 Fällen von Massenmorden in den USA konnte eine wesentliche Gemeinsamkeit der Täter herausgestellt werden: Frühe Traumatisierungen in der Kindheit. Einiges deutet darauf hin, dass auch Tobias Rathjen in dieses Raster passt.

Sehr lesenswert ist auch der oben verlinkte Artikel "Tims Eltern brechen ihr Schweigen". Er zeigt das ganze Grauen und Leiden der Eltern und Familienmitglieder der Täter auf. Auch dies lässt einen nicht kalt und auch diese Familienmitglieder sind Opfer, natürlich. Die Frage ist aber auch, ob nicht gerade dieses Leiden der Familie auch ein Stück weit der böse Zweck hinter den Taten oder dies zumindest ein Teil des Ganzen ist? Wenn der Vater von Tobias Rathjen seine Familie unterjochte, wie oben zitiert wurde, dann ist es die ultimative Rache seines Sohnes gerade ihn am Lebens zu lassen. Sein Vater muss jetzt mit all dem Leid, dem Trauma, den Blicken der Nachbarn und dem Scherbenhaufen weiterleben. Tobias dagegen ist tot.



Mittwoch, 11. März 2020

Kindheiten und Lebenswege von zwei Dschihadisten

Das Buch „Dschihadisten - Feldforschung in den Milieus. Die Analyse zu 'Black Box Dschihad'“ (2011, Verlag Hans Schiler, Berlin/Tübingen) von Martin Schäuble hat mich wirklich schwer beeindruckt. Schäuble ist akribisch und mit viel persönlichem Aufwand den Lebensgeschichten zweier Dschihadisten nachgegangen. Solch umfassende Analysen von Terroristen sind selten zu finden! Beide Biografien könnten auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein:

Daniel wuchs in Deutschland auf, konvertierte nach einer Sinnkrise und einer kurzen Inhaftierung zum Islam, schloss sich dann der Islamischen Dschihad Union an und plante mit seinen Gesinnungsbrüdern (die Terror-Zelle in Deutschland ist bekannt unter dem Namen Sauerland-Gruppe) einen großen Bombenanschlag in Deutschland. Glücklicherweise flogen sie auf und wurden verhaftet, bevor der Anschlag verübt werden konnte.

Sa'ed wuchs in Palästina auf. Er radikalisierte sich, wurde Teil der sogenannten Aqsa-Brigaden und verübte schließlich einen Selbstmordanschlag in Jerusalem, bei dem 7 Menschen starben und über drei Duzend zum Teil schwer verletzt wurden.

Nach der Durchsicht des Buches wurde mir schnell klar, dass die Gemeinsamkeiten dieser beiden Täter nicht nur im Hang zum Dschihadismus liegen: Beide machten als Kind traumatische Erfahrungen. Beide wuchsen in Familien auf, deren Kommunikation tief gestört war und in denen Probleme nicht offen und konstruktiv besprochen werden konnten. Beide wirkten nach Außen sehr unauffällig und machten ihre Probleme und ihre Sinnkrisen mit sich selbst aus.

Ich konzentriere mich in dieser Besprechung jetzt wesentlich auf die destruktiven Kindheitserfahrungen.

Beginnen wir mit Daniel:

Daniels Mutter wird als dominant beschrieben, die für ihren Sohn Mutter und Vater zugleich war. Der Vater hielt sich im Grunde aus der Kindererziehung raus und konzentrierte sich auf beruflichen Erfolg (S. 84). Schäuble meint, dass der Vater zu seinem Sohn keine emotionale Bindung aufbauen konnte (S. 95) Bereits im Kindergarten fiel Daniel dadurch auf, dass er ernst und ein Einzelgänger war (S. 85).
Die Erziehung der Mutter war offenbar ein Mix aus viel geben im Sinne von wohlhabenden Lebensumständen und materiellen Dingen, aber auch Strenge: „Sie schlug ihn manchmal, ohrfeigte ihn. Das wird andauern bis er dreizehn ist und er ihre Hand einmal dabei festhalten konnte. Für Daniel muss dieses zweideutige Verhalten der Mutter schwer zu verstehen gewesen sein: Einerseits die Mutter, die alle Wünsche erfüllt, anderseits ihre autoritäre Strenge, die sich zumindest in den Schlägen äußerte“ (S. 89). Es deutet nichts darauf hin, dass der Vater seinen Sohn vor den Schlägen geschützt hätte.

Als Daniel 11 Jahre alt war, trennten sich seine Eltern. Der Vater zog aus, Daniel und sein Bruder blieben bei der Mutter, die ihre Freunde einlud und mit Sekt auf den Auszug des Vaters anstieß (S. 95). Daniel dagegen litt unter diesem Verlust und weinte Zuhause wegen der Trennung.

Die Trennung der Eltern entwickelte sich schnell zum Scheidungskrieg, der mit allen Mitteln geführt wurde. Autor Schäuble zog einen Psychoanalytiker zu Rate und kommt zu dem Schluss, dass dieser Scheidungskrieg für Daniel traumatisch war (S. 97). Die Eltern redeten schlecht übereinander; der Vater forderte Daniel sogar auf, die Mutter auszuspionieren; die Mutter wiederum nahm die Telefongespräche zwischen Daniel und seinem Vater heimlich auf. Die Kinder scheinen den Eltern in dieser Zeit egal gewesen zu sein (S. 97). Kurz nach dem Auszug des Vaters zog zudem der neue Freund der Mutter im Haus ein. Mit dem neuen „Stiefvater“ kam Daniel nicht zurecht und es zog ihn eher zu seinem Vater.
Später, der genaue Zeitrahmen wird nicht beschrieben, brach Daniel den Kontakt zur Mutter für mehrere Jahre gänzlich ab (S. 191).
Während des Scheidungskrieges, Daniel war 11 oder 12 Jahre alt, versuchte sich seine Mutter mit Tabletten das Leben zu nehmen. Daniel fand sie und konnte einen Krankenwagen rufen (S. 99).

Zusammengefasst hat Daniel eine traumatische und von emotionaler Kälte geprägte Kindheit erlebt. Als Jugendlicher konsumierte Daniel Drogen, traf falsche Freunde und kam schließlich durch Kontakte zum radikalen Islam.

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Sa'ed wurde 1985 in die Krisenregion Palästina hineingeboren. Die Freund-Feind-Bilder und politischen Konflikte wurden ihm quasi in die Wiege gelegt, wie so vielen Kindern, die in dieser Region aufwachsen.
Aber auch die Familiensituation war sehr konfliktbeladen und destruktiv. Seine Mutter wurde im Alter von 14 Jahren gegen ihren Willen verlobt. Im Alter von 15 Jahren musste sie den acht Jahre älteren Mann heiraten, der der Vater von Sa'ed werden sollte (S. 101). Echte Liebe zwischen den Eltern gab es also nicht.
Sa'ed erlebte im Alter zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr eine rastlose Zeit, die Familie zog zunächst nach Jordanien, bekam allerdings keine Aufenthaltsgenehmigung und musste wieder zurück (S. 102). Zurück in den Palästinensischen Gebieten erlebte Sa'ed im Kindergartenalter die Erste Intifada. Auf den Straßen vor dem Haus der Familie brannten Autoreifen und tobten Kämpfe zwischen Palästinenser und israelischen Soldaten (S. 103). Was Sa'ed davon mitbekam und wie sich dies auf ihn auswirkte, kann man nur vermuten. Schäuble weist auf die Spiele der Kinder hin, von denen er berichtet bekommen hatte und an denen auch Sa'ed mitwirkte. Die Kinder reinszenierten in ihren Spielen die Gewalt auf den Straßen und die Trauerfeiern für die Toten.

Aber auch innerhalb der Familie scheint es gewalttätig zugegangen zu sein. Die Mutter sowie auch der Vater werden als streng beschrieben. Ein früherer Freund von Sa'ed berichtete, dass der Vater seinen Sohn geschlagen habe, auch mal mit einem Stock. Später verneint der selbe Freund und auch der Vater die Gewalt. Der Vater berichtet aber noch, dass er Sa'ed auch angeschrien habe, was ihm heute Leid täte. Zu Recht weist Autor Schäuble darauf hin, dass nach dem Tod von Sa'ed sowohl seinem früheren Freund, als auch dem Vater Erinnerungen an solche Strafmaßnahmen sicher schwer gefallen sein dürfe (S. 110). Im Grundschulalter scheint Sa'ed seinem Vater aus dem Weg gegangen zu sein, er habe nicht das beste Verhältnis zum Vater gehabt.

Sowohl die beengten Lebensverhältnisse zu Hause (er hatte 6 Geschwister) als auch seine Brüder, die als autoritär ihm gegenüber beschrieben werden, bedingten wohl, dass Sa'ed während seiner Grundschulzeit seine Zeit am Liebsten draußen verbrachte (S. 112). An anderer Stelle wird beschrieben, wie Streitereien zwischen ihm und seinen Brüdern ablaufen konnten: Ein Bruder hatte Fotos zerschnitten, auf denen Sa'ed zu sehen war. Bei einem anderen Streit schüttete ein Bruder eine Tasse heißen Tee in das Gesicht von Sa'ed, so dass seine Mutter ihn ins Krankhaus bringen musste. Dabei ist noch etwas sehr auffällig: Sa'ed hatte seiner Mutter nichts von seinen Verbrennungen berichtet. Er lag in seinem Bett und sagte nichts. „Er hatte Angst, dass ich ihn und seinen Bruder bestrafen würde, weil sie gekämpft haben“, sagte die Mutter (S. 273). Wie groß muss die Angst vor der Mutter sein, wenn ein Kind sich nicht traut, ihr von den Verbrennungen zu berichten?
An einer anderen Stelle im Buch wird auch von Hänseleien durch seine Brüder berichtet. Sa'ed half seiner Mutter viel im Haushalt und bei der Betreuung der kleinen Geschwister. „All das brachte ihm immer wieder Spott ein, auch in der eigenen Familie, denn Hausarbeit und Kinderbetreuung ist in Nablus häufig Frauensache. Statt Sa'ed nannten sie ihn Sa'eda. Die weibliche Form seines Vornamens. Den Vater stimmte das manchmal traurig. Die Mutter freute sich über die Unterstützung“ (S. 113).

Bereits mit elf Jahren erschien Sa'ed nicht mehr in der Schule (S. 132). Er wollte (oder musste?) arbeiten, um seine Familie zu unterstützen. Zu der Zeit sah er seinen Vater unter der Woche gar nicht, dieser pendelte nur am Wochenende nach Hause. Die Mutter war stark eingespannt. Unterstützung, Gespräche über Zukunftspläne all dies scheint es nicht gegeben zu haben (S. 134).
Zunächst arbeitete er in einer Schneiderei, von 7-30 Uhr bis 17 Uhr, für 2 € Lohn am Tag. Später in einer Bäckerei, wo die Schicht oft bis 18 Uhr ging, für 9 € Lohn am Tag (S. 135f). In den Betrieben herrschte ein raues Klima und die Kinder standen naturgemäß ganz unten in der Hierarchie.

Sa'ed war zum Beginn der Zweiten Intifada 15 Jahre alt, er erlebte Bombenexplosionen (auch vor dem eigenen Haus) und den Einmarsch der Israelis mit. Seine Mutter verlor eine Freundin, weil eine durch Palästinenser selbstgebaute Bombe versehentlich neben ihr hoch ging (S. 154). Sa'ed wendete sich in dieser Zeit immer stärker der Religion zu.
Als Sa'ed 17 Jahre alt war, wurde sein Freund und Arbeitskollege von israelischen Soldaten erschossen (S. 181). Kurz darauf musste die Familie von Sa'ed fluchtartig umziehen, in ihrem Wohnort war es zu gefährlich geworden, die Kämpfe eskalierten immer mehr. Dann wurde der Bruder eines Freundes von Sa'ed ebenfalls umgebracht. Sa'ed habe dann Rache geschworen (S. 184).

Beenden wir an dieser Stelle den Blick auf Sa'ed, der zum Selbstmordattentäter wurde. Mehrere traumatische Ereignisse in seiner Kindheit und Jugend wurden hier aufgezeigt, inkl. einer sehr destruktiven Familienatmosphäre.

Schlussgedanken

Das "Traumagesamtpaket" von Sa'ed ist gewiss größer (und alleine schon durch seine Umgebung politisch aufgeladen), als das von Daniel. Die Frage ist, ob  Sa'ed auch zum Selbstmordattentäter geworden wäre, wenn er eine liebevolle Familie, keine elterliche und geschwisterliche Gewalt und einen starken familiären Zusammenhalt erlebt hätte, bei gleichen Rahmenbedingungen? Die Frage ist gleichzeitig aber auch, ob bei diesen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen überhaupt liebevolle Familienverhältnisse erzeugt werden könnten? Rahmen und Familie, Familie und Rahmen, in den palästinensischen Gebieten scheint beides eng miteinander verflochten zu sein. Das Traumapotential in dieser Region ist enorm, gerade auch für die Kinder.

Prävention muss in beiden Fällen in der Familie beginnen, mit Hilfen (auch bei der Austragung von Konflikten), mit Anleitung zu einer gewaltfreien Kindererziehung und Kommunikation, mit positiven Ausgleichserfahrungen außerhalb der Familie u.ä. Mit Blick auf Sa'ed wird es komplizierter. Der Autor Martin Schäuble verweist in seinem Schlusswort zu Recht auf die notwendige Lösung der politischen Konflikte in der Region und auf eine notwendige Reduzierung von Gewalt- und Unrechtserfahrungen. Nur so kann dem Terror der Nährboden entzogen werden. Ich würde dem noch anschließen, dass dafür Sorge getragen werden muss, dass Kinder zur Schule gehen können und nicht in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen landen. Der Autor würde das sicher genauso sehen.

Dem Autor Martin Schäuble gebührt Respekt und Dank für diese umfassende Arbeit! Selten gehen derartige Analysen so in die Tiefe. Man vergisst nie, zu was für Taten diese beiden Männer in der Lage waren! Aber man versteht, dass ein Mensch nicht zum Terroristen geboren wird, sondern dass der Lebensweg entscheidende Weichen stellt. Und an diesen Weichen sollten und können wir ansetzen.

Donnerstag, 5. März 2020

Ich bin jetzt auf Twitter!

Ich fühle mich echt alt ;-), ab sofort bin ich auch auf Twitter erreichbar. Ich habe mich dazu überreden lassen... Ich muss zunächst erst noch das System erkunden. Vor allem werde ich schauen, ob mir das Ganze zukünftig mehr nimmt, als es bringt. Soziale Medien sind für mich vor allem große Zeiträuber. Außerdem kratzen sie immer auch an der eigenen Eitelkeit, da muss man sich auch vor sich selbst schützen. Und sie verleiten zu nebensächlichen Kommentaren, die dann wiederum die Zeit anderer Menschen rauben.

Allerdings habe ich ja mein "Gäste/Infobuch" eingestellt, in dem ich kurze INFO-Beiträge veröffentlicht habe. Das fehlt mir schon etwas. Immer wieder habe ich hier und da kurze Gedanken oder auch wichtige INFOS, die keinen eigenen Blogbeitrag rechtfertigen. Dies werde ich zukünftig auf Twitter auslagern! 

Was mich etwas schreckt ist, dass ich Kommentare nicht moderieren kann, so wie in meinem Blog. Ich gebe Twitter ein Jahr, dann schaue ich, ob ich dabei bleibe oder nicht.

Studie: Kindheiten von rechten Gewalttätern


Für nachfolgende Studie wurden 45 verurteilte, gewalttätige Jugendliche und junge Erwachsene, deren Motivation von Seiten der Justiz als vermutlich oder tatsächlich fremdenfeindlich bzw. rechtsextremistisch eingestuft wurde, befragt:
Heitmeyer, W. & Müller, J. (1995): Fremdenfeindliche Gewalt junger Menschen. Biographische Hintergründe, soziale Situationskontexte und die Bedeutung strafrechtlicher Sanktionen. Bundesministerium der Justiz (Hrsg.). Forum Verlag, Bonn. 

Die formale Situation der Herkunftsfamilie zeigte bereits mehrheitlich Auffälligkeiten: Nur 20 von 45 Tätern lebten in einer vollständigen Familienkonstellation (S. 127).

Die Autoren merken an, dass dieses Oberflächenbild zwar eine gewisse Auffälligkeit zeigt, dass aber eine vollständige Familie nicht gleichbedeutend mit dem Fehlen von Desintegrationserfahrungen, wie sie es ausdrücken, ist. Sie schreiben weiter: „Der Blick nämlich auf die hinter der formalen Familienfassade liegenden individuellen Erziehungserfahrungen, auf psychisch-emotionale Beziehungen zu den Eltern bzw. zu einzelnen Elternteilen, auf sicherheitsgebende Unterstützung und Verlässlichkeit in der Familie, auf Kommunikationsstrukturen usw. zeitigt am Ende ein Bild, in dem innerhalb der hier untersuchten Gruppe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen (…) nur eine kleine Minderheit von familialer Desintegration verschont geblieben zu sein scheint. 
Es bleiben schließlich insgesamt acht Jugendliche bzw. junge Erwachsene übrig, deren Schilderung ihrer Familienverhältnisse und Erziehungs- und Sozialisationserfahrungen das vorsichtige Fazit zulassen, dass sie keine subjektiv relevanten Desintegrationserfahrungen in der Familie gemacht haben (…)“ (S. 127f). An Hand der Formulierung der Autoren wird deutlich, dass sie nicht ganz ausschließen, dass evtl. doch Belastungen bei diesen acht Befragten zu finden wären.

Einige Fälle (Hermann, Ewald, Jakob, Tobias, Harry, Siegfried, Rainer und Ulrich; Seite 59- 131) wurden in der Studie etwas ausführlicher ausgebreitet, alle anderen Fälle wurden in einer Tabelle (Seite 132-135) erfasst und mit kurzen Stichworten beschrieben. Aus diesen Beschreibungen habe ich nur die belastenden Erfahrungen herausgesammelt und stelle diese nachfolgend vor. Es wird deutlich, dass die meisten dieser rechten Gewalttäter eine belastete Kindheit hatten:


Hermann (ausführliche Falldarstellung): Vater gestorben, als er vier Jahre alt war; die alleinerziehende Mutter war beruflich stark ausgelastet, so dass seine Schwester oft auf ihn aufpassen musste; zwischen seinem 7. und 11. Lebensjahr hatte die Mutter einen Freund, der zum Vaterersatz wurde; im 11. Lebensjahr von Hermann zog dieser Freund wieder aus, es kam zum Bruch

Harry (ausführliche Falldarstellung): seit 7. oder 9. Lebensjahr Trennung der Eltern (widersprüchliche Angaben dazu in der Tabelle und im Fallbeispiel), im 9. Lebensjahr erkrankte seine Schwester und musste 10 Monate ins Krankenhaus, ihr Leben sei gefährdet gewesen; er habe dann ein ziemliches Tief gehabt, auch die Mutter sei viel weg und im Krankenhaus gewesen; ab dem 14. Lebensjahr wurde die Beziehung zum Vater schwierig, nachdem dieser neu verheiratet war, endgültig kam es zum Bruch, als der Vater behauptete, sein Sohn hätte ihn beklaut, 5 Jahre hatte er dann keinen Kontakt mehr zum Vater; seine alleinerziehende Mutter war voll berufstätig, es wird nicht deutlich, wie dies ggf. die Beziehung zum Sohn beeinflusste; die Beziehung zur Mutter wird als sehr gut dargestellt, allerdings erfährt man auch folgendes: Zwar "gab es schon mal ´n paar Backpfeifen oder so", aber "mit schlagen is gar nich so gewesen" (S. 112). Hier sehen wir in klassischer Weise, wie Gewalterfahrungen im Rückblick als "keine Gewalt" umgedeutet werden (eine typische Folge eben dieser Gewalterfahrungen). Aus den Wörtern "schon mal" und "paar Backpfeifen" schließe ich, dass die Gewalt nicht selten war und es auch nicht bei einigen Ohrfeigen blieb. In der tabellarische Gesamtübersicht wurde von den Autoren geschrieben, dass die Mutter einen "demokratischen Erziehungsstil" pflegte (S. 132). Dies halte ich nach dieser gezeigten Aussage zumindest für zweifelhaft. Wir sehen hier also auch, wie wichtig es ist, detaillierte Infos zu den Einzelfällen zu bekommen.

Oskar: sehr schlechtes Verhältnis zum Vater, autoritäre Erziehung des Vaters, später Trennung der Eltern als er 18 war

Siegfried (ausführliche Falldarstellung): sehr autoritäre Erziehung, sehr schlechtes Verhältnis besonders zum Vater, heute keinen Kontakt mehr zu Eltern: „Beide sind für mich gestorben so“ (S. 130); Schwester stirbt bei einem Unfall, als er 14 Jahre alt ist, danach sei auch ein Teil von ihm gestorben; mit seinen Eltern konnte er seine Probleme nicht besprechen: „Über Probleme reden überhaupt so, das war tabu.“ (S. 128); mit 15 Jahren wurde er in einem Erziehungsheim untergebracht;  zwischenzeitlich immer wieder Versuche, Zuhause zu wohnen; er sei aber einige Male rausgeschmissen worden, so dass er auch einmal vier Monate auf der Straße leben musste.

Stefan: Eltern vor der Geburt geschieden, eher autoritärer Erziehungsstil und Überforderung der Mutter

Ulrich (ausführliche Falldarstellung): seit 3. Lebensjahr bei Pflegeeltern, auffällig vor allem auch die hohe Kinderzahl von 10 in der Ursprungsfamilie, zu leiblichen Eltern sehr schlechtes Verhältnis; als er 19 Jahre alt war, starb sein Pflegevater, danach begann die kriminelle Karriere von Ulrich; sein leiblicher Vater sei alkoholkrank, seine leibliche Mutter sei „schlimmer als ein Rabe“ (S. 131), die alle seine Geschwister gemocht hätte, nur ihn nicht;  seine gesamte Herkunftsfamilie inkl. der Geschwister (außer einer Schwester) bezeichnet er als „Dreck“.

Tobias (ausführliche Falldarstellung): Verhältnis zum häufig abwesenden Vater sehr schwierig (wird ihm gegenüber als "Beziehungslosigkeit" beschrieben inkl. mangelnde Aufmerksamkeit und Zuwendung), Problem in der Familie sei eine Art "Nicht-Erziehung" gewesen, hoher Erfolgsdruck in der Familie, nach eigenen Angeben selten körperliche Gewalt, was allerdings auffällt ist, dass er bezogen auf sich und später seine Erziehung gegenüber Kindern anmerkt: "Ich find so laizer faire-mäßig ist nicht das Richtige, ich find, ich bin auch emotional, aber ein Kind merkt, das ist eine Beziehung, sobald die Beziehung keine Emotionen mehr hat, is sie tot. Ich meine, gut, ein Klaps aufn Arsch ist besser als `Mach deinen Scheiß, weil dann merkt`s, irgendwo sind Emotionen da" (S. 100)
Hier wird zunächst die emotionale erlebte Kälte in der Familie deutlich. Dass ihm als Lösung nur körperliche Gewalt in der Erziehung einfällt, macht mich hellhörig: Hat er vielleicht in jüngeren Jahren doch mehr Gewalt erlebt, als er eingeräumt hat?

Michael: seit 1. Lebensjahr Eltern geschieden,

Matthias: Eltern seit dem 14. Lebensjahr geschieden, Verhältnis zum Vater sehr schlecht, sehr autoritäre Erziehung, abwechselnd wohnhaft bei Vater und Mutter

Horst: seit 5. Lebensjahr Eltern geschieden, autoritäre Erziehung durch den Vater, schlechtes Verhältnis zum Vater

Peter: Seit dem 10. Lebensjahr Eltern geschieden

Christoph: sehr autoritäre Erziehung des Vaters, gespanntes Verhältnis zu beiden Elternteilen

Jakob (ausführliche Falldarstellung): leiblicher Vater unbekannt, darüber wurde er erst im Alter von 17 Jahren aufgeklärt, vorher dachte er, sein Stiefvater sei sein echter Vater; autoritäre Erziehung des Stiefvaters (Prügel und Ohrfeigen); seine Mutter habe viel geredet, aber auch geschrien; seine Beziehung zu seinen Eltern beschreibt er seit seinem 16. Lebensjahr aktuell als "gleichgültig", er kam nur noch zum Schlafen und Essen nach Hause.

Klaus: Eltern seit dem 2. Lebensjahr geschieden, sehr autoritäre Erziehung des Stiefvaters, schlechtes Verhältnis zum Stiefvater

Philip: Eltern seit 11. Lebensjahr geschieden, leiblicher Vater unbekannt, sehr gewalttätiger Stiefvater, 8 Jahre Heimaufenthalt

Harald: Eltern seit 2. Lebensjahr getrennt, Mutter überfordert, Heimaufenthalt zwischen 10. Und 15. Lebensjahr

Patrick: autoritäre Erziehung der Eltern, Vater das erste Mal im Alter von 3 Jahren kennengelernt

Werner: Vater im 8. Lebensjahr gestorben, auffällig die hohe Geschwisterzahl von 8, autoritäre Erziehung der Mutter, Verhältnis zur Mutter sehr schlecht, kaum Kontakt zu Geschwistern

Frank: Eltern seit 11. Lebensjahr geschieden, keinen Kontakt mehr zum Vater

Arno: Eltern seit 13. Lebensjahr geschieden, keinen Kontakt mehr zur Mutter und den jüngeren Geschwistern

Edgar: Eltern seit 10. Lebensjahr geschieden, autoritäre Erziehung durch den Vater, Verhältnis zum Vater sehr schlecht

Gregor: hat Adoptiveltern, er kennt seine leiblichen Eltern nicht, sehr schwieriges Verhältnis zum Adoptivvater

Volker: sehr autoritärer Erziehungsstil und schwieriges Verhältnis zu den Eltern, insbesondere dem Vater

Norbert: Eltern seit 5. Lebensjahr geschieden,

Rainer (ausführliche Falldarstellung): sehr autoritärer Erziehungsstil des Vaters, sehr schlechtes Verhältnis zum Vater; auffällig sind dabei vor allem Schilderungen von besonders schwerer Gewalt seitens des Vaters mit Folgen wie blauen Flecken, so dass er nicht mehr sitzen konnte; ergänzend wird auch eine Szene beschrieben, in der die Mutter gewalttätig wurde, worauf er erst einmal abgehauen sei.

Robert: sehr autoritärer Erziehungsstil der Mutter, Vater war früher beruflich häufig längere Zeit abwesend

Thilo: keine Besonderheiten

Sonja: Eltern seit 4. Lebensjahr geschieden, autoritäre Erziehung, schlechtes Verhältnis vor allem zur Mutter, Mutter war häufig abwesend

Sebastian: Eltern seit dem 4. Lebensjahr geschieden, sehr schlechtes Verhältnis zur Mutter und zum Stiefvater, Überforderung der Eltern, 3 Jahre Heimaufenthalt

Rolf: keine Besonderheiten

Tim: Keine Besonderheiten

Richard: Eltern seit dem 12. Lebensjahr geschieden, 6 Geschwister, zum Vater sehr schlechtes Verhältnis, häufige Abwesenheit des Vaters, seit Jahren keinen Kontakt mehr zum Vater

Albert: Vater eher autoritär, früher schlechtes Verhältnis zum Vater

Günther: Eltern seit 12. Lebensjahr geschieden

Guido: Mutter im 15. Lebensjahr gestorben, Vater war viel abwesend, nach dem Tod der Mutter war Guido auf sich alleine gestellt

Fridolin: Vater unbekannt, seit dem 7. Lebensjahr im Heim, Mutter seit Heimaufenthalt noch 5 mal gesehen, über ihren späteren Tod war er „froh“

Thomas: autoritäre Erziehung der Mutter, schwieriges Verhältnis zur Mutter, Vater oft lange abwesend

Lutz: keine Besonderheiten

Kai: Vater im 1. Lebensjahr gestorben, Verhältnis zur Mutter und zum Stiefvater sei „normal“, allerdings seit dem 13. Lebensjahr Leben in einem Heim

Bert: Eltern im 16. Lebensjahr geschieden, sehr autoritärer Erziehung der Eltern, er fühlte sich als „schwarzes Schaf“ der Familie

Theo: Keine Besonderheiten

Oliver: keine Besonderheiten

Bruno: keine Besonderheiten

Holger: Keine Besonderheiten

Ewald (ausführliche Falldarstellung): kennt seinen leiblichen Vater nicht, sehr autoritäre Erziehung des Stiefvaters (Gewalt und emotionale Kälte) und schlechtes Verhältnis zu ihm; Mutter schützte ihren Sohn nicht, sondern habe sich untergeordnet; Ewald hat zum Zeitpunkt des Interviews seit vier oder fünf Jahren keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern