Montag, 27. September 2021

Rechtsextremismus. Kindheit des Aussteigers Jörg Fischer.

Jörg Fischer kam als 13Jähriger durch einen NPD-Funktionär in Kontakt mit der rechten Szene und blieb jahrelang darin aktiv. Fischer war später u.a. Gründungsmitglied der DVU. Später stieg er aus und arbeitet u.a. als Journalist. 

Seinen Lebensweg hat er in dem Buch „Ganz rechts. Mein Leben in der DVU“ (1999 erschienen im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek) verarbeitet. Über seine Kindheit finden sich einige wenige, aber ziemlich aussagekräftige Passagen. Fischer wurde 1969 geboren. Fünf Jahre später wurde die Ehe der Eltern geschieden.  Die Mutter war fortan alleinerziehend. „Zu meinem Vater habe ich bis heute kaum Kontakt: Meine einzige konkrete Erinnerung an ihn ist ausgesprochen negativ; er hatte meine Mutter kurz vor unserem Wegzug nach Nürnberg schwer misshandelt“ (S. 14). Ob auch Jörg geschlagen wurde, berichtet er nicht. 

1974 wurde bei Jörg Diabetes festgestellt. Er blieb neun Wochen im Krankenhaus. „Meine Mutter reagierte auf die Erkrankung, indem sie mich mehr als zuvor überfürsorglich behütete. In regelmäßigen Abständen gehörten fortan zwei- bis dreiwöchige Krankenhausaufenthalte zu meinem Leben. Dies und der Umstand, dass ich durch Diät, regelmäßiges Insulinspritzen und gewisse Einschränkungen in der Leistungsfähigkeit im Vergleich zu meinen Altersgenossen gehandicapt war, führte zu einer gewissen Isolierung. Außerhalb des Unterrichts hatte ich kaum Kontakt zu meinen Mitschülern. Rückblickend habe ich meine Kindheit mit mir selber verbracht (…)“ (S. 14)
Als unglücklich habe er seine Kindheit aber nicht empfunden, schreibt Fischer weiter. Zu seiner Mutter habe er ein gutes Verhältnis gehabt. 

Seinen ersten Kontakt zur rechten Szene bekam Jörg – wie eingangs beschrieben – über einen NPD-Funktionär, der ihn zu einem Stammtisch der Jugendorganisation der NPD einlud. „Plötzlich gab es Leute, die Interesse an mir zeigten und mir vermittelten, dass ich zu ihnen passen würde. (…). Dem Dreizehnjährigen, der ich damals war, war es wichtig, zu einer Gemeinschaft von Älteren Zugang gefunden zu haben und von ihr aufgenommen zu werden. Schon bei meinem zweiten Besuch wurde ich begrüßt, als ob ich bereits dazugehöre“ (S. 13f.).
Vor dem Hintergrund seiner Kindheitserfahrungen erschließt sich ziemlich schnell, warum dieser Junge derart in der Szene aufging. 


Donnerstag, 23. September 2021

Autobiografie von Ex-Nazi Manuel Bauer und viele Fragezeichen

Der Ex-Nazi Manuel Bauer hat 2012 seine Autobiografie "Unter Staatsfeinden: Mein Leben im braunen Sumpf der Neonaziszene" (riva Verlag, München) herausgebracht. 

Er zeichnet darin weitgehend das Bild einer normalen, glücklichen Kindheit:
Die Schilderung einer kaputten, abseits jeder Norm liegenden Kindheit und Jugend mag vieles besser verständlich machen, sie wäre in meinem Fall aber leider gelogen. Nein, mein Vater, der eigentlich mein Stiefvater ist, hat mich nicht geschlagen. Er hat nicht getrunken, er hat auch meine Mutter oder meine Geschwister nicht misshandelt – er war ein einfacher, anständiger Mensch, der mit all seiner Kraft zu jeder Zeit versucht hat, mir und meiner Familie ein gutes Zuhause zu bieten. (…) Ich will, so ungewöhnlich das auch klingen mag, von einer schönen, harmonischen Kindheit sprechen (…)“ (S. 15). 

Als Manuel drei Jahre alt war, trennten sich seine Eltern  Aufgewachsen ist er in einem kleinen Dorf (40 Einwohner) in Polbitz (Sachsen). Die Eltern (Mutter und Stiefvater) bewirtschafteten zu DDR-Zeiten einen großen Hof und waren stark ausgelastet. Die Kinder gingen nach der Schule in den Hort, wo sie betreut wurden. Unklar ist, ab wann der neue Stiefvater in das Leben von Manuel trat. 

Ab der Wendezeit 1990 begann „ein neues, verändertes Leben, unter dem ich in der Folgezeit noch viele Male leiden sollte“ (S. 17). Überall begannen Veränderungen, die Manuel als Belastung empfand, sowohl strukturell, als auch im direkten Umfeld. Sein Großvater und auch seine Eltern verloren ihre Arbeit. Freunde von Manuel verschwanden, weil ihre Familien in den Westen übersiedelten. Läden wurden geschlossen usw.  „Um es auf einen kurzen und einfachen Nenner zu bringen: Mit der Wende wurde mir fast alles genommen, was mir als Kind in jener Zeit wirklich wichtig war: die Pionierorganisation, viele Freunde, die Arbeit meiner Eltern und damit auch die unbeschwerten Familienabende. (…) die Harmonie kehrte nach der Wende nie wieder in unsere Familie und in mein damaliges Leben zurück“ (S. 19f.). Parallel dazu ließen seine schulischen Leistungen nach und er musste ein Schuljahr wiederholen. Manuel verlor nach eigenen Angaben seinen Halt. 

Ab 1992 tauchten dann in seiner Schule immer mehr Schüler auf, die sich zum rechten Skinhead gewandelt hatten. Und ja, auch Manuel geriet in den Einflussbereich dieser rechten Jugendlichen und wurde selbst zum Nazi. Seine Eltern lehnten den Weg ihres Sohnes komplett ab. 

Manuel wurde immer radikaler und auch gewalttätig. Kontakte mit der Polizei waren u.a. die Folge. Zuhause führte er sich ähnlich auf. Einmal warf er seiner Mutter ein Brot, das sie sich gewünscht hatte, vor die Füße und sagte „Hier, friss!“ (S. 18). Seine Mutter brach daraufhin in Tränen aus. Als seine Schwester ihn als „Scheiß-Nazi“ beschimpfte, „verprügelte ich sie ohne Umschweife. Mitgefühl? Geschwisterliebe? Reue? Nichts dergleichen!“ (S. 39). Auch einem Mitschüler drückte er ohne Skrupel eine Zigarette im Gesicht in Augennähe aus (S. 51). Seinen Stiefvater verletzte er ebenfalls schwer, nachdem dieser ihn zur Rede gestellt und als üblen Nazi bezeichnet hatte. In der Folge musste er als 18Jähriger das Elternhaus verlassen (S. 64). Später kam er für kurze Zeit zurück zu seinen Eltern. Nachdem er seine Mutter geschlagen und sie als „dreckige Schlampe“ bezeichnet hatte, flog er erneut raus (S. 68). „Empathie, Skrupel, Nachdenken oder gar ein schlechtes Gewissen – all diese menschlichen Fähigkeiten waren aus meiner Welt verschwunden“ (S. 51). 

Er selbst meint, dass er als Kind empathiefähig gewesen wäre und seine Wandlungen Folge einer effektiven Gehirnwäsche der rechten Szene gewesen wären (S. 50). 

Ich kann es abkürzen: Ich glaube Manuel Bauer nicht, dass in seiner Kindheit alles harmonisch ablief. Ich glaube ihm, dass sein Stiefvater nicht gewalttätig oder suchtkrank war. Dazu hat er sich zu deutlich geäußert. Ich glaube ihm auch, dass er Familienabende (vor der Wende) und Familienspaziergänge als harmonisch empfand. 

Die schweren Belastungen nach der Wende hat Bauer ausgeführt. Für ein Kind, das er ja damals war, war dies sicher nicht folgenlos. 

Er selbst liefert auch kurze Infos, die weitere Fragen aufwerfen: Sein biologischer Vater wird im Grunde gar nicht erwähnt (außer bezogen auf die frühe Trennung der Eltern). Dieser scheint aus seinem Leben komplett verschwunden zu sein. Für ein drei Jahre altes Kind ist dies eine massive Belastung. Was war der Grund für die Trennung? Was passierte in den ersten drei Lebensjahren von Manuel?

Seine Eltern waren beruflich mit dem Hof stark belastet und die Kinder mussten nach der Schule in einen Hort im DDR-Erziehungssystem. Die Vermutung liegt nahe (ergänzend zur beruflichen Belastungen auch auf Grund der Normen in der DDR), dass Manuel auch als Kleinkind in eine DDR-Krippe gegeben wurde (wobei hier Belastungen nicht auszuschließen sind). Beide Systeme (Krippe und Hort) waren in der DDR ideologisch ausgelegt und oft autoritär eingefärbt. 

Über seine Mutter berichtet Bauer erstaunlich wenig. Seinen Stiefvater nimmt er wie oben erwähnt gezielt in Schutz und beschreibt ihn als einfachen, anständigen Menschen. Diese Lücke bzgl. der Mutter fällt besonders auf! Der Hass und die Gewalt, die Bauer später auch gegen seine Familienmitglieder richtete, waren massiv. All dies zusammenbetrachtet hinterlässt bei mir große Fragezeichen bzgl. seiner Sozialisation in der Kindheit. 

Ich habe außerdem schon zu oft Biografien von Extremisten gefunden, die bzgl. Kindheitserfahrungen extrem destruktiv waren, entgegen der Aussage der Extremisten selbst. Jeder Familientherapeut könnte außerdem Geschichten von Familien erzählen, die extrem destruktiv sind und agieren, ohne dass geschlagen, getrunken und geschrien wird. 

Wenn es um den Blick auf stark gewalttätige Extremisten geht und gleichzeitig Aussagen genommen werden, in denen von einer glücklichen, unbelasteten Kindheit dieser Leute berichtet wird, mahne ich grundsätzlich zur Vorsicht. Aus diesem Grund habe ich diesen Beitrag verfasst. An Fälle, wie den Fall Manuela Bauer, müsste komplexer heran gegangen werden, wenn es um Ursachenforschung und um seine Kindheitserfahrungen geht. Sprich, der Blick müsste in solchen Fällen durch Befragungen von anderen Familienmitgliedern (inkl. des biologischen Vaters), ggf. auch früheren Schulfreunden und Lehrkräften erweitert werden, um einen realistischen Abgleich zu erhalten. Und ja, im Grunde müsste auch Manuel Bauer durch qualifizierte Leute direkt befragt werden. Wir haben nur seine eigenen Worte. Mir reicht dies nicht. 

siehe ergänzend: Verklärt, beschönigt, verdrängt: Kindheiten von Gewalttätern und Extremisten. Eine Mahnung an die Forschung


Montag, 20. September 2021

Kindheit des ehemaligen Neonazis Timo F. (Misshandlungsfamilien erinnern stark im Kleinen an das NS-Regime im Großen)

 „Neonazi“ von Timo F. (2017 Arena Verlag, Würzburg) ist ein autobiografischer Roman, der von Ausstiegshilfeorganisationen empfohlen und mittlerweile auch an manchen Schulen im Unterricht verwendet wird. 

Die ersten ca. 60 Seiten umfassen ausführliche Schilderungen über Kindheit, Jugend und Familie von Timo F. Gefühlt ist man alle zwei Seiten fassungslos über die Familienatmosphäre und den Umgang der Erwachsenen mit dem Kind. 

Seinen ersten Stiefvater hielt Timo eine ganze Zeit lang für seinen richtigen Vater (dazu gleich mehr). Dieser Mann war gewalttätig gegenüber Timo. Außerdem bevorzugte er den jüngeren Bruder (S. 11). Nachdem der Stiefvater von einer Affäre der Mutter erfahren hatte, verschlechterte sich die Familienatmosphäre massiv. Ständig gab es Streicht, aber auch körperliche Übergriffe:
Meine Mutter verlegte ihren Schlafplatz vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer. Geschwollene Lippen und blaue Augen wurden bei ihr quasi zum Dauerzustand und ich hatte manchmal das Gefühl, genauso viel Zeit unter meinem Bett wie in meinem Bett zu verbringen“ (S. 17) 

Als Timo sechs Jahre alt war, verließ die Mutter zusammen mit den Kindern diesen Mann. Sie zog in eine schlechte Gegend. Timo lebte fortan in einer „Bruchbude mit meiner dauergenervten und vor lauter Überforderung ständig herumschreienden Mutter“ (S. 18). 

Der Stiefvater – Achim - holte bald den kleinen Bruder – Stefan - von Timo ab, ein erneuter Beziehungsverlust für Timo. Timos Mutter erklärte dies wie folgt: „Achim wollte dich noch nie haben. Deshalb hat er nur Stefan abgeholt. Er hatte sogar gedroht, dich zu verdreschen, wenn ich ihm Stefan nicht mitgeben würde“ (S. 19). Auf Nachfragen von Timo, warum Achim das hätte tun sollen, er sei doch sein Vater, kam die kalte Antwort der Mutter: „Nein, er ist nicht dein Vater und deshalb hat er Stefan ja auch viel lieber als dich“ (S. 20). Timo erfuhr hier erstmals davon und musste weinen. Seine Mutter verdrehte die Augen und war genervt von seiner Reaktion. Solcher Art von emotionaler Kälte und Verhaltensweisen zeigte diese Mutter immer wieder. Sie stand dem gewalttätigen Stiefvater in nichts nach.

Die Mutter war ergänzend ebenfalls körperlich und psychisch gewalttätig gegenüber Timo und drohte nicht nur einmal damit, Timo ins Kinderheim zu bringen, wenn er sie weiter nerven würde (S. 32). 

Die weiteren Abläufe in der Familie zu beschreiben, wäre müßig. Es kamen u.a. weitere Beziehungen der Mutter und auch erneute Trennungen hinzu. Auch weitere Kinder wurden geboren. Timo war vielfachen Demütigungen und Zurücksetzungen ausgesetzt. Er erlebte Einsamkeit und erhielt keinerlei Hilfe und Unterstützung. Der Selbstwert von Timo litt massiv unter all dem, was er an einer Stelle wie folgt ausdrückt: „Wahrscheinlich war ich wirklich nicht liebenswert. Schließlich wollte nicht einmal mein echter Vater etwas mit mir zu tun haben. Und mein Stiefvater hatte sich auch nie wieder gemeldet. Ich lag im Bett und konnte mich selbst nicht leiden. Aus ganzem Herzen. Ich fand mich zum Brechen“ (S. 27). 

Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie dieser Junge seinen „Familienersatz“ in der rechten Szene suchen und finden sollte (was er im Buchverlauf auch beschreibt). Allerdings kamen hier noch direktere Einflüsse hinzu: Seine Mutter war als Jugendliche stark in die rechte Skinheadszene involviert und Timos Urgroßvater mütterlicherseits war ein überzeugter Nazi (und Timos Mutter hatte wiederum viel Zeit bei diesem Mann verbracht). Nun mag man diese ideologischen Prägungen als Einflussfaktoren auch für das Werden von Timo heranziehen, was seine Berechtigung hat.
Ich möchte aber auch betonen, dass die gelebte NS-Ideologie im Grunde ein Abbild einer dysfunktionalen, strengen, wenig auf Emotionen und Schwächen Rücksicht nehmenden und kalten Familie darstellt. Misshandlungsfamilien erinnern stark im Kleinen an das NS-Regime im Großen! 

So verwundert es auch nicht, dass Timos Mutter eine ganz ähnlich destruktive Kindheit hatte, wie er selbst (S. 50f.). Ich bin davon überzeugt, dass die real destruktiven Kindheitserfahrungen den viel größeren Einflussfaktor für die Hinwendung zur radikalen Ideologie darstellen, als das Etikett „Mutter und Urgroßvater waren Nazis“. Letzteres ist zu undeutlich und schemenhaft. Was real im gelebten Alltag in solchen Familien weitergegeben wird, ist der Hass, das Demütigen, das Abwerten von Schwächeren und die emotionale Kälte. Was real in solchen Familien produziert wird, sind traumatisierte Kinder (das sahen wir auch im Fall von Heidi Benneckenstein, die einer völkischen Erziehung in einer NS-Familie ausgesetzt war). 

(siehe ergänzend zum Thema auch: Die Kinder der NS-Täter und die Kindheit der NS-Täter)


Dienstag, 14. September 2021

Studie Nr. 31: Kindheiten von Rechtsextremisten

Erneute habe ich eine Studie gefunden, für die ehemalige Rechtsextremisten befragt wurden:

Sigl, J. (2018): Biografische Wandlungen ehemals organisierter Rechtsextremer: Eine biografieanalytische und geschlechterreflektierende Untersuchung. Springer VS, Wiesbaden. 

Dies ist somit die 31. Studie über Kindheitshintergründe von Rechtsextremisten, die ich bis heute finden konnte. Das Bild, das Johanna Sigl hier zeichnet, gleicht dem der anderen Studien: Die Kindheiten der Befragten waren deutlich destruktiv und schwer belastet. 

Insgesamt wurden 7 ehemaligen Rechtsextremisten befragt (5 männlich, 2 weiblich), von denen ich die Kindheitsbiografien von vier Akteuren zusammenfasse (die anderen Biografien gehen alle in ähnliche Richtungen): 

Jonathan Schmied (S. 135-184):
Eltern trennten sich kurz nach der Geburt, Leben bei der Mutter (Anita); Mutter war politisch stark rechts eingestellt;  keinen Kontakt zum Vater und dessen Familie; als J. 1 ½ Jahre alt war, trat ein neuer Partner ins Leben seiner Mutter; ein Kind ging au der Beziehung hervor, Jonathan fühlte sich zurückgesetzt/ausgeschlossen und meint, der Stiefvater und auch die eigene Mutter hätten das Geschwisterkind deutlich bevorzugt; Jonathan habe keine positive Zuwendung erfahren; autoritäre Strukturen in der Familie; vom Stiefvater sei er häufig körperlich misshandelt worden; gleichzeitig hielt die Mutter J. in starker emotionaler Abhängigkeit; Bindungsbeziehung zwischen Mutter und Sohn sei unsicher-vermeidend; J. habe gerne viel Zeit bei den Großeltern verbracht, wobei der Großvater alkoholkrank gewesen sei; Mutter drohte gegenüber J., ihn ins Kinderheim zu bringen; als J. 5 war, trennte sich die Mutter von ihrem neuen Mann; Mutter lernte neuen Mann kennen und heiratetet schnell erneut und wurde schwanger; Umzug an einen neuen Ort; später erneute Trennung von dem neuen Mann; in der Schule hatte J. Probleme, Freundschaften einzugehen; als Jugendlicher viele Konflikte mit der Mutter; im Rückblick beschreibt J., dass seine Mutter für ihn gestorben sei. 

Alexander Reimer (S. 184-194):
Großvater war ein Nazi; keine Informationen über biologischen Vater; ab dem 1. Lebensjahr hat A. viel Zeit bei den Großeltern verbracht, die eigene Mutter sah er am Anfang nur, wenn sie zu Besuch bei den Großeltern war; seine Mutter sei eher wie eine große Schwester für ihn; zwischen Mutter und Großeltern habe es während der Schwangerschaft einen „Deal“ gegeben: Eine Abtreibung stand im Raum. Die Großeltern versprachen viel Hilfe, was das Leben von A. ermöglichte; nach der Einschulung verbrachte A. die Wochentage bei seiner Mutter und die Wochenenden bei den Großeltern; A. sei häufig traurig gewesen, wenn er seine Großeltern am Wochenende verlassen musste; emotionale Beziehung zur Mutter schwierig und schemenhaft; Großvater vermittelte A. von Klein auf NS-Ideale, dies ging so weit, dass A. als Kind den Eintritt in die Hitlerjugend imaginierte; als Erwachsener hatte A. jahrelang keinen Kontakt zu seiner Mutter. 

Christian Goebel (S. 214-232):
im Alter von 5 J. Trennung der Eltern erlebt; Leben beim Vater, Trennung auch von der großen Schwester; kein Kontakt zur Mutter; einzige berichtete Erinnerung an die Mutter ist, wie sein Vater sich in C.s Kinderzimmer mit ihm einschloss und die Mutter die Glastür eintrat; jahrelang Gewalt (auch in schweren Formen) gegen C. durch den Vater; autoritäre Erziehung; C. sei ein „Schlüsselkind“ und viel allein gewesen. 

Claudia Bremer (S. 263-274:
als sie 4 Jahre alt war, Trennung der Eltern erlebt; Aufwachsen bei der Mutter, jahrelange Trennung vom Vater; neuer Stiefvater trat in ihr Leben, unsichere Beziehung auch zu ihm; C. hat keine sicheren, familiären Bindungen erlebt; sobald es um die eigenen Eltern ging, wich C. aus und hatte kaum Erinnerungen; keine Schilderungen über positives Erleben mit den Eltern. 


Freitag, 27. August 2021

Terror von Links - Die Kindheit von Birgit Hogefeld

Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter hat sich in einem Beitrag auf sehr private und offene Weise mit der ehemaligen RAF-Terroristin Birgit Hogefeld befasst:

Richter, H.-E. (2001): Was mich mit einer gewandelten RAF-Gefangenen und ihrem Vater verbindet. In: Wirth, H.-J. (Hrsg.): Hitlers Enkel - oder Kinder der Demokratie? Die 68er-Generation, die RAF und die Fischer-Debatte. Psychosozial-Verlag, Gießen. 

Richter betreute nach eigenen Angaben damals über ein halbes Jahr lang Birgit Hogefeld, die im Gefängnis saß. Im Text nennt er sie nur „Brigit“, was seine engere Beziehung zu ihr deutlich macht. 

Natürlich ist die RAF ohne den Bezug zur NS-Zeit und zu Verstrickungen der Elterngeneration nicht zu verstehen, was auch Richter in diesem Sinne ausführt (und was auch Hogefeld selbst in einem Beitrag im selben Band deutlich so formuliert). Was sein Text allerdings auch zeigt ist, dass die Kindheit von Birgit Hogefeld sehr belastet war. Somit ist ihre Kindheitsbiografie die 17., die ich bzgl. RAF-TerroristInnen bespreche (siehe Blog-Inhaltsverzeichnis). Alle diese Akteure eint, dass sie eine sehr destruktive Kindheit hatten. Geschichte, Zeitgeist, Generationenkonflikte usw. sind gewichtige Einflussfaktoren, sicher. Aber sich derart zu radikalisieren, dass Mann oder Frau im Terrorismus landet, ist etwas anderes. Dafür bedarf es Prägungen in der Kindheit, die eine Schädigung hinterlassen, die Schwarz-Weiß-Denken fördert und Empathie unterdrückt. Dies zeigen auch meine sonstigen Recherchen über ExtremistInnen und TerroristInnen aus allen Spektren.

Richter schreibt: „Was in Birgits Kindheit und Familiengeschichte mag für ihren späteren Weg in die RAF Bedeutung gehabt haben? Dies interessiert mich natürlich als Psychoanalytiker“ (Richter 2001, S. 77). Richter meint, dass Hogefeld den Vater (unbewusst) habe rächen wollte. Dieser habe jahrelang als Soldat gekämpft und sich vom Staat missbraucht gefühlt. Er sei in tiefe Resignation zurückgezogen gewesen. „Die Mutter, von ihm eher verachtet, bildete mit ihrer eigenen Mutter eine Einheit gegen ihn – und oft auch gegen Birgit. Schläge der Mutter, von der sie zugleich ehrgeizige Erwartungen wie heftige Ablehnung erfuhr, waren keine Seltenheit. Aber auch die Zuneigung des Vaters gewann sie nicht eigentlich als Mädchen, sondern weil sie sich wie ein Junge aufführte und sich auch eher wie ein solcher fühlte“ (Richter 2001, S. 77). 

In diesen kurzen Zeilen steckt viel drin: Eine destruktive Beziehung der Eltern, destruktive Eltern-Kind-Beziehungen, mütterliche Gewalt, Leistungsdruck und Demütigungen. Die Vater-Tochter-Beziehung entspreche dem, so Richter, was er als „Eltern, Kind und Neurose“ bezeichnet: „Die Tochter hatte die ihr vom Vater unbewusst übertragene Rolle als Rächerin übernommen, hatte als Substitut seines unerfüllten Ich-Ideals ausgeführt, was er für sich wohl erträumt, aber nie gewagt hatte“ (Richter 2001, S. 78).

Zusammenfassend wird klar, dass diese sehr destruktiven Kindheitshintergründe von Birgit Hogefeld in klassischer Weise meine Grundthese bestätigen: Als Kind geliebte und gewaltfrei aufgewachsene Menschen werden keine TerroristInnen. 


Studie Nr. 30! Kindheiten von Rechtsextremistinnen

Ab heute komme ich auf eine runde Zahl: 30 Studien und Einzelarbeiten (Befragungen oder Fallbeispiele aus der psychotherapeutischen Praxis) habe ich bisher gefunden, innerhalb derer Kindheiten von rechten Gewalttätern bzw. Rechtsextremisten besprochen wurden.

Meine neuste Entdeckung ist:

Sigl, J. (2013): Lebensgeschichten von Aussteigerinnen aus der extremen Rechten. Genderspezifische Aspekte und mögliche Ansatzpunkte für eine ausstiegsorientierte Soziale Arbeit. In: Radvan, H. (Hrsg.): Gender und Rechtsextremismusprävention. Metropol Verlag, S.273-289.

Johanna Sigl hat 3 ehemalige, weibliche Rechtsextremisten befragt (narrative Interviews). Die Ergebnisse fasst sie an einer Stelle zusammen: „In allen geführten Interviews zeigt sich, dass die Hinwendung zur und der Rückzug aus der extremen Rechten nur unter Einbeziehung des familiären Kontexts nachvollziehbar werden. Fallübergreifend war die Bindungsbeziehung zu den Eltern geprägt von Unsicherheiten, Desinteresse oder von Ablehnung. Die Eltern waren nicht als verlässliche Bezugspersonen wahrnehmbar. Keine der Eltern-Kind-Beziehungen konnte als sicher, unterstützend und damit förderlich für die kindliche Entwicklung rekonstruiert werden. Im Fall von Anna stellt die politische Verortung, zunächst in der extremen Rechten und dann in Teilen der linken Szene eine der wenigen, wenn nicht gar die einzige Möglichkeit dar, eine positive Beziehung zu beiden Elternteilen herzustellen bzw. überhaupt ein Beziehungsinteresse seitens der Eltern zu wecken“ (Sigl 2013, S. 282f.).

Der Fall „Anna“ wird dann auch von der Autorin exemplarisch ausgebreitet (Sigl 2013, S. 279f.). Anna wurde mit einer Erbkrankheit geboren, wodurch sich in den ersten Lebensjahren die körperliche Entwicklung verzögerte. Die Krankheit wurde vom Vater vererbt, der starke Schuldgefühle entwickelte und „die Beziehung zu seiner Tochter emotional verweigert. Eine ähnliche emotionale Verweigerung zeigt sich in der Mutter-Tochter-Beziehung, Annas Mutter scheint der Tochter sehr uninteressiert gegenüberzustehen. Die Bindung zu ihren Eltern lässt sich als unsicher beschreiben, die Eltern scheinen es kaum zu vermögen, ihrer Tochter emotionale Zuwendung zu vermitteln“ (Sigl 2013, S. 279).
Schon früh suchte Anna nach einer Ersatzfamilie und hielt sich viel bei ihrer Patentante auf. Die Suche nach „Wahlverwandtschaft“ habe, so Sigl, auch Bedeutung bei der Zugehörigkeitskonstruktion zur extremen Rechten gehabt. Mit 16 Jahren zog Anna Zuhause aus, da sich die Beziehungssituation – auch im Rahmen ihres Abdriftens in die rechte Szene - weiter zuspitzte. Annas Familie väterlicherseits war durch einen NS-Täterhintergrund geprägt, der allerdings verleugnet wurde. Sigl vermutet auch hier einen Einflussfaktor bzgl. Annas Hinwendung zum Rechtsextremismus. 


Freitag, 20. August 2021

Kindheit in Afghanistan und der nie enden wollende Krieg und Terror

(Eine leicht veränderte Version dieses Textes wurde von mir auch als übersichtliche PDF-Datei erstellt)

Der schnelle Einmarsch der Taliban in Kabul und die Besetzung des gesamten Landes in kurzer Zeit mit all den damit zusammenhängendem Leid und Terror für die Bevölkerung hält derzeit die Welt in Atem. Ich habe schon oft auf die Zusammenhänge zwischen den destruktiven Kindheitsbedingungen in Afghanistan und dem Krieg/Terror hingewiesen. Jetzt platzt mir quasi der Kragen! Meine Wut und meine Betroffenheit über die aktuellen Ereignisse habe ich jetzt in umfassende Recherchen über die Kindheitsbedingungen in Afghanistan gesteckt. 


Gewalt gegen Kinder 

Ich beginne mit dem Ausmaß von elterlicher Gewalt gegen Kinder. Gewalt gegen Kinder (11.552 Kinder wurden im Rahmen von UNICEF’s Multiple Indicator Cluster Survey (MICS) Programm durch Befragungen erfasst!) in Afghanistan durch Erziehungspersonen (Mütter oder primäre Erziehungsperson) im Haushalt innerhalb von 4 Wochen (nach Altersgruppen) (Central Statistics Organisation & UNICEF 2013, S. 128): 

2-4Jährige: 

körperliche und/oder psychische Gewalt: 63,2%

nur körperliche Gewalt:  56,4 % 

besonders schwere körperliche Gewalt: 30,1%

psychische Gewalt/Aggressionen: 50,2 %

5-9Jährige: 

körperliche und/oder psychische Gewalt: 78,4%

nur körperliche Gewalt:  73,2% 

besonders schwere körperliche Gewalt: 41,8%

psychische Gewalt/Aggressionen: 65,7%

10-14Jährige:

körperliche und/oder psychische Gewalt: 78%

nur körperliche Gewalt:  71,8%

besonders schwere körperliche Gewalt: 40,5%

psychische Gewalt/Aggressionen: 65%.

Zwischen dem ländlichen und städtischen Raum gab es nur geringfügige Unterschiede. Da nur das Gewalterleben innerhalb von 4 Wochen vor der Befragung erfasst wurde, dürfte das Gewalterleben für die gesamte Kindheit deutlich höher sein. Die Befragungen wurden 2010/2011 durchgeführt. Die gewaltbetroffenen Kinder von damals dürften im Jahr 2021 ca. zwischen 11 und 25 Jahre alt sein. Ich gehe davon aus, dass die heute älteren Erwachsenen in Afghanistan nochmals mehr Gewalt/Demütigungen erlebt haben, als diese jüngere Generation (was dem historischen Trend im Allgemeinen entsprechen würde, siehe dazu z.B. deMause 2005).

Save the Children hat 1099 Personen (Eltern/primäre Bezugsperson, die mindesten mit einem Kind im Alter von über 5 Jahren leben; aber auch Befragungen von Kindern direkt) in Afghanistan befragt. Ergebnisse u.a.:
Children experience high levels of all types of violence. Only 9% of children reported not experiencing any type of violence; 21% experienced from 1 to 3 types; 16% from 4 to 6 types, 10% from 7 to 9 types; 13% from 10 to 15 types, 9% from 16 to 20 types, 20% from 21 to 30 types, and 2.5% more than 31 types“ (Save the Children 2017, S. 1) Zu den Formen von Gewalt, die hier erfasst wurden, gehören u.a. psychische, körperliche und sexuelle Gewalt, körperliche und emotionale Vernachlässigung und das Miterleben von Gewalt in verschiedenen Kontexten.
Einige Zahlen: „Physical violence remains high where the worst forms of violence include kicking (40%); hitting with objects (approximately 40%); beating (34%); choking to be prevented from breathing (21%); burning or branding (15%). 15% of children were also given drugs (…)“ (Save the Children 2017, S. 1). Ca. 30% der Kinder erlebten Vernachlässigung. Auch in der Schule erlebten dieser Studie folgend viele Kinder Gewalt:
Children reported experiencing the following types of physical violence in schools: twisting  fingers with a pencil in between (39%); being threatened by invoking harmful people or ghosts (38%); threats of being hurt and killed (36%); being kicked (36%); being shook aggressively (39%); being slapped on the face or on the back of the head (48%); hit on the head with knuckles (37%); being spanked on the bottom with bare hands (48%); being hit on the buttock with an object (40%); being hit elsewhere with an object (39%); being beaten up (34%); being chocked (20%); being burned or scaled (15%) (…)“ (Save the Children 2017, S. 29f.). Dazu kam ein hohes Ausmaß von psychischer Gewalt in der Schule. Dies alles sind nur Auszüge, der gesamte Bericht ist deutlich umfassender. 

Ein weiterer Bericht bestätigt das hohe Ausmaß von Gewalt in der Schule. Trotz gesetzlichem Verbot von Körperstrafen durch Lehrkräfte wurden in 100% der untersuchten Jungenklassen und in 20% der Mädchenklassen Schüler und Schülerinnen (meist mit Gegenständen/Stöcken) geschlagen. 50% der Lehrkräfte wussten nichts von dem gesetzlichem Verbot. Die große Mehrheit der Lehrkräfte, inkl. der, die um das Verbot wussten, glaubten an die Notwendigkeit und den Nutzen von Körperstrafen. Ergänzend gehörten Demütigungen von Schülern und Schülerinnen zum Alltag, ebenso sexueller Missbrauch durch Lehrkräfte und Gewalt unter Schülern und Schülerinnen (Wood & Save The Children 2011, S. 4).

Traumatische Erfahrungen

Für eine andere Studie wurden u.a. 1011 Schüler und Schülerinnen in Afghanistan befragt (Panter-Brick et al. 2009). Es ging hier um die Erfassung von traumatischen Erfahrungen, wobei elterliche Gewalt nicht abgefragt wurde. 63,5% aller Schüler*innen hatten mindestens ein traumatisches Erlebnis gemacht. 8,4 % hatten sogar 5 oder mehr traumatische Erlebnisse gemacht. Darunter fielen Erlebnisse wie Leben im Kriegsgebiet, Tod oder Verlust naher Familienmitglieder, ernsthafte körperliche Verletzungen oder Miterleben schwerer Gewalt gegen einen anderen Menschen. Die Studie fand auch, dass die Wahrscheinlichkeit psychisch zu erkranken mit der Anzahl der erlebten traumatischen Erfahrungen anstieg. 

Von 4,7 % aller afghanischen Kinder ist entweder ein Elternteil oder sind beide Elternteile gestoben (Central Statistics Organisation & UNICEF 2013, S. 130). 

Die Rate der Müttersterblichkeit in Afghanistan gehört zu den höchsten der Welt. Pro 100.000 Lebendgeburten starben 2017 638 Frauen. Das Risiko der Müttersterblichkeit für die gesamte Lebenszeit ist 1 zu 33 (World Health Organisation et al. 2019, S. 71). Im Jahr 2000 lag die Rate der Müttersterblichkeit noch bei 1.450 (davor vermutlich noch höher). Entsprechend haben die Kinder im historischen Rückblick häufiger den Tod der eigenen Mutter erlebt, als die heutigen Kinder. 

Die Kindersterblichkeitsrate der unter 5Jährigen ist – wie im Rest der Welt – in Afghanistan kontinuierlich gesunken, von ca. 180 von 1.000 Lebendgeburten im Jahr 1990 auf 60,3 im Jahr 2019 (UNICEF 2021a). Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass die vor und um 1990 geborenen Kinder sehr häufig den Tod von Kindern (Brüder, Schwestern, Verwandte, Nachbarskinder) miterlebt haben: Jedes 5.-6. Kind starb vor dem Erreichen des 5. Lebensjahres! Dies ist eine enorme Belastung für die überlebenden Kinder, die heute die Erwachsengeneration der über 30Jährigen in Afghanistan stellen. 

Das "Verschwinden" von weiblichen Menschen ist ein weiteres Thema in dem Land. Der Zensus 2001 belegt für Afghanistan das "Fehlen" von 500.000 bis 1.000.000 Frauen/Mädchen (Hesketh & Xing 2006, S. 13272). Abtreibungen, Säuglingstötungen, Töten durch gezielte Vernachlässigung oder das Aussetzen von Säuglingen sind die üblichen Praktiken, um unerwünschte Mädchen "verschwinden" zu lassen. Was bei dem Thema oft vergessen wird ist, dass die (über-)lebenden Kinder schwer belastet werden, sofern sie die gezielte Tötung mitbekommen oder dies erahnen. 

Kinderehen: Im Durchschnitt wurden 15% aller afghanischen Frauen (15-49Jährige) vor dem 15. Lebensjahr verheiratet. 46% aller Frauen wurden vor dem 18. Lebensjahr verheiratet. Im ländlichen Raum sind die Zahlen höher, als im städtischen Raum (Central Statistics Organisation & UNICEF 2013, S. 134). Die nicht freie Partnerwahl und zudem so frühe Verheiratung bedeutet in meinen Augen den ersten Riss in der Eltern-Kind-Beziehung. Kinder entstehen aus Nicht-Liebes- bzw. Zwangsehen. Die Mütter sind zudem sehr jung und entsprechend unerfahren. Beides wird den Umgang mit den eigenen Kindern deutlich beeinflussen.

Im Durchschnitt haben 10% der Frauen im Alter zwischen 15-19 bereits ein Kind zur Welt gebracht (im Westen würden wir von „Teenagerschwangerschaften“ sprechen, die grundsätzlich erschwerte Bedingungen für Mutter und Kind bedeuten) und 4 % dieser Altersgruppe waren beim Zeitpunkt der Befragung schwanger. 2 % aller Frauen haben vor dem Alter von 15 Jahren ein Kind zur Welt gebracht (Central Statistics Organisation & UNICEF 2013, S. 88) Im ländlichen Raum sind die Zahlen höher, als im städtischen Raum. 

Häusliche Gewalt, Zustimmungsraten zur Gewalt und die "Identifikation mit dem Aggressor"

Overall, 92% of women in Afghanistan feel that their husband has a right to hit or beat them for at least one of a variety of reasons, an alarming statistic„ (Central Statistics Organisation & UNICEF 2013, S. 138). Diese schockierende Zahl kommt auf Grundlage von Befragungen von 21.290 Frauen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren in Afghanistan zu Stande!
„Gründe“ für die Rechtfertigung der Gewalt sind: Verlassen des Hauses ohne Einverständnis des Ehemannes, Vernachlässigung der Kinder, Streit mit dem Ehemann, Verweigerung von Sex mit dem Ehemann oder das Anbrennen von Essen. Im ländlichen Raum (93%) sind die Zustimmungswerte höher als im städtischen (84,8%).
Dies ist einer der höchsten Werte bzgl. der Zustimmung zur (häuslichen) Gewalt gegen die eigene Person, den es weltweit verglichen gibt. Dies spricht für ein extrem hohes Maß an Identifikation mit dem Aggressor und es spricht auch für extreme Unterdrückung und Gewalt gegen Mädchen/Frauen, die diese Identifikationen überhaupt möglich machen.

Wenn vor allem Mütter derart stark mit dem Aggressor identifiziert sind, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch destruktiv mit den weniger mächtigen Menschen umgegangen wird: den im Haushalt lebenden Kindern, für die in Afghanistan vor allem die Frauen zuständig sind. Das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder wurde oben dargestellt und es zeigt, dass – neben den Vätern – vor allem auch Mütter kräftig nach unten austeilen.
Dies zeigte auch eine andere Befragung: Zusammen mit der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, der CARITAS, der Nichtregierungsorganisation vivo international e.V. und der Universität Konstanz wurden 287 Schulkinder aus Kabul (Afghanistan) befragt. Die Ergebnisse wurden in einer Diplomarbeit veröffentlicht. 59,9% der Kinder wurden von ihrer Mutter geschlagen, 41,6% von ihrem Vater (Bette 2006, S. 54). 

Dass Frauen in Afghanistan viel Gewalt durch ihre Partner erleben, zeigt auch ein UN-Women Bericht: „Lifetime Physical and/or Sexual Intimate Partner Violence: 51 %. Physical and/or Sexual Intimate Partner Violence in the last 12 months: 46 %“ (UN-Woman 2021). Entsprechend erleben auch die Kinder diese Gewalt mit, was eine schwere und oft folgenreiche Belastung darstellt.
Außerdem ist in Anbetracht dieser Zahlen die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch Schwangere häusliche Gewalt erleiden und somit auch der Fötus belastet wird. Eine andere Studie zeigt zu diesem Thema auch handfeste Daten auf: In Afghanistan haben demnach 16% aller Schwangeren körperliche Gewalt erlitten (Central Statistics Organization et al. 2017, S. 275). Interessant ist dabei, dass die regionale Verteilung dieser Gewalt gegen Schwanger stark variiert, von im Minimum 0,9% in der Provinz Helmand bis im Maximum 65,7% in der Provinz Ghor (Central Statistics Organization et al. 2017, S. 284). 

Eine Befragung von 916 afghanischen Jugendlichen zeigte außerdem hohe Zustimmungsraten zur  Gewalt (Li et al. 2018). 71,2 % befürworteten für mindestens ein Szenario, dass ein Ehemann seine Frau schlägt. 79,7 % befürworteten, dass Eltern unter bestimmten Umständen ihre Töchter schlagen und 83,6 % befürworteten, dass Eltern ihre Söhne schlagen. 70,3 % befürworteten Körperstrafen in der Schule. Eine Frau, die ihren Mann schlägt, wurde am wenigsten befürwortet und zwar von 48,0 % der Jugendlichen. 

Weitere Belastungsfaktoren (inkl. straffes Einwickeln der Säuglinge)

25 % aller afghanischen Kinder (5 bis 14 Jahre) sind von Kinderarbeit betroffen (Central Statistics Organisation & UNICEF 2013, S. 125). Auch hier gilt wieder, dass im ländlichen Raum die Zahlen höher sind, als im städtischen Raum.

Kind sein in Afghanistan bedeutet vor allem auch arm sein: Afghanistan gehört zu den ärmsten Ländern der Welt (World Bank 2021). 

1 von 4 afghanischen Kindern ist untergewichtig. 2 von 5 Kindern erreichen nicht die volle mentale und körperliche Entwicklung (Unicef 2021b).

Auch internationale Rankings sprechen eine deutliche Sprache. Der „End of Childhood Index 2020“ (Vergleich bzgl. Orten auf der Welt, wo es am schlimmsten ist, ein Kind zu sein) (Save the Children 2020) brachte Afghanistan auf Platz 159 von 180 Ländern. Im „Girls’ Opportunity Index 2016“ (bezogen auf die Lebenssituation von Mädchen/jungen Frauen) (Save the Children 2016) landete Afghanistan auf Platz 121 von 144 Ländern. Beide Rankings zeigen, dass Afghanistan im hinteren Feld steht, wenn es um die Situation von Kindern in der Welt geht.

Dazu kommen alle möglichen Belastungen durch Krieg, Dürren, Flucht usw. was in dem UNICEF Artikel "Afghanistan – der gefährlichste Ort der Welt für Kinder" (Stolz 2020) besprochen wird. 

Ich fand noch eine sehr interessante Studie aus den 1970er Jahren bzgl. der afghanischen Volksgruppe der Paschtunen (aus der heraus meines Wissens nach auch die Talibanbewegung entstanden ist): Hanifi (1971). Die traditionelle Lebensweise wird in dieser Arbeit vor allem bezogen auf Kinder und Kindererziehung besprochen. Ich gehe davon aus, dass diese Tradition auch heute noch im ländlichen Raum wirkt.
Der Säugling wird mehrere Monate lang eingewickelt. Drohungen und Köperstrafen sind das bevorzugte Mittel, um das kindliche Verhalten zu kontrollieren. Das „gute“ Kind ist gehorsam und höflich und niemals aggressiv gegen Elternteile. Lautstärke, Kämpfe oder das Spielen im Haus werden wenig toleriert. Es herrscht eine strenge Sexualmoral vor. Nacktheit wird schon ab dem Säuglingsalter nicht gedudelt. Masturbation wird, wenn sie entdeckt wird, bestraft. Die Geschlechtsrollen der Eltern sind sehr fest und traditionell. Der Mutter kommt die Versorgung von Haushalt und Kindern zu, aber auch das Strafen der Kinder. Das Haus ist der Bereich der Mutter. Über die meisten anderen Dinge entscheidet der Vater, der oft weniger in Beziehung zu den Kindern und für Strenge steht (Hanifi 1971, S. 54f.).

The mothers ordinarily discipline the children, and they will approve of the father`s disciplinary  actions even if they judge him to be severe“ (Hanifi 1971, S. 54) Ansonsten zeigen die Ausführungen das auch in anderen traditionellen Gesellschaften oft zu findende Bild auf: Wenn die Kinder größer werden, wird Selbstständigkeit von ihnen erwartet. Sie müssen sich um sich selbst kümmern. Verhaltensnormen und Abläufe werden im Alltag abgeschaut. Ältere Geschwister achten auf die Jüngeren. 

Das Thema Wickeln (das deutsche Wort dafür ist etwas schlecht, man müsste eher von Einwickeln sprechen) möchte ich nochmals hervorheben: „One of the earliest experiences of the Pushtun infant is that of being wrapped in swaddling clothes. Strips of cloth, new or used, are wrapped around the child until he or she is snug and relatively immobile. In some instances the child`s arms may be left free, but in most cases, at least in the early months, arms are wrapped at the side“ (Hanifi 1971, S. 55). 
Die Entwöhnung des Säuglings erfolgt abrupt, indem z.B. bittere Substanzen auf die Brust der Mutter geschmiert werden oder das Kind einfach für einige Tage zu Verwandten gegeben wird. Der Säugling reagiert darauf laut Hanifi meist aggressiv und verärgert.

Unter der Zwischenüberschrift „Das Einwickeln des bösen Säuglings“ hat der Psychohistoriker Lloyd deMause u.a. geschrieben: „Wickeln ist weltweit praktiziert worden und reicht unzweifelhaft bis in Zeiten stammesgeschichtlicher Kulturen zurück (…). Die Auswirkungen des Wickelns auf jeden des in den letzten zehntausend Jahren geborenen Menschen waren katastrophal“ (deMause 2005, S. 238). DeMause beschreibt einige mögliche Folgen: Schlechte Durchblutung, Brechen des Brustkorbs oder der Rippen, Verdichtung des Gewebes, Verhaltensstörungen wie Lustlosigkeit und Zurückgezogenheit, Behinderungen, später Beginn des Laufens aber auch lebenslange Störungen des Hormonhaushaltes durch frühen Stress.

Dazu kommt, dass das Einwickeln oftmals ein relativ aufwendiger Prozess ist und dass folglich die Säuglinge nicht immer sofort von ihren Ausscheidungen gereinigt werden. Besonders dramatisch ist es, wenn die so eingewickelten Säugling auch noch in einem Raum sich selbst überlassen werden. Wie die genaue Praxis dahingehend in Afghanistan aussieht, konnte ich leider nicht recherchieren.
Der „Vorteil“ für die Eltern liegt auf der Hand: Die so eingewickelten Säuglinge schlafen länger und sind nicht aktiv und leiser (da steckt auch etwas von Gehorsamsforderung von Beginn an drin!). Wer selbst Kinder hat (ich habe 2), der weiß darum, wie gerne Säuglinge herumzappelt, ihre Hände und Beine bewegen und Spaß dabei haben. Eingewickelten Säuglingen ist dies nicht möglich und dies monatelang… Für Säugling sind dies frühe Belastungen, die nicht bewusst erinnert werden können. 

Wie eingewickelte Säuglinge aussehen können, zeigt dieser Ausschnitt: Säugling im Arm seines Vaters/ Afghanistan; entnommen aus dem Buch "Babys in den Kulturen der Welt" (Fontanel & D'Harcourt 2006, S. 83): 


Die beiden Autorinnen kritisieren diese Praxis übrigens nicht in ihrem Bildband. Das Kind werde gewickelt, damit "es fest und gerade gehalten wird und einschlafen kann, ohne durch die Bewegung der Gliedmaßen zu erschrecken. (...) In den ländlichen Gebieten Afghanistans werden die Kinder bis ins Alter von einem Jahr oder sogar noch länger so gewickelt" (Fontanel & D'Harcourt 2006, S. 82). 

Fazit

Kindheit in Afghanistan ist sehr häufig traumatisch und mit diversen Belastungen, Leid und Entbehrungen verbunden, wie im Text gezeigt werden konnte. Insofern haben wir es mit einer von Grund auf traumatisierten Gesellschaft zu tun. (Die Traumatisierungen setzen sich dann im Erwachsenenalter fort, z.B. durch Kriegserlebnisse) Wir wissen heute sehr viel über die möglichen Folgen von Gewalt und belastenden Kindheitserfahrungen. Es ist absolut logisch und nachvollziehbar, dass diese Kindheitsbedingungen in einem direkten Zusammenhang zu politischen und sozialen Schieflagen in Afghanistan stehen (inkl. Extremismus und radikaler Auslegung des Islam). Der Westen hat spätestens seit dem Abzug der Militärs und der Übernahme des Landes durch die Taliban begriffen, dass die Probleme des Landes nicht durch Gewalt und militärisch gelöst werden können. 

Ich möchte dem zwei eindrucksvolle Zitate (einmal von der Kinderbuchautorin Astrid Lindgren und einmal von dem früheren Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Experten für Psychotraumatologie Peter Riedesser; beide Aussagen entstanden bei Preisverleihungen), anschließen, die im Grunde alles sagen:  

"Wir wollen ja den Frieden. Gibt es denn da keine Möglichkeit, uns zu ändern, ehe es zu spät ist? Könnten wir es nicht vielleicht lernen, auf Gewalt zu verzichten? Könnten wir nicht versuchen, eine ganz neue Art Mensch zu werden? Wie aber sollte das geschehen, und wo sollte man anfangen? Ich glaube, wir müssen von Grund auf beginnen. Bei den Kindern" (Lindgren 1978).

Je mehr Kinder bei uns und weltweit vernachlässigt, geschlagen, gedemütigt werden und in Hoffnungslosigkeit und Hass abgleiten, desto höher ist das destruktive Potential in unserem eigenen Land und weltweit. Vor diesem Hintergrund ist Kinderschutz zu einer Frage des Überlebens geworden. Weltweiter Kinderschutz ist der Königsweg zur Prävention nicht nur von seelischem Leid, sondern auch von Kriminalität, Militarismus und Terrorismus. Er sichert die Demokratie und den friedlichen kulturellen und ökonomischen Austausch. Unsere gesamte Kreativität und Entschlossenheit ist gefragt, dies zu realisieren. Wenn wir alle dies wollten in einem einzigartigen solidarischen Akt, hätten wir dafür auch das Wissen und die Mittel“ (Riedesser 2002, S. 32).


Quellen:

Bette, J.-P. L. F. (2006): PTBS, häusliche Gewalt und Kinderarbeit - eine Epidemiologische Untersuchung von Schulkindern in Kabul, Afghanistan. Diplomarbeit im Fachbereich Psychologie der Universität Konstanz. (Erstgutachter: Prof. Dr. Thomas Elbert, Zweitgutachterin: Dr. Johanna Kißler.) 

Central Statistics Organisation (CSO) & UNICEF (2013): Afghanistan Multiple Indicator Cluster Survey 2010-2011: Final Report. Kabul: Central Statistics Organisation (CSO) and UNICEF. 

Central Statistics Organization (CSO), Ministry of Public Health (MoPH) & ICF (2017): Afghanistan. Demographic and Health Survey 2015. Central Statistics Organization, Kabul.

deMause, L. (2005): Das emotionale Leben der Nationen. Drava Verlag, Klagenfurt, Celovec.

Fontanel, B. & D'Harcourt, C.  (2006): Babys in den Kulturen der Welt. Gerstenberg Verlag, Hildesheim. 

Hanifi, M. J. (1971): Child Rearind Patterns Among Pushtuns of Afghanistan. International Journal of Sociology of the Family, Vol. 1, No. 1, S. 53-57. 

Hesketh, T. & Xing, Z. W. (2006): Abnormal sex ratios in human populations: Causes and consequences. Proc Natl Acad Sci (PNAS) USA, 103(36), S. 13271–13275.

Li, M., Rao, K., Natiq, K., Pasha, O. & Blum, R. (2018): Coming of Age in the Shadow of the Taliban: Adolescents' and Parents' Views Toward Interpersonal Violence and Harmful Traditional Practices in Afghanistan. Am J Public Health. 108(12), S. 1688-1694. 

Lindgren, A. (1978): Niemals Gewalt. Dankesrede.

Panter-Brick, C., Eggerman, M., Gonzalez, V. & Safdar, S. (2009): Violence, suffering, and mental health in Afghanistan: a school-based survey. Lancet. 374(9692), S. 807–816. 

Riedesser, P. (2002): Trauma - Terror - Kinderschutz: Prävention seelischer Störungen und destruktiven Verhaltens. Vortrag bei der Verleihung des Kinderschutzpreises am 29.10.2001. Psychotraumatologie, 3(2), S. 32.

Save the Children (2016): Every Last Girl: Free to live, free to learn, free from harm. London.

Save the Children (2017): Knowledge, Attitudes and Practices on Violence and Harmful Practices Against Children in Afghanistan: A baseline study. Save the Children – Afghanistan Country Office. 

Save the Children (2020): The Hardest Place To Be A Child. Global Childhood Report 2020. Save the Children, Connecticut.

Stolz, J. (2020, 17. Nov.): Afghanistan – der gefährlichste Ort der Welt für Kinder. UNICEF.

UNICEF (2021a): Afghanistan. Country Report.  (Erstellungsdatum unklar, Datum des Zugriffs gewählt)

UNICEF (2021b): The situation of children and women in Afghanistan. Facts and figures.  (Erstellungsdatum unklar, Datum des Zugriffs gewählt)

UN-Woman (2021): Global Database on Violence against Women. Afghanistan. (Erstellungsdatum unklar, Datum des Zugriffs gewählt)

Wood, J. & Save The Children (2011): Save the Children Afghanistan: Learning Without Fear - A Violence Free School Project Manual. Save the Children & Federal Republic of Germany Foreign Office.

World Bank (2021): GDP per capita (current US$). (Erstellungsdatum unklar, Datum des Zugriffs gewählt) 

World Health Organisation et al. (2019): Trends in maternal mortality 2000 to 2017: estimates by WHO, UNICEF, UNFPA, World Bank Group and the United Nations Population Division. Geneva: World Health Organization. 


Donnerstag, 5. August 2021

Kindheit des japanischen Kaisers Hirohito

Die Kindheit des japanischen Kaisers Hirohito (1926 bis 1989 Staatsoberhaupt Japans) war schwer belastet. Alleine die Tatsache, dass er im Geiste aufwuchs, von göttlicher Abstammung zu sein, mag die Psyche eines Kindes sehr durcheinanderbringen. Aber auch weitere Sachverhalte sprechen eine deutliche Sprache. 

Die Ehe der Eltern war, ganz nach japanischere Tradition, arrangiert. Allerdings musste Hirohitos Mutter Sadako „zunächst nur Geliebte sein. Nur bei einer Schwangerschaft hätte sie Taisho (Hinweis Sven Fuchs: Der Vater von Hirohito) als Gemahlin anerkennen dürfen, und auch dann wieder nur, wenn ihm (…) ein Junge geboren wurde, der die Erbfolge sichern konnte“ (Kirchmann 1989, S. 36). So kam es auch, ein Junge wurde geboren und Geliebte und Kronprinz heirateten in der Folge. 

Diese Grundlage für ein neues Leben bedeutet in meinen Augen bereits die erste Belastung für ein Kind: Die Mutter war nicht viel wert - außer durch die Geburt des Sohnes - und eine wirklich emotionale Beziehung gab es nicht zwischen den Eltern. Wobei seine Eltern auch nicht viel als Vorbild zur Verfügung hätten stehen können: „Der strengen Tradition gemäß wurde er seinen Eltern schon früh abgenommen und in die Obhut des Admirals Sumiyoshij Kawamura gegeben, der sich durch Kriegstaten hervorgetan hatte (…)“ (Kirchmann 1989, S. 38).

Allerdings starb dieser Ziehvater, als Hirohito gerade einmal drei Jahre alt war. Der Junge wurde daraufhin in den Palast gebracht, „wo er seine Mutter nur ein oder zweimal die Woche sah, seinen Vater noch weniger“ (Kirchmann 1989, S. 38f.) Der Sohn eines Samurai wurde zum Erzieher bestimmt. Später in der Schule war ein ehemaliger Krieger namens Nogis sein Erzieher, der Hirohito zu hohen Leistungen antrieb. Gelegentlich wurde Hirohito von ihm gezwungen „nackt unter einem eiskalten Wasserfall zu stehen, um Disziplin zu erlernen“ (Kirchmann 1989, S. 41).
Nogis hing dem totalen Kampfgeist der Samurai an und hatte schon sich selbst niemals geschont. Als Hirohito 12 Jahre alt war, starb sein Großvater. Nogis hatte schon zuvor vorsichtige Einwände dagegen vorgebracht, Hirohito als Gottkaiser auf den Thron zu bringen. Er hielt ihn für ungeeignet. Nach dem Tod des Großvaters wurde Hirohito zum Thronfolger erklärt. Nogis suchte seinen Zögling einen Tag vor dem großen Staatsbegräbnis auf und ermahnte ihn, den Traditionen treu zu bleiben und besser zu studieren. Danach begingen er und seine Frau Suizid (Seppuku). Er "schlitzte sich langsam und absichtlich schmerzhaft den Magen auf, immer darauf bedacht, wie ein großer Samurai den Göttern seinen ernsthaften Willen kundzutun, in Ehren aus dieser Welt zu scheiden" (Kirchmann 1989, S. 41).
Dieser fanatische Mann war vorher für die Erziehung des Kronprinzen verantwortlich. Wir dürfen annehmen, dass die Prägungen entsprechend groß gewesen sein dürften. Ob und wie den 12Jährigen dieser Suizid belastete, wird vom Biografen nicht ausgeführt. Da dem Kronprinz keinerlei Elternfiguren zur Verfügung standen und er zudem schon als 3Jähriger einen Ziehvater verloren hatte, gehe ich davon aus, dass ihn der Suizid nicht unberührt gelassen hat.

Hirohito war letztendlich „Objekt einer weitgehenden Vernachlässigung durch seine Eltern, für die wohl weniger seine Mutter Sadako, als der unmenschlich-rituelle Rahmen hofstaalicher Mechanismen verantwortlich war“ (Kirchmann 1989, S. 42). Auch in einer anderen Quelle wird unter der Zwischenüberschrift „Kindheit ohne Eltern“ zusammengefasst: „Die Erziehung war sehr streng und verfolgte das Ziel, dass sich der Junge durch Abstinenz von Elternliebe zu einer starken, eigenständigen Persönlichkeit entwickeln sollte. Wie Kaiser Akihito selbst später äußerte, hätte er sich als Kind gewünscht, in einer `menschlicheren` Umgebung aufzuwachsen“ (Janz 2016). (Dass potentielle Thronfolger von Ammen und Erziehern erzogen und verpflegt wurden, war übrigens gängige Praxis in der Menschheitsgeschichte. Die meisten Könige und Kaiser waren demnach zutiefst von ihren Eltern vernachlässigte, bindungslose Kinder.)

All diese Informationen bilden nur den Grundrahmen, der deutlich schwerste Belastungen für das Kind aufzeigt. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass dieses Kind in seinem strikten und strengen Lebensrahmen mit diversen Bediensteten und ohne enge, emotionale Bindungen an Elternfiguren in seinem Alltag etlichen Belastungen ausgesetzt gewesen sein wird, von denen wir nichts erfahren werden. Ein Kaiser ist immer auch Symbolfigur und den Dynamiken der vorhanden Strukturen ausgesetzt. Allerdings stellt sich schon die Frage, ob und wie politische Entscheidungen (vor allem auch während des Zweiten Weltkriegs) mit dieser traumatischer Kindheit zusammenhingen?


Quellen:

Janz, H. (2016, 23. Dez.): Kaiser Akihito: Aufrichtigkeit, Vergebung und Volksnähe. Japandigest. 

Kirchmann, H. (1989): Hirohito. Japans letzter Kaiser. Der Tenno. Wilhelm Heyne Verlag, München



Montag, 2. August 2021

Islamistischer Terrorismus: Kindheit von Denis Cuspert

Der frühere Musiker Denis Cuspert, der sich dem „Islamischen Staat“ anschloss, bekam medial viel Aufmerksamkeit. In einem Medienbericht wird deutlich, dass auch seine Kindheit belastet war:
Eine behütete Jugend war es aber nicht, sondern eine, in der die Eltern ständig überfordert waren und es eine Mutter gab, die behauptete, ihre im Haus von der Polizei gefundenen Drogen gehörten dem eigenen Sohn. Wenn sie keine Lust auf Denis hatte, warf sie den Sohn einfach aus der Wohnung“ (Krüger, K. (2013, 29. Okt.): Rapper Denis Cuspert: In Allahs Gang. Frankfurter Allgemeine Zeitung).
Seinen leiblichen Vater lernte Denis nie kennen. Mit dem Stiefvater gab es schwere Spannungen, so dass Denis selten zu Hause war. Cuspert wurde später zum Gangmitglied und kriminell (Hellmuth, D. (2016): Of Alienation, Association, and Adventure: WhyGerman Fighters Join ISIL. Journal for Deradicalization, Nr. 6, S. 27f.), 

Islamismus: Kindheit von Sven Lau

In seiner Autobiografie (2021: Wer ist Sven Lau? Book on Demand, Norderstedt. Kindle E-Book Version) hat der ehemalige islamistische Prediger und Salafist Sven Lau, der von den Medien früher sehr viel Aufmerksamkeit bekam, deutlich über seine Kindheitsbelastungen geschrieben.

Sein Vater prügelte ihn und auch die Mutter. Seine Mutter war noch ein Teenager, als sie mit Sven schwanger war und war dadurch wohl auch überfordert. Nach der frühen Trennung seiner Eltern sah Sven seinen Vater erst wieder im Alter von 18 Jahren. Es gab Phasen, in denen Sven kein Essen hatte, weil die ökonomische Situation der alleinerziehenden Mutter zu angespannt war. Ein späterer Stiefvater trennte sich ebenfalls wieder von seiner Mutter (Lau 2021, S. 16ff.).

Dienstag, 27. Juli 2021

Überblick über meine Veröffentlichungen

Ich habe jetzt einmal meine bisherigen Veröffentlichungen (wird laufend aktualisiert) außerhalb meines Blogs sortiert. Außerdem hänge ich dieser Liste Texte an, in denen mein Buch besprochen wurde. 

Meine bisherigen Veröffentlichungen außerhalb meines Blogs: 

Fuchs, Sven (2012): Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an: Plädoyer für einen offenen Blick auf die Kindheitsursprünge von Kriegen. Arbeitspapiere zur Internationalen Politik und Außenpolitik. Nr. 4/2012. Lehrstuhl Internationale Politik, Universität zu Köln. S. 1–48.

Fuchs, Sven (2015): Joachim Bauer: Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt (Rezension). In: Janus, L., Kurth, W., Reiß, H. J. & Egloff, G. (Hrsg.): Verantwortung für unsere Gefühle. Die emotionale Dimension der Aufklärung. (Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 16) Mattes Verlag, Heidelberg, S. 412-416.

Fuchs, Sven (2016): Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an. In: Reiß, H. J., Heinzel, R. & Kurth, W. (Hrsg.): SEIN und HABEN – Was uns bewegt (Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 17). Mattes Verlag, Heidelberg, S. 187-222. 

Fuchs, Sven (2019a): Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen. Mattes Verlag, Heidelberg. 

Fuchs, Sven (2019b): Gewaltrückgang gegenüber Kindern als wichtiges Thema psychohistorischer Forschung. In: Janus, L., Egloff, G., Reiß, H. J. & Kurth, W. (Hrsg.): Die weiblich-mütterliche Dimension und die kindheitliche Dimension im individuellen Leben und im Laufe der Menschheitsgeschichte (Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 20). Mattes Verlag, Heidelberg, S. 283-298. 

Fuchs, Sven (2020a): Die Kindheitsursprünge von (politischer) Gewalt und Friedlosigkeit. Dynamische Psychiatrie (Internationale Zeitschrift für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychiatrie), Vol. 53, Heft 2-3, S. 98-118. 

Fuchs, Sven (2020b): Gewalt gegen Kinder betrifft uns alle. Eltern-Kind-Magazin „für uns“. Stiftung Zu-Wendung für Kinder.

Fuchs, Sven & Petschauer, Peter W. (2020): The Abusive and Troubled Childhood of Donald Trump. Clio's Psyche. Volume 27, Number 1, S. 37-41.

Fuchs, Sven (2021a): Die Kindheit ist politisch! Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Interdisziplinäre Fachzeitschrift für Prävention und Intervention (DGfPI), Jahrgang 24, Heft 1, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S. 80-85. 

Fuchs, Sven (2021b): Kindheitsursprünge von politischer Gewalt und Extremismus. Oder: Die Kindheit ist politisch! In: Reiß, H. J., Janus, L., Dietzel-Wolf, D. & Kurth, W. (Hrsg.): Kindheit ist politisch – Die Bedeutung der frühen Kindheit für die Konflikt- und Handlungsfähigkeit in der Gesellschaft (Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 21), Mattes Verlag, Heidelberg, S. 11-80

Fuchs, Sven (2021c): Kindheit in Afghanistan und der nie enden wollende Krieg und Terror. In: Reiß, H. J., Janus, L., Dietzel-Wolf, D. & Kurth, W. (Hrsg.): Kindheit ist politisch – Die Bedeutung der frühen Kindheit für die Konflikt- und Handlungsfähigkeit in der Gesellschaft (Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 21), Mattes Verlag, Heidelberg, S. 103-116.

Fuchs, Sven (2023): Kindheitsursprünge von politischer Gewalt und Extremismus. In: Heinzelmann, C. & Marks, E. (Hrsg.): Prävention orientiert! ... planen ... schulen ... austauschen ... (Ausgewählte Beiträge des 26. Deutschen Präventionstages). Forum Verlag, Godesberg. S. 243-308. 

Fuchs, Sven (2024): Die Kindheit ist politisch! Kindheit von Extremisten und politischen Gewalttätern. In: Vogt, R. (Hrsg.): Transgenerationale Gewalt: Weshalb unbehandelte Traumata in familiäre Tyrannei und sozialen Extremismus münden können. Lehmanns Media, Berlin. S. 49-88. 


Vorträge:

Fuchs, Sven (2021, 06. März): "Kindheit ist politisch!" auf der 35. Jahrestagung der Gesellschaft für Psychohistorie und Politische Psychologie (GPPP) (online)

Fuchs, Sven (2021, 10. Mai): "Kindheitsursprünge von politischer Gewalt und Extremismus" beim 26. Deutschen Präventionstag in Köln (online)

Fuchs, Sven (2021, 20. November):  “The Childhood Origins of Political Violence and Extremism" Psychohistory Forum Meeting, USA (online)

Fuchs, Sven (2022, 18. März): “The Childhood Origins of Political Violence and Extremism" (Online-Vortrag für das Projekt "No Violence for Kids Canada")

Fuchs, Sven (2022, 10. September): Die Kindheit ist Politisch. Vortrag beim Kongress für Kinder- und Jugendmedizin in Düsseldorf  (im Rahmen des Symposium-DGSPJ: "Kinderschutz - Aggression - Gewalt - Trauma") 

Fuchs, Sven (2022, 29.10.). Vortrag vor FamilienberaterInnen zum Buch: Die Kindheit ist politisch. (24. familylab Supervision/kollegiale Reflexion in Stuttgart)

Fuchs, Sven (2023, 12.05.). Die Kindheit ist politisch! (14. Jahrestagung Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin, kurz DGKiM)

Fuchs, Sven (2023, 24.06.), Die Kindheit ist politisch! Kindheiten von Extremisten und politischen Gewalttätern.  (Trauma-Kongress: "Methodenvielfalt in der Psychotraumatologie und die Wurzeln der Gewaltintrojekte" in Leipzig, Veranstalter: Trauma-Institut-Leipzig an der Akademie für Ganzheitliche Psychotherapie & Akademie für Ganzheitliche Psychotherapie)


Bisherige (Fach-)Rezensionen meines Buches oder deutliche Hinweise durch Fachleute darauf:

  • Dr. med. Ludwig Janus: Die Kindheit ist politisch! In: "Gewalt und Trauma: Direkte und transgenerationale Folgen" (Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 19, 2018)
  • Der Traumaexperte Prof. Dr. Franz Ruppert hat mein Buch sehr positiv am Ende eines Podcast-Interviews gewürdigt: Psycho trifft Coach#13 - Trauma (13.05.2019)
  • Ingeborg Salomon: "Entsetzlich wahr" (Rhein-Nekar-Zeitung vom 17.05.2019)
  • Dr. Erika Butzmann: "Gewalt - von Anfang an" (Stiftung Zu-Wendung für Kinder vom 30.05.2019) + ergänzend ein kurzes Interview mit mir
  • Caroline Fetscher: "Das Paradies sieht anders aus" (Der Tagesspiegel, 02.06.2019) + "Sind Diktatoren auch das Produkt einer traumatischen Kindheit?" (Der Tagesspiegel-Online, 04.06.2019)
  • Prof. Dr. Gertrud Hardtmann: Sven Fuchs: Die Kindheit ist politisch! (für socialnet, 26.09.2019)
  • Der Kriminologe Prof. Dr. Christian Pfeiffer hat keine Rezension verfasst, ich möchte aber erwähnen, dass er in seinem Buch "Gegen die Gewalt: Warum Liebe und Gerechtigkeit unsere besten Waffen sind" (04.11.2019) mein Buch als "wichtiges Buch" bezeichnet und auch kurz etwas zum Inhalt meiner Arbeit ausgeführt hat. Auf eine solche Würdigung eines deutschlandweit bekannten Experten bin ich schon etwas stolz ;-).
  • Die Journalistin Dr. Sabine Schmidt hat am 10.01.2020 unter dem Titel "Kein Herz für Kinder" eine Rezension verfasst. 
  • Peter W. Petschauer: Destructive Childhood Experiences and the Penchant for Authoritarians. In: Clio’s Psyche, Volume 26, Number 2, Winter 2020 
    (Abstract: The author is inspired by Sven Fuchs’ new book about the sad tale of the history of childhood and its current state. In 17 chapters, the author takes the reader from the brutality of tribal societies to the misery of childrearing in most current societies and the abuse most authoritarian figures experienced in the distant and recent past.)
  • Josef Pfaffenlehner hat im SIAK-Journal - Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis (02/2020) eine Rezension meines Buches veröffentlicht (S. 104f.). 
Darüber hinaus wurde mein Buch mittlerweile von mehreren AutorInnen in ihren Büchern verarbeitet (siehe eine Übersicht bei Googel Books)

Montag, 26. Juli 2021

Die Kindheit von Viktor Orbán

Viktor Orbán: Ein Stürmer in der Politikvon Igor Janke (Schenk Verlag, Passau, 2014) ist meine Quelle für einige wenige, aber aufschlussreiche Informationen über die Kindheit des autoritär regierenden, ungarischen Präsidenten. 

Der Biograf betont, dass die Familie am Rand ihres Dorfes wohnte, was gleichzusetzen war mit ihrer niedrigen gesellschaftlichen Position. Das Leben war hart. Es gab kein fließend Wasser. Die Kinder mussten vor allem viel arbeiten und mithelfen. So war das Leben damals für Kinder in vielen Dörfern. Eine schwere Belastung kam aber hinzu: „Der Vater erzog seine Kinder mit harter Hand. Wenn Viktor aufbegehrte, und das kam häufig vor, rutschte dem Vater schnell die Hand aus. Sie hatten kein sonderlich gutes Verhältnis. Für Viktor war sein Großvater Mihály Orbán die Autorität. Von ihm erbte er zahlreiche Charakterzüge“ (Janke 2014, S. 30). 

Die selbst erlittene Gewalt durch den Vater scheint den Jungen auch geprägt zu haben, was den Umgang mit Menschen in seinem Umfeld anging: „Orbán sagt, dass in seiner Familie immer auch die körperliche Kraft zählte. Mit ihr konnte sich der Junge vom Dorfrand, mangels besserer Argumente, Respekt unter den anderen Jungs verschaffen. Er betont, dass ihm im Dorf die körperliche Kraft die Unabhängigkeit sicherte“ (ebd., S. 31). Zusammenstößen sei er nie aus dem Weg gegangen. Darunter fielen offensichtlich auch Prügeleien, wenn man den weiteren Schilderungen des Biografen folgt. Viktor habe es nicht ertragen können, dass jemand über ihn herrschte und die Spielregeln bestimmte. Er wollte bestimmen, das zeigte sich seit seiner frühen Jugend. 

Entsprechend begehrte er auch auf, als er auf ein Internat geschickt wurde, was auch eine Trennung von der Familie bedeutete. „Er lebte im Internat, wo er sich ausgesprochen unwohl fühlte. (...) war er nun in einem geschlossenen, engen Raum eingezwängt, wo ihm bisher unbekannte Regeln Fesseln anlegten. Er wollte ihnen nicht Folge leisten, oft geriet er in Konflikte. Nach einer Prügelei verwies man ihn des Internats“ (ebd., S. 36). Er wohnte danach wieder bei seinen Eltern. Was er ggf. an Belastungen im Internat erlitten hat, wird nicht weiter ausgeführt.
Mit 18 musste er zur Armee. Seine bisherigen Lektionen, sich mit Gewalt und Körperkraft durchsetzen zu können, zogen sich hier fort. „Viktor war oft in Schlägereien verwickelt. Die älteren Soldaten gingen brutal mit den Rekruten um“ (ebd., S. 43). Er habe nur überlebt, weil er stark gewesen wäre und Risiken auf sich nahm, wird er von Janke zitiert. Nur so habe er sich Respekt verschaffen können. 

Über die Prägungen durch seine Mutter erfährt man erstaunlich wenig in der Biografie. Seine Mutter, die Pädagogin war, scheint den Eigen- und Freiheitssinn ihres Sohnes sehr gestützt zu haben und ermunterte ihn, für seine Ziele einzustehen.

Dieser kurze Abriss und Eindruck über seine jungen Jahre macht sehr deutlich, auf welchem Grund der heutige Präsident steht. Verbindungen bzgl. seines politischen Verhaltens sind sicher nicht auszuschließen bzw. erscheinen mir als sehr wahrscheinlich.  


Freitag, 23. Juli 2021

Wie schneiden Deutschland und die USA in internationalen Rankings ab, wenn es um Kinder geht?

Mittlerweile existieren einige Rankings bzgl. dem allgemeinen oder auch speziellen Wohlergehen von Kindern in der Welt. 

In diesem Beitrag möchte ich die Platzierungen für Deutschland vorstellen. In einigen dieser Rankings wird gesondert auf das besonders schlechte Abschneiden der USA im Vergleich zu anderen hoch entwickelten, reichen Ländern hingewiesen. Dieser Umstand ist in der Tat derart auffällig, dass ich auch die Platzierung der USA hier aufführe. Es zeigt sich, dass Deutschland meist in einem guten oberen Feld landet, wenn es um Vergleichsdaten geht. Die hierzulande oft verbreitetet Unart, das Land bzgl. des Umgangs mit Kindern schlecht zu reden, kann rein statistisch nicht bestätigt werden. Das bedeutet nicht, dass hierzulande alles gut ist. Es bedeutet vor allem, dass es in den meisten anderen Ländern schlechter ist. 

Wohlergehen von Kindern in reichen Ländern (2013) 
(UNICEF Office of Research 2013):

Deutschland: Platz 6 von 29 reichen Ländern 

USA: Platz 26 von 29 reichen Ländern 


Wohlergehen von Kindern in reichen Ländern (2020) 
(UNICEF Office of Research – Innocenti 2020):

Deutschland: Platz 14 von 38 reichen Ländern

USA: Platz 36 von 38 reichen Ländern 


Stand bzgl. des Erreichens der Sustainable Development Goals (SDGs) bzw. der globalen UN-Agenda mit Blick auf 9 für Kinder relevante Bereiche 
(UNICEF Office of Research 2017):

Deutschland: Position 2 von 41 reicheren Ländern

USA: Position 37 von 41 reicheren Ländern 


Familienfreundlichkeit (Chzhen et al. 2019)

Deutschland: Platz 6 von 31 aller komplett in die Wertung einbezogenen Vergleichsländer bezogen auf Familienfreundlichkeit

USA: letzter Platz bzgl. bezahlter Schutzzeit für Mütter und Väter weil: „The United States is the only OECD country without nationwide, statutory, paid maternity leave, paternity leave or parental leave. Some states offer paid parental leave insurance programmes to eligible workers“ (Chzhen et al. 2019, S. 7). Allerdings wurden die USA nicht ins Gesamtranking einbezogen, weil für zwei andere Punkte Vergleichsdaten fehlten. 


End of Childhood Index 2020 (Vergleich bzgl. Orten auf der Welt, wo es am schlimmsten ist, ein Kind zu sein) (Save the Children 2020):

Deutschland: Platz 25 von 180 Ländern

USA: Platz 43 (gleichauf mit China und Montenegro) von 180 Ländern (was international verglichen nicht schlecht ist, im Text wird allerdings explizit betont, dass die USA fast hinter allen fortschrittlichen Ländern im Ranking zurückliegen) 

„Girls’ Opportunity Index 2016 (bezogen auf die Lebenssituation von Mädchen/jungen Frauen) (Save the Children (2016):

Deutschland: Platz 12 von 144 Ländern

USA: Platz 32 von 144 Ländern 


Quellen:

Chzhen, Y., Gromada, A. & Rees, G. (2019): Are the world’s richest countries family friendly? Policy in the OECD and EU. UNICEF Office of Research, Florence. 

Save the Children (2016): Every Last Girl: Free to live, free to learn, free from harm. London.

Save the Children (2020): The Hardest Place To Be A Child. Global Childhood Report 2020. Save the Children, Connecticut.

UNICEF Office of Research (2013): Child Well-being in Rich Countries: A comparative overview. Innocenti Report Card 11, UNICEF Office of Research, Florence. 

UNICEF Office of Research (2017): Building the Future: Children and the Sustainable Development Goals in Rich Countries. Innocenti Report Card 14, UNICEF Office of Research – Innocenti, Florence. h

UNICEF Office of Research – Innocenti (2020): Worlds of Influence: Understanding what shapes child well-being in rich countries. Innocenti Report Card 16, UNICEF Office of Research – Innocenti, Florence.


Die Kindheit des Massenmörders und Rechtsextremisten Dylan Roof

Die Kindheit des Massenmörders und Rechtsextremisten Dylan Roof (Anschlag in Charleston, USA) scheint sehr destruktiv gewesen zu sein. Mit ihm und seiner Kindheit hatte ich mich schon früh befasst, komme aber erst jetzt dazu, etwas über ihn zu schreiben.
Court documents and nearly two dozen interviews show Roof's early childhood was troubled and confused as well, as he grew up in an unstable, broken home amid allegations of marital abuse and infidelity“ (ctvnews.ca, 27.06.2015, Charleston shooting suspect's life was a troubled road to radicialization).
Seine Eltern trennten sich vor seiner Geburt. Lebensmittelpunkt blieb offensichtlich sein Vater, der ca. 4 Jahre nach Dylans Geburt erneut heiratete und bei dem Dylan weitgehend aufwuchs. Der Vater war berufsbedingt oft abwesend. Die neue Stiefmutter wurde von seinem Vater verbal und körperlich schwer misshandelt und stark kontrolliert. Sie verließ den Vater, als Dylan ca. 14 Jahre alt war (Bates, D., 19.06.2015, Charleston killer Dylann Roof grew up in a fractured home where his 'violent' father beat his stepmother and hired a private detective to follow her when they split, she claims in court papers; Smith, J. (2019): Home Grown: How Domestic Violence Turns Men Into Terrorists. Riverrun, London. Kindle E-Book Edition., Kapitel: „From Children to Perpetrators“, Position 1664f.)  

Das Miterleben von häuslicher Gewalt ist eine schwere, traumatische Belastung für Kinder. Die Wahrscheinlichkeit ist außerdem sehr hoch, dass es weitere Belastungen gab, die von dem (nachweisbar) gewalttätigen Vater ausgingen. Ich frage mich auch, um der Vater evtl. Gewalt gegen die schwanger Mutter von Dylan angewendet hat (was die Trennung vor der Geburt mit erklären könnte)? Dieser Punkt sollte im Blick bleiben und würde eine frühe Belastung des Fötus bedeuten. Die Stiefmutter hat sich laut eigenen Angaben viel um die Kinder gekümmert. Wie der Alltag mit ihr wirklich aussah, erschließt sich für mich nicht. 


Donnerstag, 22. Juli 2021

10 Jahre Oslo und Utøya - Gedenken wir auch dem Kind, das Breivik einst war.

Heute jährt sich die terroristische Mordserie von Anders Behring Breivik zum 10. Mal. Der Fall Breivik wird mich bzgl. meiner Arbeit an dem Thema wohl nie mehr loslassen. 

Sein Fall beinhaltet im Grunde alles, was die Analyse der Ursachen von Gewalt so schwierig macht. Gleichzeitig zeigt der Fall in einer unvergleichbaren Klarheit auf, wo die Ursachen liegen. Deswegen bezeichne ich diesen Fall stets als Lehrstück für die Gewalt-/Extremismusforschung. Die genannten Widersprüche sind schnell erklärt:

Der Fall zeigt zunächst klassische Schwierigkeiten auf, wenn es um die tieferen Ursachen geht. Breivik selbst und seine Familie schwiegen sich über seine Kindheit aus. Breivik behauptete gar in seinem Manifest, dass es überhaupt keine Probleme in seiner Kindheit gab und dass er eher zu viele Freiheiten hatte. Sein seit dem Säuglingsalter von ihm getrennt lebender Vater konnte nicht viel berichten, weil er schlicht nicht da war. Sprich wir wüssten heute vermutlich nur, dass Anders ein Trennungskind war, wenn da nicht ein für so einen Fall wohl einmaliger, besonderer Umstand gewesen wäre. Denn der damals 4-Jährige Anders wurde zusammen mit seiner alleinerziehenden Mutter für 3 Wochen in einer psychiatrischen Einrichtung (SSBU) aufgenommen und analysiert. Wann hat es so einen Umstand je bei einem Massenmörder gegeben? 

Das Ergebnis der psychiatrischen Untersuchungsreihe war eindeutig: Dieses Kind erlebte einen reinen Alptraum an Gewalt, Vernachlässigung und emotionaler Misshandlung durch und an Hass-Liebe erinnernde Bindung an seine Mutter, die, dem Gutachten nach, vermutlich an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung litt und selbst als Kind schwerst belastet wurde. „In einem Moment konnte sie sanft und nett zu ihm sein, im nächsten schrie sie ihn an. Ihre Abweisung fiel bisweilen brutal aus. Die Ärzte hörten sie schreien: `Ich wünschte, Du wärst tot!`“, schreibt Åsne Seierstad über Anders Mutter in dem Buch „Einer von uns: Die Geschichte eines Massenmörders“. Was gibt es schlimmeres, als wenn die eigene Mutter, die einen geboren hat, einem sagt, sie wünsche, man wäre tot? Für ein Kind, das so etwas einmal gehört hat (und Anders hat dies bestimmt nicht nur einmal zu hören bekommen, wenn sich die Mutter schon in einer Kontrollsituation wie in der Psychiatrie derart offen auslässt), stirbt etwas in dieser Welt. Und dies ist nur eine von vielen belegten Verhaltensweisen gegenüber dem Kind. Einen Ausgleich gab es nicht, denn Anders war seiner alleinerziehenden Mutter komplett ausgeliefert. 

Irgendwann, wenn zu viel zusammenkommt, hilft es Kindern nur noch, innerlich abzuschalten und das „Licht“ auszustellen. Wer nicht mehr fühlt, kann auch nicht mehr verletzt werden und in der Folge irgendwie im Alltag funktionieren und überleben: allerdings als Gefühlszombie (was ich nicht selten so oder so ähnlich durch Menschen gehört und von ihnen gelesen habe, die schwer in der Kindheit misshandelt wurden). 

Das psychiatrische Team forderte nach der Begutachtung die umgehende Trennung von Mutter und Sohn. Eine Pflegefamilie wurde als Option eingebracht. Auch erhielt der Vater das Gutachten und versuchte daraufhin das Sorgerecht zu erstreiten, scheiterte aber. (Nach den Taten ihres Sohnes wurde die Mutter befragt und gab falsche Angaben zu den damaligen Abläufen. Sie sagte u.a. aus, dass es keinerlei Befürchtungen bzgl. Anders Entwicklungen als Kind gab und dass die Begutachtung des SSBU ein Resultat des Sorgerechtsstreites mit ihrem EX-Mann war, obwohl es genau umgekehrt war.) Das Kind blieb bei der Mutter, bei der Anders auch noch bis vor seinen Taten gelebt hatte, weil er beruflich gescheitert war. Was wäre gewesen, wenn die Trennung zwischen Mutter und Sohn geglückt wäre? Diese Frage habe ich mir oft gestellt. Nun ist sein Vater laut Medienberichten nicht gerade ein herausragend empathischer Mensch, aber die Vermutung liegt nahe, dass dem Kind einiges an belastenden Erfahrungen erspart geblieben wäre, wenn es eine Rettung aus dieser destruktiven Mutterbeziehung gegeben hätte. Vielleicht hätte der wohlhabende und über die Erlebnisse seines Sohnes informierte Vater auch eine Psychotherapie für seinen Sohn möglich gemacht? All dies bleibt Spekulation, die Dinge liefen anders. 

Wie viele Massenmörder, Terroristen und Diktatoren gab und gibt es, über die wir ebenfalls keine Informationen über deren Kindheit erhalten? Manchmal gibt es sogar die gegenteilige Lage, wenn Nachbarn, die frühere Lehrerin oder Verwandte berichten, dass dies doch behütete Kinder gewesen waren. Viele Beobachter stehen dann mit offenem Mund vor den Taten der Täter und fragen ungläubig, wie ein solch normaler Mensch zu seinen Taten fähig sein konnte. 

Der Fall Breivik mahnt uns FÜR IMMER zur Vorsicht, zum Hinterfragen und zur Skepsis. Kindesmisshandlung umgibt der Mantel des Schweigens, des Verdrängens, des Ausblendens, der Scham, der Ausblendung von Realitäten und der Ohnmacht. Genau deswegen ist das Dunkelfeld so groß, weil viele Menschen gar nicht wahrnehmen können, was hinter den häuslichen Fassaden passiert. Oftmals können die Betroffenen selbst nicht wahrnehmen, was sie erleiden, was ein Schutzmechanismus ist. Dabei gibt es in jedem Ort, in jeder noch so kleinen Gemeinde Kinder, die auch heute noch von ihren Eltern geradezu gefoltert werden. Diese Kinder gehen zur Schule, sie lächeln, sie lassen sich nichts anmerken, aber es gibt sie. Anders Behring Breivik war eines von ihnen. 

Neben der Schwierigkeit, die Wahrheit über die Kindheitshintergründe herauszubekommen, gibt es die nächste Hürde: Auch die Gesellschaft will diese Zusammenhänge oftmals nicht wahrhaben und wahrnehmen. Politisch Aktive (Intellektuelle, Antifaschisten, Linke oder wie auch immer man diese „Stempel“ für Menschen nennen mag) treibt die Sorge um, dass der politische Rahmen, der politische Nährboden aus dem Blick geraten könnte, wenn solche Taten durch Kindheitshintergründe erklärt würden. Dabei verstehe ich deren Sorge im Grunde nicht, denn der Rahmen bleibt weiter ein wichtiger Teil der Ursachenkette. Das Gleiche gilt für Feministinnen. Toxische Männlichkeitsnormen und kulturelle „Angebote“ für Männer, mit ihren Ohnmachtserfahrungen umzugehen und sie ggf. in eine mörderische Machtdemonstration umzuwandeln, bleiben weiter bestehen und zu kritisieren, auch wenn man Kindheitshintergründe als gewichtig benennt.
Dazu kommen die ganzen Menschen, die selbst als Kind misshandelt wurden. Ihr eigenes Leben bieten sie als Argument dafür dar, dass Breiviks Kindheit ja wohl kaum mit der Tat in einen Zusammenhang gebracht werden könnte, weil sie – wie so viele andere Menschen – ja nun mal nicht massenmordend durch die Welt laufen würden. 

Im Kopf des Massenmörders“ heißt ein Artikel von Ulrich Sonnenberg. Die destruktive Kindheit von Breivik bespricht der Autor im Ansatz, aber deutlich. Und er schreibt: „Allerdings ist die Welt voll von schwierigen Kindheiten – einige gehen unter, andere schaffen es, niemand tötet deshalb eigenhändig neunundsechzig Menschen nacheinander. Die Welt ist voller Menschen mit narzisstischen Zügen – ich selbst bin einer von ihnen –, und sie ist voller Menschen, die keinerlei Empathie mit anderen empfinden. Und die Welt ist voller Menschen, die Breiviks extreme politische Ansichten teilen, ohne dass sie aus diesem Grund Kinder und Jugendliche umbringen. Breiviks Kindheit erklärt nichts, sein Charakter erklärt nichts, seine politischen Standpunkte erklären nichts.“
Im Artikelverlauf hebt der Autor dann zwei Fragen hervor: „Wie war es möglich? Wie konnte es geschehen?“ Die Antworten darauf lagen vor seinen Augen, aber er wollte nicht zugreifen, er wollte sie nicht wahrhaben. Wer Breiviks extrem traumatische Kindheit ausblendet, wird niemals Antworten bekommen! Davon bin ich zutiefst überzeugt und dies gilt auch für andere Täter seines Kalibers. 

Seine Taten waren nur möglich, sie konnten nur geschehen, weil hier ein Mensch derart als Kind malträtiert wurde, dass er nichts mehr fühlt. Wer innerlich (emotional) tot ist, der kann anderen Menschen auch viel antun. „Kann“ nicht „muss“! Das ist genau der feine Unterschied. Noch eine Frage stelle ich mir – neben der Frage, was passiert wäre, hätte man diesem Kind frühzeitig geholfen - stets bei solchen Fällen: Wäre ein als Kind geliebter, gewaltfrei und weitgehend unbelastet aufgewachsener Mensch jemals zu solchen Taten fähig? Meine Antwort: Nein! Genau darum geht es. Es geht nicht darum, auf all die Menschen zu schauen, die solche Taten NICHT begehen, obwohl sie auf Grund ihrer traumatischen Erlebnisse und von ihrem inneren Hass her dafür prädestiniert wären. Es geht bei solchen Fällen um die simple Frage, was wäre, wenn diese traumatischen Erfahrungen gar nicht gemacht worden wären?

Seit fast 20 Jahren befasse ich mich mit den Ursachen von Gewalt. Ich fand etliche Studien und Biografien, die sich mit Tätern und deren Kindheit befasst haben. Was Autoren wie Ulrich Sonnenberg und viele Andere ausblenden ist, dass es trotz der Schwierigkeiten bei der Aufdeckung von Kindheitshintergründen sehr viel empirisches Material gibt, das ich u.a. in meinem Blog und in meinem Buch zusammengetragen habe. 

Der Neurobiologe und Hirnforscher Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth sagte bereits 2011 über Breivik:  „Über seine Jugend weiß ich nichts, aber ich bin sicher, dass sich bei genauer Analyse Faktoren der genannten Art finden.“ (Wie Recht er hatte!) Mit „genannter Art“ meint er genetische Vorbelastungen gepaart mit frühkindlichen Traumatisierungen durch Misshandlung, sexuellen Missbrauch und Vernachlässigung. Das ist etwas, was viele Experten, die sich mit Kindheit und Gewalt befassen, heute sagen würden. Unter „genannter Art“ würde ich ergänzend auch immer die Kategorie Geschlecht verstehen, denn es sind vorzugsweise Männer, die solche und ähnliche Taten begehen. Frauen begnügen sich i.d.R. eher damit, etwas provokant formuliert, z.B. ihren Nachwuchs zu misshandeln (oder sich selbst zu verletzten), um eigene Frustrationen und Kindheitserfahrungen im Außen wiederaufzuführen (so wie es auch die Mutter von Anders tat). Sie suchen nicht durch Massenmorde die öffentliche Bühne, um zu zeigen, wie „großartig“ und „mächtig“ sie doch sind, um ihr zerrissenes Ich aufzuwerten. Solche Gewaltakte sind und bleiben i.d.R. Männersache und das muss auch benannt werden.   

Ulrich Sonnenberg (sorry, aber sein Zitat bot sich nun Mal als Vorlage an…) wirft, wie so viele andere auch, keinen umfassenden Blick auf die Forschungslage. Zusammenhänge zwischen destruktiven Kindheitserfahrungen und Gewaltverhalten/Kriminalität sind in der wissenschaftlichen Literatur mittlerweile derart deutlich belegt, dass es objektiv überhaupt keinen Sinn macht, diese zu negieren.

Wenn ich an die Taten von Anders Behring Breivik denke, wenn ich der Opfer gedenke, wie heute zum 10. Jahrestag, dann denke ich immer auch an das Kind Anders (nicht an den erwachsenen Täter, der mir vom tiefsten Herzen her komplett egal ist!). Dem Gedenken an das verlorene, misshandelte Kind, das er war, sind wir, davon bin ich überzeugt, seinen Opfern schuldig. Das Gedenken an dieses Kind entschuldigt nichts! Dieses Gedenken steht im Zeichen der Prävention. Denn was sonst sind wir den Opfern schuldig, wenn nicht, dass wir alles Menschenmögliche tun, um solche und ähnliche Taten zukünftig zu verhindern? 


In my opinion, however, the most important lesson from this tragedy is not about integration policy, the Internet, ideology or the police`s operating methods and resources (…). It is about child and family welfare policy. (…) The banality of evil in the case Breivik is the significance of childhood trauma in the hatred of a grown man. Countering hatred, radicalization und terrorism is also a matter of preventing children from being abused by their parents – a banal insight, perhaps, possibly so banal that it has been overlooked.
(Der Autor Aage Borchgrevink in seinem Buch "A Norwegian Tragedy: Anders Behring Breivik and the Massacre on Utøya" über seine veränderte Sichtweise auf das Massaker von Utøya, nachdem er die Ereignisse und vor allem auch die traumatische Kindheit von Anders Breivik umfassend analysiert hat.)

Freitag, 18. Juni 2021

Mein Vortrag "Kindheitsursprünge von politischer Gewalt und Extremismus" beim Präventionstag als download

Aktualisiert am 12.10.2021


Mein Vortrag "Kindheitsursprünge von politischer Gewalt und Extremismus" vom 10.05.2021 beim diesjährigen 26. Deutschen Präventionstag ist ab sofort online abrufbar.

Der Vortrag ist ergänzend auch als PDF-Datei abrufbar (vor allem wichtig, wenn es um das Quellenverzeichnis geht). 

Trotz mancher "Wortfindungsstörungen" bin ich mit meinem Vortrag sehr zufrieden und finde den Inhalt derart wichtig, dass ich meinen Sicherheitsgrundsatz "keine Bilder oder Videos von mir im Internet" hiermit über den Haufen werfe (hoffentlich eine gute Entscheidung). 

Seit fast 20 Jahren bin ich bzgl. des Themas aktiv, auch im Internet. Jetzt lernt Ihr mich also auch etwas direkter kennen. Hi!

Kleine Korrektur: Bei der Folie über Linksextremismus - Jäger & Böllinger (1981) - habe ich gesagt, dass über 200 Linksextremisten befragt worden sein. Richtig ist, dass bzgl. dieser Personen Akten ausgewertet wurden. Kleiner Versprecher meinerseits....

Dass ich den Vortrag dort halten durfte und auch sehr positives Feedback erhalten habe, zeigt mir, dass wir auf einem guten Weg sind. Das Thema "belastende Kindheitserfahrungen und deren möglichen Folgen" ist ein schwieriges Thema. Das gilt einmal mehr, wenn es um politische Prozesse und Phänomene geht. Zudem sind fast alle Menschen davon betroffen, ob nun indirekt durch Traumahintergründe der Eltern/Großeltern oder direkt, durch eigene belastende Erfahrungen in der Kindheit. Ich kann auf eine Art verstehen, dass das Thema oft auch vermieden wird. Aber: Wir müssen da einfach durch und wir müssen da einfach ran! 

Die Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen sind derart bedeutsam, dass wir hinsehen müssen, auch wenn es schmerzhaft ist.  

Ich bin dem Team des Präventionstags sehr dankbar für die Einladung und Gelegenheit! Hat mich wirklich sehr gefreut!


Dienstag, 25. Mai 2021

USA. Studie über Kindheitshintergünde der sogenannten "White Supremacists"

Erneut habe ich eine Befragung gefunden, die Erkenntnisse zu Kindheitshintergründen von Rechtsextremisten bietet: 

Speckhard, A. & Ellenberg, M. (2021, 17.05.): White Supremacists Speak: Recruitment, Radicalization & Experiences of Engaging and Disengaging from Hate Groups. ICSVE Research Reports.

32 (2 weiblich) aktive oder ehemalige Extremisten/Rassisten (die meisten aus den USA, 3 kamen aus Kanada, 3 waren Deutsche, 1 war britisch und 1 aus Neuseeland ) wurden zwischen Oktober 2020 und April 2021 befragt. Sie stammten aus Gruppierungen wie Aryan Nations, Aryan Brotherhood, Christian Identity, Creativity Movement, National Socialist Movement [NSM], Proud Boys, Ku Klux Klan [KKK], various Skinhead groups, Volksfront und Unite the Right. 

Die Autorinnen fassen an einer Stelle zusammen: 

"This particular sample of white supremacists had a much higher level of adverse childhood experiences than to be expected in the general population and were as a result more vulnerable to groups that gave out the expectation of belonging or familial relations and who conferred on new members a sense of purpose and significance. If this result bears out in larger samples, it shows that addressing childhood abuse and neglect is an important measure for preventing recruitment to white supremacism" (Speckhard & Ellenberg 2021).

Auch zahlenmäßig wurde einiges erfasst:  

- 18 (56 %) wuchsen mit jemandem im Haushalt auf, der ein Suchtproblem hatte.

- 16 (50%) hatten selbst ein Drogenproblem.

 - 16 (50%) berichteten über eine dysfunktionale Familiensituation (z.B. Inhaftierung eines Elternteils, sich als Außenseiter in der Familie fühlen, sich von Elternteilen abgelehnt fühlen usw.).

 - 16 (50%) berichteten von einzelnen traumatischen Erlebnissen wie z.B. Vergewaltigung oder eine Krebserkrankung in der Jugend.

Direkte Gewalterfahrungen in der Familie wurden leider nicht zahlenmäßig erfasst, allerdings wurde Interviewauszüge als Fallbeispiele aufgeführt, die eine deutliche Sprache sprechen: 

[My stepfather] had a drug problem […] He was very angry, I see now. He was a born-again Christian. If you were bad, he would spank you“ und „Both my parents were addicted. My father was a Vietnam vet, later became a plumber. [He was] an alcoholic [and had] problems from the military. [He] drank a lot and [was] fairly abusive“ (Speckhard & Ellenberg 2021).

Sie Suche nach Zugehörigkeit und Familienersatz war eine entscheidende Motivation für den Anschluss an die extremistische Gruppe (was auch andere Befragungen immer wieder zeigten):

"The most commonly expressed motivation was the desire to belong (n = 24) alongside a sense of dignity and positive identity that comes with belonging" (Speckhard & Ellenberg 2021).

Einzelne Akteure beschreiben dies wie folgt: 

-  "I went to one of their rallies in Mississippi. They put that [arm] around me, we’ll take you in and take care of you. You had a bad life, we’ll take care of you, and they did."

 - "Growing up in [a] shit household, I needed a place to belong, that family aspect, to be better than what I was."

- "Family. There was a lot of friendship and family, you could talk with them about everything, and they were going to help you."

 Im Schlussteil fassen die Autorinnen erneut und sehr deutlich zusammen:

"The individuals in this study make clear that we cannot simply pull violent extremists from our society like weeds and expect no reappearances. This study makes clear that white supremacist recruitment in large part relies on the unmet needs of those who join and to do away with this type of violent extremism we must address the societal problems that made them vulnerable initially. Drug abuse, poverty, family dysfunction, and child maltreatment all contributed to serious vulnerabilities that left the interviewees with deep unmet needs for a sense of meaning, significance, and purpose in their lives. They felt desperate to belong, to be accepted, to be valued, to have their dignity established and to be given a sense of purpose" (Speckhard & Ellenberg 2021).