Bzgl. der Zustände in der Welt und vor allem auch politischer Verrücktheiten (inkl. der hohen, aktuellen Wahlergebnisse der AFD in Sachsen und Brandenburg) lohnt immer auch ein Blick auf die Psychotraumatologie.
Dazu habe ich aktuell zwei Bücher durchgesehen:
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Wer bin ich in einer traumatisierten Gesellschaft? Wie Täter-Opfer-Dynamiken unser Leben bestimmen und wie wir uns daraus befreien“ (2019), von dem Professor für Psychologie und Psychotherapeuten Franz Ruppert.
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Verkörperte Schrecken. Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann“ (2018), des Psychiaters und weltweit anerkannten Psychotraumaexperten Bessel van der Kolk.
Einzelne Passagen aus diesen Büchern möchte ich zunächst hervorheben:
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Viele Traumatisierte stellen fest, dass sie mit den Menschen in ihrer Umgebung kaum noch zurechtkommen. Einige finden Trost in Gruppen von Menschen, die ähnliches wie sie erlebt haben (…). Die Isolation in einer streng definierten Opfergruppe fördert eine Sicht, die andere Menschen als bestenfalls irrelevant und schlimmstenfalls gefährlich erscheinen lässt – was wiederum zu einer noch stärkeren Entfremdung führt. Gangs, extremistische politische Parteien und religiöse Kulte können Trost bieten, aber sie fördern kaum die mentale Flexibilität, die Menschen brauchen, um sich dem, was das Leben bietet, völlig zu öffnen, und deshalb können sie ihre Mitglieder nicht von ihren Traumata befreien. Menschen mit guter allgemeiner Funktionsfähigkeit können individuelle Unterschiede akzeptieren und das Menschsein anderer anerkennen“ (van der Kolk 2018, S. 98).
„Doch für viele Menschen sind Panik und Wut erstrebenswerter als deren Gegenteil: sich zu verschließen und damit für die Welt wie tot zu sein. Die Kampf-/Fluchtreaktion mobilisiert ihre Energie. Deshalb fühlen sich so viele missbrauchte, misshandelte und anderweitig traumatisierte Menschen erst angesichts von Gefahr völlig lebendig, wohingegen sie in komplexeren, aber objektiv ungefährlichen Situationen - wie Geburtstagsparty und Festessen der Familie - in einen Zustand der Gefühlstaubheit verfallen“ (van der Kolk 2018, S. 102).
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Ob wir Menschen kooperativ oder aggressiv sind, liegt in erster Linie an der Verfassung unserer Psyche. So wie es in unserer Psyche aussieht, so gestalten wir auch unsere Umwelt, die soziale wie die natürliche. Herrscht in unserer Psyche Chaos, so veranstalten wir auch im Außen Chaos. Sind wir mit unserer Psyche im Reinen, können wir auch in unserer Umwelt für klare und geordnete Verhältnisse sorgen“ (Ruppert 2019, S. 19).
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Die ausschlaggebende Ursache für die Destruktivität von uns Menschen ist die Traumatisierung unserer Psyche. Sie führt in nicht endende Täter-Opfer-Beziehungsdynamiken hinein. Wird diese Tatsache erkannt und von den betroffenen Menschen auch anerkannt, dann ist der Ausstieg aus dieser Destruktivität wieder möglich, selbst wenn wir uns schon lange darin aufgehalten und bereits daran gewöhnt haben“ (Ruppert 2019, S. 20).
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Da Familien und die Eltern-Kind-Beziehungen der Kernbereich jeder Gesellschaft sind, hat das Auswirkungen über die Familie hinaus. Wenn nämlich aus psychisch traumatisierten Kindern Erwachsene werden, dann tragen sie ihre psychischen Störungen in sämtliche Bereiche einer Gesellschaft hinein: in das Bildungs-, das Arbeits- und das Politiksystem. Sie verbleiben mit einem wesentlichen Teil ihrer Psyche in einer unguten Form von Kindlichkeit verhaftet. Aufgrund ihrer aus der Kindheit stammenden Traumatisierungen können sie die aktuellen Realitäten entweder gar nicht oder verzerrt wahrnehmen, fühlen und denken. Sie konstruieren sich ihre eigene Welt und folgen ihren Illusionen und ausgedachten Prinzipien entgegen der Realität. Sie bleiben in der Scheinwelt ihrer kindlichen Trauma-Überlebensstrategien stecken“ (Ruppert 2019, S. 51f).
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Durch Trauma-Erfahrungen geraten wir (…) in den Zustand einer in sich gespaltenen Psyche, in der Wahrnehmung, Fühlen, Denken, Wollen, Erinnern und Handeln nicht mehr als Einheit zusammenwirken, sondern sje für sich existieren und unabhängig voneinander Informationen über die reale Welt verarbeiten; oder sich immer weiter von dieser entfernen. Die Selbstorganisation des psychischen Systems funktioniert nicht mehr (Ruppert 2019, S. 81).
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Einer traumatisierten Psyche fällt es schwer, Innen und Außen, Damals und Heute, Ich und Du, Realität und Fiktion klar und zuverlässig zu unterscheiden. Traumatisierte Menschen können schon beim geringsten Anlass in Stress und helle Aufregung geraten. Andererseits kann es sein, dass sie in brandgefährlichen Situationen den Ernst der Lage überhaupt nicht begreifen. Trauma bedeutet, dass wir mit den Überlebensmustern von früher die Probleme von heute zu bewältigen versuchen“ (Ruppert 2019, S. 83).
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Traumatisierte Menschen leben in einem permanenten Zustand des inneren Bedrohtseins. Wenn daher der äußere Stress nachlässt, wird das innere Bedrohungsgefühl umso deutlicher wahrgenommen. So erleben sich Menschen instinktiv selbst als andauernde Quelle der Bedrohung und versuchen von sich selbst abzulenken und vor sich selbst wegzulaufen. Sie schauen dann lieber auf die gesellschaftlichen Vorkommnisse statt auf sich selbst“ (Ruppert 2019, S. 164).
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All diese Beobachtungen müssen nur verknüpft werden mit dem Ausmaß an psychischen Traumatisierungen. Der größte Bereich ist dabei das „Entwicklungstrauma“ in der Kindheit (durch immer wieder vorkommende Destruktivität gegen das Kind durch seine nahen Bezugspersonen, dabei vor allem die eigenen Eltern), also eine
komplexe Traumatisierung, die man nicht mit einem traumatischen „Einzelereignis“ (Unfälle, Gewaltakt usw.) vergleichen kann, weil die Folgen viel komplexer sind.
Noch etwas kommt hinzu: Menschen, die zu Tätern werden, traumatisieren sich ebenfalls durch ihre Taten. Franz Ruppert nennt solche Akteure „Trauma-Täter“. Sie wurden durch erlebte Traumatisierungen zum Täter und traumatisieren sich durch ihre Taten erneut.
In diesem Blog habe ich vielfach aufgezeigt, in welchen Regionen auf der Welt welche Art und wie viele Belastungen von Kindern zu finden sind. Es verwundert mit Blick auf die oben zitierten Auszüge kaum, dass in Regionen mit hohen Belastungsraten für Kinder häufig auch politisches, soziales und ökonomisches Chaos zu finden ist. Darüberhinaus erinnern viele Verhaltensweisen und Äußerungen von rechten und sonstigen extremistischen Politakteuren an klassische Verhaltensweisen von traumatisierten Menschen.
Was lernen wir aus all dem mit Blick auf die AFD & Co.?
Was seit Monaten oder auch einigen Jahren die mediale Diskussion hierzulande immer wieder bestimmt, sind die großen Fragezeichen in Angesicht von Wahlen von Rechten und Hetzern, Brexit-Chaos, Erfolge der AFD, Wahl von Donald Trump usw. oder auch schlechter Stimmung in Teilen der Bevölkerung trotz objektiv guter Lage und Lebenssituation. Klassisch ist auch das Mehr von Kriminalitätsfurcht obwohl Jahr für Jahr die Sicherheitslage (vor allem in Deutschland) immer besser wird. Wenn man zudem die Reden von rechten Politikern hört, dann glaubt man, dass diese in einer anderen Welt leben:
Überall sind Bedrohungen, man selbst würde dauernd zum Opfer, die Ganzheit des Volkes wäre bedroht und die Welt stünde kurz vor dem Abgrund... Rational kann man dies alles nicht umfassend erklären. Mit den oben zitierten Textstellen wird dagegen vieles klarer.
Ein Mehr an Fortschritt, Sicherheit, politischer Stabilität und auch ein Mehr von gesellschaftlicher, pluralistischer Entwicklung bei gleichzeitiger immer mehr Ausdifferenzierung der Individuen bedeutet einen unermesslichen Druck auf all jene Menschen oder besser gesagt Anteile in der Bevölkerung, die überdurchschnittlich traumatisiert sind. Die Ruhe im Land, Veränderungen und der Fortschritt macht sie bildlich gesprochen (aber teils wohl auch real) wahnsinnig. Positive Entwicklungen gilt es deswegen rückgängig zu machen. Oder anders gesagt: Die äußere Welt muss chaotischer, real bedrohlicher und auch gewalttätiger werden, damit
Innen und Außen wieder gut zusammenpassen und man von seiner eigenen, inneren Misere wieder mehr abgelenkt ist. Das ist der eigentliche Antrieb destruktiver, politisch gefärbter Bewegungen (inkl. AFD, Brexiteers, Trumpanhänger, Bolsonaro in Brasilien usw.), die im Grunde eigentlich emotionale Bewegungen sind. Es geht niemals um ein Besser, das Ziel ist, die gegenwärtige Realität zu zerstören, damit die Gesellschaft schlechter dasteht (aus besagten Gründen).
Der Politologe Matthias Quent sagte nach den Wahlen in Sachsen und Brandenburg mit Blick auf die Ergebnisse der AFD: "
Wir haben es hier nicht mit wütendem Protest, sondern mit einer Art Kulturkampf zu tun." Ich würde dem ergänzend anhängen, dass es auch um einen inneren, emotionalen Kampf geht! Wenn dem so ist, so sind kurzfristige Lösungen nicht in Sicht. Langfristig gesehen geht es um die Reduzierung von traumatischen Erfahrungen und der Aufarbeitung von Traumatisierungen.
Warum wird nun im Osten deutlich mehr rechts gewählt? Warum finden auch überproportional viele rechte Attacken im Osten statt?
Dazu müssen wir in die „Traumageschichte“ des Ostens schauen. Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster hat dies
eindrucksvoll z.B. mit Blick auf das autoritäre Kita- und Erziehungssystem der DDR getan, das Folgen bis heute hat. Er hat den fehlenden „Link“ zur Erklärung der Unterschiede im Wahlverhalten zwischen Ost und West geliefert.
Dazu kommen ganz sicher die (Trauma)Erfahrungen in einer Diktatur, sowohl als Opfer als auch als Täter (letztere leben immer noch im Land, was gerne vergessen wird).
Ganz zentral sind für mich auch die drei großen Abwanderungswellen aus der DDR (einmal von 1949 bis 1961; sodann von 1989 bis 1994 und schließlich ab dem Jahr 2000). „B
evorzugt jüngere, gut ausgebildete Menschen, darunter viele Spezialisten wie Ärzte und Ingenieure, kehrten dem Land den Rücken.“ (bpb, 20.03.2010, "
Zug nach Westen – Anhaltende Abwanderung") Und: Überproportional viele junge und gut ausgebildete Frauen verließen den Osten, vor allem ab der Wende. Es ist bisher nicht erforscht, wie die psychosoziale Struktur dieser Menschen aussieht. Ich vermute, dass diese Abwanderer auf Grund ihrer jüngeren Altersstruktur und ihrer flexibleren Einstellung (sonst wären sie nicht abgewandert) psychisch verhältnismäßig weniger belastet sind, als der Durchschnitt. Dadurch würde sich die psychosoziale Situation in den verlassen Gebieten verschärfen, nicht nur durch den Wegzug der flexiblen (vermutlich weniger traumatisierten) Leute, sondern auch weil vor Ort die Menschen fehlen, die etwas bewegen, die in Diskussionen auch mal dagegenhalten oder die auch Situationen durch ihre Art entschärfen.
Leider wird es Zeit brauchen, bis sich die Welt wieder deutlich beruhigt. Die psychisch unbelastetere Generation (die auch mit deutlich weniger elterlicher Gewalt und Destruktivität aufgewachsen ist), steht erst in den Startlöchern. In Zeiten des Klimawandels verlieren wir leider durch die aktuellen "Rückschrittsprozesse" in der Welt wertvolle Zeit. Zeit, die wir dringend bräuchten.