Durch die Ereignisse rund um die Corona-Pandemie ist aktuell das Thema „Verschwörungstheorien“ medial breit auf den Tisch. Ich selbst habe zu diesem Thema eine ganz eigene „Theorie“.
Erinnern wir uns an dieser Stelle an die psychoanalytischen Arbeiten von Arno Gruen und dabei vor allem an sein Buch „Der Fremde in uns“. Kaum jemand hat die Verneblung der eigenen Wahrnehmung auf Grund erlittener Destruktivität in der Kindheit derart deutlich auf den Punkt gebracht wie Gruen. Ich habe Gruens Analyse in meinem Buch auf Seite 320 wie folgt zusammengefasst:
„Kein Kind kann in dem Bewusstsein existieren, dass die Menschen, auf die es physisch und psychisch existentiell angewiesen ist (die Eltern), seinen Bedürfnissen kalt und gleichgültig oder gar grausam und unterdrückend gegenüberstehen. Diese Angst wäre, so Gruen, unerträglich, ja sogar tödlich. Ein Kind, das von seinen Eltern angegriffen wird und dessen Bedürfnisse frustriert werden, muss sich, um zu überleben, mit den Eltern arrangieren. Dazu wird das Eigene (vor allem eigene Empfindungen, Sicht und Empathie) als etwas Fremdes abgespalten, denn das Kind kann die Eltern nur unter der Voraussetzung als liebevoll erleben, wenn es ihre Grausamkeit als Reaktion auf sein eigenes Wesen interpretiert – die Eltern sind grundsätzlich gut; wenn sie einmal schlecht sind, dann ist dies die eigene Schuld des Kindes und der Angriff geschieht zu dessen Wohle. Alles, was dem Kind eigen ist, wird somit abgelehnt und entwickelt sich zur potentiellen Quelle eines inneren Terrors (das Eigene wird gehasst). Die eigenen Gefühle, Bedürfnisse und die eigene Wahrnehmung werden zu einer existentiellen Bedrohung, weil sie die Eltern veranlassen könnten, dem Kind die lebensnotwendige Fürsorge zu entziehen. Die Folge ist die Identifikation mit den Eltern (bzw. den Aggressoren), das Übernehmen deren Werte, die Unterwerfung unter deren Erwartungen und eine schwammige, ungefestigte und unsichere Identität, die durch das Fremde, nicht das Eigene bestimmt ist.“
Was bringt uns Gruens Analyse nun bezogen auf das Thema „Verschwörungstheorien“? Das Grundthema, das Menschen, die in ihrer Kindheit (vor allem durch Elternteile) viel Destruktivität erlitten haben oder auch traumatische Erfahrungen gemacht haben, ist das Thema Wahrnehmung. Oder besser gesagt: Verschwommene Wahrnehmung, Wahrnehmungsstörungen oder auch fehlendes Vertrauen in die eigene Wahrnehmung. Das Ausblenden von Realitäten war einst ein Überlebensmechanismus in der Kindheit. Bei massiven Verletzungen werden diese traumatischen Erlebnisse und vor allem die entsprechenden Gefühle häufig sogar gänzlich vom Bewusstsein abgespalten. Wenn diese Kindheitserfahrungen später nicht psychotherapeutisch aufgearbeitet werden, besteht die Gefahr, dass die Selbst- und Fremdwahrnehmung und das Erfassen der Realität um einen herum weiterhin vernebelt bleibt.
Das sind Erkenntnisse, die nicht nur Arno Gruen gemacht hat, sondern diese Erkenntnisse gehören i.d.R. um Standardwissen von Psychotherapeuten, Traumaexperten oder von sonstigen Fachleuten, die mit traumatisierten Menschen arbeiten. Das Grundthema von derart belasteten Kindern bleibt auch im Erwachsenenalter häufig die Frage nach Realitäten: War meine Kindheit schön oder schlecht? Stimmen meine Erinnerungen? Waren meine Eltern wirklich so böse? Was darf ich fühlen? Was fühlte ich als Kind? Was fühle ich überhaupt? Wer meint es gut mit mir und wer nicht? Vor wem muss ich Angst haben? Wer bin ich eigentlich? Was war heute, was ist jetzt und was war gestern?
Ich würde dem noch anschließen, dass im tiefen Bewusstsein von Menschen, die als Kind vor allem durch die eigenen Eltern massiv verletzt wurden, die eigentlichen realen Erlebnisse gespeichert sind. Der Zugang dazu ist allerdings oft versperrt oder vernebelt. Nicht selten pflegen von ihren Eltern misshandelte Menschen als Erwachsene sogar ein nach außen hin scheinbar gutes Verhältnis zu den Eltern. Aber irgendetwas stimmt doch nicht: Irgendetwas ist doch da, was mich manipuliert, mich zersetzt, mich unterdrückt, mir etwas vorspielt, mich von meinem eigentlichen Sein abhält…
Arno Gruen nannte dies: „Der Fremde in uns“. Traumaexperten sprechen eher von Täterintrojekten.
Das Problem ist (das war Gruens Antrieb, darüber zu schreiben), dass es eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür gibt, dass der Blick auf Andere (ab)gelenkt wird. Hass und Schuldvorwürfe treffen dann nicht auf die eigentlichen Verfolger aus der Kindheit (meist destruktive Eltern), sondern auf Fremde, Ausländer, Juden, Homosexuelle, Minderheiten usw. Dies ist bzgl. Rechtsextremisten sehr gut empirisch belegt (siehe diverse Studien zum Thema Kindheit von Rechtsextremisten im Inhaltsverzeichnis oder zusammengefasst auch hier am Ende des entsprechenden Beitrags). Was bisher nach meinem Kenntnisstand wenig erforscht ist, ist die Frage, ob Kindheitshintergründe und entsprechende Gefühle und auch Wahrnehmungsverzerrungen bei den Anhängern von Verschwörungstheorien eine Rolle spielen. Dabei ist dieser Gedanke doch naheliegend!
Wer sich innerlich manipuliert, unfrei und zerrissen fühlt, wer eine vernebelte Wahrnehmung hat, der könnte doch u.U. einen anderen Weg einschlagen, als dies Rechtsextremisten tun. Schuld an der eigenen Misere ist dann „Mutti“ Merkel, die wiederum die Marionette von Bill Gates sein soll. Schuld sind dann irgendwelche Geheimbünde, Schattenbanken, fremde Mächte, Strahlen und was weiß ich nicht alles. Wobei auch nicht vergessen werden darf, dass die Sicht von Extremisten oft auch diese Verschwörungs-Weltbilder beinhaltet (klassisch mit Blick auf die angeblich jüdische Weltverschwörung, aber ergänzend auch mit abstrusen Weltbildern extremistischer Einzeltäter a la Anders Breivik & Co.) Dass man als "Verschwörungstheoretiker" in der Folge ein Gefühl von Macht und Kontrolle bekommt (da ja nur er/sie weiß, wie die Welt wirklich tickt!!), könnte man auch als Abwehrkampf gegen die alte Ohnmacht und den Kontrollverlust aus der Kindheit deuten. Wie auch immer, es ist jedenfalls offensichtlich, dass irrationale Motive bei den Verschwörungstheorien eine gewichtige Rolle spielen.
Die naheliegende und hoch spannende Frage lautet also: Haben destruktive Kindheitserfahrungen etwas mit dem Glauben an Verschwörungstheorien zu tun? Aus der Forschung kommen da zwei Studien, die diese Frage ein Stück weit beantworten:
- Eine Studie (zwei Befragungen mit 246 und 230 Teilnehmern) zeigte, dass negative Kindheitserfahrungen bzw. ein erlebter ängstlicher Bindungsstil (gemäß der Bindungstheorie) in einem Zusammenhang zum Glauben an Verschwörungstheorien stehen: Green, R. & Douglas, K. M. (2018): Anxious attachment and belief in conspiracy theories. In: Personality and Individual Differences. Volume 125, S. 30-37.
- Eine andere Studie (5.645 Befragte von denen 1.618 an Verschwörungen glauben) fand ebenfalls Kindheitseinflüsse bezogen auf den Glauben an Verschwörungen. Die Forschenden schreiben:„Those individuals who endorsed the conspiracy belief item were more likely to have had potentially disruptive parental experiences during childhood such as not living with both biological parents, living away from home for an extended time, and often experiencing violence“ (Freeman, D., & Bentall, R. P. (2017): The concomitants of conspiracy concerns. In: Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology, 52(5), S. 595-604.).
Wie schon oben erwähnt, würde ich ergänzend diverse Befragungen von Extremisten über deren Kindheitserfahrungen anführen, da Extremisten nach meinem Eindruck zu Verschwörungstheorien neigen. Diese Studien bestärken die Vermutung, dass Kindheitserfahrungen und Verschwörungstheorien in einem ursächlichen Zusammenhang stehen. Ich habe ergänzend etwas über die Kindheit von einigen bekannten "Verschwörungstheoretikern" (die teils auch aktuell in den Medien Thema sind) recherchiert. Und ich wurde auch fündig (wer mag, muss nur einige Namen und Suchbegriffe wie Kindheit, Biografie, Trauma etc. eingeben und lese dann selbst. Teils wurden von den Akteuren furchtbare Kindheitserfahrungen öffentlich gemacht). Ich bin normalerweise ja sehr offen mit meinen Biografieforschungen. Bei diesem Thema zensiere ich mich allerdings selbst und nenne keine Namen. Ich befürchte durch diesen Beitrag eh schon eine gewisse Gegenreaktion und böse Briefe. Ich möchte diese meine Gedanken zur Diskussion stellen und nicht von "Fangemeinden" und Followern mit Hass und Hetze überschüttet werden, für solchen Kram habe ich einfach keine Zeit.