Insgesamt 26 Schweizer Jugendliche (6 junge Frauen, 20 junge Männer, Altersdurchschnitt = 19 Jahre), die eine politisch rechtsextreme Einstellung haben und zu gewalttätigen Handlungen neigen, wurden zum Klima innerhalb der Familie, zum Umgang mit Konflikten, Erziehungsstil und der Qualität der innerfamiliären Beziehungen befragt. Die Studie wurde im Jahr 2007 abgeschlossen: Fachstelle für Rassismusbekämpfung (Hrsg.) (2007): Jugendliche und Rechtsextremismus: Opfer, Täter, Aussteiger. Wie erfahren Jugendliche rechtsextreme Gewalt, welche biografischen Faktoren beeinflussen den Einstieg, was motiviert zum Ausstieg? Bern.
Zusammenfassend schreiben die Autoren:
„Die Jugendlichen und ihre Familien sind keine «Modernisierungsverlierer». Sie sind weder Opfer von ökonomischem noch von gesellschaftlichem Wandel. In den 26 untersuchten Beispielen lässt sich ein grosses Mass an «Normalität» der Lebensentwürfe und -welten nachweisen. Die Jugendlichen und ihre Familien gelten als gut integriert. Hingegen spielten häusliche Gewalt und die Folgen von Elternkonflikten eine wichtige Rolle. Überrascht hat die Forschenden die hohe Anzahl Jugendlicher, die in Jugendhilfemassnahmen leben.
Für die Entwicklung von rassistischen Einstellungen und Handlungsanlagen bei Jugendlichen spielen die Familien, das soziale Umfeld sowie ihre Kultur und Geschichte eine entscheidende Rolle. Auch wenn der Kontakt zu rechten Szenen auf Zufälligkeiten und Gelegenheitsstrukturen beruht, ist die für die Jugendlichen damit verbundene Bedeutung keinesfalls zufällig, sondern biografisch bedingt.“ (S. 6)
Leider wurden in der Studie keine Zahlen vorgestellt (Anteil von Jugendlichen, die Gewalt erlebt haben, Anteil von Jugendlichen, die Jugendhilfemaßnahmen erlebt haben usw.) Trotzdem sind die Auswertungen ziemlich deutlich. Verschiedene Belastungen während der Kindheit und Jugend bestimmen durchgehend das Bild.
Drei unterschiedliche familiäre Muster und biografische Verlaufsformen wurden ausgemacht, die rechtsextreme Einstellungen und Gewalttaten begünstigen, die ich nachfolgend vorstelle.
– Abgrenzung durch Überanpassung – Radikalisierung der Werte und Normen des Herkunftsmilieus
„Diese biografische Verlaufsform zeichnet sich dadurch aus, dass politisch rechte Einstellungen und Handlungsfelder bereits bei den Eltern beziehungsweise bei nahen Bezugspersonen (Grosseltern, vor allem Grossväter) des Jugendlichen/ jungen Erwachsenen vorhanden sind. Angst vor Überfremdung, nationale Grenzziehung, Zuschreibungen kultureller Eigenheiten und Abwertungen sind politisch diskutierte Themen innerhalb der Familie. Die junge Generation nimmt diese Argumentation auf und geht einen Schritt weiter.“ (S. 8+9)
Gewalterfahrungen und/oder autoritäre Erziehung wird bei dieser Verlaufsform nur angedeutet bzw. nicht durchgängig nachgewiesen: „Kritik an den Eltern, den Erziehungsformen und der familiären Lebensweise wird in den Interviews nicht oder kaum thematisiert. Vielmehr werden strenge und autoritäre Erziehungsstile positiv bewertet, zum Teil wird eine zu liberale Erziehung der Eltern kritisiert.“ (S. 11) Allerdings wird die Familie in den Erzählungen der Jugendlichen in vielen Fällen ausgeschlossen oder kurz idealisiert. Auffällig war den Autoren zu Folge auch, dass diese Jugendlichen Kontakt der Forschenden zu den Eltern lediglich in einem Fall gewährten. "Die Perspektive der Eltern hätte möglicherweise ihr idealisiertes Bild an einzelnen Stellen brüchiger
gemacht." (S. 11)
– Gewalt, Missachtung und Suche nach Anerkennung
„Den Jugendlichen dieser zweiten Verlaufsform gemeinsam ist die Erfahrung von unkontrollierter Gewalt innerhalb der Familie. Die gewalttätigen und für die Jugendlichen oft nicht voraussehbaren Reaktionen auf ihre Person, vor allem durch den Vater, kennzeichnen die gegenseitigen Beziehungen dieses familiären Musters. Die Erfahrung des «Nicht-Eingreifens» der Mutter und des sozialen Umfeldes verstärken die Ohnmachtserfahrungen des betroffenen Jugendlichen. (…) Macht, Selbstbemächtigung und die Suche nach Anerkennung bilden in dieser Verlaufsform zentrale Momente der Zugehörigkeit zur rechten Gruppe. (…) In den gewalttätigen Auseinandersetzungen wird die am eigenen Leib erfahrene unkontrollierte Gewalt umgedreht: nun schlägt der Jugendliche unkontrolliert zu, obwohl der Ablauf im Gruppenkontext standardisiert und damit für die Gewalttäter nach vorhersehbaren Mustern erfolgt. Die eigene Gewaltausübung wird von den Jugendlichen selbst als unkontrollierbar beschrieben, zum Teil in Analogie zur eigenen Opfererfahrung. (…) Weil die Jugendlichen während ihres Aufwachsens nie gelernt haben, sich in die Situation von anderen Personen zu versetzen, fehlt ihnen das Mitgefühl für die Opfer.“ (S. 17-19)
– Nicht-Wahrnehmung und Suche nach Erfahrung, Sicherheit und Differenz.
Die familiäre Situation dieser Jugendlichen ist gekennzeichnet durch mangelnde emotionale Wärme und Anerkennung. Kennzeichnend ist entweder ein hohes Maß an Gefühlskontrolle oder die völlige Abwesenheit von Gefühlen. Diese Jugendlichen erlebten keine körperliche Gewalt oder aggressive Missachtung, schreiben die Autoren. Trotzdem hängen sie an, dass die familiären Muster von autoritär bis wechselseitiger Nicht-Wahrnehmung, über räumliche und zeitliche Trennungen bis hin zu Idealisierungen des Heranwachsenden reichen.
Diese Verlaufsform wird einleitend mit einem Fallbeispiel begonnen. Der entsprechende Jugendliche wurde ab dem 5. Lebensmonat von seiner Mutter zur Adoption freigegeben. Zu seinen leiblichen Eltern hat er keinen Kontakt. Was in diesen ersten fünf Monaten passierte, wird nicht geschildert oder ist nicht überliefert. Es wird angedeutet, dass es von außen (Behörden, Pädagogen) Kritik an der Erziehung der Pflegeeltern gab. Der Jugendliche idealisierte dagegen seine Pflegeeltern. Mit 15 Jahren fing er an, harte Drogen zu konsumieren. Mit 19 schloss er sich einer Skingruppe an. Besonders brisant: Die erste Frau des Pflegevaters (es scheint also später eine Trennung gegeben zu haben) war Jüdin, alle ihre Familienmitglieder, außer ihr Bruder, waren in Konzentrationslagern umgekommen. Ausgerechnet dieses Pflegekind wurde zum Rechtsextremisten.
An diesem Fallbeispiel sieht man sehr deutlich, welch enorme Belastungen auch hinter den Biografien stecken, wo z.B. keine körperliche Kindesmisshandlung stattfand (oder nachgewiesen wurde).
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Diese Studie reiht sich bzgl. der Ergebnisse ein in eine ganze Reihe von Studien über Extremisten, die ganz ähnliche Ergebnisse erbracht haben. Einige dieser Studien habe ich hier im Blog bereits besprochen, andere bisher nur in meinem Buch erwähnt. Ich hänge diesem Beitrag noch mal die wesentlichen Quellen an. Extremismus fällt nicht vom Himmel. Es gibt immer biografische Muster, die stets in die gleiche Richtung zeigen: Destruktive Kindheitserfahrungen.
Frindte, W. & Neumann, J. (2002): Der biografische Verlauf als Wechselspiel von Ressourcenerweiterung und – einengung. In: Frindte, W. & Neumann J. (Hrsg.): Fremdenfeindliche Gewalttäter. Biografien und Tatverläufe. Westdeutscher Verlag. Wiesbaden. S. 115-153.
Funke, H. (2001): Rechtsextremismus 2001. Eine Zwischenbilanz. Verwahrlosung und rassistisch aufgeladene Gewalt – Zur Bedeutung von Familie, Schule und sozialer Integration. In: Eckert, R. et al. (Hrsg.): Demokratie lernen und leben – Eine Initiative gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt. Band 1. Weinheim, Freudenberg Stiftung. S. 59-108.
Jäger, H. & Böllinger, L. (1981): Studien zur Sozialisation von Terroristen. In: Jäger, H., Schmidtchen, G. & Süllwold, L. (Hrsg.): Lebenslaufanalysen (Analysen zum Terrorismus 2). Westdeutscher Verlag, Opladen. S. 117-231.
Köttig, M. (2004): Lebensgeschichten rechtsextrem orientierter Mädchen und junger Frauen: Biografische Verläufe im Kontext der Familien- und Gruppendynamik. Psychosozial-Verlag, Gießen.
Lützinger, S. (2010): Die Sicht der Anderen. Eine qualitative Studie zu Biographien von Extremisten und Terroristen (Polizei + Forschung Bd. 40). BKA – Bundeskriminalamt, Kriminalistisches Institut (Hrsg.). Luchterhand Fachverlag, Köln.
Salloum, R. (2014, 01. Dez.): Interviewreihe mit Dschihadisten. Besuch im Terroristenknast. SPIEGEL-Online.
Schmidtchen, G. (1981): Terroristische Karrieren. Soziologische Analyse anhand von Fahndungsunterlagen und Prozessakten. In: Jäger, H., Schmidtchen, G. & Süllwold, L. (Hrsg.): Lebenslaufanalysen (Analysen zum Terrorismus 2). Westdeutscher Verlag, Opladen. S. 13-78.
Simi, P., Sporer, K. & Bubolz, B. F. (2016): Narratives of Childhood Adversity and Adolescent Misconduct as Precursors to Violent Extremism: A Life-Course Criminological Approach. In: Journal of Research in Crime and Delinquency. Vol 53, Issue 4. S. 536-563.
Wahl, K., Tramitz, C. & Gaßebner, M. (2003): Fremdenfeindliche Gewalttäter berichten: Interviews und Tests. In: Wahl, K. (Hrsg.): Skinheads, Neonazis, Mitläufer. Täterstudien und Prävention. Leske & Budrich, Opladen.
Wiezorek, C. (2002): Fallbeispiele zur biografischen Genese von Gewalt und Fremdenfeindlichkeit. In: Frindte, W. & Neumann J. (Hrsg.): Fremdenfeindliche Gewalttäter. Biografien und Tatverläufe. Westdeutscher Verlag. Wiesbaden.