Für diesen Text beziehe ich mich auf die Studie:
Clemmow, C., Schumann, S., Salman, N. L., & Gill, P. (2020). The Base Rate Study: Developing Base Rates for Risk Factors and Indicators for Engagement in Violent Extremism. Journal of Forensic Sciences. Vol. 65, No. 3, S. 865-881.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich eine Studie finde, in der dargestellt wird, dass Terroristen eine verhältnismäßig unbelastete Kindheit hatten (siehe dazu meinen Beitrag „Neue Studie zeigt: IS-Terroristen sind extrem selten als Kind belastet. Warum dies nicht stimmen kann!“).
Clemmow et al. (2020, S. 877) schreiben in ihrer Zusammenfassung bzgl. dem Vergleich von 125 “lone-actor terrorists” und 2.108 Befragten aus der Allgemeinbevölkerung: „The general population were significantly more likely to experience a range of distal stressors such as growing up in an abusive home, being a victim of bullying, and experiencing chronic stress.”
Solche Studien/Ergebnisse sind selten, aber es gibt sie. Also muss ich auch darauf antworten und eingehen.
Wie schon bei meiner Kritik an der Studie von Speckhard & Ellenberg (2020) (siehe Link oben!) zeigt sich sehr schnell die Lösung des Rätsels, wenn man sich die Methodik genau anschaut.
Vorher aber noch ein Auszug aus den Ergebnissen der Studie von Clemmow et al. (2020):
(Blau steht für die Allgemeinbevölkerung, die andere Farbe für die Terroristen!)
Die Ergebnisse sind hoch signifikant: Terroristen haben demnach deutlich weniger Misshandlungen in der Kindheit erlitten, als die Allgemeinbevölkerung. Das gleiche gilt für Mobbingerfahrungen.
Das Fatale an solchen Studien: In Zusammenfassungen von verschiedenen Ursacheanalyse-Ansätzen neigen WissenschaftlerInnen dazu, Studien kurz hintereinander aufzuführen und dann zentrale Ergebnisse zu nennen. Klassisch wäre z.B. der Verweis auf einzelne Studien, die ein hohes Ausmaß von belastenden Kindheitserfahrungen aufzeigen und dann in etwa so etwas anzuhängen: „Allerdings sind die Ergebnisse durchaus nicht einheitlich. Clemmow et al. (2020) fanden z.B., dass Terroristen deutlich weniger in der Kindheit belastet sind, als die Allgemeinbevölkerung.“ (Gedankenbeispiel) Und wenn sie dann ausreichend recherchiert haben, könnten sie dem noch anhängen: „Auch die Daten von Speckhard & Ellenberg (2020) zeigen kaum Auffälligkeiten in der Kindheit von Terroristen“ (Gedankenbeispiel).
Die Message wäre klar: Wir wissen nicht wirklich, was die Ursachen von Terror sind, denn auch bzgl. Kindheitserfahrungen gibt es in der Wissenschaft ein uneinheitliches Bild! Platz für einen genaueren Blick auf solche Studien ist in solchen wissenschaftlichen Zusammenfassungen i.d.R. nicht.
Des „Rätsels Lösung“ bzgl. der - für mich auf Grund unzähliger anderer Ergebnisse und Daten bzgl. Kindheitserfahrungen von Terroristen/Extremisten erstaunlichen – Ergebnisse von Clemmow et al. (2020) zeigt der Blick auf die Methodik!
Die Befragten aus der Allgemeinbevölkerung entstammen aus einem online Panel, d.h., sie wurden mehrfach ausführlich direkt befragt. Die 125 Terroristen wurden nicht befragt (manche lebten auch gar nicht mehr, weil sie bei Anschlägen umkamen, das nur nebenbei): „The data were compiled from open sources, including sworn affidavits, court reports, first-hand accounts, and news reports obtained predominantly via LexisNexis searches. Additional sources such as biographies and scholarly articles were used where available and relevant” (Clemmow et al. 2020, S. 868).
Die Herangehensweise der WissenschaftlerInnen ist grundsätzlich logisch und auch sinnvoll. Objektive Daten wie z.B. Familienstand, Ausbildung, Alter, Geschlecht, Beruf, Religionszugehörigkeit usw. lassen sich so einigermaßen gut vergleichen. Es macht allerdings gänzlich keinen Sinn, so etwas wie Misshandlungen in der Kindheit zu vergleichen. Hier geht es um ein höchst schambesetztes Themenfeld, über das i.d.R. geschwiegen wird (oder das sogar nicht mehr bewusst erinnert werden kann). Oft gilt dieses Schweigen sogar, wenn die Betroffenen direkt befragt werden (hier wäre es wichtig, dass die Studiendesigner traumainformiert sind!). Die Ergebnisse zu Traumaerfahrungen wären nur direkt vergleichbar gewesen, wenn beide Gruppen (also die Terroristen und die Allgemeinbevölkerung) den gleichen direkten Befragungen ausgesetzt gewesen wären, was nicht der Fall war. Insofern halte ich die Ergebnisse bzgl. der Terroristen für diesen Bereich für gänzlich nicht aussagekräftig! Punkt!
Andere Ergebnisse der Studie zeigen allerdings auch für mich aufschlussreiche und gewinnbringende Ergebnisse. So waren z.B. 48,6 % der Terroristen vorher kriminell eingestellt, dagegen nur 2,5 % der Allgemeinbevölkerung. 26,4 % der Terroristen wurden schon einmal inhaftiert, dagegen 0,4% der Allgemeinbevölkerung. Zu Suchtmittelmissbrauch neigten 26,4% der Terroristen, dagegen 9,5% der Allgemeinbevölkerung. Suchtmittelmissbrauch und kriminelles Verhalten sind in der Forschung deutlich mit dem Erleben von belastenden Kindheitserfahrungen „verlinkt“. Wir landen also abgleitet auch hier wieder beim Thema Kindheit...