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Dienstag, 10. Juni 2014

Die Welt von Morgen. Was sind die Folgen von Gewaltlosigkeit und Liebe gegenüber Kindern?

Gut 12 Jahre ist es mittlerweile her, dass ich – damals noch als Student - in das Thema Kindesmisshandlung sehr bewusst und mit sehr viel Elan eingestiegen bin. In der Zwischenzeit habe ich sehr viel erlebt und sehr viel gelernt. Und obwohl das Thema so viele Abgründe hat, ist meine Sicht auf die Zukunft immer optimistischer geworden. Vor 12 Jahren sah das noch ganz anders aus, weil mich die damals vorliegenden Zahlen über das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder quasi umgehauen haben. In dem nun 300. Beitrag in diesem Blog möchte ich diesem sich bei mir entwickelten Optimismus treu bleiben und einmal weit über das Jahr 2014 hinaus schauen.

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Über 150 Studien konnten nachweisen, dass körperliche Gewalt gegen Kindern diverse schädliche Folgen für die Kinder, die späteren Erwachsenen und letztlich die Gesellschaft bedeuten. Keine einzige Studie konnte irgendwelche Vorteile von Körperstrafen nachweisen. (Global Initiative to End All Corporal Punishment of Children (2013). Summary of research on the effects of corporal punishment. S. 6+7)

Es gibt sicherlich mittlerweile einige tausend Studien, die sich mit den negativen Folgen von Kindesmisshandlung (sprich körperliche, psychische und sexuelle Gewalt sowie Vernachlässigung) befassen (Ich habe Dutzende davon gelesen). Mir ist allerdings keine große Studie bekannt, die im Grunde einmal die Fragestellung von Beginn an umdreht:
- Was für Folgen hat es eigentlich, wenn Kinder keine (elterliche) Gewalt erfahren und wenn sie nicht vernachlässigt werden?
- Was für Folgen hat es, wenn Kinder  sogar ganz im Gegenteil besonders viel Fürsorge und Liebe erleben und ihre Eltern ihnen Sicherheit, Zusammenhalt, emotionale Verbundenheit, Interesse und Geborgenheit bieten?
Die Antworten auf diese Fragen leiten sich aus den vorhandenen Studien im Grunde dahingehend ab, dass man die beobachteten negativen Folgen von Kindesmisshandlung weitgehend streichen könnte (oder wissenschaftlicher ausgedrückt: Die negativen Folgen würden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit deutlich abmildern.)

Schaut man sich beispielsweise die Ergebnisse der großen amerikanischen "ACE Studie" an. kann man ohne Zweifel zusammenfassen, dass eine deutliche Reduzierung von belastenden Kindheitserfahrungen eine enorme Reduzierung von menschlichen Phänomenen und Gesundheitsbelastungen wie Depressionen, Selbstmord(versuchen), Halluzinationen, undeutlichen Kindheitserinnerungen, unerklärlichen (Krankheits-) Symptomen, Rauchen, Alkoholismus, Drogenkonsum, ernsthaften Problemen im Arbeitsleben und mit den eigenen Finanzen, Lebererkrankungen, Lungenerkrankungen, häufig wechselnde Sexualpartner, Übergewicht u.a. zur Folge hätte. (Siehe z.B. „The Relationship of Adverse Childhood Experiences to Adult Medical Disease, Psychiatric Disorders, and Sexual Behavior: Implications for Healthcare.“ In dem Buch: Lanius, R. & Vermetten E. (2009): The Hidden Epidemic: The Impact of Early Life Trauma on Health and Disease. Cambridge University Press.  Oder gesammelte Artikel unter www.acestudy.org)

Beobachtete mögliche Folgen (auf diese wird auch in der oben erwähnten Übersicht über 150 Studien hingewiesen) wie geringere Empathie, erhöhte Aggressivität, antisoziales Verhalten, Gewalthandeln/Kriminalität, geringere kognitive Entwicklung, psychische und körperliche Schäden usw. oder wie in diesem Blog vor allem besprochen Krieg und Terror (verstanden als Folge von vor allem Kindesmisshandlung bzw. fehlender Liebe in der Kindheit) oder auch selbstschädigendes Verhalten wie Prostitution oder Umweltzerstörung usw. usf. all dies muss letztlich zu einem großen Gesamtkomplex gedacht werden. Wenn man sich diesen Gesamtkomplex an möglichen Folgeschäden anschaut, dann sind zukünftig sehr positive Effekte bzgl. der menschlichen Zivilisation zu erwarten, wenn es Kindern Stück für Stück immer besser ergeht und sie immer weniger Gewalt erleiden. (Ich stelle mir bildlich eine Entwicklung in diversen Bereichen vor, wie ich sie hier exemplarisch besprochen habe; nur dass die Kurven mit fortschreitender Zeit und dem damit verbundenen Gewaltrückgang gegen Kinder stets nach Unten zeigen.)

Eine positive, konstruktive, gewaltfreie und liebevolle Elternschaft ist allem Anschein nach eine recht neue „Erfindung“ (letztlich wohl des 20. Jahrhunderts, wenn man dem Psychohistoriker Lloyd deMause folgt) und es werden wohl immer mehr Eltern, die sich diesem Ideal annähern oder es sogar erfüllen. Die so behandelten Kinder werden logischer Weise ihrerseits an ihrer Kinder weitergeben, was sie selbst erlebt haben.

Eine glückliche Kindheit ist natürlich mehr als die Abwesenheit von (elterlicher) Gewalt, aber die Abwesenheit der Gewalt ist der halbe Weg zu einer glücklichen Kindheit. Diese elterliche Gewalt geht nachweisbar in vielen Regionen auf der Welt Stück für Stück zurück. Und auch die Staaten, die jegliche körperliche Gewalt – teils auch seelische - gegen Kinder gesetzlich verbieten, nehmen Stück für Stück zu. In Deutschland ist die körperliche Gewalt gegen Kinder in den letzten Jahrzehnten bahnbrechend rückläufig, in Schweden (siehe z.B. hier) wird sie sogar in absehbarerer Zeit in einem ein-prozentigen Bereich liegen, in Finnland zeichnen sich ähnliche Entwicklungen ab. Es ist parallel und/oder in der Folge dieses Gewaltrückganges damit zu rechnen, dass sich auch die allgemeinen Eltern-Kind-Beziehungen immer positiver gestalten und sich Eltern und Kinder emotional immer weiter annähern.

Erstmalig in der Geschichte der Menschheit erleben wir (beginnend in Nordeuropa), dass die große Mehrheit einzelner Gesellschaften ihre Kinder ohne körperliche Gewalt erzieht. Ebenfalls ist der sexuelle Missbrauch von Kindern in Deutschland stark rückläufig. Auch die Sorge um Kinder nimmt allem Anschein nach immer mehr zu. Da dies ein ganz neuer Gesellschaftszustand ist, wissen wir im Grunde gar nicht, was da eigentlich auf uns zukommt. Was bedeutet es, wenn die große Mehrheit der Kinder eines Landes nicht mehr unter den schädlichen Folgen der (vor allem elterlichen) Gewalt leidet? Anders gedacht und gefragt: Denken wir einmal 50 oder 100 Jahre weiter. Die Entwicklung der Kindererziehungspraxis scheint sich immer mehr zu beschleunigen (im Westen vor allem ab den 1970er Jahren). Eine Frage, die bisher utopisch schien, wird immer dringlicher: Was kommt auf Europa zu, wenn Elterngewalt nahezu ausgestorben sein wird und auch die Kindesvernachlässigung rapide abnimmt? Wir müssen sogar fragen, was auf die Welt zukommt, wenn vielleicht in 200 oder 300 Jahren weltweit nur noch eine Minderheit der Kinder Gewalt durch ihre Eltern erlebt. Was ist in 500 Jahren, wenn sogar eine Mehrheit aller Kinder nicht nur keine Gewalt erlebt, sondern sogar besonders viel Liebe und elterliche Fürsorge?

Der Psychohistoriker Lloyd deMause hat unterschiedliche Kindererziehungspraktiken idealtypisch aufgestellt. Am Ende steht in diesem Modell der „Helfende Modus“, den ich hier verkürzt wiedergebe:
Helfender Modus (Individualisierte Psychoklasse); Zeit: Postmoderne, ab 20. Jh.:
Die hauptsächliche Rolle der Eltern besteht in der Hilfestellung für das Kind in jeder Altersstufe, was viel Aufwand, Zeit und Energie bedeutet; das erste mal sind Kinder für die Eltern keine schwierige Aufgabe mehr, sondern eine Freude; sowohl Mutter als auch Vater sind vom Säuglingsalter an gleichwertig mit dem Kind befasst und helfen diesem, eine autonome, selbstbestimmte Person zu werden; die Kinder werden bedingungslos geliebt und werden nicht geschlagen; wenn Eltern unter Stress Fehler begehen und ihre Kinder z.B. anbrüllen, entschuldigen sie sich danach bei ihnen; diese so behandelten Kinder sind wesentlich empathischer gegenüber anderen Menschen in der Gesellschaft als frühere Generationen.
"Es ist keine Frage, dass, würde die Welt Kinder nach dem helfenden Modus großziehen, Kriege und alle anderen selbstdestruktiven sozialen Bedingungen, unter denen wir im 21.Jahrhundert immer noch leiden, getilgt sein würden, weil die Welt einfach mit individualisierten Persönlichkeiten gefüllt sein würde, die empathisch gegenüber anderen und nicht selbstdestruktiv wären." (deMause, 2005, S. 305)

Als ich zum ersten Mal bei deMause diese Stelle gelesen habe, konnte ich dies sofort nachvollziehen, fand es vor allem mutig und dabei auch irgendwie ungewöhnlich. Aber ein Teil von mir zweifelte immer noch etwas. „Ist dies nicht doch zu vereinfacht gedacht?“ Heute stimme ich deMause in diesem Punkt komplett zu: Ja, es ist so einfach. Wenn man heute diese Vorstellung von der zukünftigen menschlichen  Entwicklung propagiert, wird man oftmals Kopfschütteln ernten. Dabei wird – davon bin ich überzeugt – ganz einfach die Zeit (vor allem auch die kommenden 50 Jahre in Europa, die ich hoffentlich noch miterlebe und mich schon im Jahr 2064 an diesen Text zurückdenken sehe.) zeigen, dass die menschliche Destruktivität auf allen denkbaren Gebieten auf Grund der sich entwickelnden Kindererziehungspraxis extrem rückläufig sein wird. Schon heute fällt es den Forschenden schwer zu verstehen, warum die menschliche Gewalt vor allem über einen längeren Zeitpunkt betrachtetet derart rückläufig ist. (siehe dazu z.B. Steven Pinker)

Der 1905 geborene deutsche Volkskundler Walter Hävernick mahnte noch 1970 in seiner Studie über die „Sitte“ des Schlagens von Kindern in seinem Schlusswort, man solle diese Sitte nicht als autoritär beschimpfen und die Einführung einer „freiheitlichen  Gesinnung“  würde zu einer  „Verwahrlosung und Verelendung des hilflosen Nachwuchses führen“ . “Darum“, so der Forscher weiter – offensichtlich mit Blick auf die aufkommenden Tendenzen der 68er Generation, das Schlagen von Kindern kritisch zu sehen – „ist es reine Theorie, wenn man sich vorzustellen versucht, was geschehen würde, wenn es wirklich zu einem schnellen und gänzlichen Erlöschen der Sitte käme, ohne dass eine ähnliche Kraft an ihre Stelle träte. Ein solcher schrankenloser Individualismus würde für den Menschen (…) eine Katastrophe unbegrenzten Ausmaßes sein: ohne Rückhalt in einer Gemeinschaft seinesgleichen würde er im Kampf aller gegen alle sich gegenseitig ausrotten.“ Hävernick vermutet sogar einen Zusammenhang zwischen dem Rückgang von Körperstrafen gegen Kinder und Jugendlichen und einem gewissen Anstieg der Jugendkriminalität im damaligen Deutschland, was er in seinem Buch bespricht.
Im Kapitel „Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie“ des Buches „Deutschland misshandelt seine Kinder“  (2014 erschienen) beschreiben die beiden Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Guddat folgende Begebenheit:
"Am Institut für Rechtsmedizin der Charité werden häufig ägyptische Gastärzte geschult. Wenn sie unsere Vorträge über Kindesmisshandlung hören, zeigen sich viele von ihnen verwundert, dass Körperstrafen in Deutschland als Mittel der Kindererziehung verboten sind.  «Bei uns darf man seine Kinder ja auch nicht totschlagen», sagte einmal ein ägyptischer junger Arzt zu uns. «Aber wie erzieht ihr eure Kinder denn, wenn ihr sie nicht schlagt?» und ein Kollege von ihm fügt hinzu: «Das ist doch schließlich mein Kind, das ich schlage, nicht das Kind meines Nachbar.» " (In Ägypten ist weiterhin ein extrem hohes Ausmaß an Gewalt gegen Kinder festzustellen.) Die Aussagen von Walter Hävernick machen exemplarisch für seine Generation deutlich, dass die Aussagen der ägyptischen Ärzte so oder so ähnlich auch noch im Deutschland der 50er und 60er Jahre zu finden waren. Was für einen gewaltigen Sprung haben doch die Väter und Mütter seitdem gemacht!
Diesen Sprung sehe ich auch in meiner eigenen Familie, angefangen bei meinen Großeltern über meine Eltern bis hin zu meinen Kindern bzw. mich als Vater. Jede Generation hatte es als Kind besser, als die davor. Ich selbst bin der Erste in meiner Familie, der z.B. nicht geschlagen wurde. Und meine Kinder haben einfach nur Glück mit mir und meiner Frau als Eltern (was nicht heißt, dass wir keine Fehler machen.). Wenn ich noch mal Kind sein dürfte, ich würde mir mich und meine Frau als Eltern wünschen. (Ich hoffe, dass unsere Kinder das dann später auch so sehen :-) .)

Samstag, 6. November 2010

Kindheit in den USA

Was ist nur los mit dem Land USA? Seit Jahrzehnten stehen die USA für eine destruktive Außenpolitik, für Kriege oder indirekter Beteiligung an diesen. Von den 149 Staaten, die beispielsweise für das Jahr 2010 im "Global Peace Index" bzgl. ihrer "Friedfertigkeit" analysiert wurden, landeten die USA auf dem schlechten Platz 85. Seit Anfang 1981 sind mit Ronald Reagan, über Geoge Bush senior, Bill Clinton und dann George W. Bush Junior bis Anfang 2009 (also ca. 28 Jahre) nur als Kind von ihren Eltern misshandelte und traumatisierte Präsidenten an der Macht gewesen. (Die Präsidenten davor habe ich nicht untersucht, ebenso über Obama habe ich bisher nicht weiter etwas gelesen. Allerdings schreibt Lloyd deMause in einem Nebensatz, dass die Kindheit der meisten US-Präsidenten von Gewalt und Vernachlässigung geprägt war. vgl. deMause, 2005, S. 19). Im Sinne der psychohistorischen Theorie sind „die Führer“ im Grunde reine emotionale Stellvertreter der Bevölkerung, ihre persönliche Misshandlungsgeschichte steht also im Zusammenhang mit dem, was große Teile der Bevölkerung als Kind erlebt haben.

Schauen wir uns also einige Zahlen und Fakten an, die ich gefunden habe:

Ein Viertel aller Kinder in den USA lebt von staatlichen Essensmarken. (vgl. DER SPIEGEL, 30.10.2010, Nr. 44, „Good night, America“, S. 82)

Im Jahr 2008 berichtete der “child protective services” (CPS) in den USA von 3,3 Millionen gemeldeter Fälle von Kindern, die körperlichen, emotionalen oder sexuellen Missbrauch erlebt hatten oder vernachlässigt wurden. (vgl. CDS, 2010: Child Maltreatment. Facts at a Glance)

Die amerikanische Kaiser Permanente Krankenversicherung hat 1995 eine Studie (ACE-Studie) mit Daten von 17.421 Versicherten bzgl. dem Zusammenhang zwischen belastenden Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences, kurz ACEs) und dem Gesundheitszustand durchgeführt.  Ergebnisse bzgl. belastenden Kindheitserfahrungen (die wohl eher für die Mittelschicht und höhere Schichten gelten, die sich in den USA eine private Krankenversicherung leisten können.) :
11% erlebten emotionale Misshandlungen
28% erlebten körperliche Misshandlungen
21% erlebten sexuellen Missbrauch
15% erlebten emotionale Vernachlässigung
10% erlebten körperliche Vernachlässigung
13% wurden Zeugen, wie ihre Mutter Gewalt erlebte
27% wuchsen in Familien auf, in denen Alkhol und/oder Drogen konsumiert wurden
19% wuchsen in einer Familie mit einer psychisch kranken Person auf.
23 wuchsen in einer Familie auf, in der sie durch Trennung oder Scheidung von einem Elternteil getrennt waren
5 % wuchsen in Familien auf, wo sich ein Familienmitglied im Gefängnis befand
(Mehr als 20 % erlebten drei oder mehr der genannten belastende Kindheitserfahrungen!)

Eine Studie in den USA aus dem Jahr 2000 ergab, dass bei 94 Prozent der Kinder zwischen drei und vier Jahren Ohrfeigen oder Schläge zur Erziehung gehörten. (vgl. UNICEF 2003: Child Maltreatment Deaths in Rich Nations. Innocenti Report Card No.5. Innocenti Research Centre, Florence., S. 22) Ein Bericht aus dem Jahr 1995 der “American Gallup Organization” zeigte, dass 40 % der Dreizehnjährigen regelmäßig geschlagen wurden, selbst im Alter von fünfzehn Jahren wurden immer noch 25 % der Jugendlichen geschlagen. (vgl. ebd., S. 23)

Ein Forscherteam hat vier repräsentative US-Studien der Jahre 1975, 1985, 1995 und 2002 ausgewertet. Im Jahr 1975 wurden beispielsweise 82,2 % der 3- bis 5-Jährigen Kinder körperlich gezüchtigt, im Jahr 2002 waren es immer noch 78,8 %. Zudem erlebt immer noch fast jedes dritte Kind in den USA der Studie folgend in seiner Familie Körperstrafen mit einem Gegenstand; eine Zahl, die die AutorInnen der Studie als alarmierend bezeichnen.
(Zolotor, A.J., Theodore, A. D., Runyan D.K., Chang J. J. & Laskey, A. L. (2011).Corporal punishment and physical abuse.Population-basedtrends for three-to-11-year-old children in the United States. Child Abuse review, 20(1), S. 57–66.)

In einer repräsentativen Telefonumfrage aus dem Jahr 2000 wurden 2068 Eltern von Kindern im Alter zwischen 4 und 35 Monaten in den USA befragt. 26% berichtet, dass sie ihre Kinder verprügelt (englisch “spanking”) hätten. (vgl. Michael Regalado et al, 2004: Parents’ Discipline of Young Children: Results From the National Survey of Early Childhood Health. In: PEDIATRICS, Vol. 113, No. 6.)
Das ist eine sehr hohe Zahl, wenn man sich klar macht, dass hier die Eltern direkt am Telefon befragt wurden und natürlich nicht unbedingt wahrheitsgemäß antworten müssen. Zudem ist die Zahl auch erschreckend, da sie sich auf Säuglinge bis Kinder im Alter von nur ca. 3 Jahren bezieht. Darüberhinaus berichteten 67 % der Befragten, ihre Säuglinge/Kleinkinder angeschrien zu haben.

Im Jahr 2005 wurden in allen 50 US-Bundesstaaten jeweils 600 Erwachsene befragt (surveyusa, 24.08.2005, Disciplining a Child). Im Schnitt sagten 72 % aller Befragten, dass es in Ordnung sei, ein Kind zu schlagen (um es zu disziplinieren). (In Alabama gab es dabei die höchste Zustimmung mit 87 %, die niedrigste mit 55 % in Vermont)
31 % meinten, dass es in Ordnung sei, den Mund eines Kindes mit Seife "auszuwaschen". (Etwas, dass in den USA als Bestrafungsform für z.B. das Benutzen von Schimpfwörtern benutzt wrd. Auf Wikipedia gibt es sogar einen eigenen Artikel dazu.) Und 23 % meinten, dass es in Ordung für einen Lehrer sei, Schüler körperlich zu bestrafen. Schaut man sich die Ergebnisse für alle Bundesstaten einzelnd an, stellt man ein starkes Gefälle fest. Die Gewaltbereitschaft gegen Kinder ist offensichtlich am höchsten in den südlichen Staaten.

Für eine Studie (Desmond K. Runyan, Viswanathan Shankar, Fatma Hassan, Wanda M. Hunter, Dipty Jain, Cristiane S. Paula, Shrikant I. Bangdiwala, Laurie S. Ramiro, Sergio R. Muñoz, Beatriz Vizcarra and Isabel A. Bordin (2010): International Variations in Harsh Child Discipline. Pediatrics;126;e701 ) wurden 1435 Mütter zum Gewaltverhalten beider Elternteile  telefonisch befragt.
Ausgewählte Ergebnisse: 44 % versohlten den Hintern, 24 % schlugen mit einem Gegenstand auf die selbe Stelle, 3,6 % schlugen mit einem Gegenstand auf eine andere Körperstelle. Diese Gewalt wurde von den Forschern als mittelschwere Gewalt eingestuft. Der Mittelwert beträgt hier ingesamt 55 %. Besonders schwere Formen der körperlichen Gewalt wurden von den Müttern fast nicht angegeben. Beispielsweise gaben nur 0,3 % an, dass das Kind durchgeprügelt/zusammengeschlagen wurde. Allerdings: 2,6 % schüttelten Kinder unter 2 Jahren.
Da Misshandlungen in den USA gesetzlich verboten, „Züchtigungen“ (was der ersten Kategorie der mittelschweren Gewalt in etwa entspricht) aber erlaubt sind, ist zu vermuten, dass Opferbefragungen hier etwas andere Ergebnisse bringen würden als Täterbefragungen.  (Grundsätzlich zeigen die Daten dieser ländervergleichenden Studie allerdings auch, dass in anderen Ländern, z.B. Ägypten und Indien, schwerere Gewaltformen weiter verbreitet sind, als in den USA. )
Schaut man gesondert auf die verschiedenen Altersstufen der Kinder, ergibt sich nochmal ein anderes Bild, als das, was die o.g. Mittelwerte aufzeigen. Bereits ganze 31 % der Mütter gaben an, dass mittelschwere körperliche Gewalt gegen Kinder unter 2 Jahren in ihrer Familie angewendet wird. Dies ist eine enorm hohe Zahl, wenn man an die besonders empfindliche Psyche dieser Altersgruppe denkt.  7,7 % dieser Altersgruppe erlebt bereits schwere körperliche Gewalt, sofern Schläge mit Gegenständen dazugezählt werden. (ohne Gegenstände = 2,6 %)Ebenfalls erleben 36 % dieser Altersgruppe mittelschwere Formen psychischer Gewalt, 9 % schwere Formen.
Ganze 76 % der 2 bis 6 Jahre alten Kinder erlebt mittelschwere körperliche Gewalt und 74 % erleben mittelschwere psychische Gewalt. 27 % dieser Altersgruppe erlebt schwere körperliche Gewalt, sofern Schläge mit Gegenständen dazugezählt werden. (ohne Gegenstände = 0,6%)74 % erlebten mittelschwere Formen psychischer Gewalt, 19 % erleben schwere psychische Gewalt.
67 % der 7 bis 11 Jahre alten Kinder erlebt mittelschwere körperliche Gewalt. 84 % mittelschwere psychische Gewalt, 29 % schwere psychische Gewalt. 37 % dieser Altersgruppe erlebt schwere körperliche Gewalt, sofern Schläge mit Gegenständen dazugezählt werden. (ohne Gegenstände = 0,1%) Bei den 12 bis 17 Jahre alten Kindern nimmt dann vor allem die körperliche Gewalt stark ab.

Die obigen Daten stammen von relativ aktuellen Studien. Wie schon oft in diesem Blog erwähnt, sind ältere Bevölkerungsteile sehr wahrscheinlich in einem noch höheren Ausmaß Opfer von elterlicher Gewalt geworden, wie jüngere.

Der bereits oben erwähnte UNICEF Bericht aus dem Jahr 2003 beschreibt auf Seite 25 auch, dass bis zu diesem Berichtsjahr in den USA nur der Staat Minnesota Gesetze erlassen hat, die so ausgelegt werden könnten, dass Gewalt gegen Kinder in der Erziehung verboten ist. Aktuell habe ich bisher keine Daten im Internet gefunden, die aufzeigen, dass zwischenzeitlich noch weitere US-Staaten ähnliche Gesetze erlassen hätten. Zolotor et. al (2011) (siehe oben) bestätigen dies: Körperliche Züchtigungen im Elternhaus sind in den USA weiterhin legal, schreiben sie in ihrer Studie

Zum sexuellen Missbrauch möchte ich eine repräsentative Studie aus dem Jahr 1990 von Finkelhor erwähnen. 2626 Menschen wurden telefonisch befragt. 27 % der Frauen und 16 % der Männer gaben an, als Kind sexuell missbraucht (inkl. ohne Körperkontakt) worden zu sein. (vgl. Finkelhor, 1997, S. 74ff)

Laut einem UNICEF Bericht aus dem Jahr 2001 gibt es in den USA zwischen 100.000 und 300.000 minderjährige Prostituierte.

Dazu kommt legale Gewalt gegen Kinder und Jugendliche an Schulen durch LehrerInnen und verhältnismäßig hohe Zahlen von Kindestötungen. (siehe dazu Beitrag "gewaltvolle Kindheiten in den USA) Außerdem schneiden die USA im Vergleich mit anderen Industrienationen auch im allgemeinen Ranking zum Wohlergehen der Kinder besonders schlecht ab.

Die USA ist das einzige Mitglied der Vereinten Nationen, das die 1989 verabschiedete UN-Kinderrechtskonvention bisher nicht ratifiziert hat. (vgl. Status der „Convention on the Rights of the Child“) Ein Skandal!

Ich weiß nicht, wie ich diese Zahlen und Fakten noch weiter kommentieren soll? Wer diesen Blog schon kennt, weiß, was dieses hohe Ausmaß an Gewalt für politische Konsequenzen haben kann und auch hat. Dies gilt gerade auch, weil es sich hier um eine Weltmacht mit enormen militärischen Möglichkeiten handelt.


Wichtiger Nachtrag

Siehe ergänzend meinen Beitrag Politische Spaltung in den USA als Ausdruck von einer gespaltenen Kinderfürsorge? vom 16. Juni 2017. Die Kinderschutzorganisation „Save the Children“ hat erstmals eine Art Ranking über das Wohlergehen von Kindern in der Welt veröffentlicht. Die USA landete auf Platz 36 (einen Platz vor Russland und fünf Plätze vor China). 

Siehe unbedingt auch: Belastende Kindheitserfahrungen in den USA: Neue Daten vom 4. Juni 2020

Sonntag, 5. November 2023

Kindheit und islamistischer Extremismus/Terrorismus - eine Übersicht

aktualisiert: 20.12.2023 (siehe neue Ergänzungen im Kommentarbereich)


Vorwort

Die aktuellen Ereignisse seit dem 07.10.2023 in Israel und Gaza (vor allem auch die Angriffe der islamistischen Terrorgruppe Hamas) haben mich motiviert, eine Zusammenfassung bzgl. meiner bisherigen Recherchen über Kindheit und islamistischen Extremismus/Terror zu verfassen. Geplant hatte ich einen solchen Text schon lange, jetzt endlich habe ich es geschafft. 

Parallel zu diesem Text veröffentliche ich auch eine Zusammenfassung über "Kindheit in Gaza". "Trauma-Kindheit" in Gaza hat ganz sicher einen erheblichen Anteil an den grausamen Ereignissen der jüngsten Zeit! 

In meinem Buch schrieb ich im Kapitel „Das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in der Welt – Kindheiten der Allgemeinbevölkerung“: „Was im internationalen Vergleich auffällt ist, dass viele Länder und Regionen, die historisch für schwere Konflikte, hohe Kriminalitätsraten, Kriege, Krisen, Diktaturen, autoritäre Staatsstrukturen und/oder Rekrutierungsgebiete für Terroristen stehen, gleichzeitig sehr hohe Gewaltraten gegen Kinder aufweisen.“ Diesen Grundgedanken bleibe ich stets treu, was man auch an den diversen Länderanalysen hier im Blog sehen kann. Hervorheben möchte ich auch meinen Text „Kindheit in Afghanistan und der nie enden wollende Krieg und Terror“. Der Mittlere Osten und Gesamtafrika sind außerdem weltweit führend, wenn es um Gewalt gegen Kinder in der Familie geht. Viele Problemlagen dieser Regionen sehe ich auch vor dem Hintergrund der schlechten Bedingungen für Kinder. 

Die unten aufgezeigten Ergebnisse weisen auf einen in der Öffentlichkeit vielfach übersehenen Zusammenhang zwischen destruktiven Kindheitserfahrungen und islamistischem Extremismus hin. Diese Zusammenhänge gelten auch für andere Extremismusformen, was ich vielfach durch meine Recherchen zeigen konnte. 

Ist die Datenlage wirklich dünn oder müssen wir nur genauer hinsehen? Studien über die Kindheitshintergründe von islamistischen Extremisten/Terroristen

Bzgl. des islamistischen Extremismus ist die Datenlage über Familien-/Kindheitshintergründe in der Tat dünner als bzgl. des Rechtsextremismus, was in der Literatur auch immer wieder betont wird. Die Befundlage wird meiner Auffassung nach dennoch ziemlich dicht und vor allem aussagekräftig, wenn man genau hinsieht, viele Einzelfälle sammelt und Ergebnisse von Studien zusammenführt.

Nach meinem Eindruck wird in der entsprechenden Forschung bzgl. Kindheitseinflüssen zu wenig hingesehen. Dies zeigt sich exemplarisch in einer aktuellen Review (Ohls et al. 2023) über Schutz- und Risikofaktoren bzgl. islamistischer Radikalisierung und Extremismus. Das Forschungsteam führt zwar auf Seite 10 als Risikofaktor den Punkt "Victim of abuse and unstable family conditions" auf, bezieht sich dabei aber nur auf zwei Studien (Jasko et al. 2017; Lützinger 2010), die ich in diesem Text hier ebenfalls besprochen habe. 

Lloyd deMause (2002) hat in seinem Text „The childhood origins of terrorism“ schon früh auf deutliche Zusammenhänge zwischen extrem destruktiven Kindheiten und islamistischen Terrorismus hingewiesen. Aber auch er verfügte allerdings noch nicht über ausreichend empirische Daten. 

Wichtige Impulse kommen u.a. aus der Praxis: „Zum Stellenwert (…) familialer Einflüsse existieren für den gewaltorientierten Islamismus bislang allerdings keine dichten Befunde. Akteure aus der Beratungsarbeit, die mit gefährdeten Jugendlichen und ihren Eltern arbeiten, erachten familiäre Belastungen allerdings als überaus bedeutsam – sie weisen auf autoritäre und gewalthaltige Familienstrukturen, auf Aspekte emotionaler Entfremdung, überforderte Bezugspersonen und bei jungen Männern besonders auf das häufige Fehlen verlässlicher Vaterfiguren hin“ (Glaser et al 2018, S. 18).

Solche Hinweise kommen auch von dem in der Praxis sehr aktiven Psychologe Ahmad Mansour (2015) in seinem Buch „Generation Allah“ (in dem übrigens auch die Kindheit des Autors selbst und seine damalige Radikalisierung behandelt wird: hier besprochen). 

Im Streetworkerbuch "Die Wütenden" von Fabian Reicher & Anja Melzer (2022) werden fünf Fallbeispiele von Dschihadisten ausgebreitet. In drei Fällen werden schwere Traumatisierungen in der Kindheit deutlich (vor allem auch Kriegserfahrungen). An einer Stelle fasst das Autorenteam zusammen: "Rachefantasien entstehen, wenn Unrecht geschieht. Alle Attentäter haben ihre eigenen Geschichten, aber was alle miteinander verbindet, sind schwere traumatische Verletzungen, Erfahrungen von Erniedrigung und Ohnmacht, die sie nicht verarbeiten können, ohne Gewalt anzuwenden" (Reicher & Melzer 2022, S. 120). 

Mittlerweile existieren allerdings auch so einige Studien, die ich nachfolgend vorstellen möchte:

Lützinger (2010) hat 39 männliche Extremisten/Terroristen (24 rechts, neun links und sechs islamistisch) befragt. Zusammenfassend schreibt sie: „Resümierend kann festgehalten werden, dass die hier untersuchten Biographien grundlegend entwicklungsbelastete Personen charakterisieren, die mangels eines funktionierenden und eine gesunde und gelingende psychosoziale Entwicklung garantierenden Elternhauses äußerst prekäre soziale Kontakte eingegangen sind. Das jeweilige extremistisch-terroristische Milieu bzw. Gruppenangebot fungierte als Ersatz für ein funktional und strukturell gestörtes Elternhaus" (Lützinger et al. 2010, S. 75f.). „In den meisten Biografien spielten Gewalt und Unterdrückung schon im Kindesalter eine Rolle“ (Lützinger 2010, S. 31). Diese Ergebnisse gelten entsprechend auch für die sechs Islamisten aus dem Sample. 

Es gibt auch andere interessante Ansätze (Jasko et al. 2017): In den USA wurden 1496 Akteure (90 % männlich), die ideologisch-bedingte Straftaten (rechtes, linkes und islamistisches Spektrum) begangen hatten, an Hand öffentlich zugänglicher Daten/Berichte untersucht (keine direkten Befragungen). 62 % der untersuchten Akteure hatten Gewalt ausgeübt. 35 % aller Akteure wurden als Kind misshandelt, 48 % erlitten ein Trauma (nicht nur auf Kindheit bezogen), 29 % hatten stark extremistische Familienmitglieder. Dafür, dass keine direkten Befragungen stattfanden, sind die Ergebnisse bezogen auf Belastungen recht eindrucksvoll. Auch hier wird deutlich, dass traumatische Erfahrungen und belastende Kindheitserfahrungen bedeutsam bei der Genese von Extremismus sind.

Srowig et al. (2017) haben 33 (davon zwei weiblich) in Deutschland straffällig gewordene Islamisten auf Grundlage von Gerichtsakten und ergänzend vier Interviews mit Personen aus der Stichprobe analysiert. Das Autorenteam fasst zusammen: „Über alle Fälle hinweg konnten eine Vielzahl von Konflikten in der Familie, in der Schule, bei dem Übergang in das Berufsleben, wie auch in Interaktion mit der Gruppe Gleichaltriger identifiziert werden. Die Konflikte lassen sich wie folgt aufschlüsseln: 

- Kritische Lebensereignisse, wie die Erkrankung oder der Verlust einer nahestehenden Person bzw. vergleichbare Krisensituationen

- Gewalterfahrungen als Opfer im Elternhaus

- Gewalterfahrungen als Täter

- Exzessiver Konsum von Drogen und Alkohol“ (Srowig et al. (2017, S. 105).

Leider wurde nicht die genaue prozentuale Verteilung dieser Belastungsfaktoren aufgestellt. Fest steht, dass die genannten Belastungsfaktoren zentrale Gemeinsamkeiten der Islamisten sind. Ich möchte ergänzend erwähnen, dass ein exzessiver Drogen- und Alkoholkonsum laut Forschungslage vor allem von Menschen praktiziert wird, die ein hohes Maß an kindlichen Belastungen (ACEs) erlitten haben. Zusammen mit dem Punkt „Gewalterfahrungen als Opfer im Elternhaus“ sowie auch dem Verlust von Bezugspersonen zeigt diese Studie also eindeutig auf den Einfluss von Kindheitserfahrungen bzgl. Radikalisierungsprozessen.

2016 wurden von einem Forscherteam (Aslan et al. 2018) 29 Interviews durchgeführt, davon 26 in Gefängnissen in Österreich und drei in Jugendeinrichtungen. Die Befragten standen im Zusammenhang mit der Verübung von terroristischen Straftaten islamistischen Charakters. Aus den Befragungen wurden drei Fallbeispiele herausgefiltert, die ausführlich besprochen wurden. Am Ende wurden elf weitere Fallbeispiele in stark verkürzter Zusammenfassung besprochen. Insgesamt hat man also biografische Einblicke bezogen auf 14 islamistische, männliche Akteure. Die Studie war nicht auf Kindheitserfahrungen fokussiert. Allerdings zeigt sich bei der Durchsicht, dass die deutliche Mehrheit der Befragten erhebliche Belastungen in der Kindheit erlitten haben (vor allem Kriegs- und Fluchterfahrungen und Trennungen und/oder Verlust von Familienmitgliedern). Wie der jeweilige elterliche Erziehungsstil ausgesehen hat, erschließt sich in der Studie leider nicht. 

Eine Möglichkeit, zu Erkenntnissen in diesem Feld zu gelangen, sind auch gedankliche Ableitungen. Das Bundeskriminalamt et al. (2016) konnte z.B. in einer großen Untersuchung von 778 Islamisten (mehrheitlich Männer), die aus Deutschland im Zeitraum zwischen Januar 2012 bis Juni 2016 nach Syrien oder dem Irak ausgereist sind (und sich mehrheitlich nach ihrer Ausreise einer islamistisch-jihadistischen Gruppierung angeschlossen haben), diverse Daten sammeln und auswerten. Zwei Drittel der Islamisten hatte eine kriminelle Vorgeschichte (vor allem Eigentums-, Gewalt- und/oder Drogendelikte). 53 % von den Personen mit einem kriminellen Hintergrund hatten drei oder mehr Delikte und 32 % hatten sogar sechs oder mehr Delikte begangen (Bundeskriminalamt et al. 2016, S. 18f.). Wie diverse Studien zeigen, lassen sich bei Straftätern stark erhöhte Adverse Childhood Experiences (ACEs) nachweisen. Generelle Studien über die Kindheit von Gewalt-/Straftätern sagen weitergedacht also auch etwas über die Kindheiten der hier untersuchten (kriminellen) Islamisten aus!

Diese Ableitung gilt auch für eine Untersuchung vom Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen (2011), für die 140 Konvertiten aus islamistischen Milieus analysiert wurden. Über die Hälfte dieser Akteure hatte eine kriminelle Vorgeschichte (Drogendelikte, Diebstähle und Körperverletzungen). Ergänzend gab es deutliche Hinweise in Richtung problematischer Entwicklungen in der Kindheit: „Bei den meisten Konvertiten gab es Auffälligkeiten in den Sozialisationsverläufen. Es handelt sich um »instabile« Persönlichkeiten. Ein häufiger Grund lag in gestörten Familiensystemen und fehlenden sozialen Bindungen, teilweise bereits seit frühster Kindheit“ (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2011, S. 46).
Auch eine weitere Erkenntnis dieser Untersuchung bzgl. Islamisten deckt sich mit den Erkenntnissen aus der Rechtsextremismusforschung: „Die empfundene Geborgenheit, das Gemeinschaftserlebnis und die Erlebniswelt Islamismus an sich mit ihren verschiedenen Veranstaltungsformen bieten einen starken Kontrast zu dem vorher gelebten Leben. Es scheint somit sehr wahrscheinlich zu sein, dass weniger die Ideologie als vielmehr Defizite im eigenen Lebenslauf und in der Persönlichkeit Grund für den Zulauf zu einem extremistischen-islamischen Milieu sind“ (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2011, S. 46f.).

Ich fand ein weiteres Projekt zum Thema Extremismus und Terror. Allerdings habe ich bisher keine wissenschaftliche Ausarbeitung der Ergebnisse gefunden. Insofern muss ich den diversen Medien vertrauen, die über dieses Projekt berichtet haben. Meine ausgewählte Quelle ist in dem Fall SPIEGEL-Online. Die beiden Schwestern Nancy und Maya Yamout von der Nichtregierungsorganisation Rescue Me haben im Roumieh-Gefängnis in Beirut 20 verurteilte Terroristen (darunter auch Mitglieder des IS, der Nusra-Front und der syrischen Qaida) innerhalb von zwei Jahren regelmäßig interviewt (ein Vertrauensverhältnis wurde hergestellt!), um herauszubekommen, warum sie sich radikalisierten. Auffällige Gemeinsamkeiten der Terroristen sind, dass sich keiner gut mit Religion auskannte. Sie hatten nur oberflächliche Kenntnisse über den Islam. „Große Ähnlichkeit gab es bei den Kindheitsgeschichten. Keiner der 20 Terroristen kam aus einem normalen Elternhaus. Ihre Väter prügelten, demütigten und instrumentalisierten sie. Der Vater eines Terroristen drückte Zigaretten auf seinem Sohn aus. Die kreisrunden Narben auf dem Arm des Häftlings zeugen immer noch davon. Ein anderer Vater war Kämpfer im libanesischen Bürgerkrieg. Für seine Kinder war er nicht da. Die mussten schon als Achtjährige mithelfen - Waffen reinigen und Leichenteile einsammeln“ (Salloum 2014). Islamistische Führer wurden laut den beiden Schwestern zu Vaterfiguren für die untersuchten Terroristen. 

Interessant sind auch die Ergebnisse einer vergleichenden Analyse von Amokschützen in den USA und Selbstmordattentätern im Nahen Osten. Eine wesentliche Gemeinsamkeit beider Tätertypen sind belastende Kindheitserfahrungen: „In general research has found strong relationships between childhood suffering, delinquency, and criminality (…). In addition, childhood victimisation has been determined to be strongly related to substance abuse, sex crimes, prostituition, promiscuity, teenage pregnancy, and a number of violent crimes (…). Therefore, it should not be particularly suprising that the violent actors in these cases have often suffered from a troubled childhood – altough this is just one of the many factors which contributes to their ultimate attacks. This appear to be a key similarity between volunteer suicide bombers in the Middle East and rampage shooters in the U.S. The range of their disturbing childhood experiences includes being repeatedly harassed, bullied, or abused as a child, witnessing abuse, growing up in dysfunctional families, and growing up in conflict-ridden refugee camps (…)” (Lankford & Hakim 2011, S. 102). Eine weitere Gemeinsamkeit dieser Akteure war ein geringes Selbstbewusstsein, was, so meine Vermutung, wiederum mit belastenden Kindheitserfahrungen in einem Zusammenhang stehen könnte.

In Kanada wurden Interviews mit sieben islamistisch-radikalisierten Personen geführt. Die Ergebnisse bzgl. Kindheitserfahrungen wurden nicht vertiefend ausgeführt. Allerdings zeigt eine Zusammenfassung in eine eindeutige Richtung: „Significantly, most interviewees, particularly the converts, led a deeply troubled existence during their youth and in a number of cases came from broken homes or dysfunctional families. For instance, one convert was forced to grow up without his father after his father was imprisoned for murdering a police officer” (Ilardi 2013, S. 714). In der Folge dieser Erfahrungen neigten viele der Befragten zu selbstschädigendem Verhalten wie Alkohol-/Drogensucht oder Spielsucht. 

Van Leyenhorst & Andres (2017) haben 26 Fälle aus den Niederlanden auf Grundlage von Akten analysiert. Die analysierten Akteure waren bzgl. dschihadistischer Taten in oder für ISIS in Syrien verdächtigt. Bzgl. der Vorerfahrungen in der Kindheit gibt einige wenige, aber interessante Daten: “More than half of the suspects (54%) were brought up in large families with six or more siblings. Fourteen suspects experienced one or more separations and nine grew up without a father being present” (Leyenhorst & Andres 2017, S. 325). Dazu muss ich anmerken, dass ich bei einer solch hohen Geschwisterzahl potentiell und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit von elterlicher Vernachlässigung oder zumindest entsprechenden Gefühlen der Kinder ausgehe. Viel Zeit der Eltern für das einzelne Kind ist in solchen Familien einfach nicht schaffbar.
In der Studie wurde nur von vier Akteuren Aussagen zitiert. Eine davon begann so: “My parents were divorced and my stepfather favoured his own kids over me. […] I was bullied at school and was eventually placed in foster homes. […] I felt I belonged to no one and asked myself questions about belonging and meaning in life. I started to find answers in religion (…)“ (Leyenhorst & Andres 2017, S. 319). Hier werden im Einzelfall vielfältige Kindheitsbelastungen deutlich.

Ebenfalls aus den Niederlanden kommt eine Studie (Grimberger & Fassaert 2022), für die 34 Personen (davon 29 männlich)  analysiert wurden, die bzgl. gewalttätigen Extremismus verdächtigt wurden. Die Personen waren in einer Art Präventionsprojekt registriert, in dem alle Spektren des Extremismus auftauchen. In der Studie wird nicht klar, welchem Spektrum die hier behandelten Akteure zuzuordnen sind. Allerdings hatten 88,2% einen Migrationshintergrund und fast alle von diesen Akteuren hatten Familienhintergünde aus islamischen Ländern wie z.B. Syrien, Marokko, Ägypten oder der Türkei. Ich gehe insofern davon aus, dass die meisten der 34 Akteure bzgl. islamistischem Extremismus verdächtigt wurden.
Die Kindheishintergründe der Befragten waren i.d.R. belastet. 35,3% berichteten von vier oder mehr belastenden Kindheitserfahrungen (ACEs). Die häufigsten ACEs waren emotionale Vernachlässigung (47,1 %), psychische Erkrankungen im Haushalt (44,1 %), Verlust eines Elternteils (38,2 %), Miterleben von häuslicher Gewalt (23,5%) und Misshandlungen (23,5%). 

Mohammed & Neuner (2022) haben 59 männliche Jugendliche/junge Erwachsene im Gefängnis von Erbil (kurdisches Gebiet im Irak) interviewt, die für terroristische Taten vor allem im Rahmen von ISIS verurteilt worden waren.
Zu Gewalterfahrungen in der Familie wurden acht Fragen gestellt. Im Durchschnitt hatten die Befragten 2,84 verschiedenen Formen von Gewalt in der Familie erlitten. Die drei häufigsten Formen der Gewalt wurden von den Autoren zahlenmäßig genannt: 81,4 % wurden geschlagen, 50,8 % wurden Zeuge, wie Familienmitglieder geschlagen wurden und ebenfalls 50,8% wurde gesagt, sie seien ein schlechter Sohn. Auch bzgl. der psychischen Situation der Befragten fand man Auffälligkeiten. 69.5% zeigten Kriterien für eine mögliche Posttraumatische Belastungsstörung und 89,8% für Depressionen.
Außerdem standen traumatische Erfahrungen in einem starken Zusammenhang zu von den Befragten selbst berichtetem Täterverhalten: “We also found that history of victimization (war events, family violence and ISIS specifc events) was strongly correlated with perpetration events reported by the sample. This interaction could be possibly explained through the habituation to violence and the vicious cycle of violence“ (Mohammed & Neuner 2022, S. 9).

In Frankreich fand eine Befragung von 150 Jugendlichen/jungen Erwachsenen, die sich islamistisch radikalisiert hatten und sich dem „Islamischen Staat“ anschließen wollten, statt (Oppetit et al. 2019).

Die Ergebnisse bzgl. Kindheitserfahrungen stellen sich wie folgt dar:

Körperliche Misshandlungen oder sexueller Missbrauch: 26,7 %

Vernachlässigung oder emotionale Misshandlungen: 85,3 %

Verlassenheitserfahrungen: 82 %

Sucht und Drogenmissbrauch eines Familienmitglieds: 32 % 

Vergewaltigung oder Missbrauch eines Familienmitglieds: 16 %

Körperliche Misshandlung eines Familienmitglieds: 32 %

Depressionen eines Familienmitglieds: 40,7 %

Körperliche Gesundheitsprobleme eines Familienmitglieds: 27,3 %

Nina Käsehage hat 50 Dschihadistinnen aus Europa befragt. Sie fasst die Ergebnisse bzgl. der Kindheit der Befragten wie folgt zusammen: “All of the women from my European sample had experienced violence in a psychological, physical or sexual way in their childhood and have found specific methods of channelling their negative experiences in order to feel  »relief« or to »recover«” (Käsehage 2020, S. 182). Aus Platzgründen bespricht sie in dem Artikel nur ein Fallbeispiel ausführlich zur Anschauung. Dabei werden vor allem auch Mehrfachbelastungen in der Kindheit deutlich. 

In einem aktuelleren Artikel geht sie speziell auf die Kindheitserfahrungen von 20 Dschihadistinnen aus Deutschland ein (Käsehage 2023). Den Artikel habe ich hier im Blog bereits besprochen. Die massiv traumatischen Kindheitserfahrungen der Befragten werden in dem Artikel überdeutlich. 

Im Jahr 2024 wird Nina Käsehage das Buch „Frauen im Dschihad: Salafismus als transnationale Bewegung“ veröffentlichen. In dem Buch wird aus Befragungen von 60 Mädchen und jungen Frauen aus dem salafistisch-dschihadistischen Milieu in Europa eingegangen. Vermutlich werden die Kindheitshintergründe dort noch ausführlich ausgebreitet werden, als in den beiden zitierten Artikeln.

Nur Einzelfälle?

Ich selbst habe für mein Buch einige Kindheiten von islamistischen Terroristen recherchiert (Fuchs 2019, S. 196-201): Ich fand schwere Belastungen in der Kindheit von Osama bin Laden (Anführer des Terrornetzwerks al-Qaida), Zacarias Moussaoui (Islamist, der ursprünglich für al-Qaida ein Flugzeug ins Weiße Haus lenken sollte), der Brüder Chérif und Saïd Kouachi (Anschlag auf Charlie Hebdo) (siehe auch im Blog dazu hier und hier), Youssef Zaghba (islamistische Terroranschlag in London vom 03. Juni 2017), Syed Farook (islamistische Terroranschlag in San Bernardino, USA vom 2. Dezember 2015) (siehe auch unten im Text) und Hasna Ait Boulahcen (Islamistin und Cousine des Drahtziehers der Anschläge in Paris vom November 2015, die sich bei einem Polizeieinsatz selbst in die Luft sprengte). 

Der islamistische Terroranschlag von San Bernardino (USA) wurde von einem Pärchen verübt, das danach auf der Flucht erschossen wurde. Über den Mann, Syed Farook, ist einiges bzgl. seiner Kindheit bekannt geworden. "Etwas mehr wissen die Behörden über Seyd F. Der 28-Jährige hat ebenfalls pakistanische Eltern, wurde aber in den USA geboren. Er hatte eine schwierige Kindheit, sein Vater war Alkoholiker und quälte die Familie. In den Scheidungspapieren gab seine Mutter an, von ihrem Mann einmal vor ein Auto gestoßen worden zu sein" (Medick 2015).

Die Forschungsarbeit von Martin Schäuble (2011) beinhaltet zwar nur zwei Fallbeispiele, allerdings glänzt die Arbeit durch eine unvergleichliche Tiefe und Ausführlichkeit bei der Biografieforschung. Umfassend werden die Lebenswege von „Daniel“ (ein deutscher Konvertit, sich der Islamischen Dschihad Union anschloss und mit seinen Gesinnungsbrüdern, die in Deutschland unter dem Namen Sauerland-Gruppe bekannt sind, einen Anschlag plante) und „Sa'ed“ (einem Palästinenser, der Teil der sogenannten Aqsa-Brigaden wurde und der schließlich einen Selbstmordanschlag in Jerusalem verübte) vorgestellt. Beide Extremisten sind in autoritären Elternhäusern aufgewachsen und haben diverse traumatische Erfahrungen in der Kindheit gemacht. 

"Fatma" ist mit einem Jihadisten der Sauerland-Gruppe verheiratet und war eine Schlüsselperson der virtuellen Welt des Jihadismus. Neben dem Fall „Daniel“ bekommen wir also einen ergänzenden Blick auf die Kindheit der Akteure des entsprechenden Netzwerks: Ihre Eltern trennten sich früh, die Mutter, mit der es offensichtlich viele Konflikte gab, war anschließend alleinerziehend. „Von ihrer Mutter wurde sie streng, aber nicht religiös erzogen. Die Mutter scheint gewalttätig gegenüber ihrer Tochter gewesen zu sein“ (Baehr 2020, S. 162).

Für eine klinische Studie wurde der Fall "Lea" ausführlich vorgestellt. Lea wurde vier Jahre lang seit ihrem siebzehnten Lebensjahr im Rahmen eines anderen Forschungsprojekts gefolgt. Lea radikalisierte sich islamistisch und zog in Erwägung, nach Syrien auszureisen und sich dem "Islamischen Staat" anzuschließen. Die traumatischen Kindheitsbedingungen werden recht ausführlich besprochen und an einer Stelle wie folgt zusammengefasst: "In total, at the time of her radicalization, Lea is a 17-year old girl whose childhood was marked by early and repeated trauma such as neglect, physical and sexual abuse, humiliation combined with emotional deprivation and attachment disorders" (Rolling et al. 2022, S. 4).

Der Fall Harry M. ist laut dem Autorenteam Dantschke et al. (2011) ein "typischer Fall" für eine Radikalisierung. Dazu gehört auch eine sehr destruktive Kindheit. Seinen Vater kenne er nicht, dieser habe die Familie verlassen, als Harry zwei Jahre alt war. Mit der Mutter gab es offenbar ständig Probleme; als Harry dreizehn Jahre alt war, schmiss sie ihn raus. "Harry übernachtete mal hier, mal dort, schlug sich irgendwie durch" (Dantschke et al. 2011, S. 74). Er nahm Drogen und Alkohol zu sich, um sich zu beruhigen. Mit 16 Jahren schmiss er die Schule und kam dann durch einen Schwager mit dem Islam in Verbindung. Verschiedene islamistische Prediger prägten in der Folge den jungen Mann für seinen weiteren Weg in die Radikalität.
In der Frankfurter Rundschau wird sein Leben wie folgt kurz beschrieben: „Sein Werdegang im Schnelldurchlauf: Heimaufenthalte, Drogenexzesse, Blitzradikalisierung. Harry M. machte sich in der Salafistenszene schnell einen Namen“ (Behr 2019). 

Der als IS-Terrorist angeklagte Kerim Marc B. hat vor Gericht über seine Kindheit berichtet.
"Sein Stiefvater habe ihn oft geschlagen und verprügelt, etwa wegen schlechter Schulnoten. Seine Mutter habe sein Gesicht auf Familienfotos herausgeschnitten. Bevor sie in Urlaub gefahren sei, habe sie ihn zu Verwandten gebracht. Er habe mit seinen Eltern nie über Gefühle sprechen können. Der Islam habe ihm in dieser Situation Halt gegeben. Der Gang zur Moschee sei eine Rebellion gegen sein Elternhaus gewesen“ (Welt-Online 2016). 

Der Münchner Harun P. (mit afghanischen Wurzeln) ist ca. Mitte 2015 wegen seiner Beteiligung am Terror in Syrien zu elf Jahren Haft verurteilt worden. Der Mann war der erste Syrien-Rückkehrer, der wegen Mordes vor einem deutschen Gericht stand. Im Prozessverlauf kamen auch Details über seine Kindheit an die Öffentlichkeit. Das Verhältnis zu seinem Vater beschreibt er so: „Ich konnte es ihm nie Recht machen. Er war keine Bezugsperson für mich und machte alles schlecht, was ich tat“. Und über die Mutter: „Meine Mutter hat einige Stöcke auf mir zerbrochen. Ich habe als Kind auch gut eingesteckt.“ (Thieme 2015). Als Kind sei er von seinem Vater so lange geschlagen worden, "bis meine Mutter dazwischen ging" (Focus-Online 2015).
In einer anderen Quelle wird formuliert: “Harun’s parents were from Afghanistan, but he was born and raised in the wealthy city of Munich. Based on his testimony, Harun had a bad relationship with his father, who was very religious and often beat him. Harun also engaged in self-mutilation, `to relieve pressure,` cutting his arms so they required stitches” (Hellmuth 2016, S. 33).
Dazu kamen weitere Problemlagen im Lebensverlauf (unschwer zu erkennen teils sicher auch mit seinen Kindheitserfahrungen verbunden): Er litt unter Depressionen, nahm Drogen, neigte zu Selbstverletzungen und nahm seit der Jugend auch fast täglich Schmerzmittel. Drei Berufsausbildungen scheiterten. Dazu kam ein weiteres traumatisches Erlebnis: Das gemeinsame Kind mit seiner Freundin starb kurz nach der Geburt (Focus-Online 2015; Thieme 2015). 

Auch bei weiteren Einzelfall-Recherchen stieß ich auf deutlich belastete Kindheiten. So ist z.B. über Arid Uka, der am 02.03.2001 den ersten islamistischen Anschlag in Deutschland verübte, bekannt, dass er eine schwierige Kindheit hatte. Geboren im Kosovo erlebte er als Säugling die frühe Scheidung seiner Eltern, Auswanderung des Vaters zusammen mit dem Säugling nach Deutschland, jahrelange Trennung von der Mutter, Leben in relativer Armut, kaum Unterstützung im familiären Umfeld und in Jugend Erkrankung des Vaters mit anschließender Verschlechterung der eh schon prekären Verhältnisse (Ben Slama 2020, S. 338). Hinzu kam ein traumatisches Erlebnis als er sechs oder sieben Jahre alt war: Ein fremder Mann missbrauchte ihn sexuell in einem Park (Safferling et al. 2011).

Der frühere Musiker Denis Cuspert, der sich dem „Islamischen Staat“ anschloss, bekam medial viel Aufmerksamkeit. In einem Medienbericht wird deutlich, dass auch seine Kindheit belastet war: „Eine behütete Jugend war es aber nicht, sondern eine, in der die Eltern ständig überfordert waren und es eine Mutter gab, die behauptete, ihre im Haus von der Polizei gefundenen Drogen gehörten dem eigenen Sohn. Wenn sie keine Lust auf Denis hatte, warf sie den Sohn einfach aus der Wohnung“ (Krüger 2013). Seinen leiblichen Vater lernte Denis nie kennen. Mit dem Stiefvater gab es schwere Spannungen, so dass Denis selten zu Hause war. Er wurde später zum Gangmitglied und kriminell (Hellmuth 2016, S. 27f.). Jemaine, der Halb-Bruder von Denis, berichtet in einem Podcast von seinem Vater, dem Stiefvater von Denis „Mein Vater war sehr sehr streng“. Er sei gegenüber Denis strenger gewesen, als gegenüber ihm. Außerdem habe der Vater selbst eine „sehr sehr harte Kindheit“ gehabt. „Was Du halt kennst ist für dich normal und so gibst du es weiter. Wir haben auch, ich und mein Bruder, haben auch kassiert, von meinem Vater. Wir haben auch kassiert“ (funk – von ARD und ZDF 2022). Gemeint ist hier Gewalt! 

Große Bekanntheit erreichte in Deutschland auch der ehemalige islamistische Prediger und Salafist Sven Lau. In seiner Autobiografie hat er deutlich über seine Kindheitsbelastungen geschrieben. Sein Vater prügelte ihn und auch die Mutter. Seine Mutter war noch ein Teenager, als sie mit Sven schwanger war und war dadurch wohl auch überfordert. Nach der Trennung sah Sven seinen Vater erst wieder im Alter von 18 Jahren. Es gab Phasen, in denen Sven kein Essen hatte, weil die ökonomische Situation der alleinerziehenden Mutter zu angespannt war. Ein späterer Stiefvater trennte sich ebenfalls wieder von seiner Mutter (Lau 2021, S. 16ff.). 

Omar Mateen (Massenmörder und Attentäter von Orlando), der sich vor seiner Tat zum „Islamischen Staat“ bekannte, hatte ebenfalls eine belastete Kindheit. Eine ehemalige Nachbarin sagte in einem Interview, dass Omar ein sehr rastloses und schwer zu kontrollierendes Kind gewesen sei. Seine Mutter habe ihn häufig geschlagen. „She said that Mateen’s mother `used to slap him a lot` when he got too rambunctious” (New York Daily News 2016). Aber auch der Vater schlug Mateen einmal vor aller Augen vor der Schule seines Sohnes ins Gesicht (Sullivan & Wan 2016). Ebenso gibt es Hinweise auf häusliche Gewalt im Hause Mateen. Omars Mutter wurde 2002 inhaftiert, weil sie gewalttätig gegen ihren Ehemann wurde (Montero 2016). In einem anderen Bericht wurde ebenfalls über die Inhaftierung der Mutter geschrieben. Omars Mutter habe allerdings ausgesagt, ihr Mann hätte gedroht, sie zu töten (Jones 2016). Welche der beiden Versionen auch immer stimmen mag, häusliche Gewalt war offenbar eine Realität.

Der ehemalige islamistische Extremist Jesse Curtis Morton (bis 2012 nannte er sich: Younus Abdullah Muhammad) sagte über seine Kindheit: “I came from a very tumultuous childhood, where there was very severe abuse. And when I reached out to my society and tried to get assistance to stop that abuse, the school, my family, and the society around me didn't prevent it. And so, at a very young age, I rejected American culture and the American way of life, so to say, and sought a new identity” (PBS NewsHour 2016). 

Robert Baumleft for Egypt and Syria in fall 2012, together with his best friend, Christian Emde. He was from the small town of Solingen, where his father died of cancer shortly before Robert’s thirteenth birthday. Robert went on to complete Hauptschule and joined the German military when he was 17, but was discharged for disseminating right-wing extremist propaganda” (Hellmuth 2016, S. 32). In diesem Fall wird das Trauma “Tod des Vaters“ deutlich, ergänzend auch früh die Lust am Militärischem und Extremismus. Weitere Infos über seine Kindheit fand ich leider nicht. 

Harry  S. konvertierte zum Islam und radikalisierte sich, was schließlich zu seiner Ausreise in die Kampfgebiete nach Syrien führte. In Deutschland wurde er nach seiner Rückkehrt inhaftiert.
"Harry  did  not  experience  the  proverbial  happy  childhood.  His  Christian  parents emigrated   from   Ghana   to   Germany,   but   separated   once   they   settled   in   a   blue-collar neighborhood  of  Bremen,  a  large  city  in  Northern  Germany.  His  American  stepfather  was arrested by German police when Harry was four years old. The biological father rejoined the family but regularly beat the children. Harry’s mom worked late hours. His older stepbrother was shot to death when Harry was a teenager
” (Hellmuth 2016, S. 37).

Abdullah al H. H. kommt aus Syrien und hat sich in Deutschland dem "Islamischen Staat" zugewandt. Nach einem schweren Angriff auf ein schwules Paar (einer der beiden starb) stand er vor Gericht. Seine Kindheit wurde dort nicht ausführlich behandelt (vor allem auch was den elterlichen Erziehungsstil angeht, der in Syrien sehr oft gewaltbelastet ist), zeigt aber in eine deutlich belastete Richtung:
"Mit seinen Eltern und acht Geschwistern lebte er in ärmlichen Verhältnissen in einem Vorort von Aleppo. Die Schule besuchte er bis zur fünften Klasse, früh fiel er durch Schlägereien und Diebstähle auf. 2015 schickte ihn sein Vater fort. Er solle sich ein Leben in Deutschland aufbauen, Geld für die Familie verdienen und die Eltern später nachholen. Abdullah al H. H. war 15 Jahre alt, als er seine Heimat verließ" (Ramm 2021).

Colleen LaRose, "a white woman from suburban Philadelphia who became a Muslim jihadist and has pleaded guilty to conspiracy to murder a Swedish cartoonist under the codename "Jihad Jane" has revealed that she was drawn to Islam because it gave her a sense of belonging after a troubled childhood in which she was raped over many years by her biological father"  (Pilkington 2012).

17-Jähriger aus Österreich: Der Jugendliche war Anhänger vom "Islamischen Staat" und wollte eigenen Angaben zufolge am 11. September 2023 am Wiener Hauptbahnhof einen Terror-Anschlag verüben. Geplant war auch, dass er durch die Aktion ums Leben kommt. Eine Kinder- und Jugendpsychologin wies auf diverse traumatische Belastungen in der Kindheit des Angeklagten hin, darunter der Tod der Mutter als der junge Mann sechs Jahre alt war, Mobbingerfahrungen in der Schule, "ungünstige soziale Umstände" und "weitere Belastungsfaktoren" (Tiroler Tagesanzeiger 2023).

Die Kindheiten der Brüder Merah (islamistische Terroranschläge in Frankreich) habe ich im Blog bereits ausführlich besprochen und verweise an dieser Stelle darauf bzw. spare mir die erneute Ausführung hier. Auch die Kindheit des Top-Terroristen Khalid Scheich Mohammed habe ich hier besprochen. 

Einzelfallanalysen sind Einzefallanalysen (ich habe wirklich lange über diesen Satz nachgedacht…). Aufhorchen sollten wir, wenn sich „Einzelfälle“ häufen, wie hier gezeigt. Noch mehr Gewicht bekommen die Einzelfälle, wenn die Studienlage bzgl. größerer Befragungsrunden oder Auswertungen zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt, auch das konnte hier gezeigt werden. 

Fazit

Es lässt sich also zusammenfassend sagen, dass destruktive Kindheitshintergründe bei islamistischen Extremisten/Terroristen ganz offensichtlich eine ähnliche große Rolle spielen, wie beim Rechtsextremismus  (siehe dazu auch: Kindheitsursprünge von Rechtsextremismus: DIE gesammelten Studien)Die innerpsychischen Dynamiken scheinen „verwandt“ zu sein. Prävention von belastenden Kindheitserfahrungen (oder auch sozialpsychologische Hilfen für Kinder, die bereits solche Erfahrungen gemacht haben) sind demnach zentral, um auch dem islamistischen Extremismus und Terror zu entgegen. 

Anhang: Hatten Terroristen die vergleichsweise friedlichsten Kindheiten? Zwei Studien und meine Kritik dazu

Erwähnt werden muss auch eine Studie von Speckhard & Ellenberg (2020), die aufzeigte, dass IS-Terroristen die weltweit verglichen friedlichsten Kindheiten überhaupt hatten. Vor allem die männlichen Befragten zeigten bei allen möglichen Misshandlungswerten in der Kindheit Werte auf, die zwischen 0 und 1,7% lagen! Selbst in Schweden, das statistisch nachweisbar weltweit führend ist, wenn es um eine gewaltfreie Kindheit geht, findet man in der Allgemeinbevölkerung keine solch niedrigen Misshandlungsraten. Die Studie und ihre Methodik habe ich hier im Blog ausführlich kritisiert und möchte dies nicht wiederholen. Ich halte es für einen Fehler der Autorinnen, dass sie diese Studie nicht selbstkritisch hinterfragt haben. Wer sich mit Daten über und dem Thema Kindesmisshandlung an sich auskennt, kann solche Ergebnisse nur anzweifeln. 

Ähnlich kritisch sehe ich die Studie von Clemmow et al. (2020), die 125 “Lone-Actor“ Terroristen (verschiedene Extremismusrichtungen) und 2.108 Befragte aus der Allgemeinbevölkerung bzgl. verschiedenster Bereiche verglichen haben. Auch belastende Kindheitserfahrungen wurden verglichen. Die Allgemeinbevölkerung war deutlich belasteter in der Kindheit als die Terroristen! 

Schaut man auf die Methodik, wird allerdings schnell klar, wodurch die großen Unterschiede kamen: Die Leute aus der Allgemeinbevölkerung wurden ausführlich und direkt befragt, bzgl. der Terroristen gab es keine Befragungen, man sammelte öffentlich zugängliche Datenquellen wie z.B. Gerichtsberichte oder Medienberichte. Bei einem so sensiblen Bereich wie Kindesmisshandlung ist es nur logisch, dass hier unterschiedliche Ergebnisse zu Tage treten! Auch diese Studie habe ich hier im Blog bereits ausführlich besprochen.

Beide Studien zeigen auf, dass bzgl. des Themas belastende Kindheitserfahrungen ein geschulter Blick wichtig ist, um Ergebnisse auch richtig darstellen und einordnen zu können. (siehe ergänzend und zur Info auch meinen Text: Verklärt, beschönigt, verdrängt: Kindheiten von Gewalttätern und Extremisten. Eine Mahnung an die Forschung)

 


Quellenverzeichnis

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Behr, S. (2019, 04. Jan.). "Wir leben hier ja nicht in einem Kalifat". Frankfurter Rundschauhttps://www.fr.de/rhein-main/wir-leben-hier-nicht-einem-kalifat-10965806.html

Ben Slama, B. (2020). Die psychologische Dimension von Radikalität, Extremismus und Terrorismus. In: Ben Slama, B. & Kemmesies, U. (Hrsg.). Handbuch Extremismusprävention. Gesamtgesellschaftlich - Phänomenübergreifend. Bundeskriminalamt (Polizei+Forschung, Band Nr. 54).

Bundeskriminalamt, Bundesamt für Verfassungsschutz & Hessisches Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus (2016). Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind. Fortschreibung 2016. https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Publikationsreihen/Forschungsergebnisse/2016AnalyseRadikalisierungsgruendeSyrienIrakAusreisende.html?nn=27638

Clemmow, C., Schumann, S., Salman, N. L., & Gill, P. (2020). The Base Rate Study: Developing Base Rates for Risk Factors and Indicators for Engagement in Violent Extremism. Journal of Forensic Sciences. Vol. 65, No. 3, S. 865-881.

Dantschke, C.; Mansour, A., Müller, J. & Serbest, Y. (2011). "Ich lebe nur für Allah". Argumente und Anziehungskraft des Salafismus. Eine Handreichung für Pädagogik, Jugend- und Sozialarbeit, Familien und Politik. ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH, Berlin.

deMause, L. (2002). The childhood origins of terrorism. The Journal of Psychohistory, 29(4), S. 340–348.

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Focus-Online (2015, 20. Jan.). Dschihadisten-Prozess in München - "Dann explodiere ich einfach": Harun P. erklärt den Terror in sich. https://www.focus.de/politik/deutschland/mutmasslicher-terrorhelfer-vor-gericht-hass-auf-alles-das-leben-des-harun-p_id_4418405.html

Fuchs, S. (2019). Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen. Mattes Verlag, Heidelberg.

funk – von ARD und ZDF (2022, 24. März). Deso – Der Rapper, der zum IS ging. #2 Der große Bruder. Produziert von ACB Stories und Qzeng Productions. https://www.ardaudiothek.de/episode/deso-der-rapper-der-zum-is-ging/2-der-grosse-bruder/funk/10386611/

Glaser, M., Herding, M. & Langer, J. (2018). Warum wenden sich junge Menschen dem gewaltorientierten Islamismus zu? Eine Diskussion vorliegender Forschungsbefunde. In: Herding, M. (Hrsg.): Gewaltorientierter Islamismus im Jugendalter. Perspektiven aus der Jugendforschung und Jugendhilfe. Beltz Juventa, Weinheim.

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Freitag, 24. Januar 2020

Islamistische Radikalisierung: Religion, Milieu oder doch viel mehr die Kindheit?


Ich habe eine in doppelter Hinsicht interessante Studie zum Thema islamistischer Radikalisierung durchgearbeitet: Aslan, E.,  Akkılıç, E. E. & Hämmerle, M. (2018): Islamistische Radikalisierung: Biografische Verläufe im Kontext der religiösen Sozialisation und des radikalen Milieu (Wiener Beiträge zur Islamforschung). Springer VS, Wiesbaden. 

Ich betone „in doppelter Hinsicht“! Denn der Umgang mit den Ergebnissen und Interviews durch die Forschenden ist auf eine Art schon ein Thema für sich. Die zentrale Forschungsfrage war, wie die Rolle der Religion im Prozess der Radikalisierung ist. Die Autoren schreiben zusammenfassend:
Die vorliegende Studie hat gezeigt, dass es sich bei dieser Form der Radikalisierung um einen aktiven Prozess der Auseinandersetzung des Individuums mit bestimmten religiösen Lehren, Normen und Wertvorstellungen handelt. Dabei radikalisieren sich Individuen nicht isoliert, sondern in direkter Auseinandersetzung mit einem sozialen Umfeld, das in dieser Studie als radikales Milieu bezeichnet wird. Dieses engere soziale Umfeld stellte sich in der Studie als einer der zentralen Punkte für den Radikalisierungsprozess der interviewten Personen dar“ (S. 265).

Nun ist es so, dass ich den Einfluss des radikalen Milieus gar nicht gering reden möchte. Ebenso wenig wie die Suche dieser Akteure nach einem Sinn oder einfach nur der Ausübung einer Religion. Die Ursachenkette ist komplex.
Was mich beim Umgang der Forschenden mit ihren Ergebnisse allerdings gewundert hat ist, dass sie die Kindheitserfahrungen nicht betont und hervorgehoben haben. In anderen Studien (die BKA-Studie „Die Sicht der Anderen“ z.B. ist den Forschenden bekannt) wurde betont, dass destruktive Kindheitserfahrungen und die Suche nach Familienersatz ganz wesentlich den Weg in das radikale Milieu (der „Ersatzfamilie“) begünstigt haben. Daraus leite ich die These ab, dass als Kind weitgehend unbelastet aufgewachsene und geliebte Menschen ein solches Milieu meiden würden, wenn sie durch Zufälle oder Begegnungen darauf stoßen.

Auch das Autorenteam Aslan et al. (2018) (die o.g. Studie) hat ganz deutlich destruktive Kindheitserfahrungen erfasst. Trotzdem wurden wesentlich (ganz im Sinne der Ausgangsforschungsfrage) nur das soziale Umfeld und die Religion hervorgehoben, was erstaunt. Die Studie von Aslan et al. reiht sich letztlich in etliche Extremismusstudien (eine Übersicht hier) ein, die ich hier im Blog oder in meinem Buch bereits besprochen habe. Der rote Faden, der sich auch hier findet, sind belastende Kindheitserfahrungen.

Kommen wir also zu den Ergebnissen der o.g. Studie: 

2016 wurden von dem Forscherteam 29 Interviews durchgeführt, davon 26 in Gefängnissen in Österreich und drei in Jugendeinrichtungen. Diese Befragten standen im Zusammenhang mit der Verübung von terroristischen Straftaten (islamistischen Charakters). Zusätzlich wurden zwei Gruppeninterviews in Gefängnissen geführt. Aus den Befragungen wurden drei Fallbeispiele (Ismail, Givi und Seyidhan) herausgefiltert, die ausführlich besprochen wurden. Am Ende wurden dem noch 11 Fallbeispiele in stark verkürzter Zusammenfassung besprochen. Insgesamt hat man also biografische Einblicke bezogen auf 14 islamistische, männliche Akteure. Für die große Mehrheit der Befragten zeigten sich Belastungen in der Kindheit. Für eine deutliche Minderheit der Fälle wurden zu wenig Angaben gemacht, Belastungen sind aber auch hier somit nicht ausgeschlossen. Der Erziehungsstil der Eltern wurde i.d.R. nicht besprochen. Auch hier bleiben also Fragezeichen. Allerdings kommen die Befragten bzw. ihre Eltern aus Regionen, in denen nachweisbar die Mehrheit der Kinder Gewalt in ihren Familien erlebt. Dies sollte man im Hinterkopf behalten.
Allerdings wird in der Studie sehr deutlich, dass nicht wenige Befragte als Kind traumatisiert wurden (vor allem durch Kriegs- und Fluchterfahrungen). Ich habe die wesentlichen Infos herausgefiltert und nachfolgend dargestellt. Vielleicht wird nach der Durchsicht deutlich, warum ich mich über die Art und Weise der Verarbeitung und die fehlende Hervorhebung von Kindheitserfahrungen durch das Forscherteam wundere:


Ismail

Ismail wurde 1998 in Tschetschenien geboren. Ca. ein Jahr darauf begann der zweite Tschetschenienkrieg. Seine Erinnerungen an diese Zeit haben weitgehend mit dem Kriegsgeschehen zu tun. „Aus seinen Erzählungen geht hervor, dass er bereits früh mit Gewalt konfrontiert wurde. So habe er die meiste Zeit in einem Keller zugebracht, in dem die Familie Schutz vor den Bombenangriffen und den Übergriffen der Kriegsparteien, wie Säuberungsaktionen und Entführungen, suchte“ (S. 98).
Als er sechs Jahre alt war, floh die Familie aus dem Land und siedelte nach Österreich über. An die Flucht kann er sich kaum mehr erinnern. Am Anfang kam die Familie in einer Flüchtlingsunterkunft unter, an die Ismail wenig positive Erinnerungen hat. Als Kind habe er auch in Österreich häufig Angst vor lauten Geräuschen und vor Flugzeugen gehabt. In seiner Kindheit und frühen Jugend sei es ihm schwer gefallen, soziale Kontakte zu knüpfen. Die meiste Zeit habe er mit Computerspielen verbracht.
Die Familie lebte in prekären Verhältnissen, was sich noch zuspitzte, als der Vater an Krebs erkrankte. Nach der dritten Klasse fing der Junge Schlägereien an und kiffte. Eine delinquente Jugenclique, mit der er oft in Parks herumhängte, bekam für ihn zusehends Bedeutung. Aus einem Konflikt mit einer anderen Gruppe heraus, verübte Ismail eine schwere Körperverletzung und wurde angezeigt. Später folgte seine erste Inhaftierung auf Grund von Raubüberfällen. Nach seiner zweiten Inhaftierung bekam er im Gefängnis durch Mitgefangene Interesse für den Islam nach radikaler Auslegung. Dies wird als Wendepunkt beschrieben. Nach seiner Gefängniszeit füllte die Religion das Vakuum, das der Bruch mit seiner delinquenten Clique hinterlassen hatte. Im Umfeld seiner Mosche traf er dann auf islamistische Anwerber und er driftete zusehends ins radikale Milieu ab. Es folgte eine erneute Inhaftierung auf Grund des Verdachts der Straftat der terroristischen Vereinigung.

Givi

Givi wurde Mitte der 1990er Jahre in einem Nachbarland Tschetscheniens geboren. Die Familie war dorthin auf Grund des ersten Tschetschenienkrieges geflohen.  Nach Kriegsende kehrte die Familie wieder in ihre Heimat zurück. Givi war zu der Zeit noch ein Säugling. Als Givi 5 Jahre alt war, verließ der Vater (der vermutlich Alkoholprobleme hatte) die Familie. Givi hat ihn nie wiedergesehen und weiß auch nicht, ob sein Vater noch lebt.
Die Familie kam bei den Großeltern unter. Über seine Großeltern sagt er viel Gutes, sie hätten ihn auch immer vor seiner Mutter „beschützt“, wenn diese „geschimpft hat oder so, ein bisschen Stress gemacht hat“ (S. 139). Was genau seine Mutter tat und was sich hinter dem „Stress“ verbirgt, den er mit ihr hatte, wird nicht klar. Vom fünften bis zum sechsten Lebensjahr erlebte er dann den zweiten Tschetschenienkrieg mit: „Als Kind erlebte er die Gewalt, das Kriegsgeschehen und die Übergriffe gegen Zivilisten waren Teil seines Alltags, und er versuchte sie zu normalisieren, obwohl der Krieg in der Familie der Mutter Opfer forderte“ (S. 140).
2011 floh er mit seiner Mutter nach Österreich. In Österreich intensivierte er dann seine Beschäftigung mit dem Islam vor allem im Rahmen der tschetschenischen Gemeinde. Später bekam er dann Kontakt zur salafistischen Szene Österreichs und radikalisierte sich. Er wurde dann inhaftiert, weil man davon ausging, dass er nach Syrien ausreisen wollte, um sich dort den Terroristen. anzuschließen.

Seyidhan

Seyidhan lebte den Großteil seiner Kindheit in einer Großstadt in der Türkei. Er hatte vier Brüder und drei Schwestern. Der Vater war LKW-Fahrer und oft abwesend. Die Mutter musste sich weitgehend alleine um die 8 Kinder kümmern. An seine frühe Kindheit hat er kaum Erinnerungen. Als Seyidhan 12 Jahre alt war, schickte ihn sein Vater in eine andere Stadt in eine von der Außenwelt weitgehend abgeschottete religiöse Einrichtung (eine Art Internat), da die Kriminalität in seinem Heimat-Viertel sehr hoch war und der Vater auch eine religiöse Ausbildung für seinen Sohn wünschte. Seyidhan konnte von da an seine Familie lange Zeit nicht mehr sehen, nur im Sommer besuchte er seine Familie Zuhause. Wie der Alltag in der religiösen Einrichtung aussah, erschließt sich nicht. Erst im Alter von ca. 19 Jahren kam er zurück in die Stadt, in der seine Familie lebte. Nach seiner Heirat zog er nach Österreich, wo die Eltern seiner Frau lebten. Seyidhan hat ein sehr fundamentalistisches Religionsverständnis, das er in dem Internat vermittelt bekommen hatte und pflegte dies auch in Österreich. Die Bildung eines „Islamischen Staates“ betrachtet er als Ideal.

Amir

Fast keine Angaben über seine Kindheit, der er schlicht als "harmonisch" bezeichnet.

Imran

Fast keine Angaben über seine Kindheit, die er als normal und vom sowjetischen System geprägt beschreibt.

Islam

Erlebte beide Tschetschenienkriege mit. Als der erste Krieg begann, war er sechs Jahre alt. Mehrere Familienmitglieder wurden getötet. Sein Vater - zu dem er ein distanziertes Verhältnis hat und der weitgehend abwesend war - und auch seine Mutter seien streng und sehr traditionell gewesen. Mit 17 Jahren flüchtet er mit Verwandten nach Österreich. Im Rahmen einer Jugendclique wurde er kriminell. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet er sich in Haft, weil im vorgeworfen wurde, dass er nach Syrien zum IS ausreisen wollte.

Jamal

Er flüchtete im Alter von 3 Jahren mit seiner Familie aus Afghanistan nach Österreich. Ansonsten keine vertiefenden Infos über seine Kindheit.

Karim

Stammt aus Ägypten. Keine Infos über seine Kindheit.

Khalid

Floh im Alter von 12 Jahren mit seiner Familie nach Österreich. Sein Vater wurde im Tschetschenienkrieg getötet. Später stieß Khalid im Internet auf ein Video, in dem zu sehen ist, wie sein Vater umgebracht wird. Ab dem Zeitpunkt habe er sich verstärkt mit dem Islam befasst.

Magomed

Im Alter von 4 Jahren flüchtete er mit seiner Familie aus Tschetschenien nach Österreich. Er erinnert sich an den Krieg, u.a. daran, wie das Haus der Familie zerstört wurde. Seine Erziehung zu Hause sei „normal“ verlauf, was auch immer dies bedeuten mag. Als Kind besuchte er den islamischen Religionsunterricht. Seine Lehrer dort seien sehr streng gewesen und hätten die Kinder geschlagen, wenn diese Fehler machten. Ab der 8. Klasse wurde er kriminell. Später im Gefängnis bekam er Kontakt zu Islamisten.

Selim

Im Alter von 3 Jahren zog er mit seiner Familie aus einer armen Region in der Türkei nach Österreich. Den konservativen Eltern war eine religiöse Ausbildung wichtig. Er wurde sowohl in den islamischen Religionsunterricht als auch in Kurse der Moschee geschickt. In diesen Institutionen wurde Gewalt als Erziehungsmethode ausgeübt und Selim machte auch Gewalterfahrungen. Später bekam er Kontakt zu Salafisten. Er wurde auch inhaftiert.

Serkan

Fast keine Infos über seine Kindheit. Im Alter von 6 Jahren zog die Familie von Istanbul nach Österreich. Sein Vater bekam Probleme mit der Polizei und wurde abgeschoben. Seine Mutter blieb mit den Kindern. Von Lehrern sei Serkan diskriminiert worden und kam auf eine Sonderschule.

Rustam

Wuchs in Tschetschenien auf. Seine Erinnerungen an diese Zeit sind von den damaligen Konflikten, die sich in dem Land abspielten, geprägt. Der Vater verließ die Familie (Zeitpunkt unklar).

Yusuf

Wurde in Tschetschenien geboren. Im Krieg verlor er mehrere Verwandte, darunter zwei Brüder. Er selbst erlitt schwere Verletzungen und war fortan invalide. 2004 flüchtete die Familie nach Österreich.

                             

Sonntag, 8. Februar 2009

Knessetwahl in Israel als Kriegsgrund? Wohl kaum

Als „rationaler“ Grund für den israelischen Angriff auf Gaza wird u.a. die am 10. Februar 2009 anstehende Knessetwahl in Israel genannt. Mein erster Gedanke dazu ist: Selbst wenn dies ein wichtiger Hintergrund des Angriffes wäre und sich die Regierungsparteien dadurch einen höhern Wahlerfolg ausgerechnet hätte, wäre dieser Entscheidungsprozess ein kranker und nicht einer von psychisch gesunden Menschen. Denn dies würde bedeuten, dass das israelische Volk das Töten von ca. 1.400 Palästinensern mit ihrem Urnengang belohnen würde. Wenn dem dann am 10.02. so sein sollte, würden hier im israelischen Volk starke Bedürfnisse nach einer kollektiven Bestrafung ihres Nachbarn zu Tage treten (ein Zeichen für tiefere emotionale Gründe). Die Regierung wäre dann nur der ausführende Part dieser Bedürfnisse und würde dem Willen des Volkes entsprechen.

Dazu kommt: Unter dem Eindruck eines Krieges wählen die Menschen erfahrungsgemäß meist rechts (was sicherlich auch den PolitikerInnen bekannt sein dürfte). So wird derzeit auch in Israel ein Rechtsruck erwartet. Verlierer könnten hier entsprechend die Regierungsparteien sein. Insbesondere die Hardliner Benjamin Netanjahu (Likud Partei) und vielmehr noch Avigdor Lieberman (Partei Yisrael Beiteinu) könnten Stimmen dazu gewinnen. Wo ist hier also der rationale Grund für den Gaza-Krieg, wenn doch sogar ein Regierungsverlust zu erwarten war und ist?

Interessant finde ich an dieser Stelle eine gemeinsame israelisch-palästinensische Umfrage (durchgeführt vom 27. Mai bis zum 7. Juni 2008), veröffentlich von der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. am 12. Juni 2008.

U.a. wird als Ergebnis genannt:
50 % der Israelis lehnen einen Waffenstillstand mit der Hamas ab, welcher die Einstellung von gewalttätigen Aktivitäten und Kassam-Angriffen auf Israel durch die Hamas sowie militärische Operationen der Israelis im Gazastreifen und die Aufhebung. der Blockademaßnahmen beinhalten würde. 47 % befürworten solch eine Vereinbarung. Die Ablehnung steigt auf 68 %, sollte eine Vereinbarung mit der Hamas nicht die Freilassung von Gilad Svhalit (Anmerkung: vor zweieinhalb Jahren entführten israelischer Soldat) beinhalten.

Auf palästinensischer Seite sprechen sich 78 % für einen Waffenstillstand mit Israel aus. Diese Unterstützung fällt jedoch rapide ab auf 23 %, sollte ein Waffenstillstandsabkommen lediglich auf den Gazastreifen begrenzt bleiben und nicht die Westbank mit einbeziehen. Darüber hinaus fällt die Unterstützung weiter auf 20 % für den Fall, dass eine Vereinbarung nicht die unmittelbare Öffnung der Grenzen, insbesondere des Ra-fah-Grenzüberganges zwischen Gazastreifen und Ägypten, zur Folge haben sollte.

Wenn man es mal von der positiven Seite betrachtet, waren also grundsätzlich fast die Hälfte der Israelis bereit, einen Waffenstillstand mit der Hamas zu vereinbaren. Rein rational betrachtet ist dies ein ganz erheblicher Teil der Wählerschaft. Israel hätte also auch aus einem inneren Interesse heraus den ab dem 19.Juni verhandelten Stopp des Raketenbeschusses weiter ausdehnen und festigen können. Gleichzeitig zeigt sich an Hand der Umfrage, dass 78 % der Palästinenser unter o.g. Bedingungen für einen Waffenstillstand waren. Diese Mehrheit hätte man entsprechend ansprechen können, durch politische Entscheidungen, nicht durch militärische.

Ein politischer Weg, der Frieden schafft, ist nicht nur ein menschlicher, sondern immer auch ein rationaler Weg. Also Leute: Kommt mit nicht mit rationalen Gründen für einen Krieg!

Dieser Beitrag ergänzt folgende Beiträge zum Thema:

- Ergänzung des Beitrags "Nahostkonflik"
- Nahostkonflikt: Krieg in Gaza - eine Ursachensuche