Regemäßige Leser*innen meines Blogs haben dies Art von „Erkenntnisdynamik“ schon einige Male hier miterlebt:
In meinem Buch habe ich die Kindheiten der Brüder Chérif und Saïd Kouachi, die für den Terroranschlag auf Charlie Hebdo verantwortlich sind, besprochen und am Ende geschrieben: „Verwahrlosung, traumatische Verluste und Heimaufenthalte sind also belegt und weitere Verletzungen in der Kindheit nicht ausgeschlossen“ (S. 201). Bereits Anfang 2015 hatte ich die Kindheiten der Brüder außerdem in meinem Blog besprochen.
Durch eine neue Quelle fand ich nun belegt, dass ich mit meiner o.g. Einschätzung Recht hatte: Die Kindheiten der beiden umfasste noch weit mehr Leid und Destruktivität, als ich bisher recherchiert hatte. In Anbetracht ihrer extrem kaltblütigen und unvorstellbaren Taten wundert mich dies nicht.
Meine neue Quelle ist das sehr gute Buch „Home Grown: How Domestic Violence Turns Men Into Terrorists" (das ich bei Zeiten noch ausführlicher besprechen werde) der Journalistin Joan Smith (2019, Kindle E-Book Edition).
Die beiden Brüder bespricht die Autorin in einem kompletten Kapitel unter „The Unassuageable Rage of the Kouachi Brothers“. Wenn man die ganze Geschichte aus der Feder einer guten Journalistin liest und nur den Blick auf die beiden Kinder richtet (nicht auf die Terroristen, die sie wurden), dann wird einem wirklich schlecht und man möchte fast weinen. Diese beiden Kinder haben unfassbar traumatische Erfahrungen gemacht.
Eine wesentliche und neue Info für mich ist, dass der Vater der beiden Brüder die Kinder schlug. Eine Schwester sagte gegenüber der Polizei aus: „My father used to beat us, my mother neglected us“ (Position 361) Traumatisierungen in früher Kindheit sind also sehr wahrscheinlich, noch deutlich bevor der weitere Leidensweg begann. Der Autorin nach starb der Vater 1991 an Krebs, dem SPIEGEL nach (siehe meine verlinkte Besprechung oben im Blog) starb er 1990. Auf das eine Jahr soll es nicht ankommen, beide Brüder waren noch Kinder und erlebten einen traumatischen Verlust.
Zudem brach die Mutter anschließend unter der Last quasi zusammen und ihre Gesundheitszustand verschlechterte sich stetig. Sie hatte 5 Kinder (ein Kind von einem anderen Mann) zu versorgen und es gab oft kein Geld für das Mittagessen. Konservative muslimische Nachbarn beäugten die zerrüttete Familie zudem mit Argwohn, was den Kindern nicht verborgen geblieben sein wird. Es gibt Geschichten darüber, so Joan Smith, denen nach sich die Mutter in ihrer Not teils prostituierte, um die Kinder mit Essen versorgen zu können. Endgültige Beweise scheint es aber nicht dafür zu geben. Letztlich kann man diese „Geschichten“ auch einfach als weiteren Beleg für die große Not der Familie heranziehen.
Eine Nachbarin und Sozialarbeiterin hat über den verwahrlosten Zustand der Kinder berichtet. Und sie hängt an „the boys were bullied, and she once witnessed a caretaker forcing Chérif to his knees and making him apologise für some minor offence“ (Poition 377). Hier wird nicht ganz deutlich, ob das „Mobbing“ bzw. psychische Gewalt auch durch andere Personen als Erziehungsberechtigten ausgeübt wurde. Da zudem der Vater tot war, kann in der beschriebenen Szene eigentlich nur die Mutter diejenige gewesen sein, die den Sohn auf die Knie zwang.
Der Gesundheitszustand der Mutter hatte sich im Laufe der Zeit so sehr verschlechtert, dass sie die Ämter um Hilfe und Unterbringung ihrer beiden ältesten Söhne bat. Was dann passierte, war – so Joan Smith – außergewöhnlich: Chérif und Saïd wurden nicht bei Pflegeeltern oder in einem Heim in Paris untergebracht, sondern in einem Heim 300 Meilen entfernt in einer ländlichen Region, in der es gerade einmal 1400 Einwohner gab, die alle weiß und keine „Mulikulti“-Kultur gewohnt waren. Kinder aus dem Heim waren eh für die Bewohner deutlich zu erkennen, einmal mehr galt dies für zwei Jungen mit Migrationshintergrund aus Nordafrika. Die Jungen waren dort wohl Außenseiter, meint Smith. Die Mutter und auch die Geschwister hatten zudem keine Chance, die beiden zu besuchen. Es blieb bei Telefonaten.
Anfang 1995 fand die Schwester der Brüder ihre Mutter tot in der Wohnung. Es wird davon ausgegangen, dass sie an einer Überdosis Drogen starb (abschließend geklärt scheint dies nicht zu sein). Chérif und Saïd wurden telefonisch über den Tod der Mutter informiert.
Die Geschwister kamen nach dem Tod der Mutter zunächst gemeinsam mit Chérif und Saïd im Heim unter. Die beiden Jüngsten fanden aber bald eine Pflegefamilie und die Geschwister erlebten dadurch eine erneute Trennung.
Im heranwachsenden Alter wurden beide Brüder schnell delinquent. Im Jahr 2000 – 18 und 20 Jahre alt - kehrten beide Brüder das erste Mal nach dem Tod der Mutter nach Paris zurück. Chérif kam zunächst bei Verwandten unter, flog aber raus und musste wohl abwechselnd bei Freunden und auf der Straße schlafen (vgl. Position 422). Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, schreibt Smith, wie beide Brüder leichte Ziele für radikale Einflüsse werden konnten, nachdem Saïd seinen Bruder überredete hatte, mit in eine Moschee zu kommen. Später kamen noch radikale Einflüsse im Gefängnis - Chérif wurde inhaftiert – hinzu. Ihre Destruktivität zeigte sich auch deutlich in Form von Frauenhass, so Smith. Frauenhass ist etwas, was viele Extremisten verbindet. Smith betont diesen Zusammenhang eindrucksvoll.
Was ich besonders interessant finde ist, dass - der Autorin nach - beide Brüder suizidal waren. Bereits im Jahr 2010 hatte Chérif einen Text verfasst, indem er einen Anschlag ausmalte. Der Tod der Attentäter war eingeplant. Dies war lange bevor es öffentliche Diskussionen um die Mohammed-Karikaturen gab und Charlie Hebdo zum Ziel wurde. Smith meint, dass die Mission von Anfang an als Selbstmordaktion geplant war. Dies würde auch die amateurhafte Flucht der Brüder nach dem Attentat erklären und ihr einfaches Auffinden durch die Polizei. Bei der anschließenden Schießerei kamen die Brüder um. Ihr Plan sei es von Anfang an gewesen, nicht zu überleben, so Smith (Position 453).
Nach einem solchen Leben schien die islamistische Verheißung nach solcher Art Anschlägen direkt ins Paradies zu kommen wohl sehr verlockend. Davon abgesehen zeigt die Forschung, dass als Kind hoch und vielfach belastete Menschen ein extrem erhöhtes Suizidrisiko haben. Entschuldigen tut dies nichts! Aber wer kann ernsthaft im Angesicht einer solchen Kindheitsgeschichte behaupten, dass diese nicht ganz wesentlich für den ausgeübten Terror verantwortlich war?
Lernen kann man daraus nur, dass Familien und Kinder wie die Kouachis bessere, frühzeitigere und nachhaltigere Hilfe bekommen müssen. Dort fängt Terrorismusprävention an!