Auch die Kindheit von Maximilien de Robespierre zeigte deutliche Schatten.
Meine Quelle: Gallo, M. (1989). Robespierre. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart.
Maximilien de Robespierre wurde am 6. Mai 1758 in Arras (Frankreich) geboren. Nach der Geburt eines fünften Kindes stirbt am 14. Juli 1764 seine Mutter. Maximilien ist zu der Zeit sechs Jahre alt.
Der Vater wird von dem Biografen als labiler Mensch beschrieben, der innerhalb von vier Jahren vier Mal umzog, obwohl seine Frau in dieser Zeit fast ununterbrochen schwanger war. Nach dem Tod seiner Frau verschwindet der Vater Stück für Stück aus dem Leben seiner Kinder: „Maximilien ist sechs Jahre alt, als bei seinem Vater (…) erneut Anzeichen der seelischen Labilität spürbar werden (…). Er beginnt immer häufiger, sich von zu Hause zu entfernen, verlässt Arras für längere Zeit und nimmt Anleihen bei seiner Schwester auf. (…) Das Fehlen des Vaters muss schwer auf dem empfindlichen Jungen gelastet haben“ (S. 24f.)
Maximilien kommt zusammen mit seinem Bruder Augustin bei seinem Großvater mütterlicherseits unter. Die beiden Schwestern kommen zu einer Tante. Insofern wurden hier auch die Geschwister voneinander getrennt. Immerhin scheint es eine ganze Zeit lang sonntägliche Treffen mit den Schwestern gegeben zu haben.
Bei seinem Großvater war man auf den Vater nicht gut zu sprechen. Er hatte zunächst die Mutter entehrt, die mit Maximilien bereits im fünften Monat schwanger war, als es zur Heirat kam und dann „durch die Vielzahl der Kinder den Tod seiner Frau verursacht. Maximilien muss diese Wunde, diese erdrückende Erbschande, die auf ihm lag, tief empfunden haben. Er fühlt sich schuldig für seinen Vater, dessen Gedächtnis er auslöschen muss und den er verleugnet, indem er ein radikal entgegengesetztes Verhalten an den Tag legt. Psychologisch gesehen hat er keine Wahl, als die Sorglosigkeit, den Leichtsinn und die Prinzipienlosigkeit seines Vaters durch Pflichtbewusstsein, Würde und Tugend zu ersetzen. `Eine radikale Veränderung ging in ihm vor`, schreibt seine Schwester Charlotte. `Vorher war er wie alle Kinder seines Alters sorglos, ausgelassen und leichtsinnig. Aber seit er sich als Ältester sozusagen in die Rolle des Familienoberhauptes gedrängt sah, wurde er vernünftig, gesetzt und strebsam (…)`“ (S. 25).
Maximilien muss „die Schuld seines Vaters, die auf ihn übergegangen ist, auslöschen, zunächst weil er der Sohn ist, aber auch und vor allem weil er sich in Beziehung auf diesen Vater, den er wie seine Umgebung verachtet, schuldig fühlt. Hat nicht auch er irgendeinen unbekannten Fehler begangen, der den Vater davongejagt hat? So kommt Maximilien dazu, sich selbst anzuklagen und für schuldig zu halten, weil er seinen Vater zugleich liebt und hasst. Diese Situation ist um so eindeutiger, als er seine Mutter sehr verehrte und nun, wie seine Umgebung, allen Grund dazu hat, dem Vater die Schuld an ihrem Tod zu geben. (…) Mehr als bei anderen werden bei ihm Charakter und Lebensweise durch diese frühen Erfahrungen geprägt. Ohne Zweifel leidet er auch darunter, den anderen `zur Last zu fallen`, denn als Vollwaise ist er künftig vom Wohlwollen des Großvaters und bald auch von der Wohltätigkeit religiöser Institutionen abhängig“ (S. 25f.)
Im Alter von sieben Jahren wird Maximilien auf das örtliche Collège geschickt. „Er ist dort ein guter Schüler, diszipliniert, ernsthaft und fleißig, aber verschlossen. An den Spielen seiner Mitschüler beteiligt er sich nicht“ (S. 27). Das Kind scheint sich ein Stück weit emotional von seiner Umwelt entfernt zu haben.
Als Maximilien ca. zehn Jahre alt ist, kommt seine Schwester Charlotte auf eine Art Internat, seine Schwester Henriette folgt, als er ca. fünfzehn Jahre alt ist. Maximilien selbst erhält im Alter von elf Jahren ein Stipendium für ein Collège in Paris (wo er zwölf Jahre bleibt) und wird „von neuem aus dem ihm vertrauten Milieu gerissen, wodurch ein weiterer Bruch in seiner Entwicklung eintritt. Zwar hat sich der entscheidende Umbruch beim Tod seiner Mutter und dem Verschwinden seines Vaters ereignet; aber die Abreise nach Paris muss den Jungen in seiner Verschlossenheit und in der unbewussten Überzeugung, die Wirklichkeit sei ihm feindlich gesonnen, bestärken, so dass sich in ihm die zähe `Melancholie` festsetzt, von der Charlotte spricht. Sie erwähnt auch, dass ihre jüngere Schwester Henriette starb, `während Maximilien in Paris seinen Studien nachging`. ´So kam es`, fügt sie hinzu, ´dass unsere Kindheit mit Tränen getränkt und jedes unserer frühen Jahre durch den Tod eines geliebten Wesens markiert war. (…)`“ (S. 27f.)
Auch im Pariser Collège sondert er sich eher von Mitschülern ab, glänzt aber durch seine Intelligenz und Leistungen. Die Achtung und das Interesse seiner Lehrer hätten allerdings nicht den „Durst nach Liebe“ stillen können, „um die Leere auszufüllen“ (S. 30). Seine Suche nach Achtung, Zuneigung und Liebe sei zum Scheitern verurteil gewesen. „Aus diesem Grunde ist es nicht verwunderlich, dass Maximilien Robespierre, dem Verfemten und Verfolgten, eine tiefe Bewunderung entgegenbringt“ (S. 30). Auch das Gefühl der Armut war ihm nicht fremd.
Als Maximilien ca. siebzehn Jahre alt ist, stirbt seine Großmutter, drei Jahre später sein Großvater. Der Vater bleibt verschollen (S. 33f.).
Über den Erziehungsalltag erfährt man leider nichts in der verwendeten Quelle. Im 18. Jahrhundert sind weitere Belastungen zumindest hoch wahrscheinlich, z.B. Körperstrafen, Kinderarbeit usw.
Die aufgezeigten Informationen über die Kindheit von Maximilien de Robespierre zeigen allerdings deutlich, dass er schwer traumatisiert wurde. Dazu kamen die Zeichen der Zeit, die seinen späteren Weg ebneten. Im Oktober 1793 beginnen im Verlauf der Französischen Revolution die Tage der Schreckensherrschaft, „der Terreur, an denen `die heilige Guillotine nie zur Ruhe kommt`" (S. 217).
Die Terrorherrschaft wurde vom sogenannten Wohlfahrtsausschuss ganz wesentlich von Maximilien de Robespierre angeführt. Robespierre definierte diese Herrschaft so: „`Terror ist nichts anderes als rasche, strenge und unbeugsame Gerechtigkeit. Er ist eine Offenbarung der Tugend.` Genau so hätten die Attentäter von Paris und Wien und die IS-Kämpfer in Syrien ihre Gräueltaten begründen können. Terror ist für sie kein krimineller Akt, sie wollen nicht bloß Angst und Schrecken verbreiten, sondern er hat für sie eine moralische Dimension “ (Die Presse, 05.11.2020, Europa erlebt das Ergebnis einer falsch verstandenen Toleranz)
Der heutige Begriff „Terrorismus“ ist ganz wesentlich von dem damaligen Begriff „terreur“ abgeleitet.