Montag, 29. November 2021

Kindheit des ehemaligen Nazis und Rechtsterroristen Stefan Michael Bar

Die Kindheitsbiografie des ehemaligen Nazis und Rechtsterroristen Stefan Michael Bar stellt einen weiteren Beleg dafür da, wo die tieferen Ursachen für Rechtsextremismus liegen. 

Meine Quelle: Bar, S. M. (2003): Fluchtpunkt Neonazi. Eine Jugend zwischen Rebellion, Hakenkreuz und Knast. (Hrsg. Klaus Farin und Rainer Fromm). Verlag Thomas Tilsner. 

Bereits die Umstände seiner Geburt waren schwierig: Seine Mutter war 15 oder 16 Jahre alt, der Vater nicht viel älter. Bar selbst bezeichnet sich in diesem Kontext als „biologischer Unfall“ (S. 9). Im Alter von drei Jahren kam er für ein Jahr in ein Kinderheim. Dort erlebte er Gewalt durch andere Kinder. Eine Lehrerfamilie adoptierte schließlich den Vierjährigen. 

Die Adoptiveltern hatten sehr hohe Erwartungen an das Kind. Leistung ging über alles. Der Vater (ein Gymnasialdirektor) hatte zudem sehr wenig Zeit für die Kinder und Familie und war häufig abwesend. „Vormittags gab`s staatlichen, nachmittags privaten Unterricht. (….). Das Leben kann nicht nur aus Schule und Lernen bestehen, selbst in den Ferien ging der Drill weiter. (…) Keine Zeit für gar nichts, das war nicht ich selbst“ (S. 11). Stefan Michael begann dann Stück für Stück mit Rebellion gegen alles und jeden. Er schwänzte schon als Grundschüler die Schule, begann mit Diebstählen usw. 

Der heranwachsende Junge wurde durch Kontakte zu anderen gleichgesinnten Jugendlichen Stück für Stück immer delinquenter. Es folgten Einbrüche, Dogenhandel, versuchte Brandstiftung, Sachbeschädigungen und Gewalt. Auch rechtsextreme Einflüsse kamen hinzu. Sein Bruder entwickelte sich ebenfalls zum Rechtsextremisten.  

Im Alter von 16 Jahren wurde Bar seinen Adoptiveltern entzogen und kam in ein Jugendheim. Dort traf er auf andere Rechte und Nazis, die seinen Weg noch mehr verdunkelten und zusätzlich negativ prägten. 

An einer Stelle wird Bar nochmals sehr konkret und beschreibt seine damalige Gefühlslage in seiner Jugend: „(…) Angst oder gar Respekt hatte ich vor niemandem. Keinem Lehrer, keinem Bullen, nicht mal meinen Eltern. (…) Ich hatte mich mit Gewalt befreit, durch Schläge, Verweigerung und Trotz, niemand hatte mir mehr etwas zu sagen, die Zeiten waren vorbei. Ich ganz allein bestimmte über mich, ich nahm mein Leben selbst in die Hand. Vorher hatte sich auch niemand um mich gekümmert, auf sich allein gestellt. Aber die Zeile aus dem Anti-Fascho-Song `Schrei nach Liebe` trifft bei mir brutal zu:
`… denn deine Eltern hatten niemals für dich Zeit`, auf mich bezogen eine beschissene Wahrheit. Das ist vielleicht `ne harte Anklage, aber es ist so, meine Eltern waren nie für mich da. Gute Noten waren alles, was zählte. (…) Irgendwann sagst du dir, drauf geschissen, bin jetzt alt genug, mach mein eigenes Ding. (…) Euch bin ich doch sowieso egal, also seid ihr es mir auch
!“ (S. 16)

Die weiteren Schilderungen über sein Leben und seine Straftaten habe ich nur ansatzweise gelesen. Wir haben es hier mit einem Mehrfachtäter höchster Kategorie zu tun, der einfach nur zerstörte und sich nahm, was er wollte. Mit der Welt und der Gesellschaft scheint er komplett gebrochen zu haben. Dies wird überdeutlich. 

Sehr ärgerlich machte mich das Nachwort des Mitherausgebers Klaus Farin. Im Zeitraffer blickt er auf die Sozialisation von Stefan Michael Bar und kommentiert:
Doch so logisch, fast zwangsläufig sich der Weg des Stefan Michael Bar in die Neonazi-Szene auch lesen mag, er ist es nicht. Millionen von jungen Männern in Deutschland mach(t)en ähnliche Erfahrungen“ (S. 150f.) Er beschreibt dann die Konflikte zwischen Alt-Nazis und 68ern, schreibt von 50.000 Jugendlichen unter 18 Jahren, die in einem Heim leben und von 37.000, die in einer Pflegefamilie untergekommen sind, berichten von unzähligen Kindern, die von ihren Eltern misshandelt werden usw. Und hängt dem an: „Doch nur eine winzige Minderheit der so in ihrer Entwicklung geschädigten Jugendlichen landet in der Neonazi-Szene (…). Allgemeinverbindliche Ursachen, gar Kausalzusammenhänge – wenn…, dann… - lassen sich aus den inzwischen zahlreich geführten biographischen Gesprächen und Analysen rechtsextremer Ideologen und (Gewalt)Täter nicht ableiten“ (S. 151). 

1. Das Buch stammt aus dem Jahr 2003. Insofern sei diese Anmerkung etwas verziehen. Das bis heute vorliegende biografische Material zeigt deckungsgleich mit dem Finger auf destruktive Kindheitserfahrungen von Rechtsextremisten

2. Bedeutet diese Anmerkung des Herausgebers also, dass die massiv traumatischen Kindheitserfahrungen von Bar gar keine Rolle bei seinem spezifischem Lebensweg spielen? Hätte man diese Schilderungen im Prinzip auch aussparen können, weil sie nicht von Relevanz sind? Weil „Kindheit“ ja nicht prägt? Die Zusammenhänge hier ausblenden zu wollen, ist geradezu nachlässig und fahrlässig! Ich habe schon oft gegen solche Kritik Stellung bezogen und werde mich hier jetzt nicht wiederholen. Heute ärgert mich es einfach nur noch wenn ich lese „Nicht alle einst misshandelten/traumatisierten Kinder werden zu Extremisten!“ und dadurch die Ursachenkette quasi weggewischt wird...


Dienstag, 23. November 2021

"Vom Saulus zum Paulus": Kindheit des Ex-Skinheads Johannes Kneifel

 "Vom Saulus zum Paulus: Skinhead, Gewalttäter, Pastor - meine drei Leben" heißt die Autobiografie von Johannes Kneifel (2012, Rowohlt Verlag, Reinbek)

Johannes Kneifel war als Jugendlicher Teil der rechten Skinheadszene. Schon in der Grundschule begann er mit Diebstählen und zündelte mit Feuer. Später neigte er zu Gewalt. Mit 17 Jahren kam er wegen Totschlags für fünf Jahre ins Gefängnis. Er brach mit der rechten Szene und wurde schließlich zum Pastor. 

Seine Kindheitserfahrungen sind, die meisten Blogleserinnen und Blogleser werden sich darüber kaum wundern, massiv destruktiv. 

Angst, Ohnmacht und Scham – immer wieder sind es dieselben Gefühle, die hochkommen, wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke. Ich fühlte mich wie in einem Gefängnis, allein, nicht wahrgenommen. Echte Wertschätzung erfuhr ich keine, an Lob von meinen Eltern kann ich mich nicht erinnern. Das galt nicht nur für meine schulischen Leistungen, sondern auch für alle anderen Bereiche“ (S. 75). 

Ich kam mir wie ein Fremder vor, egal wo ich war. Auch zu Hause. Einmal kam mir sogar der Gedanke, als Baby im Krankenhaus vertauscht worden zu sein, so wenig zugehörig fühlte ich mich meiner Familie (…)“ (S. 24). 

Wesentliche Grundlage der familiären Probleme waren die frühe, schwere Erkrankung seiner Mutter an Multipler Sklerose und die fast Blindheit seines Vaters. Dazu kam Armut und Geldsorgen. Die Eltern waren heillos überfordert, haderten mit dem Leben, kämpften sich durch. Für Johannes blieb da nicht viel. „Meine Familie war nicht nur finanziell in Not geraten. Die Sorge darum, wie es weitergehen soll, die Sorge um unser aller Wohl muss für meine Eltern so schlimm gewesen sein, dass sie den Mangel an Zuwendung, an Austausch gar nicht bemerkten. Auch nicht die Bedürfnisse ihrer Kinder“ (S. 29). Johannes schämte sich für seine Herkunft, für die Armut und für seine behinderten Eltern. 

Als Jugendlicher beschimpfte er sie, nannte seine Mutter „Du Krüppel!“ und seinen Vater „Versager“ (S. 45). Er trat sogar Zuhause Türen ein. Sein Vater zog sich zurück und schwieg. Nie brachte Johannes Schulfreunde mit nach Hause. An sich war er aber auch eher ein Außenseiter an der Schule, der kaum Anschluss fand. 

Die rechte Skinheadszene bot offensichtlich Halt und Ausgleich. „Ich war damals noch stolz darauf, Skinhead zu sein; mit diesem Stolz konnte ich die Scham über meine Herkunft, mein Elternhaus überdecken“ (S. 38). „Ich schien im Kreis der Rechten einen Rückhalt zu haben, den ich bis dahin nirgendwo anders gefunden hatte: Hier zählte Kameradschaft, das Gemeinschaftsgefühl“ (S. 42). 

Dies ist etwas, was sich wie ein roter Faden durch etliche Schilderungen von Ehemaligen oder auch entsprechenden Studien zieht: Die Suche nach Halt, Familienersatz, Freundschaft, Bindung, Schutz, Zugehörigkeit. Die extremistische Gruppe stopft quasi ein emotionales Loch. Dies zeigt auch auf die Chancen für Prävention, in dem jungen Menschen mit schwierigem Hintergrund konstruktive Gruppenangebote gemacht werden, in denen sie sich etwas Zuhause fühlen können. 

Seine Gefühlwelt beschreibt er mit Rückblick auf eine kurze Jugendliebe so: „ (…) nie im Traum hätte ich daran gedacht, dass ich zu solchen Gefühlen imstande sein könnte. Nach all den Jahren, in denen ich mich völlig in mich zurückgezogen, meine Gefühle in mir abgetötet hatte, erlebte ich den Himmel auf Erden“ (S. 37). Seine Situation war offenbar derart schwierig, dass er nichts mehr fühlte. Bis zu dieser kurzen Zeit des Flirts. 

Als Jugendlicher (der genaue Zeitpunkt erschließt sich nicht) kam er in ein Internat. Auch das Jugendamt war offensichtlich an dieser Entscheidung beteiligt (S. 37). Schon während seiner Schulzeit plagten ihn Suizidgedanken. Später im Gefängnis überlegte er erneut, sich umzubringen. Mit Blick auf Suizidgedanken und Schulzeit schreibt er: „Ich fühlte mich benachteiligt, missachtet, ausgegrenzt, wollte aber um jeden Preis vermeiden, damit aufzufallen. Es gab niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Zu allen negativen Gefühlen kam jetzt noch der Neid auf die Mitschüler, die in geordneten und behüteten Verhältnissen aufwuchsen. Meine Ohnmacht, an der eigenen Situation nichts ändern zu können, brachte mich irgendwann dazu, für meine Mitschüler nur noch Verachtung zu empfinden“ (S. 44). 


Montag, 22. November 2021

Kindheit des Ex-Nazis Stefan Jahnel

Die Autobiografie „Mythos Neonazi“  von Stefan Jahnel (2004, pro Literatur Verlag, Mammendorf) zeigt einmal mehr in Richtung Einflussfaktor Kindheit. 

Stefans Eltern trennten sich (das genaue Jahr wird nicht beschrieben). Die Ehe der Eltern war schon früh gescheitert, wie Jahnel ausführt. Und zwar bereits ab dem Zeitpunkt, wo Stefan vier Jahre alt war. Die Mutter wartete aber Jahre, bis sie sich schließlich trennte. Was Jahnel so kommentiert: „Ich denke, es war eine falsche Entscheidung“ (S. 11). Er meint: Sie hätte sich früher trennen sollen. Offensichtlich gab es häufig Konflikte in der Familie. „Die Streitereien zwischen meinem Vater und meiner Mutter führten dazu, dass ich es zuhause nicht mehr aushielt. Mein Vater arbeitete drei Tage in München und hatte dann wieder frei. Ich hasste es, wenn er aus München kam. (…) Dann mischte sich mein Vater in schulische Dinge etc. ein, was jedes Mal zu einem Familienkrach führte“ (S. 11). 

Stefan war es leid, all die Streitereien zu erleben. „Mein Wunsch war es damals, auf ein Internat zu gehen. Und mit 13 konnte ich meine Eltern dann auch tatsächlich überzeugen. Drei Tage später hat meine Mutter die Scheidung eingereicht. Dieser Schritt schien mir nur logisch, auch wenn er mich emotional berührte“ (S. 12) Es wird klar, wie schlimm es für ihn gewesen sein muss, wenn sich ein Kind in diesem Alter zu diesem Schritt entscheidet. Zwei Jahre verbrachte er im Internat und kam dann zurück zu seiner Mutter. „Meine Mutter war wieder liiert. Der Herr hieß Fred und um es ganz prägnant zu formulieren: Wir hassten uns! Zumindest hasste ich ihn“ (S. 11). 

Einmal eskalierte ein Streit zwischen ihm und dem Stiefvater. Der Stiefvater hatte Stefan und dessen weibliche Bekannte zum Essen eingeladen. Nach einem Streit lud er Stefan vom Essen aus. Die Bekannte kam trotzdem zum Essen (der Stiefvater war ein extrem guter, prominenter Koch). Stefan zündete dann aus Rache einen großen Molotowcocktail vorm Haus. Die Mutter ließ ihren Sohn daraufhin für eine Woche in die Psychiatrie einweisen.
„(…) so eine Woche Psychiatrie ist so ziemlich das Übelste, was man erleben kann. Es gibt kaum etwas Schlimmeres. Knast hätte mir weniger ausgemacht. Im Knast hat man zumindest die Chance, einen Rechtsanwalt zu bekommen, der zu 100 Prozent auf deiner Seite steht, den man auch ins Vertrauen ziehen kann. (…) Egal was mir aufgrund meiner politischen Tätigkeit passieren würde, es würde nie etwas Schlimmeres geben, als das, was ich eben erlebt hatte. (….) Die ganze Sache hatte mich ehrlich etwas aus der Bahn geworfen. Ich konnte ja nun schlecht zu meiner Mutter zurück. Mein Vater wollte mich zwar zu sich aufnehmen, aber das hieß: er und vor allem seine Frau wollten nicht mich aufnehmen, sondern einen Sohn, der ihren Vorstellungen entsprach. Und diesen Vorstellungen konnte ich auf die Dauer nicht entsprechen, und ich wollte ihr auch nicht entsprechen“ (S. 23).
Dazu muss ergänzt werden, dass Stefan bereits als Jugendlicher deutlich rechte Ansichten vertrat.  Wobei sein Vater in seiner eigenen Jugend Kameradschaftsführer in der Hitlerjugend gewesen war und Jahnel andeutet, dass sein Vater zumindest deutlich konservative Ansichten vertrat und für Politikerschelte zu haben war (S. 23f.). 

Nach dem Umzug zum Vater zog die Mutter ins Ausland. „Meine Mutter zog relativ kurze Zeit später nach Spanien, aber das tangierte mich nicht mehr. Ich war eigentlich sogar recht froh, dass sie mir nicht mehr über den Weg lief“ (S. 24). Der krasse Bruch zwischen Mutter und Sohn zeigt sich in dieser Aussage überdeutlich. 

Als 17Jähriger kam eine weitere traumatische Erfahrung hinzu. Stefan war in seine Bekannte Manu verliebt. Die Liebe seines Lebens, wie er schreibt. Manu litt wohl unter Depressionen und kam aus schwierigen Verhältnissen. Sie starb als 16Jährige bei einem Autounfall. Alles deutet darauf hin, dass der Wagen absichtlich gegen einen Baum gefahren wurde. Zusammen mit dem Fahrer war das Ganze offensichtlich als Doppelselbstmord geplant. „Am liebsten wäre auch ich gestorben, aber das Leben musste weitergehen. Allerdings bedeutete mir mein Leben zu diesem Zeitpunkt fast gar nichts mehr. Ich hätte mich sicherlich zu fast jeder blödsinnigen Aktion hinreißen lassen: Das Zeigen von Reichskriegsflaggen in Schulräumen ist verboten? Na egal, dann habe ich eben eine aus dem Fenster gehängt“ (S. 27). In der Folge drang Jahnel immer weiter in die rechte Szene ein. Über 10 Jahre war er darin aktiv. 

Es wird deutlich, dass Stefan Jahnel als junger Mensch vor allem psychosoziale Hilfen dringen gebraucht hätte. Besser noch wäre Unterstützung von Familienangehörigen gewesen. Letztere scheinen aber eher DAS Problem in seinem Leben gewesen zu sein. 


Freitag, 19. November 2021

Kindheit und Jugend des Neonazis und Söldners Wolfgang Niederreiter

Die Kindheit und Jugend des Neonazis und Söldners Wolfgang Niederreiter gehört zu den mit grausamsten Kindheiten, über die ich bisher recherchiert habe.  Das Wort Kindesmisshandlung trifft es hier nicht. Viel mehr erlebte er Folter und Terror! Außerdem wuchs er in einer Kultur der Gewalt auf, inkl. in dem Kinderheim, in das er später kam.

Meine Quelle: Santer, C.  & Niederreiter, W. (1995): Ich geh jetzt Rambo spielen. Müllkind, Neonazi, Söldner in Bosnien, Bekehrung - und ein Mordprozess. Aufbau Verlag, Berlin. 

Schon die Geburt von Wolfgang war belastet, er kam als Frühgeburt. Über seine Kindheit sagt er:
Wenn ich an diese Zeit denke, steigt vor allem Wut in mir auf. Aber ich sage mir: Wenn ich meine Kindheit überlebt habe, dann kann es wohl nicht mehr viel schlimmer kommen. (…) Meine ersten Erinnerungen bestehen aus den Schlägen, die wir vier Kinder (….) von unserem Vater ständig bekommen. Er haut uns ins Gesicht oder drischt uns auf den nackten Arsch. Meine Mutter hat auch nichts zu melden. Die schönsten Zeiten sind für uns die Stunden, wenn er Besuch von Bekannten erhält, denn für diese Zeit sind wir vor ihm sicher. Wenn wir Kinder unseren Eltern zu schlimm sind, werden wir ins Kinderzimmer gesperrt. Vor das Fenster kommt eine Platte, damit wir nicht abhauen können. Wir sind dann dazu verurteilt, den ganzen Tag im Bett zu bleiben, öfters sind es auch mehrere Tage. Natürlich werden wir auch zusätzlich gestraft, indem wir nichts zu essen bekommen“ (S. 11f.). 

Ich erinnere mich noch an die Weihnachtstage, als ich vier Jahre alt bin. Am Morgen nach dem Heiligen Abend spielen wir mit den neuen Spielsachen. Dadurch wacht mein Vater auf. Er wird wütend und lässt uns in einer Reihe antreten. Auf den ausgestreckten Armen müssen wir ihm unsere Spielsachen präsentieren, die er uns auf dem Kopf zerschlägt. Und schließlich müssen wir auf Holzscheiten knien und bekommen auf die ausgestreckten Arme Bücher gelegt. Jedesmal, wenn eines herunterfällt, legt er zwei drauf. Ich weiß noch, dass ich vor lauter Erschöpfung umkippe“ (S. 13).   

Zur Strafe sperrte der Vater die Kinder auch in ihre Zimmer und schraubte die Türklinken ab. Es gab dann kein Essen und kein Trinken. „Vorsichtshalber haben wir uns schon ein Vorratslager mit rohen Kartoffeln und Zwiebeln angelegt, die wir jetzt essen. Wir werden schließlich so durstig, dass wir unsere eigene Pisse trinken. Wir haben einen Eimer im Zimmer, den wir als Toilette benutzen müssen. Ich hasse diesen Geruch, der dann im Zimmer liegt“ (S. 13f.). 

Als ich und mein kleiner Bruder mit dem Essen herumspielen, werden wir in den Keller gesperrt. Dort unten ist es völlig dunkel, weil es kein Licht gibt. Ich habe große Angst. Mein Vater hatte mir immer wieder erklärt, dass es in diesem Keller Schlangen gäbe“ (S. 15f.). 

Die Mutter bietet keinen Schutz, im Gegenteil, sie meldet „Fehlverhalten“ dem Vater, der dann die Kinder verprügelt. Ansonsten bleibt die Rolle der Mutter schemenhaft, man erfährt fast nichts über sie. Der Vater selbst ist in einem Kinderheim aufgewachsen. Später droht er oft: „Ich hätte euch gleich schon ins Heim geben sollen, als ihr noch ganz klein wart, dann hätte ich mir den ganzen Ärger mit euch erspart“ (S. 19). 

Wenn die Kinder nicht eingesperrt sind, müssen sie die Nachmittage im Freien verbringen, auch im Winter. Das Haus bleibt für sie versperrt. Die Kinder reagieren wiederum mit destruktivem Verhalten, sie zünden z.B. ihre Teddybären an, der älteste Bruder nimmt die Spielsachen der Jüngeren weg und zerstört sie. Wolfgang ist lange Zeit Bettnässer. Als ältere Kinder sind Wolfgang und sein Bruder ständig in Schlägereien verwickelt.

Die Familie ist zudem arm. Oft reicht das Geld nicht, um die Kinderzimmer zu heizen. Der Vater sammelt Spielzeug vom Müll. Beim Jugendamt ist die Familie bekannt. Als Wolfgang dreizehn Jahre alt ist, wird er schließlich auf Veranlassung des Jugendamtes in ein Kinderheim gebracht. Auch dort herrscht das Gesetz des Stärkeren und Wolfgang setzt sich mit Gewalt durch. Während seiner Lehre versucht Wolfang sich mit Schlaftabletten umzubringen. Er kommt ins Krankenhaus und wird gerettet. Auch später wird er weiter Suizidgedanken haben. 

Später schlägt Wolfang zusammen mit einem Kumpel einen Mann zusammen. Die Polizei nimmt sie fest. Wolfang schlägt einen Polizisten und wird daraufhin von Polizisten verprügelt. Wie psychisch gespalten er bereits ist, zeigt sich in folgender Aussage dazu. „Ab einer gewissen Schmerzgrenze spüre ich nichts mehr. Obwohl ich mittendrin bin im Geschehen, kommt`s mir dann so vor, als wäre ich gar nicht daran beteiligt. Ich ziehe mich auf einen Platz in mir selbst zurück, wo mich niemand mehr verletzen kann, völlig egal, was mit mir geschieht“ (S. 43). Die Traumafolgen zeigen sich hier überdeutlich! 

Wolfang Niederreiter wird schließlich zum Neonazi und geht später als Söldner nach Bosnien. Er bringt Menschen um und wird dafür bezahlt... 

Donnerstag, 18. November 2021

NS-Zeit: Kindheit von Friedrich Paulus

Friedrich Paulus, der Generalfeldmarschall und Oberbefehlshaber der 6. Armee, die gegen Stalingrad zog, ist vom Namen her der breiten Öffentlichkeit sicherlich nicht so nachhaltig bekannt, wie andere führende NS-Akteure. Allerdings spielte er eine wichtige Rolle bei Hitlers Feldzügen. 

Für mich ist seine Kindheit von Interesse, über die es so einige Informationen in dem Buch „Paulus. Das Trauma von Stalingrad. Eine Biografie“ (2009, 2. Auflage, Verlag Ferdinand Schönrich, Paderborn – München – Wien – Zürich) von dem Historiker Torsten Diedrich gibt. 

Friedrich wurde im Jahr 1890 geboren. Er war in seinen frühen Jahren ein „eher kränkliches, wenig robustes Kind“ (S. 29). Dies wird bei seinen Eltern zu einigen Sorgen geführt haben, denn sie hatten vor seiner Geburt bereits ein Kind ein viertel Jahr nach dessen Geburt verloren. 

Friedrichs Mutter hatte eine belastete Kindheit erlebt. Ihre Mutter war bei der Geburt gestorben und das Verhältnis zur späteren Stiefmutter war angespannt. Friedrichs Mutter litt unter Depressionen und hatte zudem häufig gesundheitliche Probleme. „Vielleicht vermochte sie nicht die negativen Erfahrungen ihrer Jugend zu verarbeiten (…)“ (S. 28). Auch der Tod ihres ersten Kindes wird sie sicher schwer und ergänzend belastet haben. Wie sich der Gemütszustand der Mutter auf Friedrich auswirkte, kann nur erahnt werden. 

Die Familie Paulus zog zumeist den Dienststellen des Vaters, ein Beamter des Kaiserreichs, folgend mehrfach um (S. 30). Ob und wie dies die Kinder belastete, wird nicht beschrieben.
Der elterliche Erwartungsruck auf Friedrich war sehr hoch, schließlich war er der erstgeborene Sohn. Der angesehene, herrische Großvater mütterlicherseits, Friedrich Wilhelm Nettelbeck, wurde zu einem Vorbild für Friedrich. Dieser Großvater war früher beim Militär, später leitete er mit strenger Hand eine Haftanstalt („Korrektionsanstalt“) und war entsprechend geprägt (S. 27-32). „Wahrscheinlich war für den jungen Friedrich das heimliche Familienoberhaupt Nettelbeck eher Vorbild als der eigene Vater, weil der weit weniger erfolgreich schien und als Persönlichkeit nicht das Charisma seines Schwiegervaters, anderer Brüder oder Vorfahren erreichte. Auch könnten heute kaum mehr nachzuweisende Strenge oder Erziehungsmittel seiner Eltern, die `missratene` Menschen ja in der Korrektionsanstalt vor Augen hatten, beim Sohn ein gewisses `Obrigkeitsdenken` erzeugt haben“ (S. 35).
Den letzten Satz schreibt der Autor Diedrich mit Blick auf das Einzelgängertum des Schülers Friedrich, sowie dessen Eigenheiten, seiner Strebsamkeit und Anlehnung an die strengen Pädagogen seiner Schule, was starken Unmut bei seinen Mitschülern auslöste. Ganz offensichtlich fand der Biograf keine Belege für das Erziehungsverhalten der Eltern. Seine zitierten Deutungsversuche zeigen allerdings, dass er eine autoritäre Erziehung in dieser Familie für durchaus wahrscheinlich hält. 

Dies wird auch an anderer Stelle im Buch deutlich, wenn der Autor allgemein ausführt:
Es entsprach durchaus „den Erziehungsmaximen dieser Zeit, den Willen eines Kindes frühzeitig zu brechen. Erziehung hieß in den vom Adel geprägten Wertevorstellungen der Gesellschaft, die Kinder zum `Funktionieren` zu bringen. Die zu vermittelnden Grundtugenden waren Zucht, Gehorsam, Anpassung, Ordnung, Leistung und Erfolg. Eine derartige Werteausrichtung erfolgte sowohl im Elternhaus wie in der Schule. Prügelstrafen waren dabei organischer Bestandteil der Erziehung. Das aufstrebende Bürgertum stand in dieser Gesellschaft unter einem besonderen Erfolgsdruck, welcher von den Eltern an die Kinder weitergegeben wurde. (…) Insbesondere der Sohn stand dabei unter besonderer Anforderung. Er musste den Erwartungen des Vaters gerecht werden und sollte sich zum Stolz der Familie entwickeln. Disziplin und Selbstkontrolle bildeten dabei die Basis des Funktionierens. Der so entstehende Leistungsdruck war oft bedrückend für das Kind und wurde durch bestimmte Verhaltensweisen kompensiert. Nicht selten zählten dazu ein reduziertes Gefühlsleben, Anpassung bis zur Selbstaufgabe, Distanz zu anderen Menschen, Kühle oder Introvertiertheit als Selbstschutz. Ganz offenbar hat Paulus nicht nur die Werte seines gesellschaftlichen Umfeldes sehr stark in sich aufgenommen, sondern zugleich ebenfalls einen solchen Schutzschild um seine Seele geformt“ (S. 34). Deutlicher kann man es im Grunde nicht ausdrücken: Der Biograf geht von negativen Prägungen in Kindheit und Jugend von Friedrich Paulus aus, die seinen Charakter formten. 

Für mich steht diese Kindheitsbiografie bzw. die allgemeinen Ausführungen des Biografen exemplarisch für das Leben und Erleben von Kindern der damaligen Zeit. Die Kindheiten von 25 bekannten NS-Tätern/Führern habe ich bisher analysiert. Auch diese Fälle stellen im Grunde Paradebeispiele dar. Die NS-Ideologie baute auf eine strenge, zu Gehorsam, Anpassung und Spaltung ausgerichteten Erziehung der Kinder auf. Hinzu kamen oft leidvolle Umstände der Zeit, wozu u.a. der Tod von Geschwistern oder Elternteilen gehörte. Letzteres kann schwer einfühlsam aufgefangen werden, wenn das Ziel ist, zur Härte zu erziehen. Das Fundament, das die NS-Zeit möglich machte, ist klar. Merkwürdig nur, dass dies nicht immer und immer wieder auch so besprochen und mahnend hoch gehalten wird. 

Mittwoch, 3. November 2021

"Generation Greta" und was Kindheit damit zu tun haben könnte

In der EMMA (Ausgabe Nov/Dez 2021, Nr. 6) schreibt die Journalistin und Autorin Bettina Weiguny unter dem Titel „Junge Rebellinnen“: „Hier wächst eine politische Generation heran. Junge Menschen setzen sich fürs Klima ein, für sauberes Trinkwasser und soziale Gerechtigkeit; gegen Kinderehe und Diskriminierung. Sie finden sich nicht damit ab, die Welt zu belassen wie sie ist, wenn es doch besser sein könnte. Keine Protestbewegung vor ihnen war so global vernetzt, so jung und so weiblich wie die `Generation Greta`.“ (S. 48)

Das greenpeace magazin hat die aktuelle Ausgabe (6.21 Okt / Nov 2021) mit „YES SHE CAN. Wie Frauen weltweit um Klima, Umwelt und Gerechtigkeit ringen“ betitelt. Die gesamte Ausgabe befasst sich mit dem Wirken von starken und mutigen Frauen in aller Welt und das Magazin hält fest: „Frauen for Future“. 

Ich kann diese Feststellungen nur teilen: Frauen, vor allem der jüngeren Generation, sind weltweit im Aufbruch. Viele Jungs stehen an ihrer Seite. All das kann nur gut sein! 

Ich möchte diese Entwicklungen aber in einer Hinsicht kommentieren, die oft nicht bedacht wird: Was ebenfalls „im Aufbruch“ und in stetiger (positiver) Entwicklung war und ist, sind die Kindheitsbedingungen. Ich bin der Auffassung, dass beides miteinander in einem starken Zusammenhang steht. 

Kaum jemand hat so präzise auf den Punkt gebracht, um was es mir geht, wie der Kriminologe Christian Pfeiffer. In seinem Buch „Gegen die Gewalt: Warum Liebe und Gerechtigkeit unsere besten Waffen sind“ (2019) stellt er zunächst auf Grundlage empirischer Daten einen massiven Wandel der elterlichen Erziehung fest (vor allem ein Mehr an Zuwendung und ein Weniger an elterlicher Gewalt). Gleichzeitig zeigt Pfeiffer einen massiven Rückgang von Gewalt, Kriminalität, Rauschmittelkonsum und Suizid bei der jüngeren Generation auf. Er spitzt diese Beobachtungen in einem einfachen Satz zu: „Je jünger die Altersgruppe, desto positiver ihre Entwicklung“ (Pfeiffer 2019, S. 67) An anderer Stelle im Buch fasst er eindrucksvoll zusammen:
Damit liegt eine Hypothese auf der Hand: Je jünger die heute in Deutschland lebenden Menschen sind, desto stärker haben sie vom Wandel der Erziehungskultur profitiert. Sogleich stellt sich eine naheliegende Frage: Haben wir heute möglicherweise in vielerlei Hinsicht die beste Jugend, die es in Deutschland seit der Wiedervereinigung gegeben hat?“ (Pfeiffer 2019, S. 64)

Nun, warum eigentlich ab der Wiedervereinigung? Vielleicht haben wir sogar die beste Jugend, die es jemals gab? Und: Der positive Wandel der Erziehungskultur schreitet weiter fort und wird das Land weiter nachhaltig verändern. 

Luisa Neubauer, Pauline Brünger, Carla Reemtsma und wie sie alle heißen (inkl. der vielen unbekannten Namen). Sind diese mutigen, stolzen, selbstbewussten und engagierten Frauen als Kind geschlagen, gedemütigt und niedergemacht worden? Sind diese Frauen als Kind nicht geliebt worden? Ich kann diese Frage nicht beantworten, weil ich keine Informationen dazu gefunden habe. Ich kann mich aber auf Pfeiffers allgemeine Daten beziehen und diese zeigen eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein hohes Maß an elterlicher Zuwendung und elterlicher Gewaltfreiheit dieser Generation. Aber auch ohne diese Daten würde ich beide Fragen aus meiner Erfahrung und aus meinem Bauchgefühl heraus mit einem Nein oder einem "eher nicht" beantworten.
Vor allem Mädchen und junge Frauen profitieren besonders von den errungenen Freiheiten durch ihre Mütter und Großmütter, was für ihre Brüder schon vorher selbstverständlich war. Friedlichere, weniger belastete Kindheiten plus mehr Freiheit zur Entfaltung ist ein sehr produktiver Mix.

Diese Generation ist so wenig als Kind traumatisiert worden wie keine Generation zuvor. Dies schafft Raum für den geraden Blick auf Realitäten, für eine gesunde Wahrnehmung, für Vertrauen, Kooperation und für konstruktive Konfliktlösungen. 


Donnerstag, 21. Oktober 2021

Fehlende Öffentlichkeit: "Kindesmisshandlung betrifft uns alle" versus "all das hat doch keine Folgen"

Oprah Winfrey gab in einer Gesprächsrunde (15.10.2021, Dr. Burke Harris and Oprah Winfrey discuss Adverse Childhood Experiences (ACEs) for NumberStory.org) folgende Begebenheit wieder:
I remember doing a show once where there was a young black woman who was saying: „Yeah, my father came into pulled me from the choir one day and beat me in front of  the church. But, you know, I´m fine, nothing happend as a result of that.“ I said, it`s impossible to be pulled from the church choir and beaten in the church and not be serverely humiliated and damaged by that. It`s impossible.“

Dieses Beispiel ist klassisch und ich habe solche Aussagen in ähnlicher Art und Weise unzählige Male gehört oder gelesen! Erlittene elterliche Gewalt und Demütigungen umzudeuten, auszublenden, zu verharmlosen oder gar gut zu heißen sind psychische Abwehrstrategien des Kindes, um (psychisch) zu überleben. Dies wirkt oft bis ins Erwachsenenalter fort (und kann wiederum Ursache dafür sein, andere Menschen oder auch die eigenen Kinder zu verletzten oder eigene Verletzungen durch andere Menschen lange zu erdulden, weil „das ist ja alles gar nicht schlimm“).

Dabei geht es nicht nur um körperliche Misshandlungen, sondern auch um viele "kleine" Demütigungen und Verletzungen, die Kinder im Alltag erleben (inkl. fehlenden Trost und Schutz durch Elternteile).  

Nun ist es so, dass ich (und viele andere ähnlich Aktive) stets das Gefühl habe, gegen Windmühlen zu kämpfen. So erhielt ich kürzlich eine Mitteilung eines Bekannten, der eine große deutsche Zeitung angeschrieben und auf meinen Text „Kindheit in Afghanistan und der nie enden wollende Krieg und Terror“ hingewiesen hatte. Die Reaktion aus der Redaktion war abwehrend und dies wurde u.a. so begründet: „Zugleich gibt es auch in hoch entwickelten und vermögenden und gut ausgebildeten Gesellschaften Gewalt in Familien und an Kindern. Wenn Sie die komplexen Ereignisse in Afghanistan vor allem mit den vermeintlich gewalttätigen Eltern-Kind-Beziehungen zu erklären suchen, dann fehlen doch (geo-)politische, wirtschaftliche, historische und gesellschaftliche Zusammenhänge.“ (Man achte auch auf das Wort "vermeintlich"!)

Der Hinweis auf weitere Einflussfaktoren ist natürlich nicht falsch. Menschliche Gesellschaften sind hoch komplex, natürlich! Die Reaktion spricht aber Bände bzgl. des Unwissens und vor allem des fehlenden Nachfühlens bzgl. der möglichen Folgen von Kindesmisshandlung und von belastenden Kindheitserfahrungen. 

Wer meinen zitierten Text über Afghanistan gelesen hat und meint, dass Kindheit keine große Rolle bzgl. der Situation des Landes spielen würde, hängt meiner Auffassung nach in einer ähnlichen Dynamik fest, wie die durch Oprah Winfrey oben zitierte Frau („alles nicht so schlimm, destruktive Kindheit ohne Folgen“). Dies kann man nicht (nur) mit Wissen und Informationen lösen. Ich habe das schon vor langer Zeit erkannt, obwohl ich trotzdem wie ein Hamster weiter meine Runden drehe und eine Information zum Thema nach der anderen heraushaue. 

Wirklich tiefgreifend und nachhaltig  lösen könnten wir dies nur, wenn erstens viel mehr Menschen in der Kindheit gewaltfrei, weitgehend unbelastet aufwachsen und dadurch Realitäten und mögliche Folgeschäden von Kindheitserfahrungen nicht ausblenden müssen und zweitens, die als Kind Belasteten an sich arbeiten (z.B. mit Hilfe von Psychotherapie), ihrer Kindheit ins Auge schauen, die Folgen für das eigenen Leben sehen und anerkennen und ein Stück weit heilen. Wer die Folgen für sich selbst sieht, wird auch die gesellschaftlichen Folgen von Kindheitsleid nicht mehr ausblenden. 

Ich selbst habe einen solchen Prozess auch durchlaufen und negative Folgen für meine Leben durch meine eigene Kindheit erkannt, gesehen und bearbeitet. Bei mir kam aber noch etwas ganz Wesentliches hinzu: Ich wurde einige Male wie vom Blitz getroffen, als ich massive Folgen von Kindesmisshandlung im Leben mehrerer Erwachsener in meinem Umfeld wahrnahm, inkl. einer ehemaligen Freundin von mir. Gepaart mit dem damals angelesenen Wissen um das Ausmaß von Kindesmisshandlung hat mir dies erst einmal als junger Mann den Boden unter den Füßen weggerissen. Für mich wurde mit einem großen Paukenschlag klar: Gewalt gegen Kinder betrifft mich selbst und uns alle ständig und überall, weil die Folgen UND das Ausmaß so massiv sind. 

Was mein Nachbarskind einst erlitten hat, kann später jederzeit auf mich als unbeteiligten Dritten zurückkommen, sei es durch die Höhe meines Krankenversicherungsbeitrags, Sozialbeiträge, durch Kriminalität, Terrorakte, durch das Miterleben von Selbstmorddrohungen oder auch durch toxische Beziehungen und zwischenmenschlich massiv gestörte Kontakte und Kommunikation (sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld). 

Von all dem habe ich mich längst erholt. Was mich weiterhin umtreibt ist die fehlende Öffentlichkeit, ist das fehlende öffentliche Bewusstsein. Natürlich hat sich viel bewegt, sind Schranken gefallen und wurde die Öffentlichkeit auch immer sensibler und bewusster mit Blick auf Kindheitsleid. Das Gesamtbild wird aber immer noch kaum erfasst.  Vor allem an die politischen Folgen traut sich immer noch kaum jemand heran. Leider schwebt verdeckt immer auch der Satz im gesellschaftlichen Raum:


But, you know, I´m fine, nothing happend as a result of that!“


Montag, 18. Oktober 2021

Kindheiten von rechten Jugendlichen und Hooligans

Ich habe eine weitere Arbeit gefunden, innerhalb der die Kindheiten von rechtsextremen Jugendlichen besprochen wurde:

Bohnsack, R., Loos, P., Schäffer, B., Städtler, K. & Wild, B. (1995): Die Suche nach Gemeinsamkeit und die Gewalt der Gruppe: Hooligans, Musikgruppen und andere Jugendcliquen. Leske + Budrich, Opladen. 

Die Biografien gewaltbereiter Hooligans werden dabei mit denen nicht-gewaltbereiter, anderer Jugendgruppen verglichen. Für mich von Interesse sind die Biografien von vier Hooligans, von denen drei auch in der rechten Szene aktiv waren: 

Bernd (geboren 1973) hat kaum Erinnerungen an seine frühe Kindheit. In der Schule hat er körperliche Gewalt und Demütigungen durch Lehrkräfte erlitten und war weitgehend ein Einzelgänger. „Die Geschichte der Schulzeit von Bernd erscheint als eine Zeit des Erleidens und des Ausgeliefertseins, durch die er sich bis heute verunstaltet fühlt (…) und von deren Auswüchsen und Stigmatisierungen er noch heute `träumt`“ (S. 138).
Der Vater war gewalttätig gegenüber Bernd (inkl. schwerer Prügel oder Angriffen mit einer Schere) (S. 140). Er habe seinen Vater gehasst. Bernd geriet als Jugendlicher in die rechte Skinheadszene, wechselte später dann zu gewaltbereiten Hooligans. „Bernd hat siebzehnmal in Untersuchungshaft gesessen, wobei die Eltern nur in wenigen Fällen (`dreimal`) über seine Aktionen und auch nur selten über die Untersuchungshaft informiert waren, was wiederum Aufschluss über die Art der innerfamilialen Kommunikation gibt“ (S. 147). 

Über die Erziehungsstile der Eltern von Benno (geboren 1970) erfährt man im Grunde kaum etwas. Allerdings berichtet er von einer schweren traumatischen Erfahrung. Nach der Scheidung der Eltern fing der Vater an zu trinken. Angetrunken geriet er unter eine U-Bahn und starb, als Benno 14 Jahre alt war. Durch anderen Personen liegt die Vermutung im Raum, dass der Vater sich vor die U-Bahn geworfen hätte, was Benno nicht glauben will. Weitere Problemlagen kamen hinzu: „Die Nachbarn  beschuldigen die Mutter, den Vater in den Tod getrieben zu haben und wollen Benno und seine Geschwister adoptieren. In der damaligen schwierigen Situation, in der Ehe und Familie in doppelter Weise (Scheidung der Ehe und Tod des Vaters) zerbrochen sind, zerbricht zugleich auch die Einbindung in die dörfliche Gemeinschaft (…). Von Seiten der Nachbarschaft wird nicht nur die moralische Degradierung der Mutter betrieben, sondern ihr wird die Erziehungsfähigkeit abgesprochen (…)“ (S. 152f.) Die Mutter habe laut Benno all dies seelisch nicht verkraftet und sei ein paar Mal „umgefallen“ (S. 152).
Die Mutter reagierte schließlich mit Flucht aus dem Dorf und zog mit ihrem Sohn um. In dieser Phase schloss sich Benno der Skinheadszene an. Mit dem Einstieg in die Gruppe fing für Benno „das Leben erst richtig an“ (S. 155). Die Gruppe war für ihn eine „riesengroße Familie“ (S. 156). Mit seiner Mutter geriet Benno in der Folge zunehmend in Konflikt und Streitigkeiten (S. 158f.) Später veränderte sich sie Skinheadszene und Benno wurde offenbar zum Hooligan. 

Falko (1973 geboren) war ebenfalls Teil der Hooliganszene, allerdings war er im Gegensatz zu den anderen Fallbeispielen nicht vorher in der rechten Szene aktiv. Der Vater wendete häufig körperliche Gewalt an (S. 173). Als Falko 14 Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden. Allerdings verschwiegen sie dies ihren Kindern. Die Kinder bekamen dies zufällig heraus, als sie entsprechende Unterlagen einsahen. „Falko reagiert (…) auf die Scheidung der Eltern mit dem Wunsch nach einer Kur, also mit einer Flucht“ (S. 175). Nach der Scheidung sah Falko seinen Vater nur noch selten (S. 178f.). 

Arno (geboren 1968) war zunächst Teil der rechten Skinheadszene in der DDR. Das Verhältnis zu seinen Eltern beschreibt er als gut, die Eltern seien tolerant gewesen. Seine Kindheit sei normal verlaufen. Ich bin bei solchen Schilderungen immer sehr misstrauisch, vor allem wenn ich mir das Verhalten von Arno anschaue, der sehr gewaltbereit war. Die Forschenden konnten seine Schilderungen nicht abgleichen (Befragungen anderer Familienmitglieder). Im Alter von 16 Jahren war Arno an einer Schlägerei beteiligt, bei der ein Polizist verletzt wurde. Nach bevor Arno volljährig war, kam er in den Erwachsenstrafvollzug. Auch später geriet er immer wieder in Konflikt zum DDR-Staat und kam auch erneut in Haft. Durch seine erste Haftzeit kam er in Kontakt mit der rechten Skinheadszene. Später orientierte er sich in Richtung Fußball und wurde Teil der Hooligans. 

Hier liegen genau genommen also nur drei Biografien vor, die sich auf rechte Jugendliche beziehen. In zwei von drei dieser Biografien (wenn man - bei einer so kleinen Untersuchungsgruppe - so will also bei der deutlichen Mehrheit der untersuchten Fälle) lassen sich schwere Belastungen in der Kindheit ausmachen. Die Kindheitsbiografie von Arno bleibt für mich mit Fragezeichen behaftet.  



Dienstag, 12. Oktober 2021

The Childhood Origins of Political Violence and Extremism

I have translated the main results of my research into English. I hope that through this I can reach more people. I would be happy if you share the text:

The Childhood Origins of Political Violence and Extremism 

Included in the factsheet:

  • Extent of violence against children in the world
  • Possible consequences of adverse childhood experiences (ACEs) / child abuse
  • Experiences of violence and own violent behavior
  • Global costs of violence and adverse childhood experiences
  • Trauma, adversity, and violent extremism/terrorism
  • Childhood Analysis of 17 RAF terrorists
  • Childhood backgrounds of right-wing extremists
  • Childhood and youth of 25 Nazi leaders / Nazi perpetrators
  • Analysis of the childhood of 14 Dictators of the 20th Century
  • Childhood backgrounds of US presidents



Montag, 27. September 2021

Rechtsextremismus. Kindheit des Aussteigers Jörg Fischer.

Jörg Fischer kam als 13Jähriger durch einen NPD-Funktionär in Kontakt mit der rechten Szene und blieb jahrelang darin aktiv. Fischer war später u.a. Gründungsmitglied der DVU. Später stieg er aus und arbeitet u.a. als Journalist. 

Seinen Lebensweg hat er in dem Buch „Ganz rechts. Mein Leben in der DVU“ (1999 erschienen im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek) verarbeitet. Über seine Kindheit finden sich einige wenige, aber ziemlich aussagekräftige Passagen. Fischer wurde 1969 geboren. Fünf Jahre später wurde die Ehe der Eltern geschieden.  Die Mutter war fortan alleinerziehend. „Zu meinem Vater habe ich bis heute kaum Kontakt: Meine einzige konkrete Erinnerung an ihn ist ausgesprochen negativ; er hatte meine Mutter kurz vor unserem Wegzug nach Nürnberg schwer misshandelt“ (S. 14). Ob auch Jörg geschlagen wurde, berichtet er nicht. 

1974 wurde bei Jörg Diabetes festgestellt. Er blieb neun Wochen im Krankenhaus. „Meine Mutter reagierte auf die Erkrankung, indem sie mich mehr als zuvor überfürsorglich behütete. In regelmäßigen Abständen gehörten fortan zwei- bis dreiwöchige Krankenhausaufenthalte zu meinem Leben. Dies und der Umstand, dass ich durch Diät, regelmäßiges Insulinspritzen und gewisse Einschränkungen in der Leistungsfähigkeit im Vergleich zu meinen Altersgenossen gehandicapt war, führte zu einer gewissen Isolierung. Außerhalb des Unterrichts hatte ich kaum Kontakt zu meinen Mitschülern. Rückblickend habe ich meine Kindheit mit mir selber verbracht (…)“ (S. 14)
Als unglücklich habe er seine Kindheit aber nicht empfunden, schreibt Fischer weiter. Zu seiner Mutter habe er ein gutes Verhältnis gehabt. 

Seinen ersten Kontakt zur rechten Szene bekam Jörg – wie eingangs beschrieben – über einen NPD-Funktionär, der ihn zu einem Stammtisch der Jugendorganisation der NPD einlud. „Plötzlich gab es Leute, die Interesse an mir zeigten und mir vermittelten, dass ich zu ihnen passen würde. (…). Dem Dreizehnjährigen, der ich damals war, war es wichtig, zu einer Gemeinschaft von Älteren Zugang gefunden zu haben und von ihr aufgenommen zu werden. Schon bei meinem zweiten Besuch wurde ich begrüßt, als ob ich bereits dazugehöre“ (S. 13f.).
Vor dem Hintergrund seiner Kindheitserfahrungen erschließt sich ziemlich schnell, warum dieser Junge derart in der Szene aufging. 


Donnerstag, 23. September 2021

Autobiografie von Ex-Nazi Manuel Bauer und viele Fragezeichen

Der Ex-Nazi Manuel Bauer hat 2012 seine Autobiografie "Unter Staatsfeinden: Mein Leben im braunen Sumpf der Neonaziszene" (riva Verlag, München) herausgebracht. 

Er zeichnet darin weitgehend das Bild einer normalen, glücklichen Kindheit:
Die Schilderung einer kaputten, abseits jeder Norm liegenden Kindheit und Jugend mag vieles besser verständlich machen, sie wäre in meinem Fall aber leider gelogen. Nein, mein Vater, der eigentlich mein Stiefvater ist, hat mich nicht geschlagen. Er hat nicht getrunken, er hat auch meine Mutter oder meine Geschwister nicht misshandelt – er war ein einfacher, anständiger Mensch, der mit all seiner Kraft zu jeder Zeit versucht hat, mir und meiner Familie ein gutes Zuhause zu bieten. (…) Ich will, so ungewöhnlich das auch klingen mag, von einer schönen, harmonischen Kindheit sprechen (…)“ (S. 15). 

Als Manuel drei Jahre alt war, trennten sich seine Eltern  Aufgewachsen ist er in einem kleinen Dorf (40 Einwohner) in Polbitz (Sachsen). Die Eltern (Mutter und Stiefvater) bewirtschafteten zu DDR-Zeiten einen großen Hof und waren stark ausgelastet. Die Kinder gingen nach der Schule in den Hort, wo sie betreut wurden. Unklar ist, ab wann der neue Stiefvater in das Leben von Manuel trat. 

Ab der Wendezeit 1990 begann „ein neues, verändertes Leben, unter dem ich in der Folgezeit noch viele Male leiden sollte“ (S. 17). Überall begannen Veränderungen, die Manuel als Belastung empfand, sowohl strukturell, als auch im direkten Umfeld. Sein Großvater und auch seine Eltern verloren ihre Arbeit. Freunde von Manuel verschwanden, weil ihre Familien in den Westen übersiedelten. Läden wurden geschlossen usw.  „Um es auf einen kurzen und einfachen Nenner zu bringen: Mit der Wende wurde mir fast alles genommen, was mir als Kind in jener Zeit wirklich wichtig war: die Pionierorganisation, viele Freunde, die Arbeit meiner Eltern und damit auch die unbeschwerten Familienabende. (…) die Harmonie kehrte nach der Wende nie wieder in unsere Familie und in mein damaliges Leben zurück“ (S. 19f.). Parallel dazu ließen seine schulischen Leistungen nach und er musste ein Schuljahr wiederholen. Manuel verlor nach eigenen Angaben seinen Halt. 

Ab 1992 tauchten dann in seiner Schule immer mehr Schüler auf, die sich zum rechten Skinhead gewandelt hatten. Und ja, auch Manuel geriet in den Einflussbereich dieser rechten Jugendlichen und wurde selbst zum Nazi. Seine Eltern lehnten den Weg ihres Sohnes komplett ab. 

Manuel wurde immer radikaler und auch gewalttätig. Kontakte mit der Polizei waren u.a. die Folge. Zuhause führte er sich ähnlich auf. Einmal warf er seiner Mutter ein Brot, das sie sich gewünscht hatte, vor die Füße und sagte „Hier, friss!“ (S. 18). Seine Mutter brach daraufhin in Tränen aus. Als seine Schwester ihn als „Scheiß-Nazi“ beschimpfte, „verprügelte ich sie ohne Umschweife. Mitgefühl? Geschwisterliebe? Reue? Nichts dergleichen!“ (S. 39). Auch einem Mitschüler drückte er ohne Skrupel eine Zigarette im Gesicht in Augennähe aus (S. 51). Seinen Stiefvater verletzte er ebenfalls schwer, nachdem dieser ihn zur Rede gestellt und als üblen Nazi bezeichnet hatte. In der Folge musste er als 18Jähriger das Elternhaus verlassen (S. 64). Später kam er für kurze Zeit zurück zu seinen Eltern. Nachdem er seine Mutter geschlagen und sie als „dreckige Schlampe“ bezeichnet hatte, flog er erneut raus (S. 68). „Empathie, Skrupel, Nachdenken oder gar ein schlechtes Gewissen – all diese menschlichen Fähigkeiten waren aus meiner Welt verschwunden“ (S. 51). 

Er selbst meint, dass er als Kind empathiefähig gewesen wäre und seine Wandlungen Folge einer effektiven Gehirnwäsche der rechten Szene gewesen wären (S. 50). 

Ich kann es abkürzen: Ich glaube Manuel Bauer nicht, dass in seiner Kindheit alles harmonisch ablief. Ich glaube ihm, dass sein Stiefvater nicht gewalttätig oder suchtkrank war. Dazu hat er sich zu deutlich geäußert. Ich glaube ihm auch, dass er Familienabende (vor der Wende) und Familienspaziergänge als harmonisch empfand. 

Die schweren Belastungen nach der Wende hat Bauer ausgeführt. Für ein Kind, das er ja damals war, war dies sicher nicht folgenlos. 

Er selbst liefert auch kurze Infos, die weitere Fragen aufwerfen: Sein biologischer Vater wird im Grunde gar nicht erwähnt (außer bezogen auf die frühe Trennung der Eltern). Dieser scheint aus seinem Leben komplett verschwunden zu sein. Für ein drei Jahre altes Kind ist dies eine massive Belastung. Was war der Grund für die Trennung? Was passierte in den ersten drei Lebensjahren von Manuel?

Seine Eltern waren beruflich mit dem Hof stark belastet und die Kinder mussten nach der Schule in einen Hort im DDR-Erziehungssystem. Die Vermutung liegt nahe (ergänzend zur beruflichen Belastungen auch auf Grund der Normen in der DDR), dass Manuel auch als Kleinkind in eine DDR-Krippe gegeben wurde (wobei hier Belastungen nicht auszuschließen sind). Beide Systeme (Krippe und Hort) waren in der DDR ideologisch ausgelegt und oft autoritär eingefärbt. 

Über seine Mutter berichtet Bauer erstaunlich wenig. Seinen Stiefvater nimmt er wie oben erwähnt gezielt in Schutz und beschreibt ihn als einfachen, anständigen Menschen. Diese Lücke bzgl. der Mutter fällt besonders auf! Der Hass und die Gewalt, die Bauer später auch gegen seine Familienmitglieder richtete, waren massiv. All dies zusammenbetrachtet hinterlässt bei mir große Fragezeichen bzgl. seiner Sozialisation in der Kindheit. 

Ich habe außerdem schon zu oft Biografien von Extremisten gefunden, die bzgl. Kindheitserfahrungen extrem destruktiv waren, entgegen der Aussage der Extremisten selbst. Jeder Familientherapeut könnte außerdem Geschichten von Familien erzählen, die extrem destruktiv sind und agieren, ohne dass geschlagen, getrunken und geschrien wird. 

Wenn es um den Blick auf stark gewalttätige Extremisten geht und gleichzeitig Aussagen genommen werden, in denen von einer glücklichen, unbelasteten Kindheit dieser Leute berichtet wird, mahne ich grundsätzlich zur Vorsicht. Aus diesem Grund habe ich diesen Beitrag verfasst. An Fälle, wie den Fall Manuela Bauer, müsste komplexer heran gegangen werden, wenn es um Ursachenforschung und um seine Kindheitserfahrungen geht. Sprich, der Blick müsste in solchen Fällen durch Befragungen von anderen Familienmitgliedern (inkl. des biologischen Vaters), ggf. auch früheren Schulfreunden und Lehrkräften erweitert werden, um einen realistischen Abgleich zu erhalten. Und ja, im Grunde müsste auch Manuel Bauer durch qualifizierte Leute direkt befragt werden. Wir haben nur seine eigenen Worte. Mir reicht dies nicht. 

siehe ergänzend: Verklärt, beschönigt, verdrängt: Kindheiten von Gewalttätern und Extremisten. Eine Mahnung an die Forschung


Montag, 20. September 2021

Kindheit des ehemaligen Neonazis Timo F. (Misshandlungsfamilien erinnern stark im Kleinen an das NS-Regime im Großen)

 „Neonazi“ von Timo F. (2017 Arena Verlag, Würzburg) ist ein autobiografischer Roman, der von Ausstiegshilfeorganisationen empfohlen und mittlerweile auch an manchen Schulen im Unterricht verwendet wird. 

Die ersten ca. 60 Seiten umfassen ausführliche Schilderungen über Kindheit, Jugend und Familie von Timo F. Gefühlt ist man alle zwei Seiten fassungslos über die Familienatmosphäre und den Umgang der Erwachsenen mit dem Kind. 

Seinen ersten Stiefvater hielt Timo eine ganze Zeit lang für seinen richtigen Vater (dazu gleich mehr). Dieser Mann war gewalttätig gegenüber Timo. Außerdem bevorzugte er den jüngeren Bruder (S. 11). Nachdem der Stiefvater von einer Affäre der Mutter erfahren hatte, verschlechterte sich die Familienatmosphäre massiv. Ständig gab es Streicht, aber auch körperliche Übergriffe:
Meine Mutter verlegte ihren Schlafplatz vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer. Geschwollene Lippen und blaue Augen wurden bei ihr quasi zum Dauerzustand und ich hatte manchmal das Gefühl, genauso viel Zeit unter meinem Bett wie in meinem Bett zu verbringen“ (S. 17) 

Als Timo sechs Jahre alt war, verließ die Mutter zusammen mit den Kindern diesen Mann. Sie zog in eine schlechte Gegend. Timo lebte fortan in einer „Bruchbude mit meiner dauergenervten und vor lauter Überforderung ständig herumschreienden Mutter“ (S. 18). 

Der Stiefvater – Achim - holte bald den kleinen Bruder – Stefan - von Timo ab, ein erneuter Beziehungsverlust für Timo. Timos Mutter erklärte dies wie folgt: „Achim wollte dich noch nie haben. Deshalb hat er nur Stefan abgeholt. Er hatte sogar gedroht, dich zu verdreschen, wenn ich ihm Stefan nicht mitgeben würde“ (S. 19). Auf Nachfragen von Timo, warum Achim das hätte tun sollen, er sei doch sein Vater, kam die kalte Antwort der Mutter: „Nein, er ist nicht dein Vater und deshalb hat er Stefan ja auch viel lieber als dich“ (S. 20). Timo erfuhr hier erstmals davon und musste weinen. Seine Mutter verdrehte die Augen und war genervt von seiner Reaktion. Solcher Art von emotionaler Kälte und Verhaltensweisen zeigte diese Mutter immer wieder. Sie stand dem gewalttätigen Stiefvater in nichts nach.

Die Mutter war ergänzend ebenfalls körperlich und psychisch gewalttätig gegenüber Timo und drohte nicht nur einmal damit, Timo ins Kinderheim zu bringen, wenn er sie weiter nerven würde (S. 32). 

Die weiteren Abläufe in der Familie zu beschreiben, wäre müßig. Es kamen u.a. weitere Beziehungen der Mutter und auch erneute Trennungen hinzu. Auch weitere Kinder wurden geboren. Timo war vielfachen Demütigungen und Zurücksetzungen ausgesetzt. Er erlebte Einsamkeit und erhielt keinerlei Hilfe und Unterstützung. Der Selbstwert von Timo litt massiv unter all dem, was er an einer Stelle wie folgt ausdrückt: „Wahrscheinlich war ich wirklich nicht liebenswert. Schließlich wollte nicht einmal mein echter Vater etwas mit mir zu tun haben. Und mein Stiefvater hatte sich auch nie wieder gemeldet. Ich lag im Bett und konnte mich selbst nicht leiden. Aus ganzem Herzen. Ich fand mich zum Brechen“ (S. 27). 

Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie dieser Junge seinen „Familienersatz“ in der rechten Szene suchen und finden sollte (was er im Buchverlauf auch beschreibt). Allerdings kamen hier noch direktere Einflüsse hinzu: Seine Mutter war als Jugendliche stark in die rechte Skinheadszene involviert und Timos Urgroßvater mütterlicherseits war ein überzeugter Nazi (und Timos Mutter hatte wiederum viel Zeit bei diesem Mann verbracht). Nun mag man diese ideologischen Prägungen als Einflussfaktoren auch für das Werden von Timo heranziehen, was seine Berechtigung hat.
Ich möchte aber auch betonen, dass die gelebte NS-Ideologie im Grunde ein Abbild einer dysfunktionalen, strengen, wenig auf Emotionen und Schwächen Rücksicht nehmenden und kalten Familie darstellt. Misshandlungsfamilien erinnern stark im Kleinen an das NS-Regime im Großen! 

So verwundert es auch nicht, dass Timos Mutter eine ganz ähnlich destruktive Kindheit hatte, wie er selbst (S. 50f.). Ich bin davon überzeugt, dass die real destruktiven Kindheitserfahrungen den viel größeren Einflussfaktor für die Hinwendung zur radikalen Ideologie darstellen, als das Etikett „Mutter und Urgroßvater waren Nazis“. Letzteres ist zu undeutlich und schemenhaft. Was real im gelebten Alltag in solchen Familien weitergegeben wird, ist der Hass, das Demütigen, das Abwerten von Schwächeren und die emotionale Kälte. Was real in solchen Familien produziert wird, sind traumatisierte Kinder (das sahen wir auch im Fall von Heidi Benneckenstein, die einer völkischen Erziehung in einer NS-Familie ausgesetzt war). 

(siehe ergänzend zum Thema auch: Die Kinder der NS-Täter und die Kindheit der NS-Täter)


Dienstag, 14. September 2021

Studie Nr. 31: Kindheiten von Rechtsextremisten

Erneute habe ich eine Studie gefunden, für die ehemalige Rechtsextremisten befragt wurden:

Sigl, J. (2018): Biografische Wandlungen ehemals organisierter Rechtsextremer: Eine biografieanalytische und geschlechterreflektierende Untersuchung. Springer VS, Wiesbaden. 

Dies ist somit die 31. Studie über Kindheitshintergründe von Rechtsextremisten, die ich bis heute finden konnte. Das Bild, das Johanna Sigl hier zeichnet, gleicht dem der anderen Studien: Die Kindheiten der Befragten waren deutlich destruktiv und schwer belastet. 

Insgesamt wurden 7 ehemaligen Rechtsextremisten befragt (5 männlich, 2 weiblich), von denen ich die Kindheitsbiografien von vier Akteuren zusammenfasse (die anderen Biografien gehen alle in ähnliche Richtungen): 

Jonathan Schmied (S. 135-184):
Eltern trennten sich kurz nach der Geburt, Leben bei der Mutter (Anita); Mutter war politisch stark rechts eingestellt;  keinen Kontakt zum Vater und dessen Familie; als J. 1 ½ Jahre alt war, trat ein neuer Partner ins Leben seiner Mutter; ein Kind ging au der Beziehung hervor, Jonathan fühlte sich zurückgesetzt/ausgeschlossen und meint, der Stiefvater und auch die eigene Mutter hätten das Geschwisterkind deutlich bevorzugt; Jonathan habe keine positive Zuwendung erfahren; autoritäre Strukturen in der Familie; vom Stiefvater sei er häufig körperlich misshandelt worden; gleichzeitig hielt die Mutter J. in starker emotionaler Abhängigkeit; Bindungsbeziehung zwischen Mutter und Sohn sei unsicher-vermeidend; J. habe gerne viel Zeit bei den Großeltern verbracht, wobei der Großvater alkoholkrank gewesen sei; Mutter drohte gegenüber J., ihn ins Kinderheim zu bringen; als J. 5 war, trennte sich die Mutter von ihrem neuen Mann; Mutter lernte neuen Mann kennen und heiratetet schnell erneut und wurde schwanger; Umzug an einen neuen Ort; später erneute Trennung von dem neuen Mann; in der Schule hatte J. Probleme, Freundschaften einzugehen; als Jugendlicher viele Konflikte mit der Mutter; im Rückblick beschreibt J., dass seine Mutter für ihn gestorben sei. 

Alexander Reimer (S. 184-194):
Großvater war ein Nazi; keine Informationen über biologischen Vater; ab dem 1. Lebensjahr hat A. viel Zeit bei den Großeltern verbracht, die eigene Mutter sah er am Anfang nur, wenn sie zu Besuch bei den Großeltern war; seine Mutter sei eher wie eine große Schwester für ihn; zwischen Mutter und Großeltern habe es während der Schwangerschaft einen „Deal“ gegeben: Eine Abtreibung stand im Raum. Die Großeltern versprachen viel Hilfe, was das Leben von A. ermöglichte; nach der Einschulung verbrachte A. die Wochentage bei seiner Mutter und die Wochenenden bei den Großeltern; A. sei häufig traurig gewesen, wenn er seine Großeltern am Wochenende verlassen musste; emotionale Beziehung zur Mutter schwierig und schemenhaft; Großvater vermittelte A. von Klein auf NS-Ideale, dies ging so weit, dass A. als Kind den Eintritt in die Hitlerjugend imaginierte; als Erwachsener hatte A. jahrelang keinen Kontakt zu seiner Mutter. 

Christian Goebel (S. 214-232):
im Alter von 5 J. Trennung der Eltern erlebt; Leben beim Vater, Trennung auch von der großen Schwester; kein Kontakt zur Mutter; einzige berichtete Erinnerung an die Mutter ist, wie sein Vater sich in C.s Kinderzimmer mit ihm einschloss und die Mutter die Glastür eintrat; jahrelang Gewalt (auch in schweren Formen) gegen C. durch den Vater; autoritäre Erziehung; C. sei ein „Schlüsselkind“ und viel allein gewesen. 

Claudia Bremer (S. 263-274:
als sie 4 Jahre alt war, Trennung der Eltern erlebt; Aufwachsen bei der Mutter, jahrelange Trennung vom Vater; neuer Stiefvater trat in ihr Leben, unsichere Beziehung auch zu ihm; C. hat keine sicheren, familiären Bindungen erlebt; sobald es um die eigenen Eltern ging, wich C. aus und hatte kaum Erinnerungen; keine Schilderungen über positives Erleben mit den Eltern. 


Freitag, 27. August 2021

Terror von Links - Die Kindheit von Birgit Hogefeld

Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter hat sich in einem Beitrag auf sehr private und offene Weise mit der ehemaligen RAF-Terroristin Birgit Hogefeld befasst:

Richter, H.-E. (2001): Was mich mit einer gewandelten RAF-Gefangenen und ihrem Vater verbindet. In: Wirth, H.-J. (Hrsg.): Hitlers Enkel - oder Kinder der Demokratie? Die 68er-Generation, die RAF und die Fischer-Debatte. Psychosozial-Verlag, Gießen. 

Richter betreute nach eigenen Angaben damals über ein halbes Jahr lang Birgit Hogefeld, die im Gefängnis saß. Im Text nennt er sie nur „Brigit“, was seine engere Beziehung zu ihr deutlich macht. 

Natürlich ist die RAF ohne den Bezug zur NS-Zeit und zu Verstrickungen der Elterngeneration nicht zu verstehen, was auch Richter in diesem Sinne ausführt (und was auch Hogefeld selbst in einem Beitrag im selben Band deutlich so formuliert). Was sein Text allerdings auch zeigt ist, dass die Kindheit von Birgit Hogefeld sehr belastet war. Somit ist ihre Kindheitsbiografie die 17., die ich bzgl. RAF-TerroristInnen bespreche (siehe Blog-Inhaltsverzeichnis). Alle diese Akteure eint, dass sie eine sehr destruktive Kindheit hatten. Geschichte, Zeitgeist, Generationenkonflikte usw. sind gewichtige Einflussfaktoren, sicher. Aber sich derart zu radikalisieren, dass Mann oder Frau im Terrorismus landet, ist etwas anderes. Dafür bedarf es Prägungen in der Kindheit, die eine Schädigung hinterlassen, die Schwarz-Weiß-Denken fördert und Empathie unterdrückt. Dies zeigen auch meine sonstigen Recherchen über ExtremistInnen und TerroristInnen aus allen Spektren.

Richter schreibt: „Was in Birgits Kindheit und Familiengeschichte mag für ihren späteren Weg in die RAF Bedeutung gehabt haben? Dies interessiert mich natürlich als Psychoanalytiker“ (Richter 2001, S. 77). Richter meint, dass Hogefeld den Vater (unbewusst) habe rächen wollte. Dieser habe jahrelang als Soldat gekämpft und sich vom Staat missbraucht gefühlt. Er sei in tiefe Resignation zurückgezogen gewesen. „Die Mutter, von ihm eher verachtet, bildete mit ihrer eigenen Mutter eine Einheit gegen ihn – und oft auch gegen Birgit. Schläge der Mutter, von der sie zugleich ehrgeizige Erwartungen wie heftige Ablehnung erfuhr, waren keine Seltenheit. Aber auch die Zuneigung des Vaters gewann sie nicht eigentlich als Mädchen, sondern weil sie sich wie ein Junge aufführte und sich auch eher wie ein solcher fühlte“ (Richter 2001, S. 77). 

In diesen kurzen Zeilen steckt viel drin: Eine destruktive Beziehung der Eltern, destruktive Eltern-Kind-Beziehungen, mütterliche Gewalt, Leistungsdruck und Demütigungen. Die Vater-Tochter-Beziehung entspreche dem, so Richter, was er als „Eltern, Kind und Neurose“ bezeichnet: „Die Tochter hatte die ihr vom Vater unbewusst übertragene Rolle als Rächerin übernommen, hatte als Substitut seines unerfüllten Ich-Ideals ausgeführt, was er für sich wohl erträumt, aber nie gewagt hatte“ (Richter 2001, S. 78).

Zusammenfassend wird klar, dass diese sehr destruktiven Kindheitshintergründe von Birgit Hogefeld in klassischer Weise meine Grundthese bestätigen: Als Kind geliebte und gewaltfrei aufgewachsene Menschen werden keine TerroristInnen. 


Studie Nr. 30! Kindheiten von Rechtsextremistinnen

Ab heute komme ich auf eine runde Zahl: 30 Studien und Einzelarbeiten (Befragungen oder Fallbeispiele aus der psychotherapeutischen Praxis) habe ich bisher gefunden, innerhalb derer Kindheiten von rechten Gewalttätern bzw. Rechtsextremisten besprochen wurden.

Meine neuste Entdeckung ist:

Sigl, J. (2013): Lebensgeschichten von Aussteigerinnen aus der extremen Rechten. Genderspezifische Aspekte und mögliche Ansatzpunkte für eine ausstiegsorientierte Soziale Arbeit. In: Radvan, H. (Hrsg.): Gender und Rechtsextremismusprävention. Metropol Verlag, S.273-289.

Johanna Sigl hat 3 ehemalige, weibliche Rechtsextremisten befragt (narrative Interviews). Die Ergebnisse fasst sie an einer Stelle zusammen: „In allen geführten Interviews zeigt sich, dass die Hinwendung zur und der Rückzug aus der extremen Rechten nur unter Einbeziehung des familiären Kontexts nachvollziehbar werden. Fallübergreifend war die Bindungsbeziehung zu den Eltern geprägt von Unsicherheiten, Desinteresse oder von Ablehnung. Die Eltern waren nicht als verlässliche Bezugspersonen wahrnehmbar. Keine der Eltern-Kind-Beziehungen konnte als sicher, unterstützend und damit förderlich für die kindliche Entwicklung rekonstruiert werden. Im Fall von Anna stellt die politische Verortung, zunächst in der extremen Rechten und dann in Teilen der linken Szene eine der wenigen, wenn nicht gar die einzige Möglichkeit dar, eine positive Beziehung zu beiden Elternteilen herzustellen bzw. überhaupt ein Beziehungsinteresse seitens der Eltern zu wecken“ (Sigl 2013, S. 282f.).

Der Fall „Anna“ wird dann auch von der Autorin exemplarisch ausgebreitet (Sigl 2013, S. 279f.). Anna wurde mit einer Erbkrankheit geboren, wodurch sich in den ersten Lebensjahren die körperliche Entwicklung verzögerte. Die Krankheit wurde vom Vater vererbt, der starke Schuldgefühle entwickelte und „die Beziehung zu seiner Tochter emotional verweigert. Eine ähnliche emotionale Verweigerung zeigt sich in der Mutter-Tochter-Beziehung, Annas Mutter scheint der Tochter sehr uninteressiert gegenüberzustehen. Die Bindung zu ihren Eltern lässt sich als unsicher beschreiben, die Eltern scheinen es kaum zu vermögen, ihrer Tochter emotionale Zuwendung zu vermitteln“ (Sigl 2013, S. 279).
Schon früh suchte Anna nach einer Ersatzfamilie und hielt sich viel bei ihrer Patentante auf. Die Suche nach „Wahlverwandtschaft“ habe, so Sigl, auch Bedeutung bei der Zugehörigkeitskonstruktion zur extremen Rechten gehabt. Mit 16 Jahren zog Anna Zuhause aus, da sich die Beziehungssituation – auch im Rahmen ihres Abdriftens in die rechte Szene - weiter zuspitzte. Annas Familie väterlicherseits war durch einen NS-Täterhintergrund geprägt, der allerdings verleugnet wurde. Sigl vermutet auch hier einen Einflussfaktor bzgl. Annas Hinwendung zum Rechtsextremismus. 


Freitag, 20. August 2021

Kindheit in Afghanistan und der nie enden wollende Krieg und Terror

(Eine leicht veränderte Version dieses Textes wurde von mir auch als übersichtliche PDF-Datei erstellt)

Der schnelle Einmarsch der Taliban in Kabul und die Besetzung des gesamten Landes in kurzer Zeit mit all den damit zusammenhängendem Leid und Terror für die Bevölkerung hält derzeit die Welt in Atem. Ich habe schon oft auf die Zusammenhänge zwischen den destruktiven Kindheitsbedingungen in Afghanistan und dem Krieg/Terror hingewiesen. Jetzt platzt mir quasi der Kragen! Meine Wut und meine Betroffenheit über die aktuellen Ereignisse habe ich jetzt in umfassende Recherchen über die Kindheitsbedingungen in Afghanistan gesteckt. 


Gewalt gegen Kinder 

Ich beginne mit dem Ausmaß von elterlicher Gewalt gegen Kinder. Gewalt gegen Kinder (11.552 Kinder wurden im Rahmen von UNICEF’s Multiple Indicator Cluster Survey (MICS) Programm durch Befragungen erfasst!) in Afghanistan durch Erziehungspersonen (Mütter oder primäre Erziehungsperson) im Haushalt innerhalb von 4 Wochen (nach Altersgruppen) (Central Statistics Organisation & UNICEF 2013, S. 128): 

2-4Jährige: 

körperliche und/oder psychische Gewalt: 63,2%

nur körperliche Gewalt:  56,4 % 

besonders schwere körperliche Gewalt: 30,1%

psychische Gewalt/Aggressionen: 50,2 %

5-9Jährige: 

körperliche und/oder psychische Gewalt: 78,4%

nur körperliche Gewalt:  73,2% 

besonders schwere körperliche Gewalt: 41,8%

psychische Gewalt/Aggressionen: 65,7%

10-14Jährige:

körperliche und/oder psychische Gewalt: 78%

nur körperliche Gewalt:  71,8%

besonders schwere körperliche Gewalt: 40,5%

psychische Gewalt/Aggressionen: 65%.

Zwischen dem ländlichen und städtischen Raum gab es nur geringfügige Unterschiede. Da nur das Gewalterleben innerhalb von 4 Wochen vor der Befragung erfasst wurde, dürfte das Gewalterleben für die gesamte Kindheit deutlich höher sein. Die Befragungen wurden 2010/2011 durchgeführt. Die gewaltbetroffenen Kinder von damals dürften im Jahr 2021 ca. zwischen 11 und 25 Jahre alt sein. Ich gehe davon aus, dass die heute älteren Erwachsenen in Afghanistan nochmals mehr Gewalt/Demütigungen erlebt haben, als diese jüngere Generation (was dem historischen Trend im Allgemeinen entsprechen würde, siehe dazu z.B. deMause 2005).

Save the Children hat 1099 Personen (Eltern/primäre Bezugsperson, die mindesten mit einem Kind im Alter von über 5 Jahren leben; aber auch Befragungen von Kindern direkt) in Afghanistan befragt. Ergebnisse u.a.:
Children experience high levels of all types of violence. Only 9% of children reported not experiencing any type of violence; 21% experienced from 1 to 3 types; 16% from 4 to 6 types, 10% from 7 to 9 types; 13% from 10 to 15 types, 9% from 16 to 20 types, 20% from 21 to 30 types, and 2.5% more than 31 types“ (Save the Children 2017, S. 1) Zu den Formen von Gewalt, die hier erfasst wurden, gehören u.a. psychische, körperliche und sexuelle Gewalt, körperliche und emotionale Vernachlässigung und das Miterleben von Gewalt in verschiedenen Kontexten.
Einige Zahlen: „Physical violence remains high where the worst forms of violence include kicking (40%); hitting with objects (approximately 40%); beating (34%); choking to be prevented from breathing (21%); burning or branding (15%). 15% of children were also given drugs (…)“ (Save the Children 2017, S. 1). Ca. 30% der Kinder erlebten Vernachlässigung. Auch in der Schule erlebten dieser Studie folgend viele Kinder Gewalt:
Children reported experiencing the following types of physical violence in schools: twisting  fingers with a pencil in between (39%); being threatened by invoking harmful people or ghosts (38%); threats of being hurt and killed (36%); being kicked (36%); being shook aggressively (39%); being slapped on the face or on the back of the head (48%); hit on the head with knuckles (37%); being spanked on the bottom with bare hands (48%); being hit on the buttock with an object (40%); being hit elsewhere with an object (39%); being beaten up (34%); being chocked (20%); being burned or scaled (15%) (…)“ (Save the Children 2017, S. 29f.). Dazu kam ein hohes Ausmaß von psychischer Gewalt in der Schule. Dies alles sind nur Auszüge, der gesamte Bericht ist deutlich umfassender. 

Ein weiterer Bericht bestätigt das hohe Ausmaß von Gewalt in der Schule. Trotz gesetzlichem Verbot von Körperstrafen durch Lehrkräfte wurden in 100% der untersuchten Jungenklassen und in 20% der Mädchenklassen Schüler und Schülerinnen (meist mit Gegenständen/Stöcken) geschlagen. 50% der Lehrkräfte wussten nichts von dem gesetzlichem Verbot. Die große Mehrheit der Lehrkräfte, inkl. der, die um das Verbot wussten, glaubten an die Notwendigkeit und den Nutzen von Körperstrafen. Ergänzend gehörten Demütigungen von Schülern und Schülerinnen zum Alltag, ebenso sexueller Missbrauch durch Lehrkräfte und Gewalt unter Schülern und Schülerinnen (Wood & Save The Children 2011, S. 4).

Traumatische Erfahrungen

Für eine andere Studie wurden u.a. 1011 Schüler und Schülerinnen in Afghanistan befragt (Panter-Brick et al. 2009). Es ging hier um die Erfassung von traumatischen Erfahrungen, wobei elterliche Gewalt nicht abgefragt wurde. 63,5% aller Schüler*innen hatten mindestens ein traumatisches Erlebnis gemacht. 8,4 % hatten sogar 5 oder mehr traumatische Erlebnisse gemacht. Darunter fielen Erlebnisse wie Leben im Kriegsgebiet, Tod oder Verlust naher Familienmitglieder, ernsthafte körperliche Verletzungen oder Miterleben schwerer Gewalt gegen einen anderen Menschen. Die Studie fand auch, dass die Wahrscheinlichkeit psychisch zu erkranken mit der Anzahl der erlebten traumatischen Erfahrungen anstieg. 

Von 4,7 % aller afghanischen Kinder ist entweder ein Elternteil oder sind beide Elternteile gestoben (Central Statistics Organisation & UNICEF 2013, S. 130). 

Die Rate der Müttersterblichkeit in Afghanistan gehört zu den höchsten der Welt. Pro 100.000 Lebendgeburten starben 2017 638 Frauen. Das Risiko der Müttersterblichkeit für die gesamte Lebenszeit ist 1 zu 33 (World Health Organisation et al. 2019, S. 71). Im Jahr 2000 lag die Rate der Müttersterblichkeit noch bei 1.450 (davor vermutlich noch höher). Entsprechend haben die Kinder im historischen Rückblick häufiger den Tod der eigenen Mutter erlebt, als die heutigen Kinder. 

Die Kindersterblichkeitsrate der unter 5Jährigen ist – wie im Rest der Welt – in Afghanistan kontinuierlich gesunken, von ca. 180 von 1.000 Lebendgeburten im Jahr 1990 auf 60,3 im Jahr 2019 (UNICEF 2021a). Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass die vor und um 1990 geborenen Kinder sehr häufig den Tod von Kindern (Brüder, Schwestern, Verwandte, Nachbarskinder) miterlebt haben: Jedes 5.-6. Kind starb vor dem Erreichen des 5. Lebensjahres! Dies ist eine enorme Belastung für die überlebenden Kinder, die heute die Erwachsengeneration der über 30Jährigen in Afghanistan stellen. 

Das "Verschwinden" von weiblichen Menschen ist ein weiteres Thema in dem Land. Der Zensus 2001 belegt für Afghanistan das "Fehlen" von 500.000 bis 1.000.000 Frauen/Mädchen (Hesketh & Xing 2006, S. 13272). Abtreibungen, Säuglingstötungen, Töten durch gezielte Vernachlässigung oder das Aussetzen von Säuglingen sind die üblichen Praktiken, um unerwünschte Mädchen "verschwinden" zu lassen. Was bei dem Thema oft vergessen wird ist, dass die (über-)lebenden Kinder schwer belastet werden, sofern sie die gezielte Tötung mitbekommen oder dies erahnen. 

Kinderehen: Im Durchschnitt wurden 15% aller afghanischen Frauen (15-49Jährige) vor dem 15. Lebensjahr verheiratet. 46% aller Frauen wurden vor dem 18. Lebensjahr verheiratet. Im ländlichen Raum sind die Zahlen höher, als im städtischen Raum (Central Statistics Organisation & UNICEF 2013, S. 134). Die nicht freie Partnerwahl und zudem so frühe Verheiratung bedeutet in meinen Augen den ersten Riss in der Eltern-Kind-Beziehung. Kinder entstehen aus Nicht-Liebes- bzw. Zwangsehen. Die Mütter sind zudem sehr jung und entsprechend unerfahren. Beides wird den Umgang mit den eigenen Kindern deutlich beeinflussen.

Im Durchschnitt haben 10% der Frauen im Alter zwischen 15-19 bereits ein Kind zur Welt gebracht (im Westen würden wir von „Teenagerschwangerschaften“ sprechen, die grundsätzlich erschwerte Bedingungen für Mutter und Kind bedeuten) und 4 % dieser Altersgruppe waren beim Zeitpunkt der Befragung schwanger. 2 % aller Frauen haben vor dem Alter von 15 Jahren ein Kind zur Welt gebracht (Central Statistics Organisation & UNICEF 2013, S. 88) Im ländlichen Raum sind die Zahlen höher, als im städtischen Raum. 

Häusliche Gewalt, Zustimmungsraten zur Gewalt und die "Identifikation mit dem Aggressor"

Overall, 92% of women in Afghanistan feel that their husband has a right to hit or beat them for at least one of a variety of reasons, an alarming statistic„ (Central Statistics Organisation & UNICEF 2013, S. 138). Diese schockierende Zahl kommt auf Grundlage von Befragungen von 21.290 Frauen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren in Afghanistan zu Stande!
„Gründe“ für die Rechtfertigung der Gewalt sind: Verlassen des Hauses ohne Einverständnis des Ehemannes, Vernachlässigung der Kinder, Streit mit dem Ehemann, Verweigerung von Sex mit dem Ehemann oder das Anbrennen von Essen. Im ländlichen Raum (93%) sind die Zustimmungswerte höher als im städtischen (84,8%).
Dies ist einer der höchsten Werte bzgl. der Zustimmung zur (häuslichen) Gewalt gegen die eigene Person, den es weltweit verglichen gibt. Dies spricht für ein extrem hohes Maß an Identifikation mit dem Aggressor und es spricht auch für extreme Unterdrückung und Gewalt gegen Mädchen/Frauen, die diese Identifikationen überhaupt möglich machen.

Wenn vor allem Mütter derart stark mit dem Aggressor identifiziert sind, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch destruktiv mit den weniger mächtigen Menschen umgegangen wird: den im Haushalt lebenden Kindern, für die in Afghanistan vor allem die Frauen zuständig sind. Das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder wurde oben dargestellt und es zeigt, dass – neben den Vätern – vor allem auch Mütter kräftig nach unten austeilen.
Dies zeigte auch eine andere Befragung: Zusammen mit der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, der CARITAS, der Nichtregierungsorganisation vivo international e.V. und der Universität Konstanz wurden 287 Schulkinder aus Kabul (Afghanistan) befragt. Die Ergebnisse wurden in einer Diplomarbeit veröffentlicht. 59,9% der Kinder wurden von ihrer Mutter geschlagen, 41,6% von ihrem Vater (Bette 2006, S. 54). 

Dass Frauen in Afghanistan viel Gewalt durch ihre Partner erleben, zeigt auch ein UN-Women Bericht: „Lifetime Physical and/or Sexual Intimate Partner Violence: 51 %. Physical and/or Sexual Intimate Partner Violence in the last 12 months: 46 %“ (UN-Woman 2021). Entsprechend erleben auch die Kinder diese Gewalt mit, was eine schwere und oft folgenreiche Belastung darstellt.
Außerdem ist in Anbetracht dieser Zahlen die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch Schwangere häusliche Gewalt erleiden und somit auch der Fötus belastet wird. Eine andere Studie zeigt zu diesem Thema auch handfeste Daten auf: In Afghanistan haben demnach 16% aller Schwangeren körperliche Gewalt erlitten (Central Statistics Organization et al. 2017, S. 275). Interessant ist dabei, dass die regionale Verteilung dieser Gewalt gegen Schwanger stark variiert, von im Minimum 0,9% in der Provinz Helmand bis im Maximum 65,7% in der Provinz Ghor (Central Statistics Organization et al. 2017, S. 284). 

Eine Befragung von 916 afghanischen Jugendlichen zeigte außerdem hohe Zustimmungsraten zur  Gewalt (Li et al. 2018). 71,2 % befürworteten für mindestens ein Szenario, dass ein Ehemann seine Frau schlägt. 79,7 % befürworteten, dass Eltern unter bestimmten Umständen ihre Töchter schlagen und 83,6 % befürworteten, dass Eltern ihre Söhne schlagen. 70,3 % befürworteten Körperstrafen in der Schule. Eine Frau, die ihren Mann schlägt, wurde am wenigsten befürwortet und zwar von 48,0 % der Jugendlichen. 

Weitere Belastungsfaktoren (inkl. straffes Einwickeln der Säuglinge)

25 % aller afghanischen Kinder (5 bis 14 Jahre) sind von Kinderarbeit betroffen (Central Statistics Organisation & UNICEF 2013, S. 125). Auch hier gilt wieder, dass im ländlichen Raum die Zahlen höher sind, als im städtischen Raum.

Kind sein in Afghanistan bedeutet vor allem auch arm sein: Afghanistan gehört zu den ärmsten Ländern der Welt (World Bank 2021). 

1 von 4 afghanischen Kindern ist untergewichtig. 2 von 5 Kindern erreichen nicht die volle mentale und körperliche Entwicklung (Unicef 2021b).

Auch internationale Rankings sprechen eine deutliche Sprache. Der „End of Childhood Index 2020“ (Vergleich bzgl. Orten auf der Welt, wo es am schlimmsten ist, ein Kind zu sein) (Save the Children 2020) brachte Afghanistan auf Platz 159 von 180 Ländern. Im „Girls’ Opportunity Index 2016“ (bezogen auf die Lebenssituation von Mädchen/jungen Frauen) (Save the Children 2016) landete Afghanistan auf Platz 121 von 144 Ländern. Beide Rankings zeigen, dass Afghanistan im hinteren Feld steht, wenn es um die Situation von Kindern in der Welt geht.

Dazu kommen alle möglichen Belastungen durch Krieg, Dürren, Flucht usw. was in dem UNICEF Artikel "Afghanistan – der gefährlichste Ort der Welt für Kinder" (Stolz 2020) besprochen wird. 

Ich fand noch eine sehr interessante Studie aus den 1970er Jahren bzgl. der afghanischen Volksgruppe der Paschtunen (aus der heraus meines Wissens nach auch die Talibanbewegung entstanden ist): Hanifi (1971). Die traditionelle Lebensweise wird in dieser Arbeit vor allem bezogen auf Kinder und Kindererziehung besprochen. Ich gehe davon aus, dass diese Tradition auch heute noch im ländlichen Raum wirkt.
Der Säugling wird mehrere Monate lang eingewickelt. Drohungen und Köperstrafen sind das bevorzugte Mittel, um das kindliche Verhalten zu kontrollieren. Das „gute“ Kind ist gehorsam und höflich und niemals aggressiv gegen Elternteile. Lautstärke, Kämpfe oder das Spielen im Haus werden wenig toleriert. Es herrscht eine strenge Sexualmoral vor. Nacktheit wird schon ab dem Säuglingsalter nicht gedudelt. Masturbation wird, wenn sie entdeckt wird, bestraft. Die Geschlechtsrollen der Eltern sind sehr fest und traditionell. Der Mutter kommt die Versorgung von Haushalt und Kindern zu, aber auch das Strafen der Kinder. Das Haus ist der Bereich der Mutter. Über die meisten anderen Dinge entscheidet der Vater, der oft weniger in Beziehung zu den Kindern und für Strenge steht (Hanifi 1971, S. 54f.).

The mothers ordinarily discipline the children, and they will approve of the father`s disciplinary  actions even if they judge him to be severe“ (Hanifi 1971, S. 54) Ansonsten zeigen die Ausführungen das auch in anderen traditionellen Gesellschaften oft zu findende Bild auf: Wenn die Kinder größer werden, wird Selbstständigkeit von ihnen erwartet. Sie müssen sich um sich selbst kümmern. Verhaltensnormen und Abläufe werden im Alltag abgeschaut. Ältere Geschwister achten auf die Jüngeren. 

Das Thema Wickeln (das deutsche Wort dafür ist etwas schlecht, man müsste eher von Einwickeln sprechen) möchte ich nochmals hervorheben: „One of the earliest experiences of the Pushtun infant is that of being wrapped in swaddling clothes. Strips of cloth, new or used, are wrapped around the child until he or she is snug and relatively immobile. In some instances the child`s arms may be left free, but in most cases, at least in the early months, arms are wrapped at the side“ (Hanifi 1971, S. 55). 
Die Entwöhnung des Säuglings erfolgt abrupt, indem z.B. bittere Substanzen auf die Brust der Mutter geschmiert werden oder das Kind einfach für einige Tage zu Verwandten gegeben wird. Der Säugling reagiert darauf laut Hanifi meist aggressiv und verärgert.

Unter der Zwischenüberschrift „Das Einwickeln des bösen Säuglings“ hat der Psychohistoriker Lloyd deMause u.a. geschrieben: „Wickeln ist weltweit praktiziert worden und reicht unzweifelhaft bis in Zeiten stammesgeschichtlicher Kulturen zurück (…). Die Auswirkungen des Wickelns auf jeden des in den letzten zehntausend Jahren geborenen Menschen waren katastrophal“ (deMause 2005, S. 238). DeMause beschreibt einige mögliche Folgen: Schlechte Durchblutung, Brechen des Brustkorbs oder der Rippen, Verdichtung des Gewebes, Verhaltensstörungen wie Lustlosigkeit und Zurückgezogenheit, Behinderungen, später Beginn des Laufens aber auch lebenslange Störungen des Hormonhaushaltes durch frühen Stress.

Dazu kommt, dass das Einwickeln oftmals ein relativ aufwendiger Prozess ist und dass folglich die Säuglinge nicht immer sofort von ihren Ausscheidungen gereinigt werden. Besonders dramatisch ist es, wenn die so eingewickelten Säugling auch noch in einem Raum sich selbst überlassen werden. Wie die genaue Praxis dahingehend in Afghanistan aussieht, konnte ich leider nicht recherchieren.
Der „Vorteil“ für die Eltern liegt auf der Hand: Die so eingewickelten Säuglinge schlafen länger und sind nicht aktiv und leiser (da steckt auch etwas von Gehorsamsforderung von Beginn an drin!). Wer selbst Kinder hat (ich habe 2), der weiß darum, wie gerne Säuglinge herumzappelt, ihre Hände und Beine bewegen und Spaß dabei haben. Eingewickelten Säuglingen ist dies nicht möglich und dies monatelang… Für Säugling sind dies frühe Belastungen, die nicht bewusst erinnert werden können. 

Wie eingewickelte Säuglinge aussehen können, zeigt dieser Ausschnitt: Säugling im Arm seines Vaters/ Afghanistan; entnommen aus dem Buch "Babys in den Kulturen der Welt" (Fontanel & D'Harcourt 2006, S. 83): 


Die beiden Autorinnen kritisieren diese Praxis übrigens nicht in ihrem Bildband. Das Kind werde gewickelt, damit "es fest und gerade gehalten wird und einschlafen kann, ohne durch die Bewegung der Gliedmaßen zu erschrecken. (...) In den ländlichen Gebieten Afghanistans werden die Kinder bis ins Alter von einem Jahr oder sogar noch länger so gewickelt" (Fontanel & D'Harcourt 2006, S. 82). 

Fazit

Kindheit in Afghanistan ist sehr häufig traumatisch und mit diversen Belastungen, Leid und Entbehrungen verbunden, wie im Text gezeigt werden konnte. Insofern haben wir es mit einer von Grund auf traumatisierten Gesellschaft zu tun. (Die Traumatisierungen setzen sich dann im Erwachsenenalter fort, z.B. durch Kriegserlebnisse) Wir wissen heute sehr viel über die möglichen Folgen von Gewalt und belastenden Kindheitserfahrungen. Es ist absolut logisch und nachvollziehbar, dass diese Kindheitsbedingungen in einem direkten Zusammenhang zu politischen und sozialen Schieflagen in Afghanistan stehen (inkl. Extremismus und radikaler Auslegung des Islam). Der Westen hat spätestens seit dem Abzug der Militärs und der Übernahme des Landes durch die Taliban begriffen, dass die Probleme des Landes nicht durch Gewalt und militärisch gelöst werden können. 

Ich möchte dem zwei eindrucksvolle Zitate (einmal von der Kinderbuchautorin Astrid Lindgren und einmal von dem früheren Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Experten für Psychotraumatologie Peter Riedesser; beide Aussagen entstanden bei Preisverleihungen), anschließen, die im Grunde alles sagen:  

"Wir wollen ja den Frieden. Gibt es denn da keine Möglichkeit, uns zu ändern, ehe es zu spät ist? Könnten wir es nicht vielleicht lernen, auf Gewalt zu verzichten? Könnten wir nicht versuchen, eine ganz neue Art Mensch zu werden? Wie aber sollte das geschehen, und wo sollte man anfangen? Ich glaube, wir müssen von Grund auf beginnen. Bei den Kindern" (Lindgren 1978).

Je mehr Kinder bei uns und weltweit vernachlässigt, geschlagen, gedemütigt werden und in Hoffnungslosigkeit und Hass abgleiten, desto höher ist das destruktive Potential in unserem eigenen Land und weltweit. Vor diesem Hintergrund ist Kinderschutz zu einer Frage des Überlebens geworden. Weltweiter Kinderschutz ist der Königsweg zur Prävention nicht nur von seelischem Leid, sondern auch von Kriminalität, Militarismus und Terrorismus. Er sichert die Demokratie und den friedlichen kulturellen und ökonomischen Austausch. Unsere gesamte Kreativität und Entschlossenheit ist gefragt, dies zu realisieren. Wenn wir alle dies wollten in einem einzigartigen solidarischen Akt, hätten wir dafür auch das Wissen und die Mittel“ (Riedesser 2002, S. 32).


Quellen:

Bette, J.-P. L. F. (2006): PTBS, häusliche Gewalt und Kinderarbeit - eine Epidemiologische Untersuchung von Schulkindern in Kabul, Afghanistan. Diplomarbeit im Fachbereich Psychologie der Universität Konstanz. (Erstgutachter: Prof. Dr. Thomas Elbert, Zweitgutachterin: Dr. Johanna Kißler.) 

Central Statistics Organisation (CSO) & UNICEF (2013): Afghanistan Multiple Indicator Cluster Survey 2010-2011: Final Report. Kabul: Central Statistics Organisation (CSO) and UNICEF. 

Central Statistics Organization (CSO), Ministry of Public Health (MoPH) & ICF (2017): Afghanistan. Demographic and Health Survey 2015. Central Statistics Organization, Kabul.

deMause, L. (2005): Das emotionale Leben der Nationen. Drava Verlag, Klagenfurt, Celovec.

Fontanel, B. & D'Harcourt, C.  (2006): Babys in den Kulturen der Welt. Gerstenberg Verlag, Hildesheim. 

Hanifi, M. J. (1971): Child Rearind Patterns Among Pushtuns of Afghanistan. International Journal of Sociology of the Family, Vol. 1, No. 1, S. 53-57. 

Hesketh, T. & Xing, Z. W. (2006): Abnormal sex ratios in human populations: Causes and consequences. Proc Natl Acad Sci (PNAS) USA, 103(36), S. 13271–13275.

Li, M., Rao, K., Natiq, K., Pasha, O. & Blum, R. (2018): Coming of Age in the Shadow of the Taliban: Adolescents' and Parents' Views Toward Interpersonal Violence and Harmful Traditional Practices in Afghanistan. Am J Public Health. 108(12), S. 1688-1694. 

Lindgren, A. (1978): Niemals Gewalt. Dankesrede.

Panter-Brick, C., Eggerman, M., Gonzalez, V. & Safdar, S. (2009): Violence, suffering, and mental health in Afghanistan: a school-based survey. Lancet. 374(9692), S. 807–816. 

Riedesser, P. (2002): Trauma - Terror - Kinderschutz: Prävention seelischer Störungen und destruktiven Verhaltens. Vortrag bei der Verleihung des Kinderschutzpreises am 29.10.2001. Psychotraumatologie, 3(2), S. 32.

Save the Children (2016): Every Last Girl: Free to live, free to learn, free from harm. London.

Save the Children (2017): Knowledge, Attitudes and Practices on Violence and Harmful Practices Against Children in Afghanistan: A baseline study. Save the Children – Afghanistan Country Office. 

Save the Children (2020): The Hardest Place To Be A Child. Global Childhood Report 2020. Save the Children, Connecticut.

Stolz, J. (2020, 17. Nov.): Afghanistan – der gefährlichste Ort der Welt für Kinder. UNICEF.

UNICEF (2021a): Afghanistan. Country Report.  (Erstellungsdatum unklar, Datum des Zugriffs gewählt)

UNICEF (2021b): The situation of children and women in Afghanistan. Facts and figures.  (Erstellungsdatum unklar, Datum des Zugriffs gewählt)

UN-Woman (2021): Global Database on Violence against Women. Afghanistan. (Erstellungsdatum unklar, Datum des Zugriffs gewählt)

Wood, J. & Save The Children (2011): Save the Children Afghanistan: Learning Without Fear - A Violence Free School Project Manual. Save the Children & Federal Republic of Germany Foreign Office.

World Bank (2021): GDP per capita (current US$). (Erstellungsdatum unklar, Datum des Zugriffs gewählt) 

World Health Organisation et al. (2019): Trends in maternal mortality 2000 to 2017: estimates by WHO, UNICEF, UNFPA, World Bank Group and the United Nations Population Division. Geneva: World Health Organization. 


Donnerstag, 5. August 2021

Kindheit des japanischen Kaisers Hirohito

Die Kindheit des japanischen Kaisers Hirohito (1926 bis 1989 Staatsoberhaupt Japans) war schwer belastet. Alleine die Tatsache, dass er im Geiste aufwuchs, von göttlicher Abstammung zu sein, mag die Psyche eines Kindes sehr durcheinanderbringen. Aber auch weitere Sachverhalte sprechen eine deutliche Sprache. 

Die Ehe der Eltern war, ganz nach japanischere Tradition, arrangiert. Allerdings musste Hirohitos Mutter Sadako „zunächst nur Geliebte sein. Nur bei einer Schwangerschaft hätte sie Taisho (Hinweis Sven Fuchs: Der Vater von Hirohito) als Gemahlin anerkennen dürfen, und auch dann wieder nur, wenn ihm (…) ein Junge geboren wurde, der die Erbfolge sichern konnte“ (Kirchmann 1989, S. 36). So kam es auch, ein Junge wurde geboren und Geliebte und Kronprinz heirateten in der Folge. 

Diese Grundlage für ein neues Leben bedeutet in meinen Augen bereits die erste Belastung für ein Kind: Die Mutter war nicht viel wert - außer durch die Geburt des Sohnes - und eine wirklich emotionale Beziehung gab es nicht zwischen den Eltern. Wobei seine Eltern auch nicht viel als Vorbild zur Verfügung hätten stehen können: „Der strengen Tradition gemäß wurde er seinen Eltern schon früh abgenommen und in die Obhut des Admirals Sumiyoshij Kawamura gegeben, der sich durch Kriegstaten hervorgetan hatte (…)“ (Kirchmann 1989, S. 38).

Allerdings starb dieser Ziehvater, als Hirohito gerade einmal drei Jahre alt war. Der Junge wurde daraufhin in den Palast gebracht, „wo er seine Mutter nur ein oder zweimal die Woche sah, seinen Vater noch weniger“ (Kirchmann 1989, S. 38f.) Der Sohn eines Samurai wurde zum Erzieher bestimmt. Später in der Schule war ein ehemaliger Krieger namens Nogis sein Erzieher, der Hirohito zu hohen Leistungen antrieb. Gelegentlich wurde Hirohito von ihm gezwungen „nackt unter einem eiskalten Wasserfall zu stehen, um Disziplin zu erlernen“ (Kirchmann 1989, S. 41).
Nogis hing dem totalen Kampfgeist der Samurai an und hatte schon sich selbst niemals geschont. Als Hirohito 12 Jahre alt war, starb sein Großvater. Nogis hatte schon zuvor vorsichtige Einwände dagegen vorgebracht, Hirohito als Gottkaiser auf den Thron zu bringen. Er hielt ihn für ungeeignet. Nach dem Tod des Großvaters wurde Hirohito zum Thronfolger erklärt. Nogis suchte seinen Zögling einen Tag vor dem großen Staatsbegräbnis auf und ermahnte ihn, den Traditionen treu zu bleiben und besser zu studieren. Danach begingen er und seine Frau Suizid (Seppuku). Er "schlitzte sich langsam und absichtlich schmerzhaft den Magen auf, immer darauf bedacht, wie ein großer Samurai den Göttern seinen ernsthaften Willen kundzutun, in Ehren aus dieser Welt zu scheiden" (Kirchmann 1989, S. 41).
Dieser fanatische Mann war vorher für die Erziehung des Kronprinzen verantwortlich. Wir dürfen annehmen, dass die Prägungen entsprechend groß gewesen sein dürften. Ob und wie den 12Jährigen dieser Suizid belastete, wird vom Biografen nicht ausgeführt. Da dem Kronprinz keinerlei Elternfiguren zur Verfügung standen und er zudem schon als 3Jähriger einen Ziehvater verloren hatte, gehe ich davon aus, dass ihn der Suizid nicht unberührt gelassen hat.

Hirohito war letztendlich „Objekt einer weitgehenden Vernachlässigung durch seine Eltern, für die wohl weniger seine Mutter Sadako, als der unmenschlich-rituelle Rahmen hofstaalicher Mechanismen verantwortlich war“ (Kirchmann 1989, S. 42). Auch in einer anderen Quelle wird unter der Zwischenüberschrift „Kindheit ohne Eltern“ zusammengefasst: „Die Erziehung war sehr streng und verfolgte das Ziel, dass sich der Junge durch Abstinenz von Elternliebe zu einer starken, eigenständigen Persönlichkeit entwickeln sollte. Wie Kaiser Akihito selbst später äußerte, hätte er sich als Kind gewünscht, in einer `menschlicheren` Umgebung aufzuwachsen“ (Janz 2016). (Dass potentielle Thronfolger von Ammen und Erziehern erzogen und verpflegt wurden, war übrigens gängige Praxis in der Menschheitsgeschichte. Die meisten Könige und Kaiser waren demnach zutiefst von ihren Eltern vernachlässigte, bindungslose Kinder.)

All diese Informationen bilden nur den Grundrahmen, der deutlich schwerste Belastungen für das Kind aufzeigt. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass dieses Kind in seinem strikten und strengen Lebensrahmen mit diversen Bediensteten und ohne enge, emotionale Bindungen an Elternfiguren in seinem Alltag etlichen Belastungen ausgesetzt gewesen sein wird, von denen wir nichts erfahren werden. Ein Kaiser ist immer auch Symbolfigur und den Dynamiken der vorhanden Strukturen ausgesetzt. Allerdings stellt sich schon die Frage, ob und wie politische Entscheidungen (vor allem auch während des Zweiten Weltkriegs) mit dieser traumatischer Kindheit zusammenhingen?


Quellen:

Janz, H. (2016, 23. Dez.): Kaiser Akihito: Aufrichtigkeit, Vergebung und Volksnähe. Japandigest. 

Kirchmann, H. (1989): Hirohito. Japans letzter Kaiser. Der Tenno. Wilhelm Heyne Verlag, München



Montag, 2. August 2021

Islamistischer Terrorismus: Kindheit von Denis Cuspert

Der frühere Musiker Denis Cuspert, der sich dem „Islamischen Staat“ anschloss, bekam medial viel Aufmerksamkeit. In einem Medienbericht wird deutlich, dass auch seine Kindheit belastet war:
Eine behütete Jugend war es aber nicht, sondern eine, in der die Eltern ständig überfordert waren und es eine Mutter gab, die behauptete, ihre im Haus von der Polizei gefundenen Drogen gehörten dem eigenen Sohn. Wenn sie keine Lust auf Denis hatte, warf sie den Sohn einfach aus der Wohnung“ (Krüger, K. (2013, 29. Okt.): Rapper Denis Cuspert: In Allahs Gang. Frankfurter Allgemeine Zeitung).
Seinen leiblichen Vater lernte Denis nie kennen. Mit dem Stiefvater gab es schwere Spannungen, so dass Denis selten zu Hause war. Cuspert wurde später zum Gangmitglied und kriminell (Hellmuth, D. (2016): Of Alienation, Association, and Adventure: WhyGerman Fighters Join ISIL. Journal for Deradicalization, Nr. 6, S. 27f.), 

Islamismus: Kindheit von Sven Lau

In seiner Autobiografie (2021: Wer ist Sven Lau? Book on Demand, Norderstedt. Kindle E-Book Version) hat der ehemalige islamistische Prediger und Salafist Sven Lau, der von den Medien früher sehr viel Aufmerksamkeit bekam, deutlich über seine Kindheitsbelastungen geschrieben.

Sein Vater prügelte ihn und auch die Mutter. Seine Mutter war noch ein Teenager, als sie mit Sven schwanger war und war dadurch wohl auch überfordert. Nach der frühen Trennung seiner Eltern sah Sven seinen Vater erst wieder im Alter von 18 Jahren. Es gab Phasen, in denen Sven kein Essen hatte, weil die ökonomische Situation der alleinerziehenden Mutter zu angespannt war. Ein späterer Stiefvater trennte sich ebenfalls wieder von seiner Mutter (Lau 2021, S. 16ff.).