Mittwoch, 6. Januar 2021

Kindheit von dem Diktator Suharto (Indonesien)

Der Diktator und Massenmörder Suharto führte lange Jahre Indonesien. Über seine Kindheit fand ich einige wesentliche Schlüsselinformationen.

Vorweg ein Hinweis: Suharto wurde 1921 geboren, einer Zeit, in der Kinder deutlich schlechter behandelt wurden, als heute. Aktuelle Daten aus Indonesien zeigen, dass die große Mehrheit der dortigen Kinder regelmäßig psychische und körperliche Gewalt im Elternhaus erlebt. Auch die Gesetzeslage ist in Indonesien noch sehr rückschrittlich: Gewalt gegen Kinder ist bis heute u.a. im Elternhaus, in Kindergärten und in Schulen legal. Ich habe in Suhartos Biografie keine Belege für elterliche Übergriffe gefunden (aber andere, schwere Belastungen). Historisch und statistisch und mit Blick auf seine Persönlichkeit und sein Handeln habe ich keine Zweifel, dass er als Kind auch direkte Gewalt erlitten hat. Diese „errechnete“ Gewalt muss zusammengedacht werden mit den Belastungen, die ich gleich aufzeigen werde.

Meine Quelle für die nachfolgenden Infos ist:
Elson, R. E. (2001): Suharto: A Political Biography. Cambridge University Press, Cambridge.

Suharto wurde in einer armen Familie geboren. Es sei keine glanzvolle („glittering“), sondern eher eine schroffe Kindheit gewesen, so wird aus seiner Autobiografie zitiert (S. 1). Suharto selbst erinnerte sich folgendermaßen an seine Kindheit: „I had to endure much suffering which perhaps others have not experienced“ (S. 1).
Bereits 5 Wochen nach seiner Geburt ließen sich seine Eltern scheiden. Zu vermuten ist entsprechend, dass sowohl während der Schwangerschaft, als auch direkt nach der Geburt eine sehr konfliktreiche Atmosphäre zwischen den Eltern vorherrschte. Davon abgesehen gibt es aber auch handfeste Belege für eine schwere Krise: Weder der Vater, noch die Mutter (Sukirah) scheinen, dem Autor nach, eine wichtige Rolle beim Aufwachsen von Suharto gespielt zu haben, „his father seems to have disappeared from his life (…) after the divorce, while his mother appear to have suffered from severe emotional difficulties, perhaps a nervous breakdown, following his birth“ (S. 2).
Noch bevor Suharto 40 Tage alt war, zog sich seine emotional angeschlagene Mutter sowohl innerlich, als auch physisch (sie zog - oder floh -  in ein Haus im Dorf) zurück. „Silent and unable to be found for a week, and with the family in a panic, at last she was discovered in a badly weakened condition. In such circumstances, with Sukirah unable to nurse her child and little immediate prospect of her raising him,  Suharto was given over to his paternal great-aunt (…)“ (S. 2).

Sein Vater heiratete erneut. Suharto zog erst ab seinem 4. Lebensjahr wieder zu seiner Mutter, die ebenfalls neu geheiratete hatte und zusammen mit ihrem neuen Mann 7 Kinder hatte. Ihre häufigen Schwangerschaften und die Lebensumstände bei seiner Mutter bedingten, dass wenig Zeit und Aufmerksamkeit für Sukirah da waren. Man möchte an dieser Stelle das Wort Vernachlässigung in den Mund nehmen.
Suhartos Vater war unzufrieden mit den Lebensumständen seines Sohnes. Im Alter von 8 Jahren wurde Suharto auf Anlass seines Vaters gezwungen, zu seiner Tante väterlicherseits zu ziehen und in dem Ort seine Schule zu beenden. Der Vater holte seinen Sohn heimlich und ohne die Mutter zu verständigen ab und brachte ihn in die neue Unterkunft (vgl. S. 2).
Nach ungefähr einem Jahr kehrte er allerdings wieder zu seiner Mutter zurück, sein Stiefvater holte ihn ab. Er blieb etwas weniger als ein Jahr und kam dann wieder zu seiner Tante zurück. Elson benennt dieses hin und her als „tug of war between parents“ (S. 3).
Suharto, so scheint es, musste ziemlich alleine mit dieser verwirrenden, bedrohlichen Welt und Situation in seiner frühen Kindheit umgehen. Später beschwor er die Vorteile für sein Leben, die ihm dieser frühe Leidensweg gebracht hätte (vgl. S. 3).

Ich sehe ein vernachlässigtes Kind, das einer emotional angeschlagenen und viel beschäftigten Mutter und einem rein taktisch agierenden (abwesenden) Vater gegenüberstand. Ich sehe schwere Trennungserfahrungen und ein traumatisiertes Kind. Zusammengedacht mit den an sich gewaltvollen Lebensumständen von Kindern in dieser Region (siehe Einleitung oben) zeigt sich erneut, dass als Kind geliebte Menschen keine Diktatoren werden.

Mittwoch, 23. Dezember 2020

Rückblick 2020 und Ausblick auf 2021

In meinem Anfang 2019 herausgebrachten Buch habe ich am Schluss formuliert, dass das ausgebreitete Thema für mich nun ein Stück weit ein Ende hat. 2019 und 2020 habe ich dann allerdings so viele Blogbeiträge veröffentlicht, wie lange nicht. Außerdem bin ich seit Anfang 2020 sehr aktiv bei Twitter und habe auch die Vorteile dieser Plattform schnell erfasst. 

Vor allem in den USA, in Großbritannien, aber mittlerweile auch zunehmend in anderen Teilen der Welt erreicht die sogenannte ACEsScience immer neue Höhen und Aufmerksamkeit. Sprich das Ausmaß von den „adverse childhood experiences“ (ACEs) wird in der Bevölkerung, aber auch in speziellen Populationen immer mehr ausgeleuchtet, und es werden Zusammenhänge zu diversen Problemlagen gefunden. Erst in diesem Jahr ist mir im Zusammenhang mit den ACE-Studien immer öfter das Wortpaar "trauma-informed" im englischsprachigen Raum aufgefallen:  trauma-informed society, trauma-informed schools, trauma-informed lawyers, trauma-informed  justice system, trauma-informed social work usw. In der Tat: Wir brauchen eine traumainformierte Gesellschaft in allen Bereichen. Nur wenn wir wirklich verstehen, können wir auch entsprechende Schrauben drehen. 

Steven Windisch und Kollegen haben 2020 den Text „Measuring the Extent and Nature of Adverse Childhood Experiences (ACE) among Former White Supremacists“ veröffentlicht. Das war für mich ein Highlight des Jahres, kommt doch dadurch in den USA der Fokus auf traumatische Kindheitserfahrungen als eine wesentliche Ursache für Terror und Extremismus mehr in den Blick. Ich bin sicher, dass dazu im englischsprachigen Raum weitere Forschungsprojekte folgen werden. Vielleicht traut sich ja auch ein renommierter Wissenschaftler, die Trump-Präsidentschaft unter diesen Gesichtspunkten zu analysieren? Das wäre zu begrüßen! 

Wo wir beim Thema sind: 2021 werde ich weiterhin versuchen, die aus Deutschland bekannten Extremismusstudien und ihre Ergebnisse weiter zu verbreiten (ich werde berichten, wenn mir dazu geplante Veröffentlichungen gelingen). Gepaart mit Informationen über einzelne Terroristen/Extremisten und gepaart mit den Informationen über die Kindheitshintergründe von 24 bekannten NS-Tätern, die ich mittlerweile recherchiert habe: Adolf Hitler, Rudolf Hess, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Martin Bormann, Albert Speer, Julius Streicher, Karl Dönitz, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Rudolf Höss, Josef Mengele, Adolf Eichmann, Alfred Filbert, Amon Göth, Reinhard Heydrich, Ernst Kaltenbrunner, Wilhelm Keitel, Alfred Jodl, Werner Best, Odilo Globocnik, Robert Ley & Alfred Rosenberg.

Ich habe das Gefühl, dass die Welt im Aufbruch bzgl. „meines Themas“ ist (der Durchbruch wird aber noch etwas dauern!). Junge Wissenschaftler wie Steven Windisch (aber auch andere) bringen neue Impulse ohne Scheuklappen. Die jüngere Generation wird – wenn meine Thesen stimmen – weniger innere Widerstände bzgl. des Themas haben, gerade weil diese Generation als Kind weniger belastet wurde, als die Älteren. 

Bzgl. der Entwicklungen in Deutschland bin ich grundsätzlich weiterhin optimistisch. Nur folgendes macht mir Sorgen: Die massive Steigerung der Krippen-Betreuungsquote für Kinder 0-2 (mit all ihren möglichen Folgen in der Zukunft) und die – so sehe ich das in meinem Umfeld – „Verplanung von Zeit der Kinder“ durch Ganztagsbetreuung, Kurse, Förderung, Termine usw. Die Freiheiten, die wir Kinder der 1980er Jahre hatten, habe ich in guter Erinnerung. Wir brauchten auch keinen Termin bei Freunden (und deren Eltern) vereinbaren: wir trafen uns einfach, weil wir Zeit hatten und weil wir selbstständig draußen unterwegs waren. 

Für die Kinder hoffe ich sehr, dass nach dem Corona-Jahr 2020 irgendwann 2021 wieder mehr Normalität eintritt und sie wieder unbeschwert zur Schule gehen und ihre Freunde treffen können. 

In diesem Sinne: Frohe Festtage und ein hoffentlich gutes neues Jahr 2021. 


Freitag, 18. Dezember 2020

Zwei Beispiele für politische Radikalisierung aus meiner Schulzeit

Heute Nacht bin ich um ca. 3 Uhr aufgewacht und mir fielen zwei Beispiele für eine politische Radikalisierung aus meiner Zeit am Gymnasium ein. Damit ich heute nicht wieder aufwache (denn ich mag meinen Schlaf), schreibe ich die Geschichte lieber auf. 

Ich nenne meine beiden Mitschüler von damals „Lars“ und „Knut“. Mit beiden stand ich nicht all zu eng in Kontakt bzw. war nicht mit ihnen befreundet, außerdem anonymisiere ich ihre Namen. Insofern habe ich kein schlechtes Gewissen, diese Geschichte hier aufzuschreiben.  

Lars radikalisierte sich damals nach rechts und Knut nach links. 

Beginnen wir mit "Lars":

Lars war ein etwas pummeliger, unsportlicher junger Mann, der fanatischer HSV-Fan war. Er war ruhig, zurückhaltend und gab allgemein wenig von sich preis. Auf mich wirkte er auch sensibel. Richtig laut und aus sich rauskommend wurde er nur, wenn es um den HSV ging. In der Schule stand er etwas außerhalb. Ich würde ihn nicht direkt als Außenseiter bezeichnen, er lief halt einfach irgendwie mit und wurde wenig wahrgenommen. 

Der alleinerziehende Vater von Lars hatte eine hohe berufliche Position (und war damals in gewissen Kreisen auch prominent). Dies bedingte, dass der Vater oft wochenlang abwesend war. Eine Haushaltshilfe hielt die Wohnräume in Schuss. Ansonsten blieb Lars oft sich selbst überlassen. Über seinen Vater sprach er sehr distanziert, wenn er ihn überhaupt mal erwähnte. Dass sein Vater eine „wichtige Person“ war, erfuhr ich erst, als Lars sich damals etwas mit meinem damaligen besten Freund anfreundete und wir Lars dann auch mal zu Hause besuchten. Die Kehrseite des „alleine Seins“ war, dass Lars relativ viele Freiheiten genoss. Die Mutter von Lars war, meiner Erinnerung nach, irgendwie ein Tabu in der Familie. Sie war nicht da und über sie wurde nicht gesprochen. Lars war in meinen Augen ein sehr einsamer Jugendlicher. Die Trennung der Eltern hatte sich wohl schon in seiner Kindheit vollzogen. 

Lars kam dann durch den HSV mit rechten Hooligans in Kontakt. Es begann eine schleichende Radikalisierung. Seine Weichheit verschwand Stück für Stück. Er wurde nach außen härter und noch verschlossener. Allerdings kamen jetzt in Abständen plötzlich rechte Sprüche und stark antisemitische Äußerungen. Mein damaliger bester Freund distanzierte sich immer mehr von Lars (wie ich auch). Doch zum Geburtstagfeiern in einer Location wollte er Lars noch einmal einladen und nicht außen vorlassen. Lars kam dann aber nicht alleine, sondern mit ca. 4 seiner rechten Hooligan-Freunde, in der Hoffnung, dass es kostenlos Alkohol gab. Dies führte zum endgültigen Bruch mit ihm und ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist.   

Bei Lars kamen einige klassische Faktoren in der Sozialisation, die zu Radikalisierung führen kann, zusammen. Trennung der Eltern und offenkundige Vernachlässigungserfahrungen und Einsamkeit (wobei nicht klar ist, was er sonst noch alles in dieser Familie erlebt und erlitten hat) gepaart mit einem zurückhaltenden Charakter führten zu einem starken Bedürfnis nach einem Anschluss an eine Gruppe und einem Dazugehören bzw. Familienersatz. Dies fand er zunächst als fanatischer Fußballfan. Ich selbst war 2 oder 3 Mal als ca. 14 Jähriger (also Anfang der 1990er Jahre) bei HSV-Spielen dabei, weil ein Freund von mir Fan war. Damals standen unten in der Westkurve ganz offen die Nazis und Skins. Nach jedem Ruf aus der Kurve „Sieg!“ hallte es von unten „Heil!“ hinterher (oft inkl. Hitlergruß). Dies wurde damals ganz offensichtlich toleriert. Farbige Spieler der Gegner, die am Ball waren, wurden mit Affenlauten begleitet (und das nicht nur von den Nazis). Im Bus gab es von einzelnen Fans Gesänge, wie man dem Gegner eine Fahrt nach Ausschwitz wünschte. Manche Fans hatten auf dem Weg ins Stadion Reichskriegsflaggen dabei. Kurzum: Ich wurde kein HSV-Fan. (Ich habe mir von einem aktuellen HSV-Fan sagen lassen, dass dies heute natürlich nicht mehr so sei)

Mir blieb dieser rechte Block der Fans immer in Erinnerung, weil mir das damals sehr Angst machte. Und jetzt kam Lars mit seiner Vorprägung und seinem Wunsch nach Gemeinschaft und wohl auch Stärke. Er war immer im Stadion, bei jedem Spiel. Es erklärt sich von selbst, dass er auch Kontakt zu rechten Hooligans finden konnte und auch fand. Wäre Lars stattdessen z.B. St- Pauli Fan geworden, hätte er vermutlich keine rechte Gesinnung entwickelt, sondern evtl. eine linke. Zufälle und Lebensentscheidungen prägen uns Menschen und auch die Richtungen, die wir einschlagen. Für mich steht aber ohne Zweifel fest: Hätte Lars Wärme und Zuspruch in seiner Familie erlebt (was offensichtlich nicht der Fall war), dann wäre er nicht in die politische Radikalität abgedriftet.


Kommen wir jetzt zu Knut, bei dem die Hintergründe ganz ähnlich waren:

Sein Vater war Vorstandmitglied einer großen Firma (inkl. Mercedes S-Klasse und bei Bedarf Chauffeur). Entsprechend war der Vater häufig abwesend. Bei Knut hatte ich keine vertiefenden Einblicke in die Familie, aber ich erinnere genau seine tiefe Abneigung gegen seinen Vater. Er hasst seinen Vater zutiefst und auf der anderen Seite hegte er auch ein Stück weit Bewunderung für ihn und wünschte sich Anerkennung, die er aber nicht bekam. Ich erinnere mich auch an eine Situation, in der Knut kurz in diese Bewunderung gegenüber seinem Vater einschlug oder ihn entschuldigen wollte. Seine Schwester zischte ihn dann an: „Du weißt, dass Papa ein Arschloch ist!“  

Knut baute sich Stück für Stück eine sehr linke und radikale Identität auf. Er war sehr extrovertiert und jeder in der Schule kannte ihn. Er war durch und durch politisch und radikal. In seine Kleidung baute er dann auch Punkelemente ein. Er lehnte den Staat ab. Er fing stark an zu trinken und traf sich für Saufgelage mit seinen ebenfalls radikalen Freunden. Für mich gipfelte das Ganze in einer Deutschstunde. Knut formulierte in dieser Stunde laut seine Thesen über die Welt und äußerte direkt, wie sehr er Menschen hasste und diese als lästig empfand (seine genaue Wortwahl kann ich nicht erinnern, er bezog sich dabei auch auf irgend einen radikalen Denker). Die Reaktion des Deutschlehrers hat mich damals sehr beeindruckt. Er war wirklich sehr emotional berührt. Er strafte Knut nicht ab, sondern äußerte seine echte Sorge und sein Unverständnis für diese Weltsicht. Knuts Vater (der ja für einen neoliberale, kapitalistische Weltsicht stand), wurde natürlich auch politisch zum Feindbild für Knut. Umgekehrt war es wohl genauso: Der Vater lehnte die radikal linke Sicht des Sohnes ab und ging noch mehr auf Distanz.  

Später traf ich Knut zufällig in einem Bus in Hamburg. Er hatte in den USA an einer Eliteeinrichtung studiert. Von seiner linken Ausrichtung war nichts geblieben, wohl aber seine Radikalität. Er berichtete stolz von seinem beruflichen Werdegang. Er sei jetzt Manager und wäre für das Entlassen der Mitarbeiter zuständig, was echt Spaß machen würde. Seine Formulierung war dabei ziemlich deutlich und war gepaart mit Wichtigtuerei und Sadismus. 

Beide Akteure sind meines Wissens nach nicht gewalttätig geworden. Wobei ich das auch nicht ausschließen könnte. Wären sie gewalttätige Extremisten geworden, dann hätte mich dies nicht gewundert. Das meine ich so. Es soll nicht bedeuten, dass ich ihr Verhalten entschuldigt hätte. Aber: Ich kannte beide. Ich hatte Einblick in ihre Familie und in ihre innere Unruhe, ihr „aus-der-Bahn-geworfen-Sein“, ihre innere Radikalität und ihr Bedürfnis nach Feindbildern. 


Freitag, 11. Dezember 2020

Kindheit des Rechtsterroristen und Massenmörders Brenton Tarrant


Nur wenige Tage nachdem der Rechtsterrorist Brenton Tarrant einen Massenmord in Christchurch (Neuseeland) an vorwiegend muslimischen Menschen verübt hatte, schrieb ich einen Beitrag über seine Kindheit. Ich mahnte, dass wir in Bezug auf Tarrants Satz in seinem Manifest „I had a regular childhood, without any great issues“ vorsichtig sein sollten. Bereits Anders Breivik (Vorbild für Tarrants Tat) hatte seine Kindheit in seinem Manifest idealisiert, obwohl er nachweisbar eine extrem traumatische Kindheit hatte. 

Am 08.12.2020 wurde der „Report: Royal Commission of Inquiry into the terrorist attack on Christchurch masjidain on 15 March 2019“ online veröffentlich (aktualisiert wurde der Report am 10.12.) 

Im „Chapter 2: The individual’s upbringing in Australia“ finden sich einige Details über Tarrants Kindheit und Familie, die mir vorher nicht bekannt waren. In meinem Text aus dem Jahr 2019 äußerte ich bereits die Vermutung, dass weitere Belastungen in seiner Kindheit zu finden sein werden. Seine Tat war derart kalt, grausam und im Grunde unvorstellbar, so etwas tun Menschen nicht, nur weil sie Trennungskinder sind und in der Schule gemobbt wurden. Da musste mehr passiert sein. 

Das für mich wichtigste neue Detail ist, dass Tarrants Mutter nach der Trennung von ihrem Mann (wobei der genaue Zeitraum der Trennung nicht klar ist; Brenton soll zwischen 7 und 10 Jahre alt gewesen sein) mit einem gewalttätigen Partner zusammenkam! 

Brenton und seine Schwester lebten nach der Trennung der Eltern zunächst bei ihrer Mutter. Brentons Mutter sagte nach der Tat ihres Sohnes aus, dass ihre Kinder durch die Trennung der Eltern, aber auch durch den Verlust ihres Hauses durch einen Brand und den Tod des Großvaters traumatisiert wurden (vgl. S. 168). Das Verhalten ihres Sohnes hätte sich nach der Trennung stark verändert, er sei vor allem sehr ängstlich geworden (Brenton selbst sagte ebenfalls aus, dass er ein sehr ängstliches Kind gewesen sei).  Vermutlich wird nicht nur die Trennung Auslöser für die starken Ängste gewesen sein, denn der neue Partner der Mutter war gewalttätig, sowohl gegen die Kinder als auch gegen die Mutter:
That relationship was violent, with the new partner assaulting Sharon Tarrant and the children. An apprehended violence order was taken out against his mother's partner to protect the individual. Lauren Tarrant, and later the individual, went to live with their father“ (S. 168).
Für Brenton Tarrant bedeutete dies gleich zwei belastende Kindheitserfahungen: Selbst erlittene Gewalt und das Miterleben von häuslicher Gewalt gegen Mutter und Schwester. Dies sind traumatische Erfahrungen für ein Kind. 

Ab dem 12. Lebensjahr habe Brenton laut Aussagen seiner Schwester stark an Gewicht zugenommen, was ihn zur Zielscheibe für Mitschüler machte. Er wurde in der Folge in der Schule gemobbt und hatte kaum soziale Kontakte oder Freunde. Bereits ab ca. den 6. oder 7. Lebensjahr verbrachte Brenton viel Zeit mit Computerspielen. Als Kind hatte er auch einen unkontrollierten Zugang zum Internet in seinem Zimmer. Er verbrachte immer mehr Zeit im Internet oder mit Computerspielen, was man wohl als Flucht vor der Realität deuten kann. Die Eltern scheinen hier nicht eingegriffen und Alternativen angeboten zu haben. Insofern deute ich dies auch als ein Zeichen für elterliche Vernachlässigung (wobei das Wort Vernachlässigung in dem Bericht nicht erwähnt wird). 

Als Brenton ca. 16 oder 17 Jahre alt war, wurde Krebs bei seinem Vater diagnostiziert, was auch die Kinder, die ja aus der mütterlichen Wohnung zu ihrem Vater geflohen waren, schwer belastete. Der Vater wurde zudem depressiv. „After the diagnosis Rodney Tarrant became increasingly depressed and his children did not cope well“ (S. 169). Die Gesundheit des Vaters verschlechterte sich so weit, dass er Palliativpflege brauchte. Im April 2010 brachte sich der Vater um (Brenton muss zu der Zeit ca. 20 Jahre alt gewesen sein). Brenton soll den leblosen Vater entdeckt haben und er schein evtl. auch in die Suizidabsichten des Vaters eingeweiht gewesen zu sein. Die Vermutung steht laut dem Report im Raum, dass Brenton seinen Vater beim Selbstmord unterstützt hat. Fest steht, dass der Tod des Vaters eine große Belastung für Brenton war. 

Die psychische Situation von Brenton Tarrant wird an einer Stelle recht gut zusammengefasst:
As the individual grew older, he told his sister that he thought he was autistic and possibly sociopathic. He also said that he did not care for people, including his own family, but knew that he should. His friendships with those outside his family were limited and we have seen no evidence that the individual was involved in sustained romantic or sexual relationships“ (S. 170). 

Die Belastungen in Kindheit und Jugend werden auf Grundlage dieses Berichts mehr als deutlich. Für mich steht weiterhin die Frage im Raum, wie der Erziehungsstil der biologischen Eltern war. Haben auch sie (manchmal) Gewalt angewandt? Waren sie liebevoll und zugewandt oder das Gegenteil davon? Wir wissen es nicht. 

Was für sich fest steht ist, dass die Mutter-Sohn-Beziehung einen schweren Bruch erlitten hat. Sie war es, die einen gewalttätigen Mann in ihrem Haus gewähren ließ. Sie selbst erlitt Gewalt und ihre Kinder gleichfalls. Aus unserer erwachsenen Perspektive wissen wir um all die Schwierigkeiten, die von häuslicher Gewalt betroffene Frauen haben. Viele dieser Frauen haben auch als Kind selbst Gewalt erlitten (ob dies auch bei Brentons Mutter so war?). Solche Partner einfach rauszuschmeißen fällt diesen betroffenen Frauen, die ja oftmals auch massiv eingeschüchtert werden, nicht immer leicht. Kinder aber können die Situation nicht neutral erfassen und bewerten. Für sie ist es immer ein mütterlicher Verrat, wenn die Mutter keinen Schutz vor der Gewalt ihres Partners leisten, geschweige denn sich selbst schützen kann. So etwas hinterlässt immer tiefe Risse in der Beziehung zueinander. 

Abschließend noch der Hinweis, dass derartige Taten in der Regel von Männern verübt werden (von 172 vom „The Violence Project“ untersuchten Massenmördern in den USA waren nur 3 weiblich!). Frauen haben eher andere Wege, um solche kindlichen Belastungen auszudrücken (z.B. Selbstverletzung, Misshandlung der eigenen Kinder, psychosomatische Beschwerden usw., was im Übrigen auch für viele belastete Männer gilt, denn die meisten von ihnen werden keine Massenmörder). Traditionelle Männlichkeitsbilder und entsprechende Strukturen tragen sicher ihren Teil dazu bei, dass Massenmorde Männersache sind. Die Welt ist komplex und viele Einflussfaktoren müssen in Betracht gezogen werden. Aber: Der Fall Brenton Tarrant zeigt – mal wieder – eindrucksvoll auf, dass als Kind geliebte, gewaltfrei und fürsorglich behandelte Menschen keine Massenmörder werden. Der Fall zeigt aber auch auf, dass Prävention nicht nur bedeutet, solche Belastungen für Kinder zu verhindern, sondern auch, dass psychosoziale Hilfen greifen müssen, wenn Kinder solchen Belastungen ausgesetzt sind. Wer weiß, wenn Brenton Tarrant frühzeitig Hilfen bekommen hätte, vielleicht wäre all das Grauen dann nicht passiert. Das ist eine von vielen Lektionen, die wir aus diesem Fall ziehen können. 


Donnerstag, 10. Dezember 2020

7 (Kindheits-)Biografien (extrem) rechter Aussteiger*innen

Ich habe einen sehr interessanten Text gefunden, in dem systematisch die familiären Hintergründe von 7 ehemaligen Rechtsextremisten bzw. rechten Akteuren beleuchtet werden. Solche Texte findet man höchst selten! Destruktive Kindheitserfahrungen fallen mehrheitlich sehr ins Auge, sind aber nicht bei allen Akteuren eindeutig nachweisbar.  

Meine Quelle: Gary, S. & Kaufmann, F. (Hrsg.) (2020):  Biografien (extrem) rechter Aussteiger*innen und ihr Einsatz in pädagogischen Settings. Ein Werkstattbericht 2.0. CJD Hamburg. 


Heidi Benneckenstein (Ex-Neonazi) (über sie hatte ich auch schon einen Blogbeitrag verfasst):
in die rechtsextreme Szene hineingeboren; Trennung der Eltern, als sie 9 Jahre alt war; autoritärer Erziehungsstil des Vaters und väterliche Gewalt gegen die Kinder; Erziehung im Sinne von Leistungs- und Wettkampfsgedanken; „Verlierer“ wurden mit Ausgrenzung bestraft

Maximilian Kelm (Ex-Neonazi): im Grunde keine Infos über seine Kindheit. 

Johannes Kneifel (ehemaliger rechter und gewalttätiger Skinhead):
Aufwachen in widrigen Verhältnissen; Mutter leidet an Multipler Sklerose und ist bereits in Kneifels früher Kindheit stark eingeschränkt; Vater ist seit einem Unfall in seiner Jugend nahezu blind;  beide Elternteile sind arbeitslos; prekäre ökonomische Umständen;  Kneifel empfand Scham über die familiäre Situation; durch die Einschränkungen seiner Eltern bekam er nicht die elterliche Aufmerksamkeit, die er brauchte; die Eltern setzen kaum Grenzen und vermeiden Konflikte; elterliche Wertschätzung erhält er wenig; Johannes fühlt sich als Außenseiter und hat Schwierigkeiten, Freunde zu finden; mit 13 Jahren plagen ihn Selbstmordgedanken; die älteren Schwester meldet irgendwann die Familie beim Jugendamt, welches in der Folge auch familiäre Defizite feststellt; der 14-jährige Johannes wird zunächst in eine Jugendpsychiatrie eingewiesen, danach kommt er in ein Internat. 

Philip Schlaffer (Ex-Rechtsextremist):
Das Verhältnis zu seiner Familie in der Jugendzeit, insbesondere zu seinem Vater, beschreibt er als angespannt“ (S. 44). Als Bruch in seinem Leben empfindet er den Umzug der Familie nach England und später wieder zurück nach Deutschland;  später auf einer Gemeinschaftsschule fühlt er sich als Außenseiter; keine Details über Kindheit und Erziehungsstil der Eltern. Er betont in seinen Videos, dass er eine „normale“ Familie hatte, eine“ glückliche Kindheit“. Dies widerspricht den vorherigen Feststellungen. Bereits im Alter von 14 Jahren begann sein Einstieg in die rechte Szene. 

Franziska Schreiber (ehemals AfD-Mitglied):
in Dresden in einem „bunten, linken Haushalt“ aufgewachsen (S. 58); kein Details über ihre Kindheit. 

Christian E. Weißgerber (Ex-Neonazi):
Mutter floh auf Grund der Gewalttätigkeit ihres Mannes aus der Familie; Gewalt des alleinerziehenden Vaters bestimmte die Familie und richtete sich gegen die Kinder; Schwester holte sich Hilfe beim Jugendamt und wurde aus der Familie geholt; Christian blieb aus Mitleid beim Vater und war weiter der Gewalt ausgesetzt. 

Timo F. (Ex-Neonazi; Infos aus einem autobiografischen Roman):
„Seine Biographie ist geprägt von Gewalt, Beziehungsabbrüchen, dysfunktionalen Familienstrukturen (auf verschiedenen Ebenen) und dem beständigen und sich aus den genannten Faktoren speisenden (und selten erfüllten) Wunsch nach Zugehörigkeit, Sicherheit und Anerkennung“ (S. 82). Zitat aus dem Buch: „Ich fühlte mich unendlich alleine auf der Welt. Ein störender Fremdkörper in ihrer kleinen glücklichen Familie. Wie diese fetten Brummer, die immer so lästig um einen herumschwirrten und bei denen man froh war, wenn sie irgendwann tot auf der Fensterbank lagen. Ich war der Brummer“ (S. 82). Mutter wechselt häufig die Partner und die Familie zieht häufig um. Timos Urgroßvater (bei dem die Mutter einen Großteil ihrer Kinderund Jugendzeit verbracht hat) war ehemalige Angehörigen der (Waffen-)SS und blieb von der Einstellung her auch ein Nazi. Prägung durch diese Einflüsse; auch Timos Mutter war rechts eingestellt.


Mittwoch, 9. Dezember 2020

Prostitution: Sind belastende Kindheitserfahrungen von Freiern auch eine Ursache dafür?

Bereits im Jahr 2013 schrieb ich in einem Blogbeitrag, der sich auf das Ausmaß von belastenden Kindheitserfahrungen von Prostituierten konzentrierte: „Zudem ist mir keine Untersuchung bekannt, die die Kindheiten von (männlichen) Zuhältern, Bordellbetreibern, Menschenhändler und auch von Freiern unter die Lupe nimmt. Dabei ist diese Gruppe ebenfalls von Interesse und auch die entsprechenden Kindheiten sind vermutlich alles andere als liebevoll verlaufen.“

Vielleicht gibt es dazu mittlerweile Studien (über Hinweise würde ich mich freuen)? Ich habe nicht die Kapazität, große Recherchen dazu zu unternehmen. Allerdings fand ich schon damals eine Studie, die einen Zusammenhang zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und Freiertum nahe legt.

Ich schrieb damals am Ende des eingangs verlinkten Beitrags (mit Bezug auf die erwähnte Studie): „Indirekt wurde in einer großen Studie, für die über 10.000 asiatische Männer befragt wurden und die im Kern eigentlich das Verbrechen Vergewaltigung erforschen wollte, ein Zusammenhang zwischen gewaltvollen Kindheiten von Männern und deren Gang zu Prostituierten festgestellt. 64 % der Vergewaltiger und 77 % der Gruppenvergewaltiger waren Freier, dagegen nur 30,8 % der Nicht-Vergewaltiger. Die Nicht-Vergewaltiger hatten allerdings auch die im Vergleich zu den Vergewaltigern deutlich gewaltfreieren Kindheiten. Beispielsweise hatten als Kind 58,7 % der Vergewaltiger und 60,5 % der Gruppenvergewaltiger körperliche Misshandlungen (also schwere Gewalt gegen das Kind) erlebt, dagegen "nur" 31,4 % der Nicht-Vergewaltiger. Ähnliche Zahlenverhältnisse zeigten sich beim sexuellen Missbrauch, emotionaler Misshandlung/Vernachlässigung und dem Beobachten von körperlicher Gewalt in der Familie.“

Ich möchte dieses Thema heute erneut aufgreifen.

Wieder ist es so, dass die Studienlage eher indirekte Hinweise bezogen auf die These liefert, dass belastende Kindheitserfahrungen mit „Sexkauf“ in einem Zusammenhang stehen. Aber diese Hinweise sind ziemlich deutlich und sollten zu weiteren direkten Forschungen führen.

In sogenannten „adverse childhood experiences“-Studien wurde herausgefunden, dass erhöhte Belastungen in der Kindheit (Misshandlungs-/Missbrauchsserfahrungen, Vernachlässigung, suchtkranke Elternteile usw.) mit einem Anstieg von sexuell riskanten Verhalten (z.B. viele Sexualpartner, früher Sex in Jugend, Sex ohne Kondom) in einem Zusammenhang stehen. (z.B. „Adverse childhood experiences andsexual risk behaviors in women: a retrospective cohort study“ + „Early Adversity and Sexual Risk in Adolescence: Externalizing Behaviors as a Mediator“ + „Adverse childhood experiences, gender, and HIV risk behaviors: Results from a population-based sample“) Warum das so ist, ist eine andere Frage. Da der Gang zu Prostituierten auch als „sexuell riskantes Verhalten“ bezeichnet werden kann, nehme ich an, dass diese Ergebnisse auch auf Freier übertragen werden können.

Eine Studie möchte ich dabei besonders hervorheben: Anderson, K. G. (2017): Adverse Childhood Environment: Relationship With Sexual RiskBehaviors and Marital Status in a Large American Sample. Evolutionary Psychology, April-June 2017: 15(2), 1–11.
17.530 Männer and 23.978 Frauen aus 13 US-Staaten im Alter zwischen 18-54 Jahren wurden dafür befragt. Innerhalb der Studie wurden auch diverse andere Studien besprochen, die Zusammenhänge zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und sexuell riskantem Verhalten sowie einer frühen geschlechtlichen Reifung fanden. Wichtiger aber noch ist die Fragestellung der Studie. Denn eine Frage beinhaltete bezogen auf eine potentielle AIDS-Erkrankung das riskante Verhalten bezogen auf die letzten 12 Monate vor der Befragung: intravenöser Drogengebrauch, Behandlung auf Grund einer Geschlechtskrankheit, bezahlen oder bezahlt werden für Sex oder Analverkehr ohne Kondom.

Leider wurde der Punkt „für Sex bezahlt oder bezahlt werden“ nicht gesondert aufgestellt, aber er war immerhin enthalten. Das Ergebnis ist recht eindeutig: Für Männer erhöhte jeder einzelne ACE-Wert (insgesamt 7 ACE-Werte) die Wahrscheinlichkeit für sexuell riskantes Verhalten. Für Frauen erhöhten jeweils 5 ACE-Werte (u.a. Misshandlungen und sexueller Missbrauch in der Kindheit) die Wahrscheinlichkeit für sexuell riskantes Verhalten. Insofern lässt sich aus den Ergebnissen der Studie schließen (wenn auch mit einigen Beschränkungen), dass belastenden Kindheitserfahrungen mit dem Bereich Prostitution insgesamt („Sexkauf“ oder für Sex bezahlt werden) in einem Zusammenhang stehen. (ganz ähnlich aufgebaut - mit der gleichen Fragestellung bezogen auf das, was als sexuell riskantes Verhalten definiert wird - war auch die bereits oben verlinkte Studie Adverse childhood experiences, gender, and HIV risk behaviors: Results froma population-based sample“ + die Ergebnisse gehen in die gleiche Richtung!)

Abschließend noch ein Gedanke: Wer sich allgemein mit den Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen befasst, wird schnell darauf stoßen, dass diese Erfahrungen die Wahrscheinlichkeit für Täterverhalten (inkl. häuslicher Gewalt gegen Frauen), verminderte Empathie und Moralvorstellungen, selbstschädigendes Verhalten, (Selbst-)Hass usw. erhöhen. Dass diese „Schablone“ auch auf Freier angewendet werden kann, ist mehr als naheliegend! Hat doch ihr Verhalten viel mit dem Ausblenden von Realitäten (dem Leid von Prostituierten), Hass, Bedürfnis nach Macht (oder bzgl. Sado Maso Fantasien auch mit inszenierter Ohnmacht), Kontrolle, Demütigungen von anderen Menschen, fehlender Selbstachtung und fehlender Moral zu tun. Ich bin davon überzeugt, dass das wissenschaftlich erwiesene hohe Ausmaß von leidvollen Kindheitserfahrungen von Prostituierten nur die eine Seite der Medaille ist. Die andere Seite beinhaltet höchst wahrscheinlich kindliche Ohnmachtserfahrungen der Freier, Zuhälter und Menschenhändler. Das soll deren Verhalten nicht entschuldigen, erklärt aber, wie man Prostitution präventiv verhindern kann: Mehr Kinderschutz und mehr Fürsorge und gute Lebensbedingungen für Kinder!

Freitag, 4. Dezember 2020

Kindheit von Robert Mugabe

Simbabwes langjähriger Regierungschef und Diktator Robert Mugabe erfüllt einige Punkte, die mir immer wieder bei Diktatoren aufgefallen sind: 

  1. Er ist männlich, denn eine Diktatur zu führen, war und ist in patriarchalen Gesellschaften stets Männersache. Als Führer verkörperte er nach außen traditionelle Männlichkeitsvorstellungen von absoluter Stärke und Entschlossenheit, sowie Härte im Kampf gegen seine „Feinde“. 
  2. Er war hoch intelligent und verbrachte bereits als Kind die meiste Zeit damit zu lesen, anstatt mit anderen Kindern zu spielen. 
  3. Er hatte eine sehr enge (aber keine gesunde) Mutterbeziehung, die Tendenzen von emotionalem Missbrauch und einer „Muttersöhnchen-Konstellation“ aufweist (siehe dazu auch das Buch „Muttersöhne“ von Volker Elis Pilgrim, dessen These ist, dass dies die entscheidende Gemeinsamkeit von Diktatoren und Massenmördern ist. Meine Recherchen über diverse Diktatoren stützen diese These. Ich halte aber auch weitere Belastungen in der Kindheit von großer Bedeutung und ebenfalls auch die Rolle der Väter). Und: Die Mutter hatte hohe Erfolgserwartungen gegenüber ihrem Sohn. 
  4. Er war als Kind vielfachen Belastungen ausgesetzt, die sich zu einem „Gesamttraumapaket“ kumulierten. 

Alle diese 4 Punkte fand ich oftmals bezogen auf Diktatoren bestätigt (siehe u.a. in meinem Buch)! 


Kommen wir jetzt zu Mugabes Kindheit:

Meine Quelle dafür ist: Holland, Heidi (2009): Dinner With Mugabe: The untold story of a freedom fighter who became a tyrant. Penguin Books, Johannesburg (South Africa). Kindle-E-Book Version. 

Robert erlebte als Kind den Tod zwei seiner älteren Brüder. Einer davon, Michael, war der Liebling der Familie. Nach Michaels Tod verließ der Vater die Familie und heiratete später erneut. Robert war zum Zeitpunkt dieser Trennung 10 Jahre alt und entwickelte in der Folge einen tiefen Hass gegen seinen Vater. Roberts Mutter wurde nach der Trennung von ihrem Mann depressiv (wobei Holland auch eine Quelle zitiert, nach der die Mutter schon VOR der Trennung und dem Verlust von 2 Kindern psychisch angeschlagen war. An einer Stelle im Buch – Seite 5 - spekuliert sie entsprechend auch, ob Robert von seiner belasteten Mutter als Baby vernachlässigt worden sein könnte). 

Robert war ein schüchternes, sensibles Kind, das jetzt zum mütterlichen Favoriten wurde. Er stützte seine Mutter, begleitetet sie täglich zur christlichen Messe und versuchte, seine Mutter glücklich zu machen (diese Geschichte gleicht übrigens fast 1zu1 den Kindheitserlebnissen von Francisco Franco). Gleichzeitig hatte die Mutter hohe (Leistungs-)Erwartungen an ihren Sohn Robert; sie trieb ihn an, viel zu lernen. Aber sie strafte ihren Sohn auch körperlich, wie Roberts Bruder Donato berichtet:
If his mother smacked him, Robert must thank her for correcting him; that's what she believed. (…) She smacked him maybe thrice and he thanked her every time. The other children used to tease him and he became lonely“ (S. 4) Diese mütterliche Gewalt in Kombination mit dem „Bedanken“ dafür durch ihren Sohn ist schon bemerkenswert. Hier wurde offensichtlich erfolgreich die kindliche Wahrnehmung verdreht! Erlittene Schmerzen und Demütigungen wurden „dankend“ entgegengenommen, denn Mutter konnte es ja nur zum „Wohle des Kindes“ tun, damit er seine Lektionen lernt…

Nach außen beschützte seine Mutter ihren Liebling dagegen vor jedem, auch den eigenen Geschwistern. Robert war indes ein Einzelgänger, der sich oft zum Lesen zurückzog. Seine Favoritenrolle bei seiner Mutter und auch dem Geistlichen vor Ort machte ihn zur Zielscheibe von Gleichaltrigen und seinen Geschwistern, die ihn gnadenlos hänselten (vgl. S. 6). 

Auf Seite 11 schreibt die Autorin kurz, dass Robert Mugabe eine „traumatische Jugend“ hatte. Dem ist im Grunde nichts weiter hinzuzufügen. Wie so oft bleibt mir nur anzumerken, dass als Kind wirklich geliebte und umsorgt aufgewachsene Kinder später keine Diktatoren werden.

(Abschließend noch der Hinweis auf den Länderreport über Simbabwe (von der Global Initiative to End All Corporal Punishment of Children) und die dortigen Gesetze zum Thema Gewalt gegen Kinder + Studien zum aktuellen Ausmaß der Gewalt in dem Land. In dem Land sind Körperstrafen gegen Kinder u.a. in der Familie und Schule weiterhin legal!)


Donnerstag, 3. Dezember 2020

Islamistischer Terror - Die Kindheit von Arid Uka

Arid Uka verübte am 02.03.2001 den ersten islamistischen Anschlag in Deutschland (Mordanschlag auf US-Soldaten am Frankfurter Flughafen). Über seine Kindheit liegen mittlerweile einige Erkenntnisse vor: 

Mit seiner Geburt im Kosovo im Jahr 1990 einige Jahre vor dem Ausbruch des Kosovokrieges, nach der Scheidung seiner Eltern und der Auswanderung des Vaters nach Deutschland begann eine schwierige Kindheit. Arid Uka folgte als Säugling dem Vater nach Deutschland und verbrachte die ersten drei Lebensjahre ohne Mutter. Die Lebensverhältnisse normalisierten sich erst nach dem fünften Lebensjahr mit der Wiederheirat der Eltern und der Familienzusammenführung in Deutschland. In relativer Armut lebte die Familie mit drei Kindern in einem Stadtteil von Frankfurt am Main, der jahrelang als sozialer Brennpunkt galt“ (Ben Slama, B. (2020): Die psychologische Dimension von Radikalität, Extremismus und Terrorismus. In: Ben Slama, B. & Kemmesies, U. (Hrsg.): Handbuch Extremismusprävention. Gesamtgesellschaftlich - Phänomenübergreifend. Bundeskriminalamt (Polizei+Forschung, Band Nr. 54), S. 338).
Als Arid 17 Jahre alt war, verschlechterte sich die wirtschaftlich eh nicht einfache Situation der Familie nachdem der Vater schwer erkrankte. Arids Orientierungskrise (auch in der Schule brachen seine Leistungen ein) verschärfte sich dadurch. Im familiären Umfeld gab es kaum Unterstützung. Seine Zuwendung zum Islam begann in dieser Zeit. 

Ein weiteres, schweres Trauma kam in der Kindheit hinzu: „Bezüglich des Vergewaltigungsvideos (Anmerkung Sven Fuchs: Auslöser für seine Morde sei seinen Angaben zu Folge gewesen, dass er zuvor im Internet ein Video über die Vergewaltigung muslimischer Frauen durch US-Soldaten gesehen habe) gab Herr Leyggraf an, die starke persönliche Reaktion des Angeklagten sei durch ein eigenes Missbrauchserlebnis zu erklären. Der Angeklagte habe ihm erzählt, dass er als 6-7jähriger im Park von einem älteren Mann missbraucht worden sei.“ (INTERNATIONAL RESEARCH AND DOCUMENTATION CENTRE WAR CRIMES TRIALS, 19. Dezember 2011: Monitoring Report Nr. 8 Strafverfahren gegen Arid U.)

Das Missbrauchserlebnis im Park war offensichtlich traumatisch. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass ein solches Einzelerlebnis nicht ausreicht, damit ein Mensch zum terroristischen Mörder wird. Ein Kind, das sicher in seiner Familie aufwächst und fürsorglich/gewaltfrei behandelt wird und dem so etwas passiert, wird auch traumatisiert, ja. Aber die (Entwicklungs-)Grundlage wäre eine ganz andere! In der frühen Kindheit von Arid Uka deuten sich dagegen schwere Konflikte der Eltern an. Und er wurde von der Mutter jahrelang getrennt. Wie der Vater mit dem Säugling und Kleinkind umging ist nicht klar. Auch über den mütterlichen Erziehungsstil erfahren wir nichts. Der Mutter war es ja versagt, eine Bindung zum Kind aufzubauen. Auf ihren Sohn traf sie erst, als er 3 Jahre alt war. Ich vermute, dass in den ersten Lebensjahren einiges passiert sein muss. Dieser schwierige Start ins Leben kumulierte mit der sexuellen Missbrauchserfahrung. Häufig findet sich bei Extremisten genau das: Mehrfachbelastungen in Kindheit und Jugend. Ein Kind muss viel erleben und erleiden, damit der Hass wächst. 


Donnerstag, 26. November 2020

89 Maßnahmen der Bundesregierung gegen Rechtsextremismus und KEIN Wort zum Thema Kinderschutz!

Die Bundesregierung hat am 25.11.2020 den „Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ veröffentlicht. Insgesamt werden 89 Maßnahmen aufgeführt, die wiederum verschiedenen Ministerien zugeordnet wurden. 1 Milliarde Euro wird zur Verfügung gestellt, um die Maßnahmen umzusetzen. 

Ich ahnte es schon nach den ersten Presseberichten und habe mir heute nun den Maßnahmenkatalog im Detail angeschaut: Es gibt keine einzige Maßnahme, die in Richtung Kinderschutz geht, keine! 

Dazu würde gehören: Prävention von Kindesmisshandlung in all ihren Formen und von häuslicher Gewalt in Verbindung mit „Elternbefähigungsprogrammen“. Dazu würde gehören, dass die Gesellschaft „traumasensibel“ und „traumainformiert“ wird. Das Wissen um Ausmaß und Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen (ACEs) muss gesamtgesellschaftlich zum Allgemeinwissen werden. Alle Menschen sollten darüber aufgeklärt werden, dass Psychotherapien helfen können, die Folgen von traumatischen Erlebnissen abzumildern und sie sollten wissen, wie man an solche Therapieplätze kommt. Der „Kreislauf der Gewalt“ gehört besprochen. Eltern (Elternführerschein?) sollten aufgeklärt werden, welche Verhaltensweisen Kinder schädigen und wie sich dies lebenslang auswirken kann. Eltern sollten darüber aufgeklärt werden, dass eigene destruktive Kindheitserfahrungen oft an die nächste Generation weitergebeben werden. Eltern sollten Hilfsangebote aufgezeigt werden. Alle wichtigen Infos zum Thema Kindesmisshandlung müssen standardmäßig in die Ausbildung von Lehrkräften und ErzieherInnen verankert werden. Und und und….! Es gäbe sooo viel zu tun, was Gewalt und Extremismus den Boden entzieht, aber kein Wort in dem Katalog der Bundesregierung! 

Und: Das schöne ist, dass diese Maßnahmen "nette Nebeneffekte" hätten: z.B. weniger Gesundheitsprobleme, weniger Suchtmittelmissbrauch, weniger Kriminalität und letztlich - das wird die Politik besonders interessieren - weniger gesamtgesellschaftliche Kosten. Eine von der WHO finanzierte Studie aus dem Jahr 2019 kalkuliert die jährlichen Kosten, die auf Grund belastender Kindheitserfahrungen (ACEs) entstehen, auf 581 Milliarden $ in Europa und 748 Milliarden $ in Nord Amerika. Was sind dagegen schon 1 Milliarde Euro aus dem aktuellen Maßnahmenkatalog der Bundesregierung?

Leider ist das gesamtgesellschaftliche Ausblenden von Kindheitserfahrungen meine Dauererfahrung bei dem Thema und gleichzeitig auch mein Antrieb für meine Arbeit in dem Bereich. In meinem Buch habe ich dazu bereits ausführlich etwas im Kapitel „Das große Schweigen“ geschrieben. 

Ein Paradebeispiel ist für mich auch das 2020 vom Bundeskriminalamt herausgebrachte „Handbuch Extremismusprävention“.  In dem über 750 Seiten starken Handbuch gibt es keinen Beitrag, der schwerpunktmäßig auf die familiäre Sozialisation und Kindheit von Extremisten schaut. Und nur in einem einzigen Beitrag (von Brahim Ben Slama) wird dieses Thema überhaupt in den Blick genommen und als mögliche Ursache für eine Radikalisierung verortet; allerdings auch nur mit wenigen, knappen Ausführungen, die im Gesamtkontext nicht ins Gewicht fallen. Der Extremismusforscher und Leiter des Institutes für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ), Matthias Quent, hat Ende 2020 das Buch „Rechtsextremismus: 33 Fragen - 33 Antworten“ herausgebracht. Keine dieser 33 Fragen richtet sich auf die Kindheit und Familie. Die Frage, woher eigentlich der Hass kommt, wird in dieser Hinsicht nicht von Quent beantwortet. Die Beispiele ließen sich unzählige Male fortführen. 

Es verwundert daher auch nicht, dass die Bundesregierung das Thema „Kindheit und Rechtsextremismus“ nicht auf dem Zettel hat. Sie wird von WissenschaftlerInnen beraten und leider gibt es da in Deutschland keinen Fokus auf die Kindheitsursprünge von Extremismus. Auch die NS-Zeit wurde bisher nicht wirklich umfassend aufgearbeitet, trotz der Ende der 1930er Jahre beginnenden Arbeiten um Horkheimer und seiner „Studien über Autorität und Familie“ und trotz des „Geschwister-Scholl-Preises“ 2001 für Arno Gruen und sein Buch „Der Fremde in uns“. 

Es ist zum Heulen!

Dabei ist das Ganze paradox! Es gibt mittlerweile etliche Forschungsarbeiten, die zentral die familiäre Sozialisation und Kindheit von RechtsextremistInnen in den Blick genommen und hieraus Schlüsse gezogen haben. Ergänzt wird dieses Bild durch einzelne, autobiografische Buchveröffentlichungen ehemaliger RechtsextremistInnen und mehr noch durch Medienberichte über einzelne rechte GewalttäterInnen (siehe auch meinen Blog). Kriminologische SchülerInnenbefragungen runden das Bild ab. Sie zeigen einen Zusammenhang zwischen destruktiver Erziehung und (rechts-)extremistischen Einstellungen auf.

Destruktive, ja oftmals sogar traumatische Kindheitshintergründe scheinen demnach DIE zentrale Gemeinsamkeit von RechtsextremistInnen zu sein. Ihre Kindheitshintergründe ähneln somit eher denen von (gut erforschten) Risikogruppen wie z.B. allgemeinen/unpolitischen (Gewalt-)StraftäterInnen oder PsychiatriepatientInnen.  

Diese „Sehen-Wollen“ und „Erkenntnisse-Sammeln“ bezogen auf die tieferen Ursachen von Gewalt und Extremismus auf der einen Seite (denn die Einzelarbeiten und Einzelstudien gibt es ja!) und dieses fehlende Sprechen darüber, die fehlende Öffentlichkeit, der fehlende Fokus der Wissenschaft und am Ende eben auch die fehlenden, nachhaltigen Maßnahmen auf der anderen Seite sind paradox, aber wahrscheinlich wiederum mit Kindheitserfahrungen zu erklären. Destruktive Kindheitserfahrungen sind derart weit verbreitet und haben unsere menschliche Geschichte stets dominiert, so dass wir nur Stück für Stück und gut dosiert darauf schauen können. Die Gesellschaft als Ganzes muss erst einmal so weit sein, dass sie es auch erträgt, wirklich hinzuschauen. Ich bin mir sicher, dass wir hier in Deutschland auf dem Weg sind. Es wird noch eine Weile, aber nicht mehr ewig dauern, bis der Damm bricht und das Thema breit auf den Tisch kommt, inkl. der psychohistorischen Aufarbeitung der NS-Zeit. Wir kennen das auch aus der Psychoanalyse: Die Wahrheit will einfach an Licht und sich ausdrücken. Dafür brauchen wir einen stabilen Rahmen und auch den Willen. Da sich in Deutschland Kindheit stetig entwickelt hat, friedlicher, gewaltfreier und demokratischer wurde und wird und seit den 1980er Jahren parallel das psychotherapeutische Angebot massiv ausgebaut wurde (und dadurch immer mehr Menschen ihre traumatischen Erfahrungen verarbeiten konnten), werden wir diesen Weg bald gehen können. Ich bin gespannt, wann es so weit ist. Aber, ich bin und bleibe auch sehr ungeduldig und trage meinen Teil zur Aufklärung bei: Steter Tropfen höhlt den Stein


Montag, 23. November 2020

Terror von Links - Die Kindheit von Peter-Jürgen Boock

Peter-Jürgen Boock war das erste (frühere) RAF-Mitglied, mit dem ich mich befasst habe. Ich wurde am 18.10.2007 auf ihn aufmerksam, als ich in dem Sender N-TV eine Dokumentation über den „Terror der RAF“ sah, in der auch Boock interviewt wurde. Er sagte dort aus, dass der Moment der Schleyer-Entführung und nachdem alles so „glatt gelaufen“ wäre, er sich so „lebendig gefühlt“ habe, wie nie zuvor in seinem Leben. Ich hatte damals bereits viel vom dem Psychoanalytiker Arno Gruen gelesen, der immer wieder beschrieben hat, wie sich einige Mörder im Angesicht des Leids anderer Menschen „lebendig“ fühlen. Gruen sah dabei ursächlich einen Zusammenhang zu destruktiven Kindheitserfahrungen. Insofern spekulierte ich alleine auf Grund der o.g. Aussage von Boock schon früh, dass bei Boock wahrscheinlich traumatische Kindheitshintergründe zu finden sind. 

Erstmals bestätigt fand ich diese Vermutung Anfang 2015, was ich in einem Blog-Beitrag kurz ausgeführt hatte. Allerdings gab es bis dahin nur oberflächliche Infos über seine Kindheit. Vertiefende Infos fand ich während meiner Recherchen für mein Buch. Auf Seite 189 habe ich darin kurz die destruktive Kindheit von Boock beschrieben: von der frühen Trennung von seinen Eltern, dem häufigen Alkoholkonsum des Vaters, der dann nicht selten grob wurde (was vermutlich auch Gewalt bedeutete) und von der - auf Antrag der Eltern – Unterbringung des 17-Jährigen Peter-Jürgen in einem geschlossen Jugendheim in Glückstadt, wo die Erzieher, wann immer sich die Gelegenheit bot, ihre Zöglinge mit Gummiknüppeln verprügelten. 

Nach der Buchveröffentlichung fand ich weitere Informationen. Wuschnik schreibt, dass Boock schon früh versuchte, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen (da war er ca. 16 Jahre alt). 1969, nach dem er auf Grund von Drogendelikten in Jugendarrest kam, unternahm er erneut einen Selbstmordversuch (Wunschik, Tobias (1997): Baader-Meinhofs Kinder: Die Zweite Generation der RAF. Westdeutscher Verlag, Opladen, S. 198). Diese Info alleine deutet auf schwere Belastungen hin. Und sie zeigt auch (ganz nach Arno Gruen), wie sehr Hass auf andere Menschen mit Selbsthass zu tun hat. 

Am 19.11.2020 wurde aktuell ein langes und interessantes Interview mit Peter-Jürgen Boock im „ZEIT-Magazin“ (Nr. 48) veröffentlicht. Es tun sich weitere Abgründe bezogen auf die Kindheit von Peter-Jürgen auf. (Ich habe dies, nebenbei bemerkt, schon mehrmals in der Vergangenheit mit Blick auf Massenmörder, Diktatoren oder Terroristen erlebt: Je länger man recherchiert, je mehr man über die Kindheit dieser Leute in Erfahrung bringt, desto schlimmer wird das Gesamtbild, das man erhält. Früher war ich dann immer geradezu platt, weil ich meine Thesen bestätigt fand („Gänsehaut“): „Das gibt es doch gar nicht!“. Heute und beim Fall Boock nehme ich die neuen Infos sehr nüchtern auf: „Natürlich hatte er eine solch schlimme Kindheit! Wie konnte es auch anders sein? Denn als Kind geliebt und geborgen aufgewachsene Menschen werden keine Terroristen!“) 

Hier nun die wesentlichen, neuen Infos aus dem o.g. ZEIT-Magazin-Interview: 

- Seine frühe Kindheit verbrachte Peter-Jürgen auf der Halbinsel Eiderstedt bei seiner Großmutter. Seine Eltern lebten und arbeiteten in Hamburg und kamen nur alle 2-3 Monate mal vorbei. Boock bezeichnet diese Zeit bei der Großmutter als glücklich. Was er im Rückblick übersieht und wohl sicher auch nicht selbst emotional einordnen könnte ist, dass er als kleines Kind einst von den Eltern verlassen wurde. Dies war ganz sicher eine schwere Belastung für das Kind, auch wenn er danach mit der Großmutter eine gute Zeit hatte. 

- Mit 7 Jahren zog er dann zu seinen Eltern nach Hamburg. Dies war wohl ein schwerer Schnitt, nicht nur wegen der Trennung von der Großmutter, denn als Sohn eines Beamten (sein Vater war Berufssoldat) und mit einem von den Eltern aufgezwungenen Anzug, den er tragen musste, wurde er zur Zielscheibe für andere Kinder, die ihn häufig verprügelten oder ihm auflauerten. 

- Mit ca. 10 oder 12 Jahren suchte er sich dann Freunde, die seinen Eltern nicht genehm waren, darunter auch der spätere Chef der Hamburger Hells Angels. Stück für Stück scheint er dann seinen Eltern entglitten zu sein. Auf die Frage, ob er einen brutalen Vater hatte, antwortete Boock: „Ja.“ Ich gehe insofern davon aus, dass der Vater auch Gewalt gegen seinen Sohn anwandte (was sich schon bei meinen vorherigen Recherchen andeutete – siehe oben). 

- Ein extremes Trauma erlebte er im Alter von 12 Jahren. Er besuchte einen Onkel und dessen Bekannter vergewaltigte Peter-Jürgen. Nachdem Peter-Jürgen seinem Onkel alles erzählt hatte, verprügelte dieser den Bekannten. Der Onkel rief auch die Eltern an und erzählte ihnen alles. Seine Eltern, so sagt Boock, reagierten zu Hause im Grunde gar nicht. Die Vergewaltigung und die Folgen daraus wurden totgeschwiegen. Daraufhin wollte Peter-Jürgen nur noch fliehen, was er auch immer wieder tat. 

- Seine Eltern ließen ihn dann zur Fahndung ausschreiben und er kam, nachdem er aufgegriffen worden war, nach Glückstadt in das Jugendheim (wie oben bereits geschildert). Dass in dem Heim Gewalt vorherrschend war, hatte ich ebenfalls bereits berichtet. Neu war für mich noch einmal der blanke Sadismus der Erzieher (laut Boock aggressive, ehemalige Kriegsversehrte und invalide Heringsfischer). Boock bezeichnet die dortigen Methoden als Folter. Die Erzieher stellten sich in zwei Reihen auf und die durchlaufenden Zöglinge wurden dann von beiden Seiten verprügelt. Besonders krass fand ich die Schilderungen über das „Mumienmachen“. Boock dazu: „Man wurde eingewickelt in so Leinenzeug, aus dem Segel gemacht wurde. Das wurde eingepinselt mit so einem Kalkzeug, das wir Zahnpasta nannten. Das zog sich dann langsam zusammen, bis man das Gefühl hatte zu ersticken. Es war grauenhaft. Es ging langsam, 20, 30 Minuten“ (ZEIT-Magazin, 19.11.2020, Nr 48, S. 20) 

- Später kam Peter-Jürgen dann in ein anderes Heim in Rengshausen und wurde auch dort gleich in einen Strafbunker gesteckt. Aus diesem Heim heraus wurde er dann von Baader, Ensslin und Proll quasi "rekrutiert". 

An dieser Stelle wird auch noch einmal die Bedeutung des Zufalls deutlich, etwas, was ich in meinem Buch bei der Genese von Tätern oder auch Terroristen sehr betont habe. Boock selbst sagt in dem Interview, dass er, wenn seine Eltern ihn nicht zur Fahndung ausgeschrieben hätten und er folglich nicht im Heim gelandet wäre, evtl. Konzertveranstalter geworden wäre, wie so viele der jungen Ausreißer, mit denen er damals in Holland in einer Kommune lebte. 

Natürlich wird nicht aus jedem misshandelten und traumatisierten Kind später ein Terrorist! Bei Boock kam der Zufall bzw. die Begegnung mit Baader & Co. dazu, ebenso der Zeitgeist und die damalige Stimmung im Land. Der Fall Boock zeigt aber, wie so viele andere auch (inkl. Boock habe ich mittlerweile die destruktiven Kindheiten von 16 RAF-TerroristInnen skizziert: siehe dazu in Dynamische Psychiatrie, Vol. 53 (2020), Heft 2-3 bzw. in meinem Buch und hier im Blog), dass destruktive Kindheitshintergründe die Wurzeln des Übels sind. Mit Blick auf seinen Fall kann man auch zugespitzt sagen, dass die Gesellschaft erntet, was sie sät. Die Gesellschaft steht in der Verantwortung, Kinder vor Gewalt und Übergriffen zu schützen und Hilfen anzubieten, wenn dieser Schutz nicht gelingen konnte. Wer wundert sich ernsthaft, wenn solch traumatisierte Menschen später Unheil bringen können? 

Boocks Kindheit soll und kann trotz allem nichts entschuldigen! Das werde ich nicht müde zu betonen. Wenn man das ganze Interview im ZEIT-Magazin ließt, wird allerdings auch deutlich, dass dieser Mensch auch durch seine Taten sich selbst und sein Leben bestraft und schwer belastet hat. Eigene Taten können weitere Traumatisierungen auch für die Täter bedeuten. Im Fall Boock wird dies mehr als deutlich. 


Montag, 9. November 2020

Gewalt durch Mütter/Stiefmütter gegen junge Frauen/Jugendliche in der Welt

Männergewalt im privaten Rahmen war und ist erfreulicherweise seit Jahren immer wieder Thema in Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit. Natürlich bleibt das Thema trotz der Öffentlichkeit weiterhin schambeladen und – gerade im privaten Raum – auch oftmals immer noch ein Tabu. Auch Frauengewalt (inkl. sexuellen Missbrauch) ist in den letzten Jahren Stück für Stück mehr in den Fokus gerückt. Allerdings bleibt Frauengewalt nach meinem Eindruck häufig immer noch ein „Tabu im Tabu“.

Beim Thema Frauengewalt gegen Kinder und Jugendliche stört mich vor allem die fehlende öffentliche Klarheit bezogen auf die Daten und Fakten. Bereits im Jahr 2012 hatte ich hier im Blog den Beitrag „Kindesmisshandlung: Mütter als Täterinnen“ verfasst. Und in meinem Buch habe ich dem Thema ein eigenes, kurzes Kapitel gewidmet, weil es einfach wichtig ist, um die Realitäten zu wissen. Die Realität ist, dass nachweisbar in vielen Ländern dieser Welt häusliche, körperliche Gewalt gegen Kinder und Jugendliche mehrheitlich von Frauen ausgeht (in Deutschland ist das Gewaltverhältnis in etwa ausgeglichen). Das soll die Männergewalt nicht gering reden und relativieren! Es ist einfach eine Feststellung, um die Mann und Frau wissen muss, damit Prävention auch greifen kann. 

Gewaltverhalten an sich und Gewalt gegen Kinder insbesondere steht nachweisbar in einem starken Zusammenhang zu eigenen Gewalterfahrungen (vor allem in der Kindheit). Insofern wäre es schon ein Wunder, wenn Frauen, die ja stark von Gewalt in vielen Kontexten betroffen sind, die Gewalt nicht in der einen oder anderen Form an Menschen, über die sie viel Macht haben, weitergeben. Und als Mütter/Stiefmütter verfügen Frauen naturgemäß über viel Macht über Kinder und Jugendliche. 

 Ich möchte den Blick hiermit auf mütterliche Gewalt gegen junge Frauen/Jugendliche im Alter zwischen 15 und 19 Jahren richten. Meine Quelle dafür ist: 
United Nations Children’s Fund (UNICEF) (2014): A Statistical Snapshot of Violence against Adolescent Girls. UNICEF, New York. 

UNICEF hat vergleichbare Daten für insgesamt 33 Länder (keine Industrienationen!) erfasst. Die meiste körperliche Gewalt gegen junge Frauen ging von Intim-Partnern UND Elternteilen aus. Wobei in dieser Lebensphase Gewalt durch Elternteile oftmals häufiger vorkommt, als Gewalt durch Intim-Partner. Von den 33 Ländern erlebten in 27 Ländern die jungen Frauen mehr Gewalt durch die Mutter/Stiefmutter als durch den Vater. In 2 Ländern war das Gewaltverhältnis gleichmäßig verteilt. Nur in 4 Ländern übten die Väter/Stiefväter mehr Gewalt aus, als die Mütter/Stiefmütter.

Bezogen auf die oben erwähnten 27 Länder, habe ich die durchschnittliche TäterInnennennung ausgerechnet. Im Schnitt erlebten 35,5 % der jungen Frauen Gewalt durch Mütter/Stiefmütter und 23 % durch Väter/Stiefväter in den Ländern, in denen mehrheitlich Mütter/Stiefmütter Gewalt ausüben. Ausgeklammert bleibt wohlgemerkt das Gewalterleben vor dem 14. Lebensjahr, das erfahrungsgemäß deutlich höher ausfällt, als im Jugendalter. 

In manchen Ländern sind die Unterschiede im Gewaltverhalten zwischen Müttern/Stiefmüttern und Vätern/Stiefvätern besonders groß. In Kambodscha beispielsweise übten 63% der Mütter/Stiefmütter körperliche Gewalt gegen ihre Töchter aus, dagegen nur 30 % der Väter. In Indien (einem sehr bevölkerungsreichem Land) übten 41% der Mütter/Stiefmütter körperliche Gewalt gegen ihre Töchter aus, dagegen nur 18 % der Väter. In anderen Ländern wiederum waren die Unterschiede nicht ganz so groß: In Uganda übten beispielsweise 26% der Mütter/Stiefmütter körperliche Gewalt gegen ihre Töchter aus, dagegen 21 % der Väter. Auf den Philippinen übten 33% der Mütter/Stiefmütter körperliche Gewalt gegen ihre Töchter aus, dagegen 28 % der Väter. 

Ein Land aus den 4 oben erwähnten Ländern, in denen mehr Gewalt durch Väter/Stiefväter ausgeht, fällt ganz besonders aus der Reihe: Ägypten. In Ägypten übten 48% der Väter/Stiefväter körperliche Gewalt gegen ihre Töchter aus, dagegen nur 26 % der Mütter. Dieser Sachverhalt ist erklärungsbedürftig, da andere Studien ein sehr hohes Ausmaß von Gewalt gegen Kinder in Ägypten an sich feststellten und auch die große Mehrheit der Mütter (ebenso wie die Väter) Gewalt gegen Kinder ausübten. Vermutlich wird den Männern in den (weiterhin stark) patriarchalen Familien Ägyptens mehr Gewalt speziell gegen ältere Kinder zugestanden, als den Müttern. Dies ist aber nur eine Vermutung. 

Die gezeigten Daten machen klar, dass die Welt ein Problem auch mit Frauengewalt hat! Elterliche Gewalt gegen Kinder/Jugendliche ist die häufigste Form zwischenmenschlicher Gewalt überhaupt. Gewalt gegen Kinder ist zudem besonders folgenreich. Und bei dieser Gewaltform machen Frauen kräftig mit. Darum muss die Welt wissen und dagegen muss die Welt gezielt Präventions-Programme auffahren.

Donnerstag, 5. November 2020

Gewalt gegen Kinder in Kanada (und Unterschiede im Vergleich zu den USA)

Die politischen Vorgänge in den USA bis hin zur aktuellen Wahl beschäftigen mich stark. Ja sie belasten mich auch, weil wir aus Europa "Zuschauer" eines offenen, politischen Wahns sind. Viele irrationale Prozesse (inkl. einer Tendenz zur Selbstzerstörung) sind in den USA am Werk, die meiner Auffassung nach auch viel mit dem zu tun haben, wie Kindheit in diesem Land war und ist. Auch am Beispiel der Kindheit von Donald Trump wird dies überdeutlich. Aber auch mit Blick auf Zahlen und Daten zum Thema Kindheit in den USA (siehe "Kindheit in den USA", "Belastende Kindheitserfahrungen in den USA: Neue Daten" und ergänzend ein Hinweis in meinem Twitter-Account auf eine Studie aus dem Jahr 2019 mit 18.845 Befragten). Ebenso wie mit Blick auf sonstige Bedingungen, wie fehlender gesetzlicher Mutterschutz in den USA (was bzgl. Industrienationen nur in den USA so zu finden ist) oder hohe Arbeitsbelastung vieler Eltern, um die eigene Existenz in einem Land mit schlechter sozialer Absicherung zu sichern. 

Ich möchte den Blick einmal vergleichend nach Kanada richten. Kanada steht im Vergleich zu den USA, zumindest nach meinem Kenntnisstand, für deutlich weniger destruktive, politische Prozesse (inkl. nach außen in Form von Kriegseinsätzen) und auch für soziales Engagement. Im GLOBAL PEACE INDEX steht Kanada aktuell auf Platz 6, die USA auf Platz 121... Kanada hat außerdem eine deutlich niedrigere Mordrate als die USA. Der aktuelle Präsident Justin Trudeau steht für Liberalismus und ist bekennender Feminist. Im Vergleich zu Donald Trump könnte der Unterschied kaum größer sein! 

Ich selbst bin im Alter von 21 Jahren (also vor ca. 22 Jahren) 3 Monate durch die gesamte USA und auch Kanada gereist (beginnend in New York von Ost über Süd nach West, dann beginnend über Vancouver durch Kanada und später wieder zurück in den Nord-Osten der USA und zurück nach New York). Ich erinnere mich sehr gut an regionale Unterschiede in den USA, auch was ungute Gefühle und Bedrohungsängste anging. Am unsichersten fühlte ich mich damals in Detroit, Los Angeles und in Teilen des Südens. Am sichersten und auch am lockersten war es in Seattle (wie gesagt, rein subjektiv empfunden). Aber mit dem Übertritt über die Grenze nach Kanada war es grundsätzlich anders. In Gesamtkanada fühlte ich mich sehr sicher und wohl. Im sehr französisch geprägtem Québec merkte ich schließlich, wie sehr ich Europäer bin und Europa vermisse. Auch dort fühlte ich mich sehr sicher. 

Für die Unterschiede in beiden Ländern gibt es sicher einige Erklärungen. Wie immer konzentriere ich mich mehr auf die Kindheit und diese ist in der Tat in Kanada deutlich gewaltfreier, als in den USA. 

Bzgl. der Gesetzgebung sind beide Länder gar nicht so unterschiedlich, wobei Kanada etwas besser dasteht. In beiden Ländern sind Körperstrafen gegen Kinder im Elternhaus legal, wobei Kanada die Gewalt etwas deutlicher beschränkt hat. In den meisten Schulen Kanadas sind Körperstrafen verboten, dagegen gibt es in den USA noch etliche Staaten, die Körperstrafen erlauben und auch praktizieren. 

Den wesentlichsten Unterschied zwischen beiden Ländern und dem Ausmaß von Gewalt gegen Kinder findet man im Elternhaus. Kanada bewegt sich – wie die Daten unten zeigen – deutlich auf das nordeuropäische Niveau zu. Nur noch eine deutliche Minderheit der Kinder wird im Elternhaus geschlagen und dies meist nicht häufig. Wobei zu beachten ist, dass die unten genannten Daten bzgl. der Aktualität auf dem Stand zwischen 2008 und 2013 sind. Es ist bei der Trendlage davon auszugehen, dass sich bis zum Jahr 2020 der Gewaltrückgang gegen Kinder noch weiter verbreitet hat. 

Der Rückgang von Körperstrafen gegen Kinder ist ein sehr bedeutender Faktor, um eine Gesellschaft in ihrem Sein zu bewerten (was ich hier im Blog schon oft betont habe). Eltern, die in der Lage sind, ihre Kinder gewaltfrei zu erziehen, bezeugen durch ihr Handeln bereits einen hohen emotionalen Entwicklungsstand. Gewaltfreiheit gegenüber Kindern bedeutet auf der einen Seite deutlich weniger schädliche Entwicklungsverläufe für die Kinder eines Landes, aber sie bedeutet eben auch, dass die Erwachsenen einen wichtigen Schritt in der psychosozialen Evolution gemacht haben. Dieser Schritt wurde von vielen Eltern und Erwachsenen in den USA noch nicht gemacht! Und dies erklärt meiner Auffassung nach auch ganz wesentlich politisch-soziale Unterschiede an sich zwischen den USA und Kanada. 

Hier nun einige Daten aus Kanada: 

In repräsentativen Befragungen wurden kanadische Eltern im Zeitraum zwischen 1994 und 2008 bzgl. ihres Strafverhaltens gegenüber Kindern erfasst. 1994 schlugen noch ca. 50 % der kanadischen Eltern ihre 2-5jährigen Kinder, bis 2008 sank die Rate auf ca. 30 %. Bei den 6-9jährigen Kindern sank die Rate von etwas unter 40 % im Jahr 1994 auf etwas über 20 % im Jahr 2008. Gleichzeitig nahm die Häufigkeit des Strafverhaltens stetig ab. Die meisten kanadischen Eltern, die ihre Kinder schlagen, tun dies eher selten. (Fréchette, S. & Romano, E. (2015): Change in Corporal Punishment Over Time in a Representative Sample of Canadian Parents. Journal of Family Psychology. Vol. 29, Nr. 4. S. 507-517.)

Speziell für die kanadische Provinz Québec wurden drei große Studien aus den Jahren 1999, 2004 und 2012 miteinander verglichen. Abgefragt wurde jeweils das elterliche Gewaltverhalten innerhalb eines Jahres gegen Kinder zwischen 0 und 18 Jahren. 1999 erlebten 47,7 %, 2004 42,9 % und 2012 34,7 % der Kinder mindestens einmal körperliche Gewalt im Elternhaus. Gleichzeitig sank die Zustimmungsrate zu Körperstrafen. 1999 stimmten beispielsweise noch 29,2 % der Eltern in Québec zu, dass manche Kinder geschlagen werden müssten, um eine Lektion zu lernen, 2004 war der Wert auf 25,7 % und 2012 auf 15 % gesunken. (Clément, M.-E. & Chamberland, C. (2014): Trends in Corporal Punishment and Attitudes in Favour of This Practice: Toward a Change in Societal Norms. Canadian Journal of Community Mental Health. Vol. 33, NO. 2. S. 13-29.)

Im Jahr 2013 wurden 500 Erwachsene in Ontario, die mit einem Kind im Alter von 6 Jahren oder darunter zusammenlebten, befragt. 72 % der Befragten glauben nicht, dass Körperstrafen gegen Kinder eine effektive Methode sind, diesen etwas beizubringen. 26 % glauben an den Nutzen von Körperstrafen. 68 % der Befragten hatten ihr Kind noch nie geschlagen. 27 % der Befragten hatten ihr Kind geschlagen. Nur 4 % hatten ihr Kind häufig geschlagen. (Best Start Resource Centre (2014): Child Discipline: Ontario Parents’ Knowledge, Beliefs and Behaviours, Toronto: Best Start Resource Centre)


Donnerstag, 29. Oktober 2020

"Familienkrieg" - Kindheit und Familie des Neonazis Simon

Bereits vor 18 Jahren habe ich die Doku „Familienkrieg“ von Reinhard Schneider aus dem Jahr 2002 im Fernsehen gesehen und nie vergessen. Seit einigen Monaten ist die Doku nun auch online zu sehen:

Teil 1: Mein Sohn, der Nazi

Teil 2: Entzugserscheinungen

Teil 3: HassLiebe

Dazu gibt es auch noch das Hör-Feature „Mein Sohn der Nazi - Szenen einer Familie aus Niederbayern

(Aus all den oben genannten Quellen beziehe ich meine unten aufgestellten Informationen.) 

Für mich ist die heutige Sicht allerdings eine etwas andere, eine komplexere als vor 18 Jahren. Damals hatte ich zwar sehr wohl den Zusammenhang zwischen der destruktiven Kindheit und Familie von Simon und seinem Weg zum Nazi erkannt (es wäre auch erstaunlich, wenn Zuschauer dies nicht erkennen würden), aber ich hatte noch kein Schema bzgl. der verschiedenen Belastungsfaktoren im Hinterkopf. Heute, 18 Jahre später, habe ich sehr viel mehr Belastungsfaktoren im Fall Simon erkannt, als damals. Es ist schockierend, was dieses Kind alles erlitten hat. 

Simons Vater, ein Seemann, war Alkoholiker. Simons Mutter war bei Simons Geburt nur 19 Jahre alt. Die Mutter wurde von ihrem Mann systematisch schwer gedemütigt, terrorisiert und herabgesetzt, auch schon während der Schwangerschaft. Ihr Mann drohte ihr auch Gewalt an. Als sie mit Simon schwanger war, bekam sie Selbstmordgedanken. Später sagte sie dies auch ihrem Kind Simon: „Ich wollte mich umbringen, als Du in meinem Bauch warst“, berichtet Simons spätere Freundin.  Auch eine Abtreibung stand kurz im Raum. Simon war alles andere als ein Wunschkind. Gezeugt wurde er, in dem sein Vater die Mutter vergewaltigte. Dies habe Simons Mutter ihrem Sohn später auch immer wieder vorgehalten. Die Geburt von Simon war schwierig, das Kind kam zu früh und musste zudem mit der Saugglocke geholt werden. Die finanzielle Lage der Familie war nach Simons Geburt angespannt, der alkoholabhängige Vater oft abwesend. Die Mutter hatte oft nicht genug zu essen und verlor an Gewicht.

Simon fühlt sich grundsätzlich von seiner Mutter abgelehnt. Seine Mutter und sein Vater hätten außerdem seinen jüngeren Bruder bevorzugt. Simon wurde nicht getauft und wurde in seinem katholisch-konservativen Umfeld ausgegrenzt. An sich hatte Simon in seiner frühen Kindheit keinen Kontakt zu anderen Kindern, er hatte nur seinen Hund.

Seine Mutter war Krankschwester und dadurch beruflich (auch im Schichtdienst) sehr ausgelastet. Ihr Sohn warf ihr später vor, dass sie nie da war, wenn sie gebraucht wurde. Sie wendete außerdem auch häufig körperliche Gewalt gegen Simon an, auch Simons Vater schlug seinen Sohn. Der Vater verließ schließlich die Familie, der genaue Zeitpunkt wird nicht klar. Vermisst wurde er nicht. Er starb an Krebs, als Simon noch ein Jugendlicher war. Der Sohn erfuhr nachträglich vom Tod des Vaters und konnte nicht an der Beerdigung teilnehmen. Simons Mutter bedauert dies, weil sie es ihrem Sohn gewünscht hätte, auf das Grab des Vaters spucken zu können, als eine Art Abschluss. Simon selbst meint, dass er gerne auf das offene Grab „gepisst“ hätte. Nur die politisch rechte Einstellung des Vaters wäre in Ordnung gewesen. Ansonsten scheint er ihn einfach nur gehasst zu haben. 

Simons neuer Stiefvater ist ein LKW-Fahrer und meist nur am Wochenende zu Hause. In der textlichen Beschreibung des Hör-Feature wird geschrieben, dass dieser Stiefvater, ein ehemaliger Boxer, Simon eines Tages brutal zusammenschlug und Simon ihn danach anzeigte. Aber auch Simon hätte gedroht, den Stiefvater und die Mutter umzubringen.

Als Jugendlicher wurde Simon zunächst linker Punk und lehnte das politische System in Deutschland ab. Durch Bekanntschaften kam er später mit der rechten Szene in Kontakt und wandelte sich schnell zum Neonazi. Die Kommunikation mit seiner Mutter endet stets im Streit, gegenseitigen Vorwürfen und Beleidigungen. Wobei die Mutter stets sehr kalt wirkt, stichelt und ihren Sohn extrem provoziert. In dieser Familie gab es keine Liebe, sondern immer nur Krieg, das ist der Schlussstrich, den man unter die Doku „Familienkrieg“ ziehen kann. 

Die Destruktivität geht aber noch über die rechte Gesinnung von Simon hinaus. Simon verliebte sich in eine drogenabhängige Frau, die er später heiratete. Die Beziehung der beiden ist von extremer Destruktivität geprägt. Sie wurde außerdem schwanger und verlor das Kind. Außerdem findet Simon keine Arbeit und driftet durch den Tag. 

Die Belastungen in Kindheit und Jugend von Simon sind unfassbar komplex. Im Jahr 2002 konnte ich diese ganzen Belastungen noch nicht deutlich erfassen und sortieren. Würde man für Simon einmal den ACE score erfassen bzw. einen ACE-Fragebogen für ihn ausfüllen, würde er zu einer kleinen Gruppe von besonders stark als Kind belasteten und traumatisierten Menschen gehören. Der ACE-Fragebogen reicht aber in seinem Fall noch nicht einmal aus. Die Belastungen für den Fötus und während der Geburt würden nicht erfasst. Ebenso wenig wie der Sachverhalt, dass er durch eine Vergewaltigung gezeugt wurde. Da seine Mutter von ihrem Mann nicht geschlagen, sondern verbal terrorisiert wurde, würde auch dies wohl nicht erfasst werden. Die Ausgrenzung durch Gleichaltrige käme ebenfalls nicht in die Auswertung. Die Bevorzugung des Bruders wäre kein Thema usw. 

Fragebögen können nur das erfassen und messen, wofür sie gedacht sind. Das Leben eines Kindes ist immer komplexer, als das, was Fragebögen abbilden können. Die Doku „Familienkrieg“ und das dazugehörige Hör-Feature geben uns einen sehr breiten und tiefen Blick in die Abgründe einer Familie, aus der ein gewaltbereiter Neo-Nazi hervorging. Wer wundert sich ernsthaft, dass dieser Junge zu dem werden konnte, wer er ist? Heute wissen wir dank vieler Forschungsarbeiten, dass destruktive Kindheiten bei Rechtsextremisten/rechten Gewalttätern keine Ausnahmen sind, sondern die Regel. 

Der „Familienkrieg“ zeigt aber noch mehr auf. Simons Vater hatte selbst eine sehr unglückliche Kindheit, war also auch Opfer. Die Kindheit von Simons Mutter war kein Thema, ich vermute auch in ihrer Kindheit schwere Belastungen. Sie wirkt auf mich wie eine sehr traumatisierte Person. Auf jeden Fall war sie Opfer ihres Mannes. Aber sie war nicht nur Opfer, sondern auch massive Täterin gegenüber ihrem Sohn. Traumatische Belastungen können an die nächste Generation weitergegeben werden, wenn dieser Teufelskreis nicht – bestenfalls durch Therapien und Unterstützung – unterbrochen werden kann. Sollte Simon mit seiner drogenabhängigen Frau (die ebenfalls sehr traumatische, eigene Kindheitshintergründe angedeutet hat) doch noch Kinder bekommen haben, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch diese Kinder schwer belastet werden. Der ganze Fall zeigt auch auf die „Geschichte der Kindheit“, auf letztlich jahrhundertelange Folgewirkungen von Traumatisierungen und desaströsem Umgang mit Kindern. 


Dienstag, 27. Oktober 2020

Belastende Kindheitserfahrungen und Extremismus in den USA - Neue Studie

Simi und Kollegen hatten bereits im Jahr 2016 eine eindrucksvolle Studie (Narratives of Childhood Adversity and Adolescent Misconduct as Precursors to Violent Extremism: A Life-Course Criminological Approach) veröffentlicht, für die 44 ehemalige Rechtsextremisten bzgl. Kindheitserfahrungen befragt wurden. 

Nun haben die Forschenden noch einmal nachgelegt und Befragungen von 91 (70 männlich, 21 weiblich) ehemaligen U.S. Extremisten/Rassisten (aus den Gruppierungen Ku Klux Klan, Christian Identity, neo-Nazi, racist skinheads) durchgeführt:

Windisch, S., W., Simi, P., Blee, K. & DeMichele, M. (2020): Measuring the Extent and Nature of Adverse Childhood Experiences (ACE) among Former White Supremacists. Terrorism and Political Violence. (Onlineveröffentlichung Juni) 

Die Befragungen wurde als sogenannte ACE-Studie durchgeführt. Die Studie ist somit direkt mit Ergebnisse von allgemeinen ACE-Studien vergleichbar. Die Extremisten sind im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich belasteter bzw. ihre ACE-Werte gleichen eher denen von "Hochrisikogruppen", was das Autorenteam auch kommentiert und ausführt. 


Ergebnisse (Misshandlungsformen vor dem 18. Lebensjahr gegen die Befragten durch Elternteile/Erziehungsberechtigte):

48 % wurden körperlich misshandelt

46 % wurden emotional vernachlässigt

46 % wurden emotional misshandelt

23 % wurden sexuell missbraucht

15 % wurden körperlich vernachlässigt

Insgesamt 65 % der Befragten berichteten über eine oder mehr Erfahrungen von Misshandlungen wie oben aufgeführt. 

Ergebnisse für weitere Belastungen in den Familien: 

68 % berichteten davon, von Elternteilen verlassen worden zu sein

66 % berichteten von elterlichem Suchtmittelmissbrauch

47 % wurden Zeugen häuslicher Gewalt

47 % berichteten von psychischen Erkrankungen von Elternteilen/Erziehungsberechtigten

32 % berichteten, dass Elternteile inhaftiert wurden


Verteilung der Belastungen bzw. ACE-Werte:

0 ACE Wert = 10 %

1 ACE Wert = 9 %

2 ACE Werte = 10 %

3 ACE Werte = 9 %

4 ACE Werte = 15 %

5 ACE Werte = 10 %

6 ACE Werte = 10 %

7 ACE Werte = 11 %

8 ACE Werte = 11 %

9 ACE Werte = 5 %

10 ACE Werte = 0 %


Freitag, 9. Oktober 2020

"Sogwirkungen" von Missachtung- und Gewalterfahrungen im Elternhaus


Seit über 18 Jahren befasse ich mich mit den Folgen von Destruktivität und Gewalt gegenüber Kindern. Im folgenden Text möchte ich einige Gedanken (die sich aus meinen persönlichen Beobachtungen, Erfahrungen und Eindrücken sowie meiner vielseitigen Literaturrecherche ergeben haben) darüber zusammenfassen, was destruktive Kindheitserfahrungen im Elternhaus alles anstoßen können. 

Dass Gewalt-, Missbrauchs- und Demütigungserfahrungen im Elternhaus viele schädliche Folgen für Kinder und auch die später Erwachsenen haben können, steht mittlerweile aus wissenschaftlicher Sicht außer Zweifel. Je früher, je massiver und je vielfältiger die destruktiven Erfahrungen in der Kindheit sind, desto schwerwiegender sind die Folgen. Und auch die Nähe zum Täter beeinflusst die Folgen stark, weshalb Destruktivität im Elternhaus besonders schädlich wirkt. 

Bei der Betrachtung der Folgeschäden wird meines Erachtens nach allerdings oftmals etwas ausgeblendet, wofür es mir schwerfällt, einen passenden Namen zu finden. Der beste bildliche Vergleich ist der einer Sogwirkung. Dazu gleich mehr. 

Bei der Erforschung der Folgen von destruktiven Kindheitserfahrungen wird oft geschaut, was „vorne“ alles rein ging und was „hinten“ herauskommt. Die sogenannten ACE-Studien haben bisher am breitesten ausgeleuchtet, was alles „vorne“ rein ging (u.a. körperliche, sexuelle + emotionale Misshandlung, Miterleben von Gewalt in der Familie, Suchtmittelgebrauch in der Familie und psychisch kranke Familienmitglieder) und was „hinten“ rauskam (u.a. diverse Krankheitsbilder, psychische Störungen, Suchtmittelgebrauch, Arbeitslosigkeit, früher Tod, Suizid, Gewaltverhalten).

Dabei fehlen allerdings ein paar Puzzleteile, die aber auch schwer messbar sind. Die oben gennannten möglichen Folgen und die erwähnten destruktiven Kindheitserfahrungen stehen zweifellos in einem deutlichen Zusammenhang. Aber noch etwas wirkt hinein, noch etwas wirkt sich aus. Etwas, dass ich wie gesagt als Sogwirkung bezeichne. 

Ich gebe einige Beispiele: 

Wenn Eltern sich systematisch destruktiv gegen ihr Kind verhalten, so hat dies nicht nur direkte Folgen auf die betroffenen Kinder, sondern nach meinem Eindruck auch auf das Verhältnis zwischen Geschwistern. Es stimmt zwar auch, dass sich nicht selten Geschwister untereinander solidarisieren und sich einen kleinen Schutzraum schaffen, der gegen destruktive Eltern steht. Aber nicht selten ist ebenso (oder auch gleichzeitig), dass das schlechte Vorbild der Eltern bedingt, dass sich auch Geschwister gegenseitig verletzen, ihre Beziehung von einer Hass-Liebe geprägt ist usw. 

Nicht nur einmal ist mir aufgefallen, dass die später Erwachsenen, die aus Misshandlungsfamilien oder grob formuliert „destruktiven Familien“ stammen, kein oder ein sehr schlechtes Verhältnis zu ihren Geschwistern haben. Konstruktive Streitkultur wurde nicht gelernt, gegenseitige Verletzungen der Geschwister untereinander wurden nicht vergessen und ein Wiedersehen mit den Geschwistern droht auch jedes Mal unerträgliche Erinnerungen an die eigene Kindheit wieder hoch kommen zu lassen. Vielleicht ist auch ein Geschwisterkind schlechter von den Eltern behandelt worden, als das andere. Was Neid und Missgunst nach sich zieht. Die Folge aus all dem  ist, dass solch geprägte Menschen auch weniger durchs Leben „getragen“ werden. Geschwister, die sich gut verstehen, „tragen“ sich gegenseitig, bieten emotionale Nähe, Sicherheit und Wohlbefinden und in der Folge auch eine gesündere Psyche. Wenn diese Bindung bedingt durch elterliche Destruktivität gestört oder gar zerstört wurde, dann belastetet auch dies und trägt mit einen Teil zu beobachtbaren schädlichen Folgen im Erwachsenenalter bei. Die beobachtbaren Folgeschäden sind dann also nicht nur eine direkte Folge elterlicher Destruktivität, sondern auch indirekte Folge durch die negativen Prägungen auf Geschwisterebene. Oder anders gesagt: Elterliche Destruktivität kann eine Sogwirkung entfalten; sie stößt an und bedingt weitere negative Dynamiken, die alle Beteiligten sogartig erfasst und immer weiter nach unten reißt. 

Anderes Beispiel: Wenn sich z.B. im Kindergarten oder in der Grundschule zwischen Eltern herumspricht, dass es bei einem Elternteil eines bestimmten Kindes Kinderschutzmaßnahmen/-interventionen gab, dann hat dies u.U. direkte Folgen, die dem betroffenen Kind gar nicht klar sein werden. Das Kind will vielleicht ein anderes Kind zu sich nach Hause einladen oder es lädt zum Geburtstag ein. Nur: Es kommt keiner! Die Eltern der anderen Kinder werden direkte oder indirekte Wege finden, ihr Kind davon zu überzeugen, dass es sich andere Freunde suchen soll. Nicht weil das andere Kind ein Problem ist, sondern weil sie Sorge bezogen auf einen Elternteil oder die Eltern des anderen Kindes haben und ihr eigenes Kind schützen wollen. In der Folge verzweifelt das betroffene Kind und sein Selbstwertgefühl wird erschüttert. Das Kind wird – wie im Beispiel davor – nicht von seinem Umfeld „getragen“, es erlebt weniger oder kaum emotional befriedigende Freundschaften mit anderen Kindern. Es findet dadurch auch kein oder weniger Ausgleich zu den destruktiven Erfahrungen im Elternhaus statt, obwohl diese Ausgleichserfahrungen so unbedingt nötig wären. Das Ausgegrenzt-werden war ursprünglich Folge des destruktiven Verhaltens der eigenen Eltern. Aber das Ausgegrenzt-werden an sich hat wiederum ganz eigene schädliche Folgen für das betroffenen Kind. Auch hier gilt wieder: Elterliche Destruktivität entfaltet eine ganz eigene Sogwirkung nach unten. 

Ähnliches Beispiel wie das zuvor: Erlebte elterliche Destruktivität oder gar traumatische Erfahrungen haben natürlich auch akute Folgen für die betroffenen Kinder. Wenn diese Folgen sich so ausdrücken, dass die entsprechenden Kinder verhaltensauffällig werden, dann kann ihr negatives Verhalten wiederum Ausgrenzungserfahrungen nach sich ziehen. Wenn es nette und konstruktive Kinder in der Schule gibt, dann werden sich viele Kinder nicht unbedingt das verhaltensauffällige Kind als besten Freund aussuchen. Die eigene dunkle Ausstrahlung oder Verhaltensauffälligkeit führt zur Vereinsamung des Kindes, was wiederum noch mehr Verhaltensauffälligkeiten nach sich zieht. Die destruktiven Eltern gaben den Anstoß, das Kind wird in den dunklen Strudel hineingezogen. Auch hier gilt wieder: Das Kind macht weniger oder kaum tragende, positive Erfahrungen, sondern lernt ganz im Gegenteil, dass die Welt nicht nur aus destruktiven Eltern besteht, sondern auch das Umfeld gefühlt „feindselig“ ist. Wer ausgegrenzt wird, der erlebt dies als Angriff auf seine Person und fühlt sich feindselig behandelt. Zu Recht. Damit meine ich nicht, dass das Umfeld im wahrsten Sinne des Wortes real feindselig sein muss. Das betroffene Kind wird vielleicht akzeptiert und auch wahrgenommen. Aber was hilft dies, wenn keine Kinder zum Spielen vorbeikommen und wenn man keinen besten Freund findet? Das Kind fühlt sich dann im „Feindesland“. Alles ist grau, das Leben wird zur Qual. 

Erneut ähnliches Beispiel: Ein stark vernachlässigtes Kind, das in Kindergarten und Schule gut integriert ist und keine Verhaltensprobleme zeigt, nähert sich einem anderen Kind an, baut eine Freundschaft auf und besucht dieses Kind auch. Das andere Kind lebt in einer sehr herzlichen Familie, die tiefe Bindungen hat. Nun kann dies eine Chance für das vernachlässigte Kind sein, positive Ausgleichserfahrungen zu machen. Aber was ist, wenn sich die „Täterintrojekte“ melden? Wenn eine Stimme innerlich ruft: „Du hast es nicht verdient, diese nette Familie zu kennen und zu besuchen. Du bist schlecht und Dreck! Keiner wird Dich mögen!“ (Botschaften also, die ursprünglich in ähnlicher Weise durch destruktive Elternteile in das Kind eingepflanzt wurden)  Oder anders gedacht: Was ist, wenn diese nette Familie zu einer extremen Verunsicherung des vernachlässigten Kindes führt? Denn dieses Kind erlebt quasi bei seinem Besuch live, was es selbst nicht hat und wie sehr es im Grunde Zuhause leidet. Unerträglich! Dieses Kind inszeniert in der Folge plötzlich Streit. Es verhält sich schlecht. Es macht sich unbeliebt. Schließlich wird es von dem einladenden Kind gemieden und verliert den Kontakt. Das vernachlässigte Kind kann jetzt wieder innerlich überleben, weil es nicht mehr sehen muss, was es selbst so gerne hätte. Die Folge: Weniger Sozialkontakt, schlimmstenfalls Vereinsamung mit wiederum ganz eigenen Folgen. Der Sog der destruktiven Eltern wirkt auch hier. 

Noch ein Beispiel: Die oben gemachten Überlegungen führen zu einer weiteren Überlegung. Wenn diese Dinge so passieren, hat dies u.U. zur Folge, dass entsprechende Kinder eher „Ihresgleichen“ suchen. Kinder mit destruktiven Eltern finden sich dann gegenseitig. Sie erkennen sich. Sie verbindet auch etwas. Allerdings kann es, wenn es schlecht läuft, auch dazu führen, dass sie ihre schlechten Seiten gegenseitig verstärken. Sie haben Zuhause keinen konstruktiven, liebevollen Umgang erlebt. Sie haben eine andere innere Moral entwickelt. Sie pflegen jetzt gegenseitig ihre destruktiven Seiten. Sie planen jetzt vielleicht Intrigen gegen ein anderes Kind. Oder sie planen, einen Lehrer fertig zu machen. Wenn diese Kinder Jugendliche werden, sind es genau diese unguten Verbindungen, die zu destruktiven Gruppenbildungen führen: Delinquente Jugendgangs, extremistische Gruppen usw. Wie gesagt, man „erkennt sich“ gegenseitig. Traumatisierte Menschen können einander irgendwie anziehen, das gilt auch für Ehepaare.

Wobei wir beim nächsten Thema wären: Destruktive Kindheitserfahrungen können manches Mal ungute Lebensentscheidungen nach sich ziehen. Man(n) will Soldat werden, um sich stark und zugehörig zu fühlen und seine Kindheit abzuschütteln. In der Folge erlebt man(n) traumatisierende Einsätze und wird psychisch immer weiter beschädigt. Oder man findet einen Ehepartner, der ebenfalls in der Kindheit traumatisiert wurde. Beide Partner verletzten sich vielfach gegenseitig und arbeiten gemeinsam an der Zerstörungen ihrer beider Leben und ihres Glücks. Der Sog, der ursprünglich von den Eltern erzeugt wurde, wird immer größer und zieht weitere belastende Erfahrungen nach sich. Dies könnte man in etliche Richtungen weiterspinnen. Etwa dahingehend, dass als Kind schwer verletzte Menschen später oft kein gutes Gefühl für potentiell bedrohliche Situationen oder bedrohliche Menschen haben. Oder ein innerlicher Druck zwingt sie gar auf eine Weise, sich in riskante Situationen zu begeben. In der Folge erleben sie dann schwere Verletzungen. 

Es gibt im Extrem in der Tat Biografien, wo sich eine schwere Belastung an die nächste reiht. Am Anfang war die elterliche Misshandlung. Wenn man sich dann die Lebensgeschichte dieser Menschen genau anschaut, dann gab es stets nur Schatten, nie Licht. Dann gab es nur Unglück, nie Glück. Dann gab es keinen Schutz, nur Verletzungen. Socher Art Biografien kann man sich gar nicht ausdenken, sie sind unfassbar. 

Mit diesem Beitrag, den man sicher noch weiter ausfeilen könnte, möchte ich unterstreichen, dass elterliche Destruktivität nicht alleine für die beobachtbaren negativen Folgen im Erwachsenenalter (wie z.B. psychische Störungen, massive Gesundheitsprobleme, usw.) verantwortlich sein muss. Die elterliche Destruktivität an sich stößt derart viel an oder bewirkt einen derartigen Sog, dass sich diverse weitere belastenden Erfahrungen daraus ergeben, dass Menschen weniger durchs Leben „getragen“ werden und sie folglich auch psychisch weiter beschädigt werden. Den Grundanstoß gab in der Tat das destruktive Elternhaus! Daraus folgt der Schluss, dass eine Prävention von Leid im Elternhaus der Schlüssel auch von Prävention weiterer belastender Erfahrungen sein kann. Kumulierte Belastungserfahrungen erhöhen massiv den möglichen schädlichen (psychischen) Output.  Leider zeigt uns die Realität, dass im Elternhaus belastetet Kinder oft genau das erleben: Mehrfachbelastungen, die sich gegenseitig verstärken oder auch die nächste Belastung nach sich ziehen. Insofern muss die Präventionsarbeit auch einen geschulten Blick auf diese potenziellen Sogwirkungen haben, die im Elternhaus schlecht behandelte Kinder nicht selten erleben.  


Mittwoch, 30. September 2020

Kindheit von Mustafa Kemal Atatürk

Der Psychiater und Psychoanalytiker Vamik D. Volkan hat in seinem Buch „Das Versagen der Demokratie. Zur Psychoanalyse nationaler, ethischer und religiöser Konflikte“ (2003 im Psychosozial-Verlag erschienen) eine recht ausführliche Beschreibung von Kindheit und Lebensweg von Mustafa Kemal Atatürk geliefert. In meinem Buch habe ich die Kindheit von Atatürk bereits kurz gestreift, indem ich die die Mutter Atatürks idealisierenden Darstellungen des Psychiaters Johann Benos kritisierte. Atatürks Mutter lebte sehr traditionell und religiös, was ihr Sohn ablehnte. Nach kurzen Einlassungen auf seine Kindheit schrieb ich abschließend: „Atatürks Kampf gegen das Alte, gegen religiöse Einflüsse und Traditionen sind symbolisch auch eine Art Kampf gegen seine Mutter, die für eben diese alten Wertvorstellungen stand. Was würde wohl ein Psychoanalytiker dazu sagen?“ 

Die Ausführungen von Volkan sind bei weitem ausführlicher als das, was ich bei meinen damaligen Recherchen fand. Und sie beantworten auch weiter die Frage, die ich in meinem Buch in den Raum stellte. 

Die Mutter von Atatürk stammte aus einer kleinbäuerlichen Familie und wurde bereits als Kind verheiratet. Mustafas Eltern verloren vor seiner Geburt drei ihrer Kinder; das älteste Kind starb, als es 7 Jahre alt war. Die Geburt Mustafas fiel in eine Zeit, in der es der Familie finanziell überaus gut ging und in der Zuversicht herrschte. Eine Amme wurde für Mustafa engagiert, weil die Milch der Mutter nicht ausreichte. 

Zwei weitere Töchter folgten, von denen aber nur eine das Erwachsenenalter erreichte. Wie alt Mustafa beim Tod seiner jüngeren Schwester war und wie ihn das prägte, wird von Volkan nicht beschrieben. Weitere schwere Belastungen folgten: Die Mutter wurde Witwe, als sie 27 Jahre alt war.
Ihr Mann hatte seine Existenz verloren (...). Als Ergebnis dessen war er dann zum Trinker und in die Verzweiflung abgerutscht, bis er schließlich starb, als sein Sohn sieben Jahre alt war. Mustafa wurde somit in einem Haus des Todes geboren und fand sich der Fürsorge einer trauernden Mutter überlassen, deren Leben, abgesehen von einer kurzzeitigen Schonfrist, voller Härten und Schwermut gewesen war. Er trug sogar den Namen eines Onkels väterlicherseits, der als kleines Kind bei einem Unfall, als sein Kinderbettchen umkippte, ums Leben gekommen war, ein Unfall, für den im übrigen Mustafas Vater verantwortlich gewesen war “ (S. 106). 

Nach dem Tod des Vaters zog die kleine Familie zu Verwandten auf einen Bauernhof. „Mustafa wurde jedoch nach Saloniki zurückgeschickt, um bis zu seinem Schulabschluss bei einer Tante zu leben. Er wurde dabei erwischt, wie er mit einem Kind kämpfte, und schlimm von seinem Lehrer geschlagen, der als religiös bekannt war. `Mein ganzer Körper war voller Blut.`“(S. 108). Daraufhin nahm Mustafas Mutter ihren Sohn von der Schule. 

Als Mustafa in die Pubertät kam, heiratete seine Mutter erneut. Er wurde daraufhin derart eifersüchtig, dass er von zu Hause auszog und sich an einer militärischen Internatsschule einschrieb (S. 108). Später verließ seine Mutter den Stiefvater und zog nach Istanbul zu ihrer Tochter und deren Mann. Dort nahm sie einen dreijährigen Waisenjungen auf, den Volkan später ausfindig machte. „Ich interviewte ihn, Abdürrahim Tuncak, als er in den Sechzigern war. (…). Nachdem, was er mir darüber erzählte, wie Atatürks Mutter ihn behandelt hatte, konnte ich einen Eindruck davon bekommen, wie sie als Mutter wohl gewesen war. Seinen Erinnerungen zufolge war sie nicht nur eine herrische Frau, sondern auch eine, die ihn als psychologische Krücke (…) benutzte“ (S. 110f.)

Volkon deutet ergänzend die Wege Atatürks zum Staatsoberhaupt und verbindet diesen Weg auch mit seiner Kindheitsgeschichte. Seine Ausführungen sind zu ausführlich, um sie hier wiederzugeben. Ich verweise bei Interesse daran auf sein Buch. 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Atatürk ein schwer belastetes, traumatisiertes Kind war. Die Bezeichnung Volkans „Haus des Todes“ (Tod von insgesamt 4 Kindern + dem Vater) bringt es auf den Punkt. Gleich nach der Geburt gab es die erste Trennung, indem eine Amme sich seiner annahm. Sein Vater wurde zum Trinker, was das Kind ebenfalls sehr geprägt haben wird. Der Tod entriss ihm den Vater. Zwei weitere Trennungen folgten (Unterbringung bei einer Tante und später im Militärinternat). Schwere Gewalt durch einen Lehrer ist überliefert. Mütterlicher emotionaler Missbrauch und mütterliche Härte sind zu vermuten.