Dienstag, 30. Juli 2019

Die Kindheit von Donald Trump


Auch bei Donald Trump finden sich deutliche destruktive Kindheitshintergründe. Das dürfte viele Leser und Leserinnen hier kaum überraschen. Vielleicht hat sich manch einer eher gewundert, warum ich bisher weder im Blog, noch in meinem Buch die Kindheit von Donald Trump besprochen habe.
Erstens: Ich dachte mir, dass jemand wie Trump sich und sein Verhalten letztlich von selbst erklärt. Warum sollte ich mir also die Mühe machen?
Zweitens: Ich war es so was von leid (was wahrscheinlich sein politischer Vorteil ist, weil viele Leute einfach nicht mehr aushalten, was er so macht und sagt…), mich mit Trump zu befassen! Da aber bald der nächste Präsidentschaftswahlkampf ansteht, komme ich an ihm jetzt wohl kaum vorbei.
Drittens: In meinem Hinterkopf hatte ich irgendwie fantasiert, dass es jemand wie Trump doch narzisstisch sehr kränken müsste, wenn ich alle möglichen politischen Führer (und speziell auch in meinem Buch amerikanische Präsidenten) bespreche und nun gerade IHN auslasse. Nun, dies war meine gehässige Fantasie ;-), real wird er sich natürlich eh nicht mit dem befassen, was ich hier schreibe.

Wer sich mit dem Werden von Donald Trump befasst, der kommt nicht an seinen Vater, Fred Trump, vorbei. Fred Trump war „ein pingeliger, förmlicher Mann, der auch zu Hause ein Jackett und eine Krawatte trug. Er war oft mürrisch und fühlte sich in Gesellschaft unwohl“ (Kranish & Fisher 2016, S. 60). Kranish & Fisher berichten zudem von pedantischem Verhalten des Multimillionärs. Fred Trump habe z.B. bei seinen Bauprojekten unbenutzte Nägel eingesammelt und sie den Zimmerleuten gebracht. D`Antonio schreibt, dass Fred Trump es nicht ertragen konnte, wenn auch nur ein einziger Cent verschwendet wurde (D`Antonio 2016, S. 108).
 „Fred Trump kompensierte seine Mängel im zwischenmenschlichen Kontakt durch extrem harte Arbeit. Er verbrachte selten einen Tag, ohne in irgendeiner Form geschäftlich tätig zu sein, und er arbeitete auch zu Hause, am Telefon, so gut wie jeden Abend. Ein Sohn oder eine Tochter, der oder die sich ein wenig Zeit mit ihm wünschte, begleitete ihn bei einem Wochenendausflug ins Büro oder bei einem Besuch von Baustellen. (…) Unterwegs bekamen sie dann Vorträge über die Bedeutung von Ehrgeiz, Disziplin und harter Arbeit zu hören. (…) Nach dem Familienkodex waren unflätige Wörter und kleine Snacks zwischendurch tabu, darüber hinaus verlangte er Gehorsam und Loyalität. Verstöße jeglicher Art wurden jeden Abend bei Freds Heimkehr gemeldet, und er verhängte dann die entsprechende Strafe“ (D`Antonio 2016, S. 79f). Der Biograf Michael D`Antonio beschreibt das Aufwachsen der Trump-Kinder als ungewöhnliche Kombination aus strenger Disziplin, Luxus und Überlegenheitsgefühl, auf das alle Kinder unterschiedlich reagierten.
Fred war, ebenso wie seine Frau, ein strenger Erzieher: „Fred und Mary führten ein strenges Regiment, sie verbaten ihren Kindern, sich gegenseitig mit Spitznamen anzureden, Lippenstift zu tragen oder länger als ausgemacht aufzubleiben. Jeden Abend erkundigten die Trumps sich bei ihren Kindern nach ihren Hausaufgaben und verlangten, dass sie ihren Haushaltspflichten nachkamen. Genau wie in der Schule rebellierte Donald gegen die Regeln und stritt sich deswegen mit seinem Vater. Trotzdem sagte Fred seinem Sohn stets, er sei ein `König` und müsse ein `Killer` werden in allem, was er tue“ (Kranish & Fisher 2016, S. 60).

An anderer Stelle gibt D`Antonio einen Einblick in das, was man wohl unter Strafen im Hause Trump u.a. verstand: nämlich auch körperliche Gewalt. Der ältere Bruder von Donald, Freddy, hatte Schwierigkeiten, die Ansprüche seines Vaters zu erfüllen. „Donald wünschte sich, dass Freddy sich etwas mehr Mühe gegeben hätte (…). Außerdem wurde von einem männlichen Trump erwartet, hart zu sein, selbst im Umgang untereinander; aber als der Vater Freddy eine Ohrfeige verpasste, war der so verletzt, dass er körperlich zu schrumpfen schien. Es war schwer zu ertragen, das mit anzusehen. Donald zog seine Lehren aus dem, was er beobachtete, und beschloss, sich gegen jeden zu wehren, der ihn herausforderte – auch gegen seinen Vater. Viele Jahre später sagte er einmal: `Ich habe mich immer gewehrt. Mein Vater war ein richtig harter Knochen.`“ (D`Antonio 2016, S. 108f). Freddy Trump wurde übrigens zum Alkoholiker und starb 1981 im Alter von 41 Jahren an den Folgen seiner Alkoholsucht (Welt – Online 2017).
Auch in einer anderen Quelle wird belegt, dass Fred Trump seine Kinder schlug: "When Fred came home at night, Mary gave him a report on who had done what to whom during the day, and he would mete out the consequences. Depending on the seriousness of what had occured, malefactors might be grounded for a few days; according to the children`s friends, occasionally wrongdoers were also paddled with a wooden spoon" (Blair 2000, S. 228). Hier wird auch deutlich, dass die Mutter Strafen an den Vater delegierte!

Über die Mutter, Mary Anne MacLeod, von Donald Trump wird öffentlich meist weniger berichtet, als über den Vater. Sie wurde 1912 in Schottland als letztes von 10 Kindern geboren. Ihr Vater war Fischer. „Ihre Kindheit und Jugend waren von Isolation, Entbehrungen und Düsterkeit geprägt“ (Kruse 2017). Außerdem sei sie in krasser Armut aufgewachsen. 1930 wanderte sie in die USA aus und lernte dort Fred Trump kennen.
1948 bekam sie ihr fünftes und letztes Kind. Die Geburt war schwierig. Schwerwiegende Blutungen und Infektionen machten eine Reihe von Operationen nötig. „Es war nicht sicher, ob Mary Trump überleben würde. An diesem Wendepunkt war Donald Trump zwei Jahre alt und musste den Beinahetod seiner Mutter miterleben. Wie mag ihn das geprägt haben?“ (Kruse 2017).
D`Antonio beschreibt Mary Trump wie folgt: „Sie war auf ihre stillere Art ebenso hart, stur und ehrgeizig wie ihr Mann. (…) Sie liebte außerdem jene Art von Überfluss, wie er von der britischen Monarchie repräsentiert wurde“ (D`Antonio 2016, S. 75).
In dem Artikel „Was für einen Sohn habe ich erschaffen?“ wurde zentral dem Einfluss von Mary Trump auf das Werden von Donald Trump nachgegangen. Der Autor schreibt zusammenfassend, dass die Mutter von Donald „geisterhaft abwesend“ erscheint und die Beziehung zwischen Mutter und Sohn offensichtlich von Distanz geprägt war (Kruse 2017).

Ein weiteres Ereignis in der Kindheit von Donald Trump ist von zentraler Bedeutung! Gegen Ende der siebten Klasse, Donald war damals 13 Jahre alt, entdeckte Fred Trump, dass sein Sohn mit seinem besten Freund heimlich Ausflüge nach New York gemacht hatte. Fred war sehr wütend (ergänzend kamen wohl auch vorherige Probleme mit Disziplin in der Schule dazu) und beschloss, seinen Sohn auf ein Militärinternat zu schicken. Donald konnte sich nur am Telefon von seinem besten Freund, der ziemlich vor den Kopf gestoßen war, verabschieden (Kranish & Fisher 2016, S. 61f).
Die Devise im Internat war, die Zöglinge erst zu brechen und hinterher wiederaufzubauen. Körperliche Brutalität und verbaler Missbrauch wurden toleriert und gefördert. Neulinge mussten Aufnahmerituale über sich ergehen lassen, wozu z.B. Prügel mit Besenstielen durch ältere Schüler und der Zwang, in dampfgefüllten Duschen bis zur Ohnmacht zu stehen, gehörten. Geschlafen wurde in Baracken, jeden Morgen wurden die Schüler mit Trompetenlauten geweckt (Kranish & Fisher 2016, S. 62-65). D`Antonio schreibt, dass die Schüler dort einer „Kultur“, der „Herrschaft, Gewalt und Subversionen von Autoritäten“ ausgesetzt wurden (D`Antonio 2016, S. 83).

Donalds Erzieher in diesem Militärinternat war Theodore Dobias (genannt auch Doby), ein Kriegsveteran der US Army. Dobias war ein ruppiger Mann und er schlug die Schüler mit der offenen Hand, wenn sie nicht gehorchten. „Zwei Nachmittage pro Woche stellte er einen Boxring auf und befahl Kadetten mit schlechten Noten und denen, die Probleme mit der Disziplin hatten, gegeneinander zu kämpfen, ob sie wollten oder nicht. `Er konnte ein verdammtes Arschloch sein`, erinnerte sich Trump einmal. `Richtig fertigmachen konnte der einen. Man musste lernen zu überleben.` Doby anzustarren oder nur den leichtesten Sarkasmus anzudeuten, so Trump, veranlasste den Drill Sergeant, `auf mich loszugehen, dass man gar nicht wusste, wie einem geschieht`. Ob seine Schüler nun die Söhne von Klempnern oder von Millionären waren, das war Dobias egal.“ (Kranish & Fisher 2016, S. 63). „Damals prügelte man einen noch grün und blau. (…) Er vermöbelte uns gnadenlos.“, sagte Donald Trump später mit Blick auf diese Zeit im Internat (D`Antonio 2016, S. 84). Es macht sehr hellhörig, dass gerade dieser brutale Ausbilder und Erzieher später über das Vater-Sohn-Verhältnis zwischen Donald und Fred sagte: „Der Vater behandelte den Jungen wirklich streng. (…) Er war sehr deutsch. (…) er war sehr hart“ (D`Antonio 2016, S. 85).
Donald passte sich allerdings schnell an und entwickelte den Ehrgeiz, der Beste im Internat zu sein. Er fing an, Wettbewerbe und Auszeichnungen zu lieben. Als Oberstufenschüler befahl Donald seinerseits Gewalt gegen einen Kadetten oder ging auch selbst auf einen Schüler los, nachdem dieser ihn provoziert und geschlagen hatte. Er versuchte damals, den entsprechenden Schüler aus dem ersten Stock zu schmeißen, was nur durch die Intervention zweier Kadetten verhindert werden konnte (Kranish & Fisher 2016, S. 66f).

Nicht jeder, der eine solche Kindheit und Jugend erlitten hat, wird zu einer Persönlichkeit wie Donald Trump (aber manche werden in anderen Bereich auffällig, siehe z.B. das Leben seines älteren Bruders Freddy). Aber: Persönlichkeiten wie Donald Trump haben auffällig häufig eine solche oder ähnliche destruktive Kindheit und Jugend erlitten. Und: Hätte Donald Trump eine fürsorgliche, liebevolle und gewaltfreie Kindheit und Jugend erlebt, dann wäre aus ihm niemals ein rechtspopulistischer Hassredner und Menschenfeind geworden, davon bin ich überzeugt. Entschuldigen tut dies alles nichts! Aber es erklärt einiges und zeigt auf, wie sich menschliche Destruktivität von Grund auf verhindern lässt.

Siehe ergänzend unbedingt: "Too Much and Never Enough": Die Kindheit von Donald Trump!!


Siehe bei Interesse ergänzend auch das psychologische Profil von Donald Trump: The Mind of Donald Trump (extern)



Verwendete Quellen:

Blair, Gwenda (2000): The Trumps: Three Generations of Builders and a President. Simon & Schuster, New York. Kindle E-Book Edition.

D'Antonio, M. (2016): Die Wahrheit über Donald Trump. Econ Verlag, Berlin.

Kranish, M. & Fisher, M. (2016): Die Wahrheit über Trump: Die Biografie des 45. Präsidenten. Plassen Verlag, Kulmbach.

Kruse, M. (2017, 21. Nov.): „Was für einen Sohn habe ich erschaffen?“ Welt-Online.

Dienstag, 23. Juli 2019

ACE-Studien in den USA / DIE Grafik

Aktualisiert am 13.09.2019


In meinem Buch habe ich auf Seite 25 ein Diagramm von dem Onlineauftritt der Centers for Disease and Prevention (CDC) eingefügt. Leider ist dieses Diagramm nach der Neugestaltung der entsprechenden Homepage seit ca. März 2019 nicht mehr online. Ich habe das CDC kürzlich angeschrieben und darum gebeten, dieses wichtige Diagramm an anderer Stelle erneut zu veröffentlichen. Leider bekam ich keine positive Antwort. Allerdings wurde sehr deutlich darauf hingewiesen, dass die Veröffentlichungen und Grafiken des CDC Arbeiten des U.S. Governments und für die Öffentlichkeit gedacht sind und somit keinem Copyright unterliegen (allerdings auf die Quelle hingewiesen werden muss).
Ich werde also hiermit diese bedeutende Grafik hier in meinem Blog veröffentlichen. (Außerdem habe ich noch einen Screenshot von der damaligen Homepage (inkl. der Grafik), den ich bei Bedarf gerne rausgebe.)
Der Grafik liegen Daten von groß angelegten Befragungen in den USA zu Grunde. Acht unterschiedliche Belastungsfaktoren in der Kindheit (ACE-Werte) wurden abgefragt: Körperliche, emotionale und sexuelle Misshandlung, Miterleben von häuslicher Gewalt, Verlust mindestens eines Elternteils, Gefängnisaufenthalt eines Familienmitgliedes, Alkohol- oder Drogensucht eines Familienmitgliedes und psychische Erkrankung eines Familienmitgliedes. Man fand mehr als 40 verschiedene negative Effekte von belastenden Kindheitserfahrungen. Für diese 40 negativen Effekte wurde das unten zu sehende Diagramm mit der durchschnittlichen Effektstärke erstellt, das für sich spricht. Erfasste negative Gesundheitsprobleme waren u.a. Rauchen, chronisch obstruktive Lungenerkrankung, Hepatitis, sexuell übertragbare Krankheiten, Herzerkrankungen, Diabetes, Alkoholsucht, Drogenkonsum, psychische Erkrankungen wie z.B. Depressionen und Suizidversuche. Außerdem zeigten sich negative Effekte bzgl. des beruflichen Werdegangs und Bildungswegs.


Hinweis: Die Grafik ist hier im Beitrag etwas undeutlich. Wenn man draufklickt, erhält man ein besseres Bild!


Ergänzend möchte ich auf folgende Datenauswertung hinweisen:
Merrick, M.T., Ford, D.C., Ports, K. A., Guinn, A. S. (2018): Prevalence of Adverse Childhood Experiences From the 2011-2014 Behavioral Risk Factor Surveillance System in 23 States. JAMA Pediatrics, 172(11), S. 1038-1044.
ACE-Daten von insgesamt 214.157 befragten Frauen und Männern in den USA konnten ausgewertet werden. Dies ist somit die bisher größte Datensammlung von belastenden Kindheitserfahrungen in den USA überhaupt!!

Siehe ergänzend auch: Diagramme der menschlichen Destruktivität (hier im Blog)

Online gibt es noch eine Quelle, die die o.g. Grafik abgebildet hat:
"Adverse Childhood Experiences and the Effects on Pediatric Health Outcomes"
(von Angela Mattke im Rahmen von The Bright Side 2018 – A Women’s and Children’s Health Symposium, 21.09.2018)


Montag, 22. Juli 2019

Der Beginn der Kinderschutzbewegung um 1900 als Folge der Evolution von Kindheit?


Mir stellte sich die Frage, wie historisch ein Bewusstsein und ein Wille dafür aufkam, dass Kinder vor (elterlicher + schulischer) Gewalt zu schützen sind. Die Antwort auf diese Frage ist komplex. An anderer Stelle werde ich darauf zurückkommen. Zunächst macht es Sinn, sich einmal die Kindheitsbiografien von wichtigen Akteuren, die historisch den Kinderschutz vorantrieben, anzuschauen.

Beginnen wir mit Eglantyne Jebb (1876-1928), der Gründerin von Save The Children. Jebb gilt außerdem als Wegbereiterin der UN-Kinderrechtskonvention. Eglantyne wuchs mit fünf Geschwistern in wohlhabenden Verhältnissen auf und gehörte zur Upper-Class in Großbritannien. Ihr Vater galt als sanfter Intellektueller, „sensitive as a woman“, wie seine älteste Tochter einmal sagte (Mulley  2015. 9). Er wird außerdem als sympathischer Landbesitzer beschrieben; die Ehe der Jebb-Eltern sei sehr liebevoll gewesen (Mulley  2015, S. 10+11). Beide Elternteile waren hingebungsvolle Eltern, die Freude an ihrer Elternschaft hatten (Mulley  2015, S. 11). Eglantynes Vater, Arthur, „was also an affectionate father, reading aloud to the children and listining with delight to their own stories“ (Mulley  2015, S. 14).
Die Kinder scheinen zudem viele Freiheiten beim Spielen bekommen zu haben. Reiten auf Ponys, Bäume, die in den Erinnerungen zu Schlössern wurden, dunkle Wälder, überall wurde gespielt. Die Biografin schreibt zusammenfassend: „The three youngest children were particularly close, enjoying a childhood almost too good to be true" (Mulley  2015, S. 17).
Bezugspersonen waren außer den Eltern auch Kindermädchen und vor allem eine sehr aufgeweckte Tante, die mit in dem Anwesen wohnte. Eglantynes Mutter „was a loving and involved mother, but she was not expected to care for the children alone, and a succession of nurses and gouvernesses filed through The Lyth“ (Mulley  2015, S. 23). Die Mutter war aber auch Vorbild für die Kinder. Einmal traf sie auf einen Jungen, der weinte und vollkommen frustriert über eine 6-Tage-Arbeitswoche war. Daraufhin begann ihr soziales Engagement. Das Glück endete später abrupt, als Arthur starb.  Eglantyne muss zu dieser Zeit ca. 18 Jahre alt gewesen sein.

Die politisch interessierte, diskussionsfreudige und sozial engagierte Atmosphäre bei den Jebbs war sicher prägend. Die Biografin schreibt zum Abschluss des Kapitels über Kindheit und Jugend von Eglantyne Jebb: „It was a legacy that all the children would benefit from, alone with their mothers`s efficient example of practical social work and their aunt`s intelligent questioning of the world around them. Brought up in a house where a human sympathy, if not radical politics, was the dominant perspectice, it is perhaps not suprising that all of the Jebb children later sought their own ways to contribute to enhancing more equitable social relations, but none more effectively than Eglantyne“ (Mulley  2015, S. 27).


Eine weitere bedeutende Frau habe ich für diesen Beitrag ausgewählt: Ellen Key (1849-1926).
Sie gehörte zu den einflussreichsten Vertretern der Reformpädagogik, sprach sich öffentlich gegen das Schlagen von Kindern aus und wurde weltweit durch ihren im Jahr 1900 veröffentlichten Bestseller „Das Jahrhundert des Kindes“ bekannt.
Die Schwedin Ellen wuchs in wohlhabenden Verhältnissen als ältestes von insgesamt sechs Geschwistern auf. „Die familiäre Atmosphäre soll eine Mischung aus solider Geborgenheit und aufgeklärter Intellektualität gewesen sein. Das Elternhaus war liberal gesinnt; die Keys beschäftigten sich mit den politischen und gesellschaftlichen Zeitabläufen ebenso wie mit der damals aktuellen nationalen und internationalen Literatur“ (Mann 2004, S. 9). Ellen fiel bereits früh durch ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl auf. Vor allem ihr Vater war eine wichtige Identifikationsfigur in ihrem Leben. Das Mädchen besuchte nie eine Schule, sondern wurde von verschiedenen Hauslehrerinnen unterrichtet. Die Biografin merkt dazu an: „Außerdem mag der Umstand, dass Ellen Key niemals den egalisierenden Schulzwang am eigenen Leib erleben musste, mit dazu beigetragen haben, aus ihr später eine relativ unabhängige und fortschrittlich denkende Frau werden zu lassen“ (Mann 2004, S. 11).
Über die konkrete Erziehung und den Umgang der Eltern mit den Kindern erfährt man relativ wenig in der verwendeten Quelle. Auffällig fand ich, dass Ellen oft und gerne den Erwachsenen bei Ihren Gesprächen zuhörte und dafür unter den Tisch kroch und so tat, als ob sie spielte. Noch etwas fand ich aufschlussreich: „Die intellektuellen Interessen Ellen Keys führten dazu, dass das Mädchen bezüglich praktischer Tätigkeiten im Haushalt mehr oder minder ungeübt war und blieb. Trotz mancher dadurch auftretender Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter tolerierte man offenbar die Entwicklung der jungen Ellen Key und honorierte schließlich ihr Bedürfnis, still und zurückgezogen lesen zu wollen, mit einem eigenen Zimmer, das dem Mädchen ab dem 12. Lebensjahr zur Verfügung stand. Noch als Erwachsene hat sich Elle Key immer wieder in dieses Zimmer ihres Elternhauses zurückgezogen und es als ihren Schutzraum betrachtet“ (Mann 2004, S. 11).
Bedenken wir an dieser Stelle noch einmal, dass Ellen im Jahr 1849 geboren wurde. Damals gehörte auch in Schweden die autoritäre Erziehung zur Routine. Ellen durfte aber unterm Tisch spielen, während die Erwachsenen sich unterhielten. Man unterwarf sie offensichtlich auch nicht und zwang sie, gegen ihren Willen, zur Hausarbeit. Sie durfte ungehorsam sein. Mehr noch, man ging auf sie und ihre besonderen Bedürfnisse ein und akzeptierte ihren Hang zum intensiven Lesen. Dies gibt uns einen deutlichen Einblick in die Familie und ihre Werte. Offensichtlich wurde in dieser Familie auf Kinder eingegangen und es scheint keine übermäßige Strenge geherrscht zu haben.
Bedeutsam ist darüber hinaus sicher auch noch ein tragischer Unfall. Zwei von Ellens Cousinen ertranken beim Baden. Die damals 17-Jährige Ellen war die einzige Überlebende bei diesem Unglück (Mann 2004, S. 12). Jeglicher religiöse Glaube war nach diesem Ereignis endgültig bei ihr - die schon früh an einem Christen-Gott gezweifelt hatte - abgetan. Wie sie dies Ereignis verarbeitete und ob und wie sie aufgefangen wurde, erschließt sich in der Quelle nicht.


Die Kindheit eines weiteren, wichtigen Akteures muss besprochen werden: Henry Bergh (1813-1888). Bergh war Gründungsmitglied und Vizepräsident der New York Society for the Prevention of Cruelty to Children (NYSPCC), der ersten Kinderschutzorganisation der Welt. Einige Jahre zuvor hatte Bergh, der auch eine Zeit lang Diplomat war, die erste Tierschutzorganisation in den USA gegründet. Im Rahmen dieser Tätigkeit wurde er auf den Fall Marry Ellen aufmerksam. Marry Ellen wurde damals schwer von ihrer Stiefmutter misshandelt und vernachlässigt. Die Polizei und auch die Behörden hatten jede Unterstützung von Mary Ellen abgelehnt, weil es keine gesetzliche Handhabe gab. Hilfe kam erst durch Tierschützer Henry Bergh, der in der Folge die Gründung der NYSPCC vorantrieb. „I regard a helpless child in the same light as a dumb animal. Both are God´s creatures. Neighter can protect themselves. My duty is imperative to aid them“, sagte Bergh einst (Furstinger 2016, S. 126). Was war das für ein Mensch, der Mitleid mit geschunden Tieren und Kindern hatte und sich engagierte? Und vor allem: Wie sah seine eigene Kindheit aus?

Auch Henry Bergh wurde – wie Jebb und Key - in wohlhabende Verhältnisse hineingeboren. Sein Vater, Christian, war ein erfolgreicher und bekannter Schiffsbauer in New York. Er hatte den Ruf, der „ehrlichste Mann“ der Stadt zu sein (Furstinger 2016, S. 6; Übersetzung: Sven Fuchs.). U.a. beschäftigte er ehemalige Sklaven und bezahlte ihnen den gleichen Lohn wie den Weißen. Henrys Mutter hatte offensichtlich ebenfalls eine hohe Moral. Beispielsweise fand Henry in seiner Kindheit einst ein Geldstück auf der Straße. Seine Mutter ermahnte ihn, das Geld zurückzulegen, für den Fall, dass der Besitzer zurückkommen würde. „From his Mother, he would learn kindness and honesty“ (Furstinger 2016, S. 7). Die Schiffswerft wurde für Henry und seine Geschwister, so die Biografin, zum großen Spielplatz. Was für ein Abendteuer! Über den konkreten Erziehungsstil der Eltern erfährt man in der verwendeten Quelle nichts. Allerdings lässt sich – wie oben gezeigt - wohl deutlich ableiten, dass seine Eltern sehr menschenfreundlich waren. Zu diesem Bild passt, wie Henry Bergh später als Erwachsener agierte.


Fazit

Alle drei untersuchten Akteure kamen aus wohlhabenden Verhältnissen. Das halte ich für keinen Zufall. Erstens brauchte es für ihre später wohltätige Arbeit entsprechende Ressourcen (und sicher auch Bildung). Zweitens: Im 19. Jahrhundert war das Leben für viele Kinder schwer und leidvoll. Wenn sie denn überhaupt überlebten, denn die Kindersterblichkeit war damals auch noch in den USA, Großbritannien und in Schweden sehr hoch. Der Wohlstand hatte bei allen drei Akteuren ganz sicher auch protektive Effekte. Auffällig ist auch, dass neben einer wohlwollenden und als Vorbild fungierenden Mutter, auch ein wohlwollender und als Vorbild fungierender Vater stand. Das war im 19. Jahrhundert sicherlich keine Selbstverständlichkeit. Gerade Väter waren in dieser Zeit oftmals autoritäre und traditionelle, patriarchale Männer.
Ich glaube nicht, dass mit Blick auf unsere heutige Zeit die These aufgestellt werden kann, dass Menschen, die sich für Tierschutz und Kinderschutz stark engagieren, meist eine behütete Kindheit und nette Eltern hatten. Ganz im Gegenteil ist meine persönliche Erfahrung die, dass in Kinderschutzvereinen und ähnlichen Institutionen Menschen mit einer belasteten Kindheit gar nicht so selten sind.
Mir geht es hier aber auch nicht um das Heute, sondern um Anfänge eines organisierten Kinderschutzes um die Jahrhundertwende. Damals wurde die Mehrheit aller Kinder geschlagen und gedemütigt. Und: Kaum jemand störte sich daran. Um aus diesem verdrehten und destruktivem Mehrheitsdenken und Handeln herauszutreten und eine andere Richtung einzuschlagen, brauchte es mehr. Nämlich eine eigens erlebte, positivere Kindheit und – in der Folge - einen Zugang zu eigenen Emotionen und die Fähigkeit zu Mitgefühl. Die aufkommende Kinderschutzbewegung wäre demnach auch ein Produkt der Evolution von Kindheit, in diesem Fall in den Familien Jebb, Key und Bergh.



Verwendete Quellen:

Furstinger, N. (2016): Mercy: The Incredible Story of Henry Bergh, Founder of the ASPCA and Friend to Animals. Houghton Mifflin Harcourt, Boston / New York.

Mann, K. (2004): Ellen Key. Ein Leben über die Pädagogik hinaus. Primus Verlag, Darmstadt.

Mulley, C. (2015): The Woman Who Saved the Children: A Biography Of Eglantyne Jebb: Founder Of Save The Children. Oneworld, London.

Freitag, 5. Juli 2019

Züchtigungsverbot in Frankreich: Rechte Politiker sind für Körperstrafen gegen Kinder


Der französische Senat stimmte jetzt nach der Nationalversammlung einem entsprechenden Gesetz zu, dass jegliche Körperstrafen gegen Kinder in der Familie untersagt. Ich hatte bereits Ende 2018 in dem Beitrag Wie peinlich! Frankreich verbietet elterliche Gewalt gegen Kinder! über diese Entwicklung berichtet.

"Zuletzt hatten nur noch die Abgeordneten um Marine Le Pen das Recht der Eltern verteidigt, ihre Kinder mit einem Klaps auf den Po („la fessée“) oder einer Ohrfeige zu maßregeln. Die Abgeordnete Emmanuelle Ménard von Le Pens Partei RN beschwerte sich, der Staat mische sich in familiäre Angelegenheiten ein." (FAZ, 04.07.2019, "Frankreich schafft Züchtigungsrecht von Eltern ab")

Es ist sicher kein Zufall, dass rechte Politiker auffällig häufig für das Schlagen von Kindern sind (siehe dazu auch Rechte Politiker, rechte Wähler und Kindheit). Rechtsextreme Einstellungen, wie auch rechtsextreme Gewalttaten stehen nachweisbar in einem starken Zusammenhang zu eigens erlittener Gewalt und/oder autoritären Erziehungsmaßnahmen, sowie fehlender elterlicher Zuwendung. Dass sich diese Erkenntnisse wohl auch auf rechte Politiker übertragen lassen, zeigen die o.g. Entwicklungen.
Wer sich als Erwachsener nicht von diesem elterlichen "Gewaltsystem" innerlich und emotional befreien konnte und mit dem Aggressor identifiziert bleibt, ist mit deutlich erhöhter Wahrscheinlichkeit auch für das Schlagen von Kindern. Mich wundert es entsprechend überhaupt nicht, dass die RN-Abgeordneten so agierten wie gezeigt.


In Deutschland wurden im Jahr 2000 durch das Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung jegliche Körperstrafen gegen Kinder in der Familie verboten. Damals gegen den Willen von CDU/CSU! Dass die Konservativen dagegen stimmten, ist sicher auch kein Zufall.

Wäre es nach den GRÜNEN gegangen, wäre jegliche körperliche Gewalt gegen Kinder schon Anfang der 1990er Jahre verboten worden. Siehe dazu: Gesetzentwurf der Abgeordneten Frau Schoppe und der Fraktion DIE GRÜNEN: Entwurf eines Gesetzes zur Prävention von Gewalt gegen Kinder (Drucksache 11/7135, 15.05.1990)

und

Gesetzentwurf des Abgeordneten Konrad Weiß (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Entwurf eines Gesetzes zur gewaltfreien Erziehung von Kindern (Züchtigungsverbotsgesetz) (Drucksache 12/5359, 30. 06. 1993)


Manche Gegenargumente von CDU/CSU sind auch heute noch erschreckend aufschlussreich. Zwei Beispiele:

Gesetz zur Änderung des § 1631 BGB (Mißhandlungsverbotsgesetz) (G-SIG: 12020619, Bundesratsitzung 15.10.1993.
Bayerischer Staatssekretär Johann Böhm (CSU): Bilden wir Beispiele! Soll es wirklich kriminelles Unrecht sein, wenn eine Mutter ihrem Kind in einer zugespitzten Konfliktsituation eine Ohrfeige gibt? Wie ist es mit dem vielzitierten Klaps, der schon wehtut? Darf der Staat solche Maßnahmen wirklich als Missbrauch des Erziehungsrechtes definieren und – mehr noch – mit dem Verdikt der Strafbarkeit versehen? Ich meine entschieden: nein! Der Entwurf überschreitet hier die Grenze des Vertretbaren.“ (Seite 455)

oder

Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 1631 BGB (Mißhandlungsverbotsgesetz) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994

Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU):
„Aber, wir dürfen dabei auch nicht über das Ziel hinausschießen. Sicherlich geht es nicht in allen Familien vorbildlich und gesittet zu. Andererseits ist auch nicht jede Familie oder die Familie schlechthin eine gewalttätige Institution, aus der man das Kind befreien muß. Ja, wenn Sie die einschlägige Literatur aus einschlägigen Kreisen über den Gewaltbegriff und über die strukturelle Gewalt, die ja schon in den 70er Jahren angesprochen worden ist und an die ich mich noch sehr gut erinnern kann, studieren, dann stellen Sie selbstverständlich fest, daß da die Familie als verlängertes Herrschaftsinstrument eines repressiven Staates etc. und als ähnlicher Quatsch bezeichnet worden ist. Deshalb lehnen wir ganz klar Forderungen nach einem Verbot jeglicher Strafen ab. (…) Wir sind dagegen, jegliche Strafe zu verbieten. Dann wäre ja auch das Fernsehverbot beispielsweise eine Strafe, die verboten werden müßte. Meine Damen und Herren, auch ich bin Vater von zwei Kindern. Deswegen weiß ich, daß man mit Lob, mit Vorbild besser erzieht als mit Bestrafung. Aber aus meiner Erfahrung weiß ich auch, daß man bei einer Erziehung nicht ohne jegliche Sanktionen auskommen kann, wenn man seinen Erziehungsauftrag ernst nimmt. Den SPD-Entwurf, der ein völliges Verbot von Gewalt als Erziehungsmittel vorsieht — die anderen Entwürfe stehen ihm da nicht nach —, lehnen wir aus dem Grund ab, den ich schon vorher erwähnt habe: weil wir zum einen die Ausuferung des Gewaltbegriffes in den 70er Jahren erlebt haben und mittlerweile auch in der Rechtsprechung einen sehr weit gefaßten Gewaltbegriff vorfinden. (…) Bislang war die körperliche Mißhandlung im familiären Bereich durch das in der Rechtsprechung weitgehend anerkannte elterliche Züchtigungsrecht ausnahmsweise gerechtfertigt. Dieser Rechtfertigungsgrund soll nun abgeschafft werden. Meine Damen und Herren, damit ist aber jede körperliche Einwirkung, die von § 223 StGB erfaßt wird, rechtswidrig, also in letzter Konsequenz auch die leichte Ohrfeige oder der so oft zitierte Klaps. Ich habe meine Zweifel, ob ein solches Verhalten in jedem Falle einen Mißbrauch des elterlichen Erziehungsrechts darstellt, der ein generelles Verbot rechtfertigen würde. Außerdem fehlt wohl bei der großen Mehrheit der Bevölkerung jedes Verständnis dafür. Wir schaffen damit eine Kriminalisierung elterlichen Erziehungsverhaltens.“ (Position: 19025 + 19026)




Donnerstag, 4. Juli 2019

Schweizer Studie über biografische Hintergründe von Rechtsextremisten


Insgesamt 26 Schweizer Jugendliche (6 junge Frauen, 20 junge Männer, Altersdurchschnitt = 19 Jahre), die eine politisch rechtsextreme Einstellung haben und zu gewalttätigen Handlungen neigen, wurden zum Klima innerhalb der Familie, zum Umgang mit Konflikten, Erziehungsstil und der Qualität der innerfamiliären Beziehungen befragt. Die Studie wurde im Jahr 2007 abgeschlossen:  Fachstelle für Rassismusbekämpfung (Hrsg.) (2007): Jugendliche und Rechtsextremismus: Opfer, Täter, Aussteiger. Wie erfahren Jugendliche rechtsextreme Gewalt, welche biografischen Faktoren beeinflussen den Einstieg, was motiviert zum Ausstieg? Bern. 

Zusammenfassend schreiben die Autoren:
Die Jugendlichen und ihre Familien sind keine «Modernisierungsverlierer». Sie sind weder Opfer von ökonomischem noch von gesellschaftlichem Wandel. In den 26 untersuchten Beispielen lässt sich ein grosses Mass an «Normalität» der Lebensentwürfe und -welten nachweisen. Die Jugendlichen und ihre Familien gelten als gut integriert. Hingegen spielten häusliche Gewalt und die Folgen von Elternkonflikten eine wichtige Rolle. Überrascht hat die Forschenden die hohe Anzahl Jugendlicher, die in Jugendhilfemassnahmen leben.
Für die Entwicklung von rassistischen Einstellungen und Handlungsanlagen bei Jugendlichen spielen die Familien, das soziale Umfeld sowie ihre Kultur und Geschichte eine entscheidende Rolle. Auch wenn der Kontakt zu rechten Szenen auf Zufälligkeiten und Gelegenheitsstrukturen beruht, ist die für die Jugendlichen damit verbundene Bedeutung keinesfalls zufällig, sondern biografisch bedingt.“ (S. 6)

Leider wurden in der Studie keine Zahlen vorgestellt (Anteil von Jugendlichen, die Gewalt erlebt haben, Anteil von Jugendlichen, die Jugendhilfemaßnahmen erlebt haben usw.) Trotzdem sind die Auswertungen ziemlich deutlich. Verschiedene Belastungen während der Kindheit und Jugend bestimmen durchgehend das Bild.

Drei unterschiedliche familiäre Muster und biografische Verlaufsformen wurden ausgemacht, die rechtsextreme Einstellungen und Gewalttaten begünstigen, die ich nachfolgend vorstelle.

– Abgrenzung durch Überanpassung – Radikalisierung der Werte und Normen des Herkunftsmilieus

Diese biografische Verlaufsform zeichnet sich dadurch aus, dass politisch rechte Einstellungen und Handlungsfelder bereits bei den Eltern beziehungsweise bei nahen Bezugspersonen (Grosseltern, vor allem Grossväter) des Jugendlichen/ jungen Erwachsenen vorhanden sind. Angst vor Überfremdung, nationale Grenzziehung, Zuschreibungen kultureller Eigenheiten und Abwertungen sind politisch diskutierte Themen innerhalb der Familie. Die junge Generation nimmt diese Argumentation auf und geht einen Schritt weiter.“ (S. 8+9)
Gewalterfahrungen und/oder autoritäre Erziehung wird bei dieser Verlaufsform nur angedeutet bzw. nicht durchgängig nachgewiesen: „Kritik an den Eltern, den Erziehungsformen und der familiären Lebensweise wird in den Interviews nicht oder kaum thematisiert. Vielmehr werden strenge und autoritäre Erziehungsstile positiv bewertet, zum Teil wird eine zu liberale Erziehung der Eltern kritisiert.“ (S. 11) Allerdings wird die Familie in den Erzählungen der Jugendlichen in vielen Fällen ausgeschlossen oder kurz idealisiert. Auffällig war den Autoren zu Folge auch, dass diese Jugendlichen Kontakt der Forschenden zu den Eltern lediglich in einem Fall gewährten. "Die Perspektive der Eltern hätte möglicherweise ihr idealisiertes Bild an einzelnen Stellen brüchiger
gemacht." (S. 11)

– Gewalt, Missachtung und Suche nach Anerkennung

Den Jugendlichen dieser zweiten Verlaufsform gemeinsam ist die Erfahrung von unkontrollierter Gewalt innerhalb der Familie. Die gewalttätigen und für die Jugendlichen oft nicht voraussehbaren Reaktionen auf ihre Person, vor allem durch den Vater, kennzeichnen die gegenseitigen Beziehungen dieses familiären Musters. Die Erfahrung des «Nicht-Eingreifens» der Mutter und des sozialen Umfeldes verstärken die Ohnmachtserfahrungen des betroffenen Jugendlichen. (…) Macht, Selbstbemächtigung und die Suche nach Anerkennung bilden in dieser Verlaufsform zentrale Momente der Zugehörigkeit zur rechten Gruppe. (…) In den gewalttätigen Auseinandersetzungen wird die am eigenen Leib erfahrene unkontrollierte Gewalt umgedreht: nun schlägt der Jugendliche unkontrolliert zu, obwohl der Ablauf im Gruppenkontext standardisiert und damit für die Gewalttäter nach vorhersehbaren Mustern erfolgt. Die eigene Gewaltausübung wird von den Jugendlichen selbst als unkontrollierbar beschrieben, zum Teil in Analogie zur eigenen Opfererfahrung. (…) Weil die Jugendlichen während ihres Aufwachsens nie gelernt haben, sich in die Situation von anderen Personen zu versetzen, fehlt ihnen das Mitgefühl für die Opfer.“ (S. 17-19)

– Nicht-Wahrnehmung und Suche nach Erfahrung, Sicherheit und Differenz.

Die familiäre Situation dieser Jugendlichen ist gekennzeichnet durch mangelnde emotionale Wärme und Anerkennung. Kennzeichnend ist entweder ein hohes Maß an Gefühlskontrolle oder die völlige Abwesenheit von Gefühlen. Diese Jugendlichen erlebten keine körperliche Gewalt oder aggressive Missachtung, schreiben die Autoren. Trotzdem hängen sie an, dass die familiären Muster von autoritär bis wechselseitiger Nicht-Wahrnehmung, über räumliche und zeitliche Trennungen bis hin zu Idealisierungen des Heranwachsenden reichen.
Diese Verlaufsform wird einleitend mit einem Fallbeispiel begonnen. Der entsprechende Jugendliche wurde ab dem 5. Lebensmonat von seiner Mutter zur Adoption freigegeben. Zu seinen leiblichen Eltern hat er keinen Kontakt. Was in diesen ersten fünf Monaten passierte, wird nicht geschildert oder ist nicht überliefert. Es wird angedeutet, dass es von außen (Behörden, Pädagogen) Kritik an der Erziehung der Pflegeeltern gab. Der Jugendliche idealisierte dagegen seine Pflegeeltern. Mit 15 Jahren fing er an, harte Drogen zu konsumieren. Mit 19 schloss er sich einer Skingruppe an. Besonders brisant: Die erste Frau des Pflegevaters (es scheint also später eine Trennung gegeben zu haben) war Jüdin, alle ihre Familienmitglieder, außer ihr Bruder, waren in Konzentrationslagern umgekommen. Ausgerechnet dieses Pflegekind wurde zum Rechtsextremisten.
An diesem Fallbeispiel sieht man sehr deutlich, welch enorme Belastungen auch hinter den Biografien stecken, wo z.B. keine körperliche Kindesmisshandlung stattfand (oder nachgewiesen wurde).

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Diese Studie reiht sich bzgl. der Ergebnisse ein in eine ganze Reihe von Studien über Extremisten, die ganz ähnliche Ergebnisse erbracht haben. Einige dieser Studien habe ich hier im Blog bereits besprochen, andere bisher nur in meinem Buch erwähnt. Ich hänge diesem Beitrag noch mal die wesentlichen Quellen an. Extremismus fällt nicht vom Himmel. Es gibt immer biografische Muster, die stets in die gleiche Richtung zeigen: Destruktive Kindheitserfahrungen.


Frindte, W. & Neumann, J. (2002): Der biografische Verlauf als Wechselspiel von Ressourcenerweiterung und – einengung. In: Frindte, W. & Neumann J. (Hrsg.): Fremdenfeindliche Gewalttäter. Biografien und Tatverläufe. Westdeutscher Verlag. Wiesbaden. S. 115-153.

Funke, H. (2001): Rechtsextremismus 2001. Eine Zwischenbilanz. Verwahrlosung und rassistisch aufgeladene Gewalt – Zur Bedeutung von Familie, Schule und sozialer Integration. In: Eckert, R. et al. (Hrsg.): Demokratie lernen und leben – Eine Initiative gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt. Band 1. Weinheim, Freudenberg Stiftung. S. 59-108.

Jäger, H. & Böllinger, L. (1981): Studien zur Sozialisation von Terroristen. In: Jäger, H., Schmidtchen, G. & Süllwold, L. (Hrsg.): Lebenslaufanalysen (Analysen zum Terrorismus 2). Westdeutscher Verlag, Opladen. S. 117-231.

Köttig, M. (2004): Lebensgeschichten rechtsextrem orientierter Mädchen und junger Frauen: Biografische Verläufe im Kontext der Familien- und Gruppendynamik. Psychosozial-Verlag, Gießen.

Lützinger, S. (2010): Die Sicht der Anderen. Eine qualitative Studie zu Biographien von Extremisten und Terroristen (Polizei + Forschung Bd. 40). BKA – Bundeskriminalamt, Kriminalistisches Institut (Hrsg.). Luchterhand Fachverlag, Köln.

Salloum, R. (2014, 01. Dez.): Interviewreihe mit Dschihadisten. Besuch im Terroristenknast. SPIEGEL-Online.

Schmidtchen, G. (1981): Terroristische Karrieren. Soziologische Analyse anhand von Fahndungsunterlagen und Prozessakten. In: Jäger, H., Schmidtchen, G. & Süllwold, L. (Hrsg.): Lebenslaufanalysen (Analysen zum Terrorismus 2). Westdeutscher Verlag, Opladen. S. 13-78.

Simi, P., Sporer, K. & Bubolz, B. F. (2016): Narratives of Childhood Adversity and Adolescent Misconduct as Precursors to Violent Extremism: A Life-Course Criminological Approach. In: Journal of Research in Crime and Delinquency. Vol 53, Issue 4. S. 536-563.

Wahl, K., Tramitz, C. & Gaßebner, M. (2003): Fremdenfeindliche Gewalttäter berichten: Interviews und Tests. In: Wahl, K. (Hrsg.): Skinheads, Neonazis, Mitläufer. Täterstudien und Prävention. Leske & Budrich, Opladen.

Wiezorek, C. (2002): Fallbeispiele zur biografischen Genese von Gewalt und Fremdenfeindlichkeit. In: Frindte, W. & Neumann J. (Hrsg.): Fremdenfeindliche Gewalttäter. Biografien und Tatverläufe. Westdeutscher Verlag. Wiesbaden.

Dienstag, 2. Juli 2019

Filmkritik "Elternschule"


Morgen, am Mittwoch den 03.07.2019, wird der umstrittene Film „Elternschule“ erstmals im Fernsehen in der ARD ausgestrahlt. Ich habe den ganzen Film bereits kürzlich gesehen. Vorher hatte ich mir fest vorgenommen, trotz einiger Artikel (u.a. diesen hier in der ZEIT), die ich über den Film gelesen hatte, möglichst unvoreingenommen an den Film heranzugehen (Mir ist z.B. bewusst, dass hoch traumatisierte Kinder anders ticken und – je nach Einzelfall-  deutlichere Grenzen brauchen, als unbelastete Kinder. Ich rechnete also damit, dass dies evtl. ein Grund für den strikteren Umgang in der Klinik sein könnte.). Im Vorfeld entzündete sich z.B. die Kritik an dem Film heftig alleine schon auf Grund des kurzen Trailers. Kritik kann man aber nur äußern, wenn man das Werk, um das es geht, komplett gesehen hat. Außerdem las ich, bevor ich mir den Film angesehen habe, einen Artikel in der Süddeutschen, der auch etwas die Perspektive der Filmemacher und den enormen Shitstorm, den sie erlebt haben, beschreibt.

Mein Gesamtfazit zum Film lautet wie folgt: Der Film ist eine einzige Werbung dafür, dieser gezeigten Abteilung der Klinik niemals Kinder anzuvertrauen!

Ich könnte jetzt den Film Stück für Stück ausführlich besprechen, aber diese Arbeit kann ich mir sparen, denn der Kinderarzt Herbert Renz-Polster hat den Film und die Arbeit der Klinik am 28.06.2019 bereits ausführlich und fachmännisch kommentiert: Elternschule“ jetzt im Fernsehen. Roter Teppich für eine umstrittene Therapie?

Warum ich mich zu diesem Film äußere, ist meine Sorge darum, dass der Film von verunsicherten Eltern oder allgemein von für Kinder Zuständigen und Betreuungspersonen, die vielleicht manches Mal eh in ihrem Herzen für eine autoritäre Erziehung sind, dazu genutzt wird, den Umgang mit Kindern entsprechend anzupassen oder zu rechtfertigen.

Ein wenig werde ich zum Film also noch anmerken. Hervorgehoben wird regelmäßig, dass die Filmemacher den Film nicht kommentieren, sondern einfach zeigen, was ist. Sie also quasi "neutral" wären. Das stimmt so aber nicht! Der Titel des Films – „Elternschule“ – suggeriert bereits, dass es um eine generelle Anleitung für Erziehung geht. Dabei ist die Situation vor Ort die, dass dort Kinder mit massiven Problemen und Verhaltensstörungen behandelt werden. Viele der dort gezeigten Eltern wirken zudem nach meinem Eindruck stark in ihrer Grundpersönlichkeit verunsichert, teils fallen auch sehr destruktive Eltern auf, z.B. eine Mutter, die gleich im Erstgespräch dem Leiter trotzig erklärt, dass sie ihr Kind in ein Kinderheim geben wird, wenn sich kein Erfolg durch die Behandlung einstellt. Der Film ist zudem in Schwerpunkte aufgeteilt. Nach den gezeigten Szenen wird immer wieder „entspannte, friedliche“ Musik eingespielt, teils mit unterlegten Szenen in Zeitlupe von spielenden Kindern in der Klinik oder Eltern, die ihre Kinder streicheln. Diese Zwischenszenen mildern unterbewusst das ab, was man zuvor gesehen hat. Sie suggerieren: „Alles ist gut, den Kindern geht es gut.“ Am Ende des Films wird eine Luftsicht auf ein Labyrinth gezeigt. Eine Familie geht durch das Labyrinth und kommt ans Ziel. Der Film endet dann. Auch hier wird deutlich suggeriert, dass die Methoden der Klinik zum Erfolg führen. Von Neutralität der Filmemacher kann also keine Rede sein.

Durch den o.g. Kommentar von Renz-Polster habe ich einige Hintergrundinfos erhalten, die bei der unkommentierten Variante der „Elternschule“ natürlich fehlen, aber von großer Bedeutung sind. So war mir beim Sehen des Films z.B. nicht klar, dass die gezeigten ärztlichen Untersuchungen der Kinder täglich stattfinden, auch ohne medizinischen Grund.  Laut Renz-Polster (siehe oben verlinken Text) sind dies gezielte Maßnahmen zur Stressauslösung. „Man muss sich das einmal vorstellen: Da werden Säuglinge und Kleinkinder von einem Arzt körperlich untersucht und vom Personal dazu auf der Untersuchungsliege festgehalten – und das nicht etwa, weil der Arzt wissen will, ob die Kinder krank sind. Sondern um sie unter Stress zu setzen. Denn so würden sie sich an den Stress allmählich gewöhnen. Die von Kindern so gehasste Halsuntersuchung etwa findet dann nicht statt um zu sehen, ob die Mandeln geschwollen oder der Hals entzündet ist – sondern als „Therapie“. Als Arzt bin ich darüber so schockiert, dass ich eigentlich nicht weiter begründen muss, warum ich zum Thema „Elternschule“ immer wieder Stellung bezogen habe.“

Besonders krass fand ich im Film eine Szene, in der eine „Kinderschwester“ ein Kleinkind lieblos und steril auf ihrem Schoß festhält und immer wieder eine Milchflasche in den Mund des Kindes einführt. Das Kind wehrt sich dabei, jammert und versucht den Kopf wegzudrehen. Für das Kind könnte dies, so mein Eindruck, evtl. eine Erstickungsbedrohung bedeutet haben. Denn schließlich wurde ihm offensichtlich eine Flüssigkeit in den Mund gestopft oder dies versucht. Ca. 5 Minuten ging dieser Kampf, berichtete die Schwester später im Kollegium. Krass fand ich auch, wie einem Kleinkind, dass bereits durch die Trennung zur Mutter verunsichert war, einfach der Schnuller aus dem Mund gezogen wurde, Tür zu und weg. Das Kind fing natürlich massiv an zu weinen. Oder ein Kleinkind, das vorher wohl nicht alleine geschlafen hatte. Es wurde einfach in ein Gitterbett gesetzt, alleine in einem sterilen Krankenzimmer, Licht aus, Tür zu und weg. Oder der psychologische Leiter, der als letztlich fremder, großer Mann alleine mit einem Mädchen zum joggen in den Park geht. Trotz Weinen und Widerstand fordert er immer wieder, dass das Joggen fortgesetzt wird, zerrt einmal sogar an den Armen des Mädchens. Oder die bewusst ausdruckslose Mimik und Gesichter der Betreuunungspersonen, was wohl zum Konzept gehöhrt. Oder oder oder….

Letztlich ist extrem auffällig, dass im Film gänzlich die wohlwollenden Worte und Gesten gegenüber den Kindern fehlen (außer, wenn sie endlich so sind und sich so verhalten, wie es gewollt ist). Oder um erneut Renz-Polster zu zitieren: „Und deshalb will ich zum Schluss das benennen, was mich an dem Film am meisten stört: Nämlich, dass darin die gütigen Worte fehlen. Dass es immer nur um Stärke geht, um Überlegenheit und „Führung“ der Kinder („Das Kind muss Führung körperlich spüren“, so heißt es in dem Film).“ Besser kann man es nicht zusammenfassen!

Montag, 1. Juli 2019

Gewalt gegen Kinder und bewaffneter Konflikt in Kolumbien


Seit ca. Mitte der 1960er Jahre gab es ca. 50 Jahre lang bewaffnete Konflikte in Kolumbien. Erst vor wenigen Jahren fanden schließlich Friedensverhandlungen statt und ein Friedensvertrag mit der FARC-Guerilla wurde geschlossen.

Eine kürzlich veröffentlichte Studie suchte u.a. nach Zusammenhängen zwischen dem bewaffneten Konflikt und Körperstrafen gegen Kinder: Cuartas, J.,  Grogan-Kaylor, A.,  Ma, J.,  & Castillo, B.: (2019): Cevil conflict, domestic violence, and poverty as predictors of corporal punishment in Colombia. In: Child Abuse & Neglect, 90, S. 108-119.

Die Frage war also, ob die Erfahrung von bewaffneten Konflikten die Raten von Gewalt gegen Kinder erhöht. Der Ansatz ist nicht uninteressant.  Wobei die Ergebnisse nicht wirklich überzeugen (Körperstrafen gegen Kinder mit Gegenständen sind in Regionen, die vom bewaffneten Konflikt betroffen waren, nur mäßig erhöht, während andere Körperstrafen – „spanking“ - in diesen Regionen sogar etwas weniger vorzufinden sind, als in Regionen, die von dem Konflikt nicht betroffen waren). Denn der größte Risikofaktor für das Schlagen der eigenen Kinder war der Studie nach selbst erlittene Gewalt in der Kindheit der Mütter und nicht etwa die Erfahrung bewaffneter Konflikte (ebd., S. 115).
Im Text selbst haben die Autoren ergänzend vier Studien zitiert, die einen bedeutenden Einfluss von eigens erlittener Gewalt in der Kindheit auf das spätere Gewaltverhalten gegen eigene Kinder herausgestellt haben (ebd. S.110). Die Autoren zitieren ferner, um ihre Hypothese zu erklären, eine Studie von Human Rights Watch, die herausstellte, dass in von der FARC- Guerilla besetzen Gebieten in Kolumbien seitens der Rebellen widerspenstiges Verhalten von zwangsrekrutierten Kindern, aber auch von Kindern, die im Einflussgebiet der FARC lebten, hart bestraft wurde (durch Körperstrafen, Folter und manchmal durch Exekutionen) (ebd. S. 110). Die eigentlich naheliegende Frage, wie denn die Kindheit dieser Rebellen ausgesehen hat und in wie weit sie Körperstrafen als Kinder erlitten haben, wurde in der hier von mir besprochenen Studie nicht gestellt.

Grundsätzlich halte ich die Frage für absolut berechtigt, in wie weit Kriegserfahrungen Einfluss auf das Erziehungsverhalten haben. Trotzdem halte ich es für viel wesentlicher zu fragen, in wie weit destruktive Kindheitserfahrungen Kriege und bewaffnete Konflikte mitverursacht haben?
Hier bietet die Studie einige aussagekräftige Zahlen. Insgesamt wurden Daten für 11.759 Kinder, die jünger als fünf Jahre alt sind, besprochen. Im Schnitt wurden 24 % dieser Kinder mit Gegenständen (wie z.B. Stöcke, Besenstiele oder Gürtel) geschlagen und 20 % erlebten leichtere Formen von Gewalt („spanking“) (ebd., S. 111). Diese Zahlen gelten für das Gewalterleben innerhalb von vier Wochen vor der Befragung (die Raten für die gesamte Kindheit dürften entsprechend höher sein)! Die erfassten Kinder waren im Schnitt ca. 2 ½ Jahre alt, die Mütter im Schnitt ca. 27.

Das ist ein enorm hohes Ausmaß von Gewalt gegen eine Altersgruppe, die besonders sensibel ist und sich noch in einer entscheidenden Entwicklungsphase befindet. In der Studie wurde aber noch mehr erfasst, nämlich eigens erlittene Gewalt der befragten Mütter in deren Kindheit. Im Schnitt wurden 51 % der Mütter als Kind mit Gegenständen geschlagen und 9 % erlebten „spanking“ (ebd., S. 111). Es ist nicht deutlich ersichtlich, ob diese selbst erlittene Gewalt auch nur für die Phase der frühen Kindheit gilt oder für die gesamte Kindheit. Ich vermute so oder so, dass es in der Tat eine Abnahme der Gewalt gegen Kinder in Kolumbien gab (was dem allgemeinen Trend des Gewaltrückgangs entsprechen würde). Wenn dieser Trend sich weiter ausweiten sollte, werden sich in Kolumbien auch politische Spannungen nachhaltig entschärfen.

Was diese Studie auf jeden Fall (mal wieder) gezeigt hat ist, dass in Ländern mit hohem Konfliktpotential stets auch hohe Raten von Kindesmisshandlung zu finden sind. Diese Kindheitserfahrungen bilden das Fundament, auf dem politische Krisen und politische Gewalt aufgebaut werden können.   


Montag, 24. Juni 2019

Mord an Walter Lübcke. Kindheit und Lebensweg von Stephan Ernst


(Nachträglicher Hinweis: In meinem Beitrag "Der Fall Stephan Ernst entwickelt sich zu einem Paradebeispiel" vom 06.08.2020 habe ich weitere Infos über seine Kindheit verarbeitet!)


Der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) beschäftigt derzeit das Land. Heute Vormittag hörte ich im Deutschlandfunk die Sendung „Kontrovers“ zu diesem Fall und zum Thema Rechtsextremismus allgemein. Ich kam in der Tat auch bei der Hörerhotline durch und man bat an, evtl. zurückzurufen. Ich hatte der Dame dort erzählt, dass bei solchen Diskussionen stets das Thema destruktive Kindheitserfahrungen ausgeklammert bleibt. Und dies, obwohl es mittlerweile so einige Studien dazu gibt, die alle samt nahelegen, dass Rechtsextremisten in einem enorm hohen Ausmaß von elterlicher Gewalt, Vernachlässigung und sonstigen belastenden Kindheitserfahrungen betroffen sind. Ich verwies auch kurz darauf, dass vom BKA selbst die Studie „Die Sicht der Anderen“ veröffentlicht wurde, in der entsprechende Kindheitshintergründe festgestellt wurden und die Experten trotzdem fast nie darüber sprechen. Geladen bei „Kontrovers“ waren u.a. Andreas Grün (Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei in Hessen) und Prof. Gideon Botsch (Leiter der Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus am Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam). Leider wurde ich nicht zurückgerufen. Ich war allerdings zu meinem Bedauern auch erst ca. 15 Minuten vor Sendeschluss durchgekommen.

Ich hätte die Runde kurz dazu ermahnt, die Kindheitshintergründe bei dem Thema nicht zu vergessen und ich hätte gesagt, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit auch der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke, Stephan. Ernst , eine sehr destruktive Kindheit hatte.

Am Nachmittag recherchierte ich dann kurz über die Kindheit von Stephan Ernst. Normalerweise dauert es oft lange Zeit, bis entsprechende Hintergründe nach solchen Taten bekannt werden. Zu meinem Erstaunen liegen schon jetzt deutliche Informationen vor.

Der Lebensweg von Stephan Ernst entspricht geradezu in lehrbuchartiger Reinform dem klassischen Werdegang solcher Täter. In meinem Buch habe ich entsprechende Studien über Rechtsextremisten besprochen. Stephan Ernst passt 100%ig in das Raster.

Stephan Ernst war in Kindheit und Jugend ein zurückgezogener Einzelgänger. Schon früh wird er auffällig, u.a. durch Delinquenz und als Jugendlicher durch Springerstiefel und rechte Gesinnung. Er schaffte den Hauptschulabschluss, brach später seine Lehre ab und setzte schließlich als 15-Jähriger ein Mehrfamilienhaus in Brand. Mit ca. 18 Jahren stach er mit einem Messer auf einen Menschen mit Migrationshintergund ein. Ca. ein Jahr später verübte er einen Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim, der allerdings misslang.
Später wurde von Gutachtern Fehlentwicklungen, Persönlichkeitsstörungen und selbstverletzende Tendenzen bei Stephan Ernst festgestellt. Nachdem einmal eine Freundschaft mit einem Türken gescheitert war, habe er sich das Wort "Haß" in die Hand geritzt. (Alle vorgenannten Infos und auch nachfolgende Infos zur Kindheit siehe Quelle hier: Stettin,I, Herrnkind, K. & Eißele, I. (2019, 20. Juni): "Hass auf alles und jeden": Auf den Spuren des Mannes, der Walter Lübcke ermordet haben soll. Stern.de)

Stephan Ernst hatte in einem früheren Gerichtsprozess seine Kindheit als wenig glücklich geschildert. „Sein Vater sei Alkoholiker gewesen. Aus Angst vor ihm habe er `mit einem Messer im Bett` geschlafen. Die Mutter habe gearbeitet, so dass er als `Schlüsselkind` viel allein gewesen sei.“ (stern.de)
Die kurzen Schilderungen über seine Kindheit offenbaren bereits ein enorm hohes Ausmaß an Destruktivität in dieser Familie. Wie so oft bei solchen Fällen gehe ich davon aus, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist. Wer aus Angst vor dem eigenen Vater mit einem Messer im Bett schläft, der wird vorher Etliches erlebt und erlitten haben. Sollte Stephan Ernst erneut begutachtet werden, werden wir evtl. noch ein erweitertes Bild über seine Kindheit erhalten.

Ach hätte man mich doch heute in der genannten Sendung zu Wort kommen lassen. Dieser aktuelle Fall darf nicht isoliert betrachtet werden. Er reiht sich bzgl. der Sozialisation solcher Täter ein in eine lange Liste anderer Fälle.

Freitag, 21. Juni 2019

Was die Krise der etablierten Parteien und "Fridays for Future" mit veränderten Kindheiten und Erziehungsstilen zu tun hat


Nachdem es innerhalb der ZDF-Sendung von Markus Lanz am 12.06.2019 um einen rauen Umgang und Machtkampf innerhalb von Parteien (insbesondere innerhalb der SPD, aber auch bei der CDU) ging, äußerte sich der Journalist Robin Alexander folgendermaßen:
Die Leute wollen das heute nicht mehr. Ich glaube, das Publikum hat sich verändert und nicht die Akteure. (…) Wir haben so eine neue Sensibilität, deshalb kommen auch die Grünen so gut, die ja die ganze Zeit darstellen: Habeck und Baerbock, wie mögen sie sich und sie teilen sich das Büro und wie toll. Die Leute wollen heute eine kooperative Führung mindestens dargestellt haben. Und dieses alte Harte, was die SPD macht wie eh und je, kommt nicht mehr gut an.

Ich habe genau auf einen solchen Aufhänger gewartet! SPD und CDU (aber zum Teil sicher auch die LINKE und die FDP) reiben sich verwundert die Augen und staunen, was da in letzter Zeit passiert. Spätestens seit der Europawahl ist klar, dass sich die politische Landschaft radikal ändern wird.
Bei den 18- bis 35-Jährigen waren die GRÜNEN bei der Europawahl 2019 die stärkste Kraft.
Hätten nur die unter 25-Jährigen gewählt, wären die GRÜNEN sogar bei 34% der Stimmen gelandet, einzig die CDU wäre noch mit 12% im zweistelligen Bereich. Und: Der Aufwind der AFD wäre jäh am Ende, denn diese hätte von den unter 25-Jährigen nur 5 % der Stimmen erhalten (ARD, Umfragen Wähler nach Altersgruppen).

Sicherlich spielt bei dieser Entwicklung das Thema „Klimawandel“ eine wichtige Rolle. Die GRÜNEN haben dabei von Haus aus einen Vorteil. Ich glaube aber, dass die oben zitierte Analyse von Robin Alexander eine mindestens ebenso gewichtige Rolle spielt. Robert Harbeck (geboren 1969), Annalena Baerbock (geb. 1980), Katrin Göring-Eckardt (geb. 1966) oder auch Gesine Agena (geb. 1987), Jamila Schäfer (geb. 1993), Michael Kellner (geb. 1977) oder Marc Urbatsch (geb.  1976) verkörpern nicht nur eine neue Politiker-Generation, sondern vor allem eine neue Mentalität. Und das gilt nicht nur bezogen auf die Gegenpole CDU, CSU, FDP & SPD, sondern auch bezogen auf die „alten GRÜNEN“ wie z.B. Joschka Fischer (geb. 1948), Jürgen Trittin (geb. 1954) oder Claudia Roth (geb. 1955). Allen drei Letztgenannten fehlte die emotionale Leichtigkeit, die die „neuen“ GRÜNEN mitbringen.
Die jüngeren Nachwuchspolitiker anderer Parteien sind zwar auch jung (was logisch ist), aber sie treffen nicht so gut die neuen Mentalitäten (kaum ein junger Politiker verkörpert dies im Extrem so gut wie Philipp Amthor von der CDU, der Jahrgang 1992 ist, aber eine derart konservative Ausstrahlung hat, dass man eher an frühere Zeiten erinnert wird). Zumindest nicht so treffsicher, wie die GRÜNEN.

Wer sich mit Kindheiten befasst, mit der historischen Entwicklung von Kindheit und mit sich verändernden Erziehungsstilen (in Familie und Schule), der wundert sich eigentlich nicht über die aktuelle politische Entwicklung. Diese Entwicklung war geradezu überfällig! Das Publikum hat sich verändert, stellte Robin Alexander fest. Aber die politischen Akteure nicht. Starre Parteien wie CDU, CSU und SPD haben offensichtlich nicht viel Raum gelassen, um Menschen mit neuen Mentalitäten nach oben zu lassen. Das rächt sich jetzt.
Man sieht dies alleine schon am Ungleichgewicht der Altersstrukturen in den Parteien. Die GRÜNEN haben von allen Parteien den geringsten Anteil von Mitgliedern, die über 66 Jahre (also Geburtenjahrgänge unter 1953) alt sind (nämlich 13%, im Vergleich dazu z.B. CDU = 42%, CSU = 38 % und SPD = 42 %). Der Anteil der Mitglieder, die 16 bis 35 Jahre alt sind, ist bei den GRÜNEN ungefähr doppelt so groß wie bei CDU/CSU und SPD (23 % bei den GRÜNEN, dagegen 10 % bei CDU/CSU und 13 % bei der SPD). (Zahlen siehe DER SPIEGEL, Nr. 24, 08.06.2019 „Echt jetzt?“, S. 16)

Die Daten über den stetigen Gewaltrückgang gegen Kinder in Deutschland sind bekannt. Parallel nahm stetig der Anteil der Menschen zu, die über ein hohes Maß an elterlicher Zuwendung berichten. Für die Geburtenjahrgänge zwischen den 1930er und 1950er Jahren ist nachgewiesen, dass diese Jahrgänge nur zu ca. 30 % ein hohes Maß an elterlicher Zuwendung erfahren haben, bei den Jahrgängen ab 1990 sind dagegen mittlerweile Raten von über 60 % nachgewiesen. Gesonderte Schülerbefragungen (mit hohen Fallzahlen) in Niedersachen zeigen ergänzend, dass die Geburtenjahrgänge um das Jahr 2000 mittlerweile zu 78,6 % über ein hohes Maß an elterlicher Zuwendung berichten (Pfeiffer, C., Baier, D. & Kliem, S. (2018): Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland. Schwerpunkte: Jugendliche und Flüchtlinge als Täter und Opfer. Züricher Hochschule für angewandte Wissenschaften, Institut für Delinquenz und Kriminalprävention, S. 37+39.).

Oder man schaut ganz klassisch in die Shell-Jugendstudien. Der Anteil der Jugendlichen, die „bestens“ mit ihren Eltern auskommen, ist seit der Befragung 2002 stetig gestiegen, von 31 % im Jahr 2002 auf 40 % im Jahr 2015. Fasst man die Items „Kommen bestens miteinander aus“ und „Kommen klar, gelegentliche Meinungsverschiedenheiten“ zusammen, dann ergibt sich folgendes Bild: 2002 = 89 %, 2006 = 90 %, 2010 = 91 % und 2015 = 92 %.  (Geburtsjahrgänge für die Befragung 2002 = ca. 1977 – 1990, für 2015 = ca. 1990 – 2003) Insgesamt betrachtet erging es den Generationen ab dem Geburtenjahrgang 1977 (meinem Geburtsjahr!) also recht gut in ihren Familien.
Noch deutlicher sind sie Ergebnisse, wenn es um die Frage geht, ob man die eigenen Kinder „genauso“ oder „ungefähr so“ erziehen würde, wie man selbst von seinen Eltern erzogen wurde. Dabei gibt es eine stetige Steigerung: 1985 = 53 %, 2000 = 72 %, 2002 = 69 %, 2010 = 72 % und 2015 = 74 % (Shell Deutschland Holding (Hrsg.) 2015: Jugend 2015. Eine pragmatische Generation im Aufbruch. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, S. 52-55.)

Diese so aufgewachsenen Menschen können nichts mehr mit der ruppigen Art, Machtspielen und rhetorischen Luftblasen in der Politik anfangen. Sie wurden kooperativ erzogen und verstehen das Gehampel der politischen Akteure nicht mehr. Das hat die Politik bisher nicht verstanden!

Eine pragmatische Generation im Aufbruch“ wurde die Shell-Studie 2015 betitelt. Gerade im Jahr 2019 mit den Fridays for Futures-Demos könnte dieser Titel nicht besser passen. Wer sich diese Demos hierzulande anschaut, der sieht Kinder und Jugendliche mit einer klaren, ungetrübten Sicht und deutlichen, auf Fakten beruhenden Zielen, das Ganze auch noch gänzlich gewaltlos und ohne Hass. (Bei den 1968ern sah das noch anders aus, vor allem was Hass, Feindbilder und Gewaltfreiheit anging.)

Um die Zukunft müssen wir uns (vom Klimawandel abgesehen) hierzulande keine Sorgen machen. Alle vorliegenden Daten und Informationen zu Kindheit und Jugend lassen den Schluss zu, dass sich unsere Gesellschaft nachhaltig und positiv Stück für Stück weiterentwickeln wird. Die starren, konservativen Charaktere der Vergangenheit, die noch mit Zucht und Ordnung erzogen wurden, gehören bald der Geschichte an. (Schlechte Nachrichten vor allem auch für die AFD und ähnlich Gesinnte!) Oder wie es der Kinderarzt Herbert Renz-Polster anlässlich seines Buches „Erziehung prägt Gesinnung“ in einem Interview formulierte: „Wir haben aktuell die liberalste Gesellschaft in Deutschland, die es jemals gab. (…) Wir ernten derzeit die Früchte einer würdigeren und befreienderen Erziehung. Insbesondere in den Familien haben wir heute ein viel sichernderes, emotional wärmeres, zugewandtes und bedürfnisorientiertes Umfeld“ (Schubert, F. (2019, 25. April): „Nur wer sich selbst als wertvoll ansieht, kann auch anderen einen Wert zugestehen“. Frankfurter Rundschau.).

(Und ja, es ist kein Zufall, dass ich diesen Beitrag heute, da der erste internationale Klimastreik in Aachen stattfindet, veröffentliche ;-) )



Dienstag, 18. Juni 2019

Oliner & Oliner: Die Kindheit von JudenretterInnen


In meinem Blog hatte ich bereits 2012 von der Studie von Eva Fogelman berichtet, die bei der Mehrheit der von ihr untersuchten Judenretter und Judenretterinnen eine auffällig positive Kindheit finden konnte. Fogelman sieht diese Kindheitserfahrungen in einem direkten Zusammenhang zum helfenden Verhalten dieser Menschen während der NS-Zeit.

Es gibt eine weitere Studie zu diesem Thema, die ich bisher nur in meinem Buch besprochen habe. Die Ergebnisse halte ich für so bedeutungsvoll, dass ich diese auch im Internet unbedingt kurz vorstellen möchte.

Oliner & Oliner (1992) haben 406 Judenretter und -retterinnen aus verschiedenen europäischen Ländern befragt und die Daten mit 126 Nicht-Rettern (von denen allerdings 52 bekundeten, dass sie gegen die Nazis agiert oder Juden geholfen hätten, was allerdings nicht überprüfbar war), die zur gleichen Zeit in den gleichen Regionen gelebt hatten, verglichen. Die Kindheiten und Familien der Judenretter unterschieden sich signifikant von den Kindheiten und Familien der Nicht-Retter. So wurde z.B. nur in 1,4 % der Familien der Judenretter der Gehorsam betont, bei den Nicht-Rettern waren es 8,5 %. In 70,3 % der Familien der Retter wurden ethische Werte betont, bei den Nicht-Rettern waren es dagegen 55,9 %. 78,4 % der Retter hatten einen starken familiären Zusammenhalt erlebt, dagegen 55,7 % der Nicht-Retter. 32 % der Retter und 40 % der Nicht-Retter berichteten von Körperstrafen in der Familie. Auffällig dabei ist, dass die Körperstrafen in den Familien der Retter eher keine Erziehungsroutine waren, sondern selten oder manchmal vorkamen und häufig den Strafen Belehrungen und Begründungen vorausgingen oder manchmal – den Fallbeispielen folgend - sogar Entschuldigungen folgten. Bei den Nicht-Rettern zeigten sich mehr regelmäßige Strafen und weniger oder keine Begründungen (Oliner & Oliner 1992, S. 2, 3, 162, 179-182 + Tabellen 6.7, 7.1, 7.11 im Anhang).  Ich bin mir sicher, dass die Besonderheiten in den Familien der meisten Retter noch deutlicher zu Tage getreten wären, wenn man als Vergleichsgruppe überzeugte Nazis und Judenhasser gewählt hätte.

Die genannten Ergebnisse sind umso aussagekräftiger, wenn man sich erneut klar macht, dass diese Generation oft mit schwarzer Pädagogik überzogen wurde. Wenn die Mehrheit der Judenretter gerade nicht der Mehrheit was Kindheitshintergründe angeht entsprach, so spricht dies für alles andere als einen Zufall.



Verwendete Quelle:

Oliner, S. P. & Oliner, P. M. (1992): Altruistic Personality: Rescuers Of Jews In Nazi Europe. The Free Press, New York. Kindle E-Book Version.





Siehe ergänzend auch:
Die Kindheit von Sophie Scholl
- Die Kindheit von JudenretterInnen (Studie von Eva Fogelman)

Mittwoch, 12. Juni 2019

„Arabien ist die traurigste Region der Welt“ und die tieferen Ursachen dafür


Immer wieder fallen mir in Berichten Zusammenhänge zu Kindheitserfahrungen auf. Ein aktueller Bericht sticht dabei besonders heraus, insofern muss ich jetzt etwas dazu schreiben.

 Mehrere Studien und Experteneinschätzungen legen einem Bericht der Wirtschaftszeitung brand eins (04/2019, "Trauriges Arabien" von Mareike Enghusen) nahe: „Arabien ist die traurigste Region der Welt.“ Die Raten von Depressionen und anderen psychischen Leiden würde in der arabischen Region deutlich über dem Durchschnitt der Welt liegen. In Ägypten beispielsweise leidet jeder vierte Mensch unter seelischen Problemen, meist Depressionen und Angstzuständen. In Palästina gehen dortige Psychiater von einer Depressionsrate zwischen 30 und 40 Prozent aus. Der Artikel ist deutlich ausführlicher und ich verweise entsprechend darauf. Trotz dieser Ausführlichkeit taucht in dem Artikel nicht ein einziges Mal das Wort „Kindheit“ auf.
Kulturelle und religiöse Normen, Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, auch Kriegs- und Terrorerfahrungen werden u.a. als Ursachen für seelisches Leid genannt. Aber Kindheitserfahrungen? Kein Wort davon!

Der Autorin kann man dabei kaum einen Vorwurf machen. Das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder und von weiteren kindlichen Belastungsfaktoren im arabischen Raum ist im öffentlichen Bewusstsein noch nicht angekommen. Die große UNICEF-Studie aus dem Jahr 2014 wurde zwar in (kleinen) Artikeln hier und da besprochen, aber das reichte nicht aus, um ein bleibendes Bewusstsein für das enorme Ausmaß der Gewalt zu schaffen. Der arabische und auch afrikanische Raum ist weltweit führend, was die Misshandlung von Kindern angeht...

Hier noch einmal die Zahlen für Ägypten und Palästina aus der UNICEF-Studie (Zahlen gelten für Gewalterleben von Kindern im Alter von 2 - 14 Jahren innerhalb eines Monats vor der Befragung, das Gewalterleben für die gesamte Kindheit dürfte entsprechend höher sein):

Ägypten
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt:  82 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 42 %
psychische Gewalt: 83 %

Staat Palästina
körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %
körperliche Gewalt:  76 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %
psychische Gewalt: 90 %

Im Falle von Ägypten kommt eine weitere Besonderheit hinzu: Noch in unserer heutigen Zeit ist die Genitalienverstümmelung in Ägypten sehr weit verbreitet; 91 % aller ägyptischen Frauen zwischen 15 und 49 Jahren wurden genital verstümmelt (UNICEF – United Nations Children´s Fund. (2013): Female Genital Mutilation/Cutting: A statistical overview and exploration of the dynamics of change. New York. , S. 26).

Diese Daten muss man zusammendenken mit den bekannten möglichen Folgen von Kindesmisshandlung und dabei besonders den massiv erhöhten Wahrscheinlichkeiten für Suizid, Depressionen und psychische Krankheiten wie sie in den ACE-Studien (Verknüpfung von belastenden Kindheitserfahrungen mit dem Gesundheitszustand von Erwachsenen) festgehalten wurden.
Befragte mit einem ACE-Wert von vier und mehr (also mehrere erlittene belastende Kindheitserfahrungen) haben beispielsweise ein um 460% erhöhtes Risiko an einer Depression zu erkranken und ein um 1.220 % erhöhte Wahrscheinlichkeit eines Suizidversuches, als jemand mit einem ACE Wert von null (Felitti, V. J. (2002): Belastungen in der Kindheit und Gesundheit im Erwachsenenalter: die Verwandlung von Gold in Blei. In: Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Jg. 48, Nr. 4, S. S. 365+366).
Ab einem ACE Wert von sechs und höher ist die Wahrscheinlichkeit für einen Suizidversuch sogar um 3.000 bis 5.100 % erhöht (Felitti, V. J., Fink, P. J., Fishkin, R. E. & Anda, R. F. (2007): Ergebnisse der Adverse Childhood Experiences (ACE) – Studie zu Kindheitstrauma und Gewalt. In: Trauma & Gewalt. Jahrgang 1, Heft 2. S. 26).

Es braucht viel mehr Aufklärung über Ausmaß und mögliche Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen. Nur dann können gesellschaftliche Phänomene richtig und umfassend erklärt werden. Nur dann kann auch eine nachhaltige Prävention stattfinden. Wer wundert sich im Angesicht der aufgezeigten Daten ernsthaft darüber, dass die Menschen vor Ort psychisch krank werden? Und wer wundert sich ernsthaft darüber, dass Demokratisierungsprozesse in der arabischen und afrikanischen Region derart schwierig vorankommen bzw. oft sogar noch Rückschritte gemacht werden?

(Übrigens: Suizid ist im Islam eine große Sünde. Dagegen wird jemand, der als Märtyrer stirbt, oft hoch verehrt. Ich frage mich nicht das erste Mal, ob nicht die selbstdestruktiven Prozesse im arabischen Raum, dabei vor allem auch die Terrorwellen, einfach nur Ausdruck einer kollektiven Suizidalität sind. Da der Suizid religiös ein Tabu ist, werden andere Wege gefunden, damit massenhaft Menschen in den Tod gehen. Ein ehemaliger, ernüchterter Kämpfer des IS sagte beispielsweise in einem ZEIT-Interview: "Der IS ist ein gottloser Geheimdienststaat unter dem Deckmantel der Religion. Die Ideologen haben uns unseren Krieg gestohlen. Sie sind radikal. Sie kommen, um zu sterben. Sie wollen nicht siegen, sie wollen zu Gott.")

Samstag, 25. Mai 2019

Kurzfristige Zunahme von Gewalt gegen Kinder und deren Ursachen

Kürzlich habe ich mich für einen Text, der wohl Ende des Jahres veröffentlicht werden wird, intensiv mit dem Thema Gewaltrückgang gegen Kinder befasst. Der stetige Gewaltrückgang ist nicht nur in Deutschland deutlich messbar (vor allem im langfristigen Trend seit den 1970er Jahren), sondern auch in anderen europäischen Ländern (z.B. Schweden, Österreich, Großbritannien), sowie in den USA und Kanada.

Entsprechend verwundert hat mich ein SPIEGEL-Interview mit der Soziologin Christine Bergmann (vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen - kurz: KFN), die sagte:
Tatsächlich berichten auch mehr Schüler als früher über Prügel daheim“ (DER SPIEGEL, Nr. 21 vom 18.05.2019, „Gefühlte Unsicherheit“, S. 13). Ich habe mir die entsprechende Studie angesehen, auf die sich Frau Bergmann ganz offensichtlich bezogen hat:  Bergmann, M. C., Kliem, S., Krieg, Y. & Beckmann, L. (2019): Jugendliche in Niedersachsen. Ergebnisse des Niedersachsensurveys 2017. (KFN-Forschungsberichte No. 144). Hannover, KFN.

Tatsächlich wurde in dieser o.g. Befragung von fast 9.000 niedersächsischen Schülern und Schülerinnen im Jahr 2017 festgestellt, dass es eine signifikante Zunahme körperlicher (sowohl schwerer als auch leichter) Elterngewalt gab (im Vergleich zu den Voruntersuchungen aus den Jahren 2013 und 2015). Zwischen 2013 und 2015 wurde dagegen noch eine leichte Abnahme der Gewalt festgestellt (was dem allgemeinen Trend entsprach).

Mindestens einmal erlebte, schwere körperliche Elterngewalt vor dem 12. Lebensjahr stieg z.B. von 11,8 % (Befragung 2015) auf 14,8 % (Befragung 2017) (Bergmann et al. 2019, S. 126). Ebenfalls stieg der Anteil der Schüler, die berichteten, innerhalb der letzten 12 Monate mind. einmal schwere Elterngewalt erlitten zu haben von 4,4 % im Jahr 2015 auf 5,9% im Jahr 2017. Gewisse Schwankungen sind in Befragungen normal und zufällig, aber hier wurde ja eine signifikante Zunahme festgestellt. (Nebenbei bemerkt zeigen diese Zahlen, dass in Niedersachsen mehr schwere Gewalt ausgeübt wird, als im Bundesdurchschnitt, zumindest zeigt dies ein Datenvergleich bezogen auf die Studie von Hellmann (2014) und dabei der Blick auf die jüngste Altersgruppe)

Wie lässt sich dieser Anstieg innerhalb von zwei Jahren erklären? Dieser Frage wurde in der Studie nicht direkt nachgegangen, aber die Antwort darauf erschließt sich letztlich zu einem nicht unwesentlichen Teil aus den Daten selbst.

Kinder mit Migrationshintergrund erleben deutlich häufiger körperliche Elterngewalt, als deutsche Kinder. Dies wurde in KFN-Studien immer wieder ermittelt, so auch in der Befragung aus dem Jahr 2017. So erlebten 9,9 % der deutschen Schüler in Niedersachsen mindestens einmal schwere körperliche Elterngewalt, Kinder mit Migrationshintergrund dagegen im Schnitt zu 25,9 % (Bergmann et al. 2019, S. 127).
In der Befragung 2017 gibt es einen deutlichen Unterschied bei der Stichprobe gegenüber der Befragung aus dem Jahr 2015: „Etwas mehr als ein Viertel der Neuntklässler/innen Niedersachsens (2017: 27.7 %) weist einen Migrationshintergrund auf; dieser Anteil ist statistisch signifikant höher als noch 2015 (24.0 %)"  (Bergmann et al. 2019, S. 24). Im Detail fällt auf, dass vor allem der Anteil an Schülern zugenommen hat, die (oder deren Familie) aus der ehemaligen Sowjetunion (SU) stammen, von 6,6 % (2015) auf 8,6 % (2017). Die nächst größere Steigerung gab es bei Schülern aus islamischen Ländern, von 1,9 % auf 2,5 % (Bergmann et al. 2019, S. 26).

Gerade für die Schüler, die (oder deren Familie) aus der ehemaligen Sowjetunion stammen, findet sich im Verhältnis zu der durchschnittlichen Gewaltrate von 25,9 % für Schüler mit Migrationshintergrund (wie oben gezeigt) eine überdurchschnittlich hohe Rate von 35,3 % von erlittener schwerer körperlichen Elterngewalt (Bergmann et al. 2017, S. 126). In der KFN-Studie aus dem Jahr 2015 lag die entsprechende Gewaltrate für Schüler aus der ehemaligen SU noch bei 26,8 % (Bergmann et al. 2017, S. 117), so dass hier nicht nur der Effekt bzgl. der anteilsmäßigen Zunahme an Schülern aus der SU eine Rolle spielt, sondern auch eine deutlich erhöhte Gewaltrate, die 2017 erfasst wurde. Für Schüler aus islamischen Ländern wurde die entsprechende Gewaltrate 2017 nicht ausgewiesen, 2015 lag sie noch bzgl. der schweren körperliche Elterngewalt bei 33 %.

Wenn der Anteil der Befragten aus diesen Regionen deutlich steigt, steigt logischerweise auch die Durchschnittsrate für Gewalt, die erfasst wird.

Allerdings: Auch bei den deutschen Schülern wurde eine erhöhte Gewaltrate festgestellt, sie stieg von 8 % (2015) auf 9,9 % (2017). Diese Steigerung ist erklärungsbedürftig, da sie dem Trend entgegenläuft. Da in Niedersachsen jedes Jahr diese Befragungen durchgeführt werden, wird sich bei der Befragung aus dem Jahr 2018 zeigen (die vermutlich 2020 veröffentlicht wird), ob 2017 nur ein „Ausreißer“ war und sich der Trend des Gewaltrückgangs fortsetzt.

Ergänzend möchte ich darauf hinweisen, dass sich auch beim Thema Häusliche Gewalt zwischen Elternteilen ähnliche Daten finden lassen. Zwischen 2015 und 2017 gab es eine leichte Steigerung der beobachteten Gewalt zwischen Elternteilen von im Schnitt 4,6 % auf 5 %. Die deutschen Schüler beobachteten unterdurchschnittlich Gewalt zwischen Elternteilen (3,3 %), die Schüler mit Migrationshintergrund deutlich überdurchschnittlich (9,1 %) (Bergmann et al. 2019, S. 130). Auch bei diesem Gewaltfeld dürfte also eine Zunahme von Menschen mit Migrationshintergrund eine Steigerung der durchschnittlichen Gewaltrate verursachen.

Schlussfolgerung und Kommentar


Ursprünglich wollte ich für mich klären, wie Frau Bergmann zu der Aussage kommt, dass jüngst Gewalt gegen Kinder zugenommen hat. Dabei landete ich jetzt zwangsläufig beim Thema Migration.
Ein erhöhter Zuzug von Menschen mit Migrationshintergrund und/oder eine höhere Geburtenrate von Menschen mit Migrationshintergrund bedeutet, dass sich in Deutschland statistisch die durchschnittliche Gewaltrate gegen Kinder erhöht, schlicht und einfach aus dem Grund, weil in Migrantenfamilien (vor allem aus Afrika, Asien, der ehemaligen SU und islamischen Ländern) deutlich mehr körperliche Übergriffe auf Kinder stattfinden und auch mehr häusliche Gewalt zwischen den Eltern passiert, als in deutschen Familien.

Mir ist bewusst, dass meine obigen Schlussfolgerungen Wind auf die Mühlen der Rechtspopulisten sind. Zudem habe ich leider in der Vergangenheit feststellen müssen, dass meine Besprechungen von Studien zum Ausmaß von Kindesmisshandlung in der Welt in rechten Kreisen und Internetangeboten besprochen und kommentiert wurde, mit dem Ziel, um pauschal gegen Geflüchtete zu hetzen. Dazu habe ich bereits einen Kommentar veröffentlicht, sowie in meinem Impressum eine Distanzierung vom Missbrauch der von mir gesammelten Daten für politische Zwecke beigefügt.

Ich habe entsprechend lange überlegt wie und ob ich diesen Beitrag schreiben soll. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich ihn unbedingt schreiben und veröffentlichen muss, weil die Fakten stimmen und einfach auf den Tisch gehören. Den Rechtspopulisten und ihren Anhängern möchte ich sogleich entgegnen, dass es mir um die Sorge aller Kinder, aber eben auch speziell der Migranten-Kinder geht, die im Hier und Jetzt in unserem Land leben. Sie gehören bereits dazu und gehen hier zur Schule. Mir geht es nicht darum, dass diese Kinder (und ihre Familien) wieder gehen sollen und dies dann sogar noch mit der häuslichen Gewalt zu begründen. Wenn diese Kinder hier sind, dann müssen sie integriert werden. Zu dieser Integration gehört dazu, dass sie selbstverständlich ein Recht auf gewaltfreie Erziehung in Deutschland haben! Dass fast jedes vierte Schulkind mit Migrationshintergrund (mindestens einmal) von schwerer körperlichen Elterngewalt betroffen ist (und wie wir oben gesehen haben bei manchen Gruppen sogar jedes dritte Kind betroffen ist), stimmt mich sehr sorgenvoll. Diese Informationen lösen bei mir keinen Hass auf Fremde oder Abwehrhaltungen aus, sondern das unbedingte Bedürfnis, hier zu helfen. Da die Aufgabe allerdings viel zu groß ist, muss hier die Politik etwas tun (natürlich parallel auch für die deutschen Schüler).

Ich selbst hatte bereits am 19.10.2015 an die damalige Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig geschrieben. In meinem Schreiben habe ich auf die Zahlen aus der UNICEF-Studie aus dem Jahr 2014 hingewiesen und die Länder in den Fokus gestellt, aus denen 2015 besonders viele Menschen zu uns geflüchtet sind.
Ich kommentierte die Zahlen in meinem Schreiben u.a. so:
Sofern Familien mit Kindern aus diesen Regionen zu uns kommen, ist damit zu rechnen, dass die Erziehungspraxis entsprechend dieser Zahlen gewaltbelastet ist. Ich möchte an Sie und Ihr Ministerium appellieren, sich diese Daten vor Augen zu führen und demokratische Wege zu finden, wie man mit diesem Problem zukünftig umgeht. Die möglichen Folgen von Kindesmisshandlung dürften Ihnen bekannt sein. Gerade diese Folgen dürften eine nachhaltige Integration hierzulande besonders erschweren. (...) Hier muss die Politik präventiv ansetzen und den Schutz der Kinder vor Augen haben.“
Von einer Sprecherin aus dem SPD-Parteivorstand bekam ich auch eine stellvertretende Antwort, aus der ich einen Teil zitiere: „Ich danke Ihnen für Ihre Ausführungen, die wir mit Interesse gelesen und zur Kenntnis genommen haben. Ihre Rückmeldung ist uns wichtig, wir werden Ihre Anregungen daher in zukünftige Diskussionen einbeziehen.“ Ob dies nur eine Standardantwort war oder ob dieser Punkt wirklich diskutiert wurde, ist mir natürlich nicht bekannt.

Donnerstag, 16. Mai 2019

Kindheit von Horst Seehofer


Ich habe lange überlegt, ob ich kurz etwas über die Kindheit von Horst Seehofer schreiben soll. Bei überdeutlich destruktiven politischen Akteuren wie z.B. George W. Bush und ähnlichen Politikern habe ich da keine Bedenken. Horst Seehofer liegt mir weder als Person, noch vom Politikstil und der Politikausrichtung. Aber er ist ein Demokrat und langjähriger Spitzenpolitiker, ich bin mir sicher, dass er auch Leistungen abgeliefert hat, die es zu würdigen gilt. Insofern geht es mir hier nicht darum, Horst Seehofer bloß zu stellen oder persönlich anzugreifen oder ihn als gänzlich irrationalen Politiker hinzustellen.

Ich blicke allerdings auf den Rechtsruck (so war jedenfalls mein Eindruck), den er als Person und mit seinen politischen Forderungen auf Grund der vielen Geflüchteten ab 2015 vollzogen hat. Und ich blicke auf den schwer zu ertragenden (und fast schon peinlichen) öffentlichen Streit und Schlagabtausch (der fast eine Regierungskrise produziert hat), den er sich mit Angela Merkel geliefert hat. Dass Angela Merkel sehr oft als "Mutti" bezeichnet wird, ist bekannt. Ich frage mich, ob manche Verhaltensweisen von Horst Seehofer aus den benannten Krisentagen eine ganz andere, tiefere Ursache (nämlich aus eigenen Kindheitstagen) hatten? Wie sehr spielte dabei eine Rolle, dass "Mutti" einfach weg sollte, dass "Mutti" gedemütigt werden sollte, dass Horst sich mächtiger fühlen wollte?

In der Süddeutschen Zeitung (Nr. 132) wurde am 12. Juni 2018 (online bereits einen Tag früher hier) der Artikel "Der Aufreger" (von Constanze von Bullion) veröffentlicht. Darin wird Horst Seehofer zitiert: "Ich hatte strenge Eltern (...). Einmal die Woche gab es eine Ohrfeige und in der Schule auf die Pratzn. Die Mutter hat gesagt, wenn du nicht brav bist, liegt einer unterm Bett." (S. 3) Der Vater habe nicht viel gesprochen, Disziplin und Gehorsam seien die Werte gewesen, die im Elternhaus zählten. Die Mutter von Horst wird als dominante Person beschrieben, die die Wege ihres Sohnes lenkte. Die körperliche Gewalt scheint dabei also nur ein Faktor von vielen gewesen zu sein. Einmal die Woche gab es eine Ohrfeige, dass macht ca. 52 körperliche Übergriffe pro Jahr (multipliziert mal wie viel Jahren?) + die Schläge in der Schule.
Ergänzend kommt noch hinzu, dass Horst als Kind gehänselt wurde, wie er selbst einmal sagte. (FAZ, 31.08.2017,  "Seehofer wurde als Kind gehänselt") Das sind kurze Einblicke in eine deutsche Nachkriegskindheit, die allerdings deutlich zeigen, dass Horst Seehofer sehr belastetet aufgewachsen ist.

Mittwoch, 15. Mai 2019

„Andere Leute haben auch eine schwierige Kindheit gehabt!“: Wechselwirkung zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und Genen


Immer wieder taucht der Hinweis auf, dass doch unzählige Menschen, die schlimmste Erfahrungen als Kind machen mussten, später ein relativ unauffälliges Leben führen und niemals straffällig oder gewalttätig oder politisch extremistisch werden. Mit diesem Hinweis wird routinemäßig dem zentrierten Blick auf destruktive Kindheitserfahrungen von Gewalttätern, Terroristen und Diktatoren kritisch entgegnet. Diese Kritik ist so durchgängig, dass ich ihr in meinem Buch in einem eigenen Kapitel (»Nicht alle einst gedemütigten und misshandelten Kinder werden zu Gewalttätern« und »Nicht alle Nationen, deren Bevölkerung als Kind schwer belastet war und misshandelt wurde, führen Kriege«: Und warum diese Feststellungen keine Gründe dafür sind, Kindheitseinflüsse gering zu reden!) entgegnet bin. Diese Kritik ist eigentlich recht leicht zu entkräften. Vor allem geht es um erhöhte Wahrscheinlichkeiten für destruktives Agieren im Erwachsenenalter. Zum anderen müssen auch andere negative Folgen (z.B. psychische Krankheiten, Selbstschädigungen usw.) in den Blick genommen werden, so dass nicht – nur weil kein Täterverhalten nachweisbar ist - gesagt werden kann, dass die erlittenen Kindheitserfahrungen keine negativen Folgen haben. (Ich habe dazu auch in einem Blogbeitrag bereits einiges geschrieben)

Das Thema Gene habe ich dabei bisher nur angeschnitten. Leider bekam ich erst nach Fertigstellung meines Buches von der Neurobiologin und Psychologin Nicole Strüber das Buch „Die erste Bindung. Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen“ (2018, Klett-Cotta, Stuttgart) in die Hände.

Heute weiß man, dass es verschiedene Wechselwirkungen zwischen Genen und Umwelt gibt. Gene beeinflussen, welche Auswirkungen Erfahrungen haben. Es gilt aber auch, dass Erfahrungen festlegen, welche Gene wirksam werden. Strüber beschreibt die sogenannte Hypothese der differentiellen Beeinflussbarkeit. „Hiernach werden Individuen abhängig von ihren Anlagen in einem unterschiedlichen Ausmaß von den Erfahrungen mit ihrer Umwelt beeinflusst – und zwar im Guten wie im Schlechten. Kinder mit einer besonders beeinflussbaren Veranlagung können mehr als andere von positiven Erfahrungen profitieren, leider aber auch mehr als andere unter einer negativen Umwelt“ (Strüber 2018, S. 34).
Beispielsweise kann das Gen für eine Bindungsstelle des Dopamins (laut Wikipedia ein wichtiger, überwiegend erregend wirkender Neurotransmitter des zentralen Nervensystems) in verschiedenen Varianten vorliegen und dadurch die Wirkung von Dopamin beeinflussen. Kinder mit einer sogenannten 7R-Variante reagieren empfindlicher auf ihre Umwelt und Erfahrungen, als Kinder mit einer 4R-Variante. „Haben Kinder mit der 7R-Variante eine eher unsensible Mutter, neigen sie sehr zu aggressivem Verhalten. Reagieren deren Mütter hingegen sehr feinfühlig auf ihr Kind, dann sind die 7R-Kinder ausgesprochen friedlich – friedlicher als die Kinder mit anderen Varianten. Bei den 4R-Kindern spielt Feinfühligkeit der Mutter keine so große Rolle“ (Strüber 2018, S. 65).

Das gleiche würde, so Strüber, für die Fremdbetreuung von Kindern gelten. Kinder mit der 7R-Variante reagieren mit besonderer Unaufmerksamkeit und impulsivem Verhalten auf lange Fremdbetreuung; umgekehrt sind diese Kinder bei keiner oder von kaum Fremdbetreuungen besonders aufmerksam und können sich selbst sehr gut regulieren.

An anderer Stelle schreibt die Autorin: „Das Auftreten von Resilienz wird gelegentlich als Argument dafür angeführt, dass sich der Mensch von schlimmen frühen Erfahrungen erholen kann, wenn er nur will. Frühe extrem negative Erfahrungen könnten keine späteren Verhaltensprobleme entschuldigen (»andere Leute haben auch eine schwierige Kindheit gehabt!«). Leider ist diese Schlussfolgerung ziemlich falsch, da sowohl die genetische Ausstattung als auch das Vorhandensein früher ausgleichender Erfahrungen (etwa eine positive Bindungsbeziehung zu einem Familienmitglied bei gleichzeitiger Misshandlung durch ein anderes) bestimmen, ob jemand resilient auf frühe negative Erfahrungen reagieren kann. Das ist per Willensentschluss kaum mehr zu beeinflussen“ (Strüber 2018, S. 34f). Ich möchte dem noch anfügen, dass trotzdem jeder Mensch eine Verantwortung trägt und u.a. durch Psychotherapien die negativen Folgen abmildern kann.

Wichtig ist unterm Strich zu verstehen, dass Menschen verschieden sind, auch was ihre genetische Ausstattung angeht. Bei dem Einen führen Misshandlungserfahrungen dazu, dass mit ungeheurer Wut und Hass nach außen reagiert wird, ein anderer Mensch lenkt diesen Hass eher nach innen und schädigt sich selbst, ein Dritter (z.B. mit der 4R-Variante und zusätzlich ausgleichenden Positiverfahrungen) kommt vielleicht einigermaßen gut durchs Leben, trotz Misshandlungserfahrungen. Es bleibt bei allen Gedankenbeispielen dabei, dass jemand, der durch Massenmord, Gewalttäterkarriere, Terror usw. auffällt, die Kindheitserfahrungen einen ganz wesentlichen Einfluss auf derart destruktives Verhalten genommen haben und es bleibt auch dabei, dass als Kind geliebte und gewaltfrei aufgewachsene Menschen nicht zu Massenmördern und ähnlichen Akteuren werden.

Ich persönlich kann den Satz „Nicht alle einst gedemütigten und misshandelten Kinder werden zu Gewalttätern“ oder „Andere Leute haben auch eine schwierige Kindheit gehabt!“ nicht mehr hören. Diese Art von Reaktion verbaut einen wesentlichen Zugang zum Verständnis der tieferen Ursachen von Gewalt und menschlicher Destruktivität.

Donnerstag, 18. April 2019

Buchbesprechung: "Erziehung prägt Gesinnung" von Herbert Renz-Polster


Das Familienklima von heute ist das politische Klima von morgen“, hat der Kösel-Verlag in großen roten Buchstaben auf die Rückseite des Buches „Erziehung prägt Gesinnung: Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte - und wie wir ihn aufhalten können“ (2019) von Herbert Renz-Polster geschrieben. Besser kann man den Inhalt und die Kernaussage des Buches im Grunde nicht beschreiben.

Es sind nicht die (ökonomisch) Abgehängten, die z.B. Trump oder die AFD wählten, analysiert der Autor. Es ist der Hang zum Autoritarismus, der diese Menschen antreibt. Und der Autoritarismus hat wiederum viel mit dem zu tun, wie Kindheit war.
Kinder, die ihre Kindheit innerlich unverletzt, mit Selbstvertrauen, wachen Augen, Einfühlungsvermögen und Mut unter dem Herzen verlassen, seien dagegen später als Erwachsene widerstandsfähig, gerade auch gegen die Verlockungen des Rechtspopulismus.

Je härter die Kindheit, desto härter die Politik. Landkarten der kindlichen Not", so lautet ein Kapiteltitel. Der Grundgedanke dabei ist, dass man aus Informationen über kindliche Not „politische Landkarten“ erstellen könne. Zustimmungsraten zu Körperstrafen gegen Kinder in den USA z.B. stehen in Zusammenhang zu konservativen Wahlverhalten. Ähnlich geht der Autor mit Blick auf Ostdeutschland vor und analysiert das (autoritäre) Erziehungssystem (inkl. langer Krippenbetreuung) in der ehemaligen DDR, um in der Tiefe zu erklären, warum im Osten deutlich rechtspopulistischer gewählt wird.

Mein Lieblingskapitel handelt vom Lachen oder besser gesagt dem Nicht-Lachen-Können von Rechtspopulisten und radikalen Politikern: „In der rechtsautoritären Bewegung scheint man schlichtweg kein echtes Lachen zu kennen! Man bringt es allenfalls zu einem frösteligen, selbstgefälligen Grinsen, aber eben nicht zu einem geselligen, freudvollen Lachen. (…) Wann lacht Erdogan? Wann ein Geert Wilders? Herr Kaczyński, Frau von Storch, was bringt Sie zum Lachen? Sie können das schlicht und einfach nicht. Denn Lachen, so berichtet die Psychologie, hat nicht nur etwas mit emotionalem Wohlbefinden zu tun. Vor allem braucht es zum echten, resonanten Lachen die entsprechende innere Software – nämlich die Fähigkeit, mit anderen mitzuschwingen, ihre Gefühlswelt zu erspüren – und für einen Moment angstfrei zu teilen. Diese Fähigkeit entwickelt sich in der Kindheit – oder eben nicht. Ja, vielleicht hat jemand, der sich in seinem Leben von Anfang an unterwerfen musste, nie einen wirklichen Grund gehabt, das Lachen zu erlernen.“ (S. 117)

Das Buch ist mit rund 270 Seiten reinem Inhalt (320 Seiten inkl. Quellenverzeichnis etc.) mit großzügiger Schrift und etlichen Zwischentiteln schnell und verständlich zu lesen. Für Menschen, die sich schon ausgiebig mit den möglichen politischen und gesellschaftlichen Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen befasst haben, bietet es nicht zu viel Neues. Aber um diesen Personenkreis geht es auch gar nicht. Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt und Bestsellerautor von mehreren Erziehungsratgebern. Er erreicht ein großes Publikum und hat sich jetzt auch in den politischen Raum gewagt. In den letzten zwei Wochen haben einige große Medien das Buch besprochen oder den Autor interviewt. Der große Verdienst des Autors ist, dass er das Thema „Kindheit und Politik“ in die Öffentlichkeit treibt. Das wurde auch so was von Zeit! Zu hoffen ist, dass andere Autoren aufspringen und eine wirkliche Debatte beginnt, die immer wieder den Satz vor sich hertragen sollte: „Das Familienklima von heute ist das politische Klima von morgen“. Oder wie ich es kurz zusammenfassen würde: „Die Kindheit ist politisch!“

Montag, 15. April 2019

Kindheit von Boris Johnson und die Irrationalitäten des Brexit-Lagers

Aktualisiert am 10.08.2019


Rachel Johnson, die Schwester des konservativen Politikers Boris Johnson, hat einen Einblick in das gegeben, was sie und ihr Bruder in der Kindheit zu Hause erlebt haben. (The Times, 15.10.2012, "Me, Boris Johnson and our brilliantly hands off parents")
Sie beschreibt, dass sie in ihrer Kindheit kaum eine Wahl hatte, außer was die Wahl von Büchern anging, die sie lesen wollte. Ihre Eltern scheinen alles bestimmt zu haben. Deutlich wird auch elterliche Vernachlässigung, was sich in folgendem Satz zuspitzt: „Our parents provided us with the essentials, then got on with their own lives.“ Sie hätten als Kinder niemals Freunde zum spielen zu Hause gehabt. Und sie fügt an: „Keeping children busy and happy was not a parental priority.
Sie beschreibt eine Szene, in der sie sich als Kind geweigert hatte, eine Straße zu überqueren. Ihre Mutter packte sie daraufhin an den Haaren und zog sie rüber. Überhaupt scheinen körperliche Übergriffe, auch schwerer Art, Routine gewesen zu sein: „(…) my father and mother both believed enthusiastically in corporal punishment. My mother once broke a large stick over my legs after Boris and I had spent a happy and, we felt, productive morning carefully filling every Wellington boot in the passage to the brim with water. I bear neither parent any ill feeling for beating me. I would have done the same.“ Klassisch ist an dieser Stelle, wie das einst misshandelte Kind seine Eltern in Schutz nimmt und anhängt: An ihrer Stelle hätte ich das Gleiche getan...

Zu dieser Gewaltbelastung kommt eine weitere, schwere Belastung hinzu: Die Mutter von Boris Johnson litt unter Depressionen und einer massiven Zwangsstörung. Dies ging zu weit, dass sie sich in wohl unterschiedliche Kliniken einweisen ließ und die Kinder von einer "Nanny" (die Kettenraucherin war) betreut wurden. Diese "Nanny" wurde zur Ersatzmutter für die Kinder.
(Mail Online (2019, 14. April):  Revealed: How a chain-smoking Norland nanny raised Boris Johnson and his siblings while their mother was in and out of hospital being treated for crippling mental health issues)

In der Familie Johnson sei alles auf Wettkampf eingestellt gewesen, berichtet der SPIEGEL. Der Druck kam dabei vor allem vom Vater. Boris` Halbschwester Julia sagte dazu: "Wenn ich im Lateintest nur Zweite wurde, fragte mein Vater sofort: Wer war Erster? Das war eine Standardfrage in unserem Haushalt und eine eindringliche Mahnung, nie woanders zu landen als ganz oben" (DER SPIEGEL, Nr, 30, 20.07.2019, "Der Fesselungskünstler", S. 12).
Und natürlich sollte Boris auch auf ein Eliteinternat kommen. Im Alter von 13 Jahren wurde er somit von seiner Familie getrennt und lebte die folgenden ca. fünf Jahre lang in Eton. Wichtige Teile des damaligen Erziehungssystems in solchen Internaten seien damals Angst und Erniedrigung gewesen (DER SPIEGEL, Nr. 32, 03.08.2019, "Kinder an der Macht", S. 80-84.)

Boris Johnson stand für einen harten Brexit ohne Diskussionen. Er fiel vor dem Referendum vor allem auch durch diverse irrationale Reden und Vergleiche auf. So z.B. als er die Einflussnahme der Europäischen Union mit Hitlers kontinentalen Machtansprüchen verglich. Es ist gut möglich, dass Johnson und sein Wirken die wesentlichen Prozentpunkte beim Wahlvolk für den Brexit erbrachten.

Was in Großbritannien seit dem Referendum (und auch schon davor) passiert, kann – und das wohl nicht nur in meinen Augen – nur noch als irrational und neurotisch bezeichnet werden.
Was ist eigentlich, wenn die EU und ihre Institutionen symbolisch für „Eltern“ stehen, für Vater und Mutter (siehe ausführlich zu solcher Symbolik den Beitrag hier)? Was, wenn die Ängste vor Einflussnahme, Ausbeutung, Abstrafung, Unterdrückung und Bevormundung durch EU-Institutionen eigentlich nur Projektionen aus eigenen Kindheitstagen sind? Wenn man sich unter dieser Prämisse die Reden und Verhaltensweisen in Großbritannien anschaut, dann wird einiges deutlicher.


Siehe ergänzend auch: Brexit - "Warum nicht auch mal im Kollektiv Amok laufen?" Oder: Die Identitätskrisen von Nationen

Montag, 8. April 2019

Rechte Politiker, rechte Wähler und Kindheit


Der australische, rechte Senator Fraser Anning hatte im März 2019 nach einer Ei-Attacke auf ihn durch einen 17-Jährigen diesen zweimal geohrfeigt (der Fall ging durch viele Medien) und wäre wahrscheinlich noch weiter auf ihn losgegangen, wenn er nicht von einigen Männern (wohl seine Mitarbeiter) gestoppt worden wäre. Das alleine spricht schon Bände, wenn ein gestandener, großer Mann derart auf einen "kleinen" 17Jährigen (dieser war eher schmächtig) losgeht.
Im Rückblick sagte Anning: "Der Typ kam von hinten. Das war dumm. Da hat er eben eine Ohrfeige bekommen. Die hätte ihm seine Mutter schon viel früher verpassen sollen." (ca. Minute 5:18, ARD-Weltspiegel vom 24.03.2019, "Neuseeland/Australien: Suche nach Wurzeln für den Rassismus?")

Wenn solche Menschen sich aufregen und sich im Recht fühlen, dann verraten sie manchmal mehr über sich, als ihnen wohl lieb sein dürfte. Anning wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit selbst als Kind durch Elternteile geschlagen worden sein und hat dies ganz offensichtlich als „positiv“ innerlich verdreht und sich mit dem Aggressor identifiziert. Gewalt gegen Kinder würde diese zu besseren Menschen machen, die sich dann später im Leben benehmen könnten und nicht einfach Eier auf Politiker werfen, so könnte man seine Aussage interpretieren. Wer solche Ansichten verinnerlicht hat, wird nicht automatisch zum rechten Politiker. Aber rechte Politiker als solche zeigen auffällig häufig durch Ihr Verhalten und ihr Reden (und auch ihre Ausstrahlung), wie sehr sie mit autoritärem Denken identifiziert sind. Je rechter oder besser gesagt je rechtsextremer Menschen sind, desto deutlicher können auch destruktive Kindheitserfahrungen in wissenschaftlichen Befragungen nachgewiesen werden (ich habe dazu mehrere Studien in meinem Buch besprochen und einige davon auch hier im Blog besprochen).

Es gibt noch mehr Fälle, die ähnlich gelagert sind:

Stephen Bannon, der extrem rechte, ehemalige Berater von Donald Trump, hat 2016 erklärt, dass psychische Gesundheitsprobleme durch ein Mehr an Schlägen gegenüber Kindern zu „heilen“ wären. “I’ve got a cure for mental health issue[s],”, sagte Bannon: “Spank your children more.” (huffpost.com, 15.11.2016, „Steve Bannon’s Cure For Mental Illness? 'Spank Your Children More'. Are we surprised?“ - von Lindsay Holmes und Daniel Marans) Überdeutlich zeigt sich hier, wie solche extrem destruktiven Akteure mit der Macht und dem Aggressor identifiziert sind und wie ihnen jegliches Mitgefühl fehlt.

Der ultrakonservative „Teaparty“-Anhänger Ted Cruz hat während des Wahlkampfes 2016 (er selbst trat als Präsidentschaftskandidat an) ohne Hemmungen öffentlichen erklärt, dass er seine 5jährige Tochter schlägt, wenn diese ihn z.B. anlügt. Mehr noch: Er hat diese „Straf-Erziehungsform“ auf die Politik übertragen und dazu aufgerufen, Hillary Clinton genauso abzustrafen:
„We do know Hillary told her daughter Chelsea, well gosh, I knew it was a terrorist attack, while we were out telling the American people it wasn't. You know I'll tell you, in my house, if my daughter Catherine, the five-year-old, says something she knows to be false, she gets a spanking." Und er fügte an: "Well, in America, the voters have a way of administering a spanking," (The Washington Post, 08.01.2016, „Cruz: I spank my daughter when she lies — voters can ‘administer…a spanking’ to Hillary Clinton“ - von Karen Tumulty)
Die Wähler sollten Hillary Clinton symbolisch körperlich dafür bestrafen (in diesem Fall durch Nicht-Wahl von ihr), dass sie in den Augen von Cruz gelogen (es ging dabei um den Bengasi-Anschlag 2012) habe. Man muss diesen Fall wohl nicht weiter kommentieren, er spricht für sich.

Grundsätzlich zeigen sich in den USA Zusammenhänge zwischen Zustimmungsraten zu Körperstrafen gegen Kinder und Mehrheiten für die Republikaner (klassisch in den südlichen Staaten) bzw. Trump Wählern (siehe dazu z.B. „Americans’ Opinions On Spanking Vary By Party, Race, Region And Religion“ oder „Millennials like to spank their kids just as much as their parents did“). Zufall?  Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster hat dazu viel in seinem aktuellen Buch „Erziehung prägt Gesinnung“ geschrieben, das ich demnächst besprechen werde. Politik und Kindheit, Kindheit und Politik, diese Dinge müssen in ihrer Verzahnung dringend weiter analysiert werden.