aktualisiert am 18.05.2022
“Does Putin's traumatic childhood have a link with Ukraine and other wars? Looking at his backstory does not justify his actions but offers one of the many explanations for an unfolding crisis. And a lesson for many of us” (Singh 2022). Dem kann ich nur zustimmen. Seine Kindheit erklärt vieles und entschuldigt dennoch nichts!
Ergänzend muss bedacht werden, dass es auch eine Verbindung zu Kindheit bzw. Traumaerfahrungen an sich in Russland gibt. Russland ist nicht nur Putin. Seine Taten wären ohne eine direkte oder stillschweigende Unterstützung unzähliger Menschen nicht möglich. Kindheit in Russland war und ist sehr belastend (siehe: Die grausame und rohe russische Familie des 17. Jahrhunderts und der Bezug zur heutigen Zeit und Kindheit in Russland). Auch dies hat selbstverständlich (politische) Folgen.
Kriegstraumatisierte Eltern
Kommen wir nun zu seinen Kindheits- und Familienhintergründen. Der Vater von Putin kämpfte im Zweiten Weltkrieg an der Front und wurde dabei fast getötet. Putins Mutter kam ebenfalls fast zu Tode, als ihre Heimatstadt Leningrad belagert und ausgehungert wurde (Baker & Glasser 2005, S. 40).
Wladimir Putin (2015) hat in einem Artikel die Kriegserlebnisse seiner Eltern deutlich beschrieben. Sein Vater war Teil einer Diversionsgruppe von 28 Mann. Sie gerieten einst in einen Hinterhalt. Sein Vater überlebte nur, weil er sich stundenlang im Sumpf vergrub und durch ein Schilfrohr atmete. Von den 28 Mann kamen nur vier lebend zurück. Putins Vater wurde sogleich wieder an die Front geschickt. Dort wurde er schwer verwundet und verlor fast ein Bein. Er hatte sein Leben lang Metallsplitter im Körper. Nur durch Zufall wurde er damals gerettet, weil ihn ein Nachbar fand und ihn unter Lebensgefahr zum Lazarett schleppte. Im Lazarett zweigte er Lebensmittel für Putins Mutter und den gemeinsamen dreijährigen Sohn ab, was dazu führte, dass Putins Vater teils Hungerohnmachten erlitt. Die Mutter musste derweilen der Belagerung von Leningrad standhalten. Ihr Sohn wurde ihr schließlich weggenommen. Er kam in ein Heim, um ihn vor dem Hungertod zu retten. Der Kleine erkrankte dort allerdings an Diphterie und starb.
Er wurde zusammen mit über 470.000 anderen Menschen in einem Massengrab beigesetzt (Myers 2015, S. 11). Die Familie hatte schon zuvor ein Kind verloren, das kurz nach der Geburt starb (Baker & Glasser 2005, S. 40).
Auch Putins Mutter war dem Tod damals näher als dem Leben. Putin berichtet weiter, wie eines Tages sein Vater auf Krücken nach Hause ging. Sanitäter trugen Leichen nach draußen, darunter die Mutter von Putin. Der Vater entdeckte, dass sie noch atmete. Er pflegte seine Frau und konnte sie retten (Putin 2015). Putin hängt an, dass fünf von sechs Brüder seines Vaters im Krieg gefallen sind. Auch seine Mutter habe Verwandte verloren.
Putins Eltern müssen zusammengefasst hoch traumatisierte Menschen gewesen sein. Wir wissen heute, dass dies die Nachkommen schwer belasten kann (Stichwort: transgenerationale Weitergabe von Traumata).
Alptraum einer Kindheit
Die Familie lebte in nur einem Zimmer und Wladimirs Leben spielte sich wohl hauptsächlich draußen und den Hinterhöfen ab. „Jeder lebte irgendwie in sich selbst“, beschreibt Putin später diese Zeit und das Leben mit seinen Eltern. „Ich kann nicht behaupten, dass wir eine sehr emotionale Familie waren, dass wir uns austauschten. Sie behielten vieles für sich. Ich wundere mich noch heute, wie sie mit den Tragödien umgingen“ (Seipel 2015, Kapitel: „Vergangenheit und Umbruch“). In einer anderen Quelle wird beschrieben, wie seine Eltern den Jungen sich selbst überließen und er im Grunde als eine Art Straßenkind aufwuchs (Retter 2022). Die Wohnverhältnisse waren ärmlich, die Küche mussten sie sich mit Anderen teilen; um sich zu waschen, ging die Familie in öffentliche Waschhäuser und oft mussten sie in ihrem Haus Horden von Ratten ausweichen (Baker & Glasser 2005, S. 41).
Putins Vater wird als harter, strenger und stiller Mann beschrieben, der seinem Sohn Wladimir gegenüber keine Gefühle zeigte und oft Streit mit ihm hatte. Einmal verließ Wladimir mit seinen Freunden die Stadt, ohne den Eltern Bescheid zu sagen. Als er wieder nach Hause kam, wurde er von seinem Vater mit einem Gürtel verprügelt (Baker & Glasser 2005, S. 41f.). Der Biograf Steven Lee Myers beschreibt (2015, S. 12) ihn ganz ähnlich: "Vladimir`s father was taciturn and severe, frightening even to people who knew him well." Auch die zuvor beschriebene väterliche Gewalt gegen den Sohn wird von von Myers (2015, S. 14) bestätigt.
„His father was, by all accounts, concerned primarily with discipline, not with the quality of schooling his son received” schreibt Gessen (2014, S. 47f.) und fügt an, dass auch der Junge anfänglich kaum Interesse an seiner Bildung hatte und sich die meisten biografischen Schilderungen aus dieser Zeit um die vielen „fistfights of his childhood and youth“ drehten. Auf der Straße und bzgl. der anderen Jungs drehte sich alles am „constant drinking, cursing, fistfights. And there was Putin in the middle of all this“, berichtete ein ehemaliger Klassenkamerad (Gessen 2014, S. 48).
Putins ehemalige Lehrerin Vera Gurevich berichtete, dass sie einmal den Vater besuchte und ihm erklärte, dass sein Sohn nicht sein volles Potential entfalten würde. Der Vater antwortete: "Well, what can I do? Kill him or what?" (Myers 2015, S. 15). Eine ungewöhnliche Antwort, die wiederum von der Rauheit dieser Person zeugt.
Putin, der jünger und schmaler gebaut war als die anderen Kinder um ihn herum, versuchte durch beharrliches Kämpfen gegenzuhalten. Diese Gewalt brachte er auch mit in die Schule, was ihm Probleme und eine Außenseiterstellung einhandelte:
„The school punished Putin by excluding him from the Young Pioneers Organisation – a rare, almost exotic form of punishment, generally reserved für children who were held back repeatedly and essentially deemed hopeless. Putin was a marked boy: for three years, he was the only child in the school who did not wear a red kerchief around his neck, simbolizing membership in the Communist Organisation for ten-to-fourteen-year-olds” (Gessen 2014, S. 48).
“As is almost always the case with bullies, Putin started out as a victim. (…) he was bullied and humiliated as a child” (Strick 2022). Auch Myers bestätigt, dass Putin auf Grund seiner kleinen Größe gemobbt bzw. angegriffen wurde (Myers 2015, S. 15, 153). Ihanus (2022) beschreibt eine weitere Szene, in der Übergriffe gegen Putin stattfanden: "His former teacher Vera Gurevich once said that the small Putin was locked by other schoolmates in the girls’ toilet where the girls slapped him."
Kampfsport zu lernen war für den jungen Putin offensichtlich ein Mittel, sich verteidigen zu können. Von Kindheit an war er Gewalt gewohnt. Seine Lehrerin Vera Gurewitsch berichtete, als Putin im Alter von 14 Jahren einem seiner Mitschüler das Bein brach, habe er gesagt, dass manche „nur Gewalt verstehen“ (Welt-Online 2022).
Sind Putins Eltern seine leiblichen Eltern?
Die ZEIT hat sich in einer Recherchereihe (Dobbert 2015) mit Vera Putina befasst, der Frau, die behauptet, die echte Mutter von Wladimir Putin zu sein. Offensichtlich gibt es einige Belege, die eine Veröffentlichung dieser Geschichte rechtfertigen (inkl. Ähnlichkeiten der Gesichtszüge zwischen ihr und Putin). Ich selbst möchte dieses Kapitel nicht ausblenden, darum verweise ich auf den Artikel (der online einsehbar und sehr interessant ist). Allerdings bleiben Fragen und absolute Gewissheit (durch einen Gentest) über diese Geschichte gibt es offensichtlich nicht. Sollte die Geschichte stimmen, dann hatte Wladimir als Kind eine unheilvolle Odyssee an wechselnden Bezugspersonen hinter sich, was eine enorme Belastung für das Kind bedeuten würde.
Die Geschichte geht so: Vera Putina verliebte sich in einen Mann namens Platon Priwalow und wurde schwanger. Erst dann erfuhr sie, dass er verheiratet war und trennte sich von ihm. Sie zog zu ihren Eltern. Wochenlang musste sie in dieser Zeit ihren noch nicht ganz zwei Jahren alten Sohn bei ihren Eltern lassen, weil sie beruflich außerorts arbeiten musste. Sie lernte schließlich einen Georgier kennen, heiratete ihn und zog mit ihrem unehelich geborenen Sohn zu ihm nach Georgien. Ein Mädchen wurde geboren. Jahrelang gab es Streit wegen dem Jungen. Ihr Mann wollte nicht mehr, dass er bleibt. Einmal gab die Schwester ihres Mannes den Jungen einfach zu einem fremden Mann. Die Mutter suchte ihren Sohn und brachte ihn zurück. Danach entschloss sie sich, ihn wieder bei ihren Eltern unterzubringen. Allerdings wurde ihr Vater sehr krank und der Junge musste zu Pflegeeltern, entfernte (kinderlose) Verwandte ihrer Eltern: Wladimir Spiridonowitsch Putin und Maria Iwanowna Putina (die offiziellen Eltern von Putin).
Auch Stanislaw Belkowski (2022, S. 42f.) hat in seiner Putin-Biografie die offizielle Version von Putins Herkunft angezweifelt und im Prinzip die ZEIT-Story ähnlich ausgeführt (sein Buch wurde ursprünglich 2013 veröffentlicht, also noch vor dem ZEIT-Artikel). Wladimir sei durch diese Erlebnisse zu einem verschlossenen und grimmigen Kind geworden. Außerdem habe er seitdem die Georgier als Ethnie und Gruppe gehasst.
Eine weitere Information finde ich bzgl. des o.g. Zusammenhangs bemerkenswert. In der Reihe DER SPIEGEL-Biografie (2017, S. 30) wird beschrieben, dass sich Putins Vater einen Sohn wünschte. Die Mutter wollte eigentlich kein Kind (wir erinnern uns auch: sie hatte zuvor zwei Kinder verloren), stimmte aber zu. Insofern war Putin seitens seiner Mutter ein ungewolltes Kind (was evtl. die Mutter-Sohn-Bindung beeinflusst haben wird). Das ist das Eine. Der Vater wollte der Quelle nach einen Sohn, was bei einer natürlichen Schwangerschaft eine Chance von ca. 50/50 bedeutet. Anders sieht es aus, wenn über Verwandte ein Sohn „angeboten“ wird, wie es in o.g. ZEIT-Artikel nahegelegt wird. Dies nur als gedanklicher Anhang.
Schlussbemerkungen
Man könnte sicher sagen, dass die Kindheit von Wladimir Putin nicht "exotisch" im damaligen Russland war. Viele Russen wuchsen mit kriegstraumatisierten Eltern, in Armut und mit Gewalt auf, wurden vernachlässigt und/oder erlebten den Tod von Familienmitgliedern. Dazu kamen die Schatten der russischen Geschichte: z.B. die Unterdrückung durch die Zaren, Stalins Terror, Hungersnöte, all die Kriege, Leibeigenschaft und Willkür. Diese Informationen und Hintergründe würde ich aber nicht nutzen, um zu sagen, dass ja nicht alle so aufgewachsenen Menschen zu einem "Putin" wurden (was gerne getan wird, um die möglichen Zusammenhänge gering zu reden). Natürlich hat Putin etwas psychopathisches, was nur wenige Menschen so entwickeln. Seine Taten wären aber ohne eine direkte oder stillschweigende Unterstützung (inkl. Mitläufertum und Verharren in Ohnmacht) unzähliger russischer Menschen nicht möglich, wie ich eingangs bereits schrieb. Der Kreis schließt sich, gerade mit Blick auf das Leid und das Trauma der Vielen!
Oder wie Juhani Ihanus (2008, S. 255) es ausdrückte: "The mystery and charisma of the leader reflect the secrets of abuse, shared by the majority of Russians in one form or another."
Hinweis: Dieser Beitrag ersetzt bzw. ergänzt meinen Blogbeitrag Kindheit von Wladimir Wladimirowitsch Putin
Quellen:
Baker, P. & Glasser, S. (2005). Kremlin Rising: Vladimir Putin's Russia and the End of Revolution. A Lisa Drew Book/Scribner, New York. Kindle e-book Edition.
Belkowski, S. (2022). Wladimir: Die ganze Wahrheit über Putin. Redline Verlag, München (3. Auflage). Kindle e-book edition.
DER SPIEGEL-Biografie (2017, 01. Mai). Wladimir Putin. SPIEGEL-Verlag, Hamburg.
Dobbert, S. (2015, 07. Mai): Vera Putinas verlorener Sohn. DIE ZEIT, Nr. 19. https://www.zeit.de/feature/wladimir-putin-mutter#kapitel2. (in Englisch frei zugänglich online: https://www.zeit.de/feature/vladimir-putin-mother)
Gessen, M. (2014). The Man Without a Face: The Unlikely Rise of Vladimir Putin. Granta, London. Kindle e-book edition.
Ihanus, J. (2008). Putin the Aging Terminator: Psychohistorical and Psychopolitical Notes. The Journal of Psychohistory, Winter 2008, 35(3), S. 240-269.
Ihanus, J. (2022). Putin, Ukraine, and Fratricide. (wird noch in Clio's Psyche, spring issue veröffentlicht, vorab besprochen und an Teilnehmer des "Psychohistory Forum Virtual Meeting" vom 14.05.2022 versandt)
Myers, S. L. (2015). The New Tsar: The Rise and Reign of Vladimir Putin. Alfred A. Knopf, New York. Kindle e-book edition.
Putin, W. (2015, 09. Mai). Das Leben ist eine einfache und grausame Sache. Frankfurter Allgemeine-online. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wladimir-putin-zum-70-jahrestag-des-kriegsendes-13578426.html
Retter, E. (2022, 23. Feb.). Vladimir Putin's childhood explained - from 'miracle baby' to power-crazed president. Mirror. https://www.mirror.co.uk/news/world-news/vladimir-putins-childhood-explained-miracle-26303775?utm_source=twitter.com&utm_medium=social&utm_campaign=sharebar
Seipel, H. (2015): Putin. Innenansichten der Macht. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg. Kindle e-book edition.
Singh, D. (2022, 15. März). Putin's rough childhood and its shadow over Ukraine and other wars. India Today. https://www.indiatoday.in/news-analysis/story/russia-ukraine-war-vladimir-putin-childhood-1925663-2022-03-15?t_source=rhs&t_medium=It&t_campaign=readthis&utm_source=twshare&utm_medium=socialicons&utm_campaign=shareurltracking
Strick, K. (2022, 24. März). Is Vlad mad or bad? The life of Putin — from a childhood being chased by rats to today’s isolation and paranoia. Evening Standard. https://www.standard.co.uk/insider/vladimir-putin-russia-ukraine-war-background-president-life-covid-pandemic-b988399.html
Welt-Online (2022, 22. Feb.). Putin als Jugendlicher: „Wenn der Kampf unvermeidbar ist, muss man als Erster zuschlagen“. https://www.welt.de/politik/ausland/article237062307/Putin-Wenn-der-Kampf-unvermeidbar-ist-muss-man-als-Erster-zuschlagen.html