Freitag, 1. Oktober 2010

gewaltvolle Kindheiten in den USA - Beispiel "Paddeln" von SchülerInnen

In Anbetracht unzähliger aktueller und auch vergangener Kriege (sowohl direkter, als auch stellvertretend geführter), in denen die USA verwickelt war, möchte ich jetzt im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten einen kurzen Blick auf die Kinderziehungspraxis in diesem Land werfen. Es ist eine schwierige Angelegenheit, etwas in dieser Hinsicht über dieses Land zu schreiben, das so unendlich groß und vielschichtig und das darüberhinaus ein Einwanderungsland ist. Dem Thema gerecht werden kann ich hier nur bedingt.

Kürzlich stieß ich allerdings auf zwei Artikel auf SPIEGEL-Online, die mich wirklich erschreckt haben. Mir war bereits bekannt, dass in den USA die Prügelstrafe an Schulen in vielen Bundesstaaten nicht verboten ist. Ich hatte in dieser Hinsicht allerdings bisher nicht weiter recherchiert. Ich muss gestehen, dass ich davon ausgegangen bin, dass dieses „fehlende Verbot“ in dieser westlichen Demokratie heute kaum oder keine Konsequenzen für die amerikanischen SchülerInnen haben würde. Gerade die US-AmerikanerInnen sind ja bekanntlich auch recht klagefreudig und verteidigen ihre Rechte vor Gericht um alles Erdenkliche (manchmal auch Übertriebene und Absurde). Ich wurde eines besseren belehrt…

In fast der Hälfte der US-Staaten dürfen LehrerInnen ihre SchülerInnen schlagen. Und sie tun es auch, am liebsten mit Holzpaddeln aufs Gesäß. Eine Studie verzeichnet 200.000 Fälle jährlich, meist in den Südstaaten, berichtet SPIEGEL-Online in einem Artikel aus dem Jahr 2008. Die geschlagenen Schüler waren zwischen 3 und 19 Jahren alt. Schwarze Mädchen traf es doppelt so häufig wie weiße Mädchen. Jungs werden dreimal so häufig geschlagen wie Mädchen; bei Kindern indianischer Herkunft langten LehrerInnen ebenfalls besonders häufig zu. Begründungen für die Körperstrafe sind z.B. heimliches Rauchen, sich geküsst haben, während des Unterrichts unerlaubt im Gang herum stehen, Kaugummi gekaut oder den Unterricht gestört haben. Führend im Schlagen ist der Staat Mississippi. Dort werden etwa 7.5 % der SchülerInnen von ihren LehrerInnen geschlagen! Aber auch Texas hat einen führenden Negativplatz mit ca. 50.000 Fällen pro Jahr.

In einem anderen SPIEGEL Artikel wird das "Paddeln" beschrieben: „Das gefürchtete Instrument ist rund einen Meter lang, aus Holz und ähnelt einem Paddel. Mit Wucht auf den Hintern geschlagen, hinterlässt es Striemen oder sogar Blutergüsse. Zur Züchtigung müssen sich Schüler nach vorne beugen - eine ebenso schmerzhafte wie erniedrigende Prozedur.“ Und DER SPIEGEL zitiert Zahlen aus dem Jahr 2000. In Mississippi wurden damals noch 9,8 % der SchülerInnen geschlagen. Auf den weiteren Plätzen folgen Arkansas mit 9,1 %, Alabama mit 5,4 % und Tennessee mit 4,2 %. Hier zeigt sich am Beispiel von Mississippi, dass die Rate ansteigt, wenn man weiter zurückschaut.

Dass die Gewalt im historischen Rückblick ansteigt, zeigt auch ein weiterer Bericht: 1980 wurden nach Angaben des US-Bildungsministeriums landesweit 1.415.540 Schüler geprügelt. 1990 waren es noch 613.514 und im Jahr 2000 342.038. (vgl. Stern.de, 13.08.2004: "Prügelstrafe für US-Schüler")

Es ist unglaublich, was in den USA heute noch an offener institutioneller Gewalt stattfindet. Dies an einem Ort, an dem die neue Generation sozialisiert und auf das Leben vorbereitet werden soll. Die Lektion ist Gewalt. Auch die nicht-geschlagenen Schülerinnen werden diese Lektion verinnerlichen. Indem sie z.B. ein besonders angepasstes Verhalten an den Tag legen, um nicht Ziel des „Paddelns“ zu werden. Und natürlich lernen sie, dass Gewalt ein toleriertes Mittel der Konfliktlösung ist. Auf einem Bild im SPIEGEL Artikel ist auch ein Lehrer zu sehen, der einen Schüler vor der Klasse „paddelt“. Im Hintergrund lachen einige Schüler darüber. Hier ist die Lektion: „Der Schmerz des Anderen macht mich glücklich, denn nicht ich, sondern er ist das Opfer.“ Dazu kommt, dass auch die Zeugen von Misshandlungen mittelbar Opfer werden. Das zeigt die Forschung über häusliche Gewalt. Es hinterlässt tiefe Spuren bei Kindern, wenn Andere vor den eigenen Augen gequält und in ihrer Würde verletzt werden. Im o.g. Stern-Bericht wird ein ehemaliger Schüler, der verprügelt wurde, zitiert: "Das Schlimmste ist nicht der Schmerz, sondern die Erniedrigung. Es ist ganz einfach ein unmenschlicher Akt."

Für mich sind diese Berichte Motivation genug, die Gewalt gegen Kinder in den USA weiter zu beleuchten. Ich werde zukünftig Stück für Stück die Infos über dieses Land zusammentragen, die ich finden kann. Anfangen möchte ich mit folgender Info:

Die internationale UNICEF-Vergleichsstudie „Child Maltreatment Deaths in Rich Nations“ (2003) zeigt, dass in den USA im Vergleich zu den meisten anderen Industrienationen mehr Kinder auf Grund von Misshandlungen/Vernachlässigung sterben. Insgesamt wurden 26 Nationen ausgewertet. Die USA kommen in einer bereinigten Tabelle auf Platz 23 mit 2,4 Todesfällen auf 100.000 Kinder. In Deutschland sind es zum Vergleich 0,8 Todesfälle. In Norwegen, Irland, Italien, Griechenland und Spanien liegen die Raten sogar alle unter 0,3. „Hängt das Risiko von Misshandlungen mit dem allgemeinen Ausmaß von Gewalt in der Gesellschaft zusammen?“ wird in einer Zusammenfassung der o.g. Studie in deutscher Sprache gefragt. „Diese Frage beantwortet die Studie mit ja. So haben die Länder, mit den wenigsten Todesfällen bei Kindern aufgrund von Misshandlungen und Vernachlässigung auch die wenigsten Mordfälle unter Erwachsenen. Umgekehrt weisen die drei Länder mit den meisten Kindestötungen – USA, Mexiko und Portugal – auch die höchsten Mordraten an Erwachsenen auf.
Ich kann mir hier natürlich nicht verkneifen, die obige Frage auch umzudrehen: Hängt das Risiko von Gewalt in der Gesellschaft (wie z.B. hohe Mordraten und häufige Kriege) mit dem allgemeinen Ausmaß von Kindesmisshandlungen zusammen? Die Frage würde ich natürlich mit Ja beantworten.


Siehe ergänzend auch: UNICEF Bericht zum Wohlergehen der Kinder in Industrieländern Hier landeten die USA auf den vorletzten Platz im Ranking!

Freitag, 24. September 2010

Astrid Lindgren. Verlinkung ihrer Dankesrede "Niemals Gewalt!"

Astrid Lindgrens Dankesrede „Niemals Gewalt!“ bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 1978 habe ich ab sofort in die Linkliste aufgenommen (das hätte ich schon viel früher machen sollen). Ein Jahr bevor die bedeutenden Bücher von der Kindheitsforscherin Alice Miller „Das Drama des begabten Kindes“ (1979) und zwei Jahre bevor „Am Anfang war Erziehung“ (1980) herauskamen, nannte die Kinderbuchautorin Lindgren all die Dinge beim Namen, mit denen sich später Miller und andere intensiv und forschend befassten. Ihre Rede ist heute noch so aktuell wie 1978 und ein großer Wink in eine mögliche, friedlichere Zukunft durch eine friedlichere, liebevolle Erziehung. Man muss kein Psychoanalytiker oder Psychohistoriker sein, um die tieferen Ursachen von Gewalt und Krieg klar und deutlich erkennen zu können. Es genügt manchmal auch, eine einfühlsame Kinderbuchautorin zu sein, die sich mit Kindern auskennt und die ohne Angst auf ihre eigene Kindheit zurückblicken kann.

Lindgrens Rede bewegt mich immer wieder, wenn ich sie lese. Ich würde mir wünschen, dass ihre Rede weiterhin oft und von vielen Menschen gelesen wird.


Siehe ergänzend auch:

Kindheit von Astrid Lindgren

Astrid Lindgrens Position: Niemals Gewalt!

Donnerstag, 23. September 2010

Kambodscha. Als Massenmörder wird man nicht geboren

Im aktuellen Amnesty Journal (10/11 2010) wird über den Massenmörder Kaing Guek Eav alias "Duch" berichtet. "Duch" führte während der Gewaltherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha das Gefangenenlager S 21, wo über 15 000 Menschen brutal ermordet wurden. Er ist bereits zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die Psychologin Françoise Sironi erstellte ein psychologisches Gutachten über diesen Verbrecher und gab dem Amnesty Journal unter dem viel vielversprechenden Titel „Im Kopf eines Massenmörders“ (online zu sehen auf der österreichischen AI Homepage) ein Interview. Vielversprechend deshalb, weil ich mich schon länger frage, warum eine Organisation wie Amnesty International nicht auch über tiefere, psychologische Ursachen von Terror, Folter und Krieg im Zusammenhang mit Kindheitserfahrungen etwas veröffentlicht. Ist es doch in ihrem Interesse, den Menschenrechtsverletzungen entgegenzutreten. Leider wurde ich enttäuscht, was den Inhalt des Interviews angeht.

Wie ist es zu erklären, dass ein einfacher Familienvater solche Bluttaten beging?“, fragt das Amnesty Journal.
Antwort der Psychologin: „Wie bei den anderen Verbrechern gegen die Menschlichkeit befinden wir uns nicht in einer normalen Dimension der Pathologie. Wir müssen über die normale, individuelle Psychologie hinausgehen, um zu verstehen, welche Ereignisse des kollektiven Lebens diese Leute geprägt haben. Bei Duch waren mehrere solche Ereignisse ausschlaggebend. Er hat eine ganze Reihe von Akkulturationsphasen durchlaufen, die oft mit erniedrigenden Erfahrungen verbunden waren. Während seiner Jugend fühlte er sich wegen seiner chinesischen Herkunft abgewertet, danach prägte ihn die Konfrontation mit der französischen Kultur und schliesslich der Kommunismus. Als Zweites berücksichtigten wir seine Laufbahn im politischen Apparat der Khmer. Denn man kommt nicht als Pei¬niger zur Welt, man wird zu einem solchen gemacht.“
Was sagt uns diese Antwort? Im Grunde nichts halbes und nichts ganzes. Was meint sie mit „erniedrigenden Erfahrungen“? Im nächsten Satz wird ausgeführt, dass er sich auf Grund seiner chinesischen Herkunft abgewertet fühlte. Wird man deshalb gleich zum Massenmörder? Ach ja, da kommt noch die Überforderung mit der französischen Kultur, sein Weg in den Kommunismus und sein „beruflicher“ Aufstieg. Ich denke, wir müssen uns Kaing Guek Eav und seine Taten an dieser Stelle noch mal etwas genauer anschauen.

"Wir sahen überall Feinde, Feinde, Feinde", wird er vom SPIEGEL zitiert. Wie viele Menschen alleine in seinem Lager ermordet wurden, habe ich oben bereits erwähnt. „Und es kam so weit, dass er sich als Gott des Bösen sah“ , sagte Youk Chhang, der Direktor des Documentation Center of Cambodia, über „Dutch“. „In Choeung Ek, den Killing Fields nahe Phnom Penh, in denen Henker aus S-21 die Gefangenen zu Tausenden mit der Hacke erschlugen, pflegte Duch im schwarzen Pyjama am Rand zu sitzen und die Massenhinrichtungen zu beobachten.“ (der Freitag, „Gott des Bösen“)
In einem Memo fragte ein Wärter an, was mit sechs Jungen und vier Mädchen geschehen solle, die als Verräter verdächtigt wurden. „Töten bis zum letzten Mann“, vermerkte der Gefängnischef auf dem Blatt. (vgl. focus, „35 Jahre Haft für Folterchef“)
Kleinkinder wurden in dem Lager mit dem Kopf voran gegen einen Baum (genannt „Todesbaum“) geschleudert, die Erwachsenen mit Eisenstangen totgeschlagen; Duch wollte Kugeln sparen, berichtet der SPIEGEL unter dem Titel „HOLOCAUST ALS KARRIERE“. Die Unfähigkeit zur Mitmenschlichkeit, das Fehlen jeder Empathie und der Bruch jeder moralischen Norm wird ihm laut dem Bericht attestiert. Der SPIEGEL vergleicht außerdem "Duch" und Eichmann und fragt: „Was lässt einen Menschen so verrohen wie diesen Duch, der in seinem Tagebuch sieben Zeilen Bedauern über den ungewollten Tod einiger Hühner zu Papier bringt, aber das durch Folter forcierte Ende von 14 Gefangenen nur mit zwei Zeilen würdigt? Was hat einen Eichmann so unempfindlich gegenüber dem Leid seiner Mitmenschen gemacht? Gängige Erklärungsmuster greifen bei den beiden nicht. Sie wuchsen weder verwahrlost auf, noch hat sie die Gesellschaft in Jugendjahren mit Ungerechtigkeiten gebrandmarkt, die ihre Moralvorstellungen zusammenbrechen lassen mussten. Eichmann erhielt eine christliche Erziehung in einer Mittelklasseumgebung, Duch wurden von seinen einfachen, aber rechtschaffenen Eltern buddhistische Ideale wie Gewaltlosigkeit und Nächstenliebe eingeimpft.
Für mich sind diese Ausführungen des SPIEGEL absolut unverständlich. Glaubt jemand ernsthaft, dass ein Kind, das liebevoll erzogen und dem zusätzlich „buddhistische Ideale wie Gewaltlosigkeit und Nächstenliebe eingeimpft“ wurden, später zu einem Menschen a la „Dutch“ werden kann? Immer wieder tauchen solche Gedankengänge auf, bei uns zu letzt auch über den Amokläufer Tim K. Für mich ist das so, als ob jemand behauptet, wenn ich einen Stein fallen lasse, würde die Schwerkraft außer Kraft gesetzt und er würde über dem Boden schweben. Wer eine wirklich gute Kindheit hatte, wird kein Folterknecht, der Menschen wie Fliegen sadistisch umbringt. Eine traumatische Kindheit muss auch bei „Dutch“ das Fundament gewesen sein, auf dem seine „Karriere“ aufbaute.
Oftmals werden heutigen Folterern durch gezielte Traumatisierung in der Grundausbildung mögliche restliche Gefühle bzw. ihr Mitgefühl gänzlich abtrainiert. Dazu hat die Sonderabteilung „ai-Aktionsnetz für Heilberufe“ von Amnesty International zwei sehr informative Texte auf ihrer Homepage veröffentlicht, die ich schon im Grundlagentext z.T. zitiert habe: Traumatisierungsvorgänge bei der Foltererausbildung.
und Demütigung und Destruktivität: Folterer- und Spezialsoldatenausbildung in psychopolitischer Perspektive.
Auch hier wird klar, dass ein Folterer über eine stark gespaltene Persönlichkeitsstruktur verfügen muss, damit er überhaupt zu seinen Taten fähig wird. Auch "Duch" wurde unter der früheren Regierung auf Grund seiner Mitgliedschaft in einer Guerillagruppe verhaftet und gefoltert, wie der Focus berichtet. Diese eigenen Ohnmachts-/Traumatisierungserfahrungen während der Folter kumulieren sich dann zu einer explosiven Masse. (Wobei ich davon ausgehe, dass nicht jeder Folterer auch selbst in Haft oder Ausbildung gefoltert wurde. Das, was Kinder in ihren Familien erleben, kann leider oftmals ohne weiteres auch als Folter bezeichnet werden. Diese "Grundausbildung" kann dann schon ausreichen, um voller Hass auf andere Menschen zu sein.)

„Dutch“ sprach auch von einem "reinigende Blutbad", so der o.g. SPIEGEL Bericht. Die Psychologin Françoise Sironi sprach im AI Interview davon, dass „Duch“ die getöteten Menschen als quasi „rituelle Opfer“ ansah. Diese Sprache verrät etwas über die emotionalen Ursachen. Dass Kriege eine Art Reinigungsritual oder Opferritual darstellen, darauf verweist ja vor allem die psychohistorische Analyse immer wieder. DeMause schrieb z.B. „Krieg ist ein Opferritual, dazu bestimmt, Angst vor Individuation und Verlassenwerden abzuwehren, indem unsere frühen Traumata an Sündenböcken wiederaufgeführt werden.“
In einem Bericht aus dem Jahr 2007 der Kinderhilfsorganisation Plan Deutschland steht: „Leider ist Gewalt gegen Kinder in Kambodscha alltäglich, (…) In vielen Städten oder Gemeinden wird die Hälfte der Jungen und ein Drittel der Mädchen von ihren Eltern täglich verprügelt. (…) Männer fühlen sich verpflichtet, für Ordnung in der Familie zu sorgen, und glauben, sie haben das Recht, ihre Frauen und Kinder zu verprügeln. Erschreckend viele Frauen teilen diesen Standpunkt.“

Das ist ein erschreckend hohes Ausmass von alltäglicher Gewalt! Wir können gewiss davon ausgehen, dass die Kindererziehung in den 4oer und 50er Jahren in Kambodscha sogar noch um einiges schlimmer aussah. („Duch“ wurde im Jahr 1942 geboren)
Als Pol Pots Truppen 1975 die Macht übernahmen, begann die schlimmste Zeit in der Geschichte Kambodschas, in der zwischen 20 und 30 Prozent der Bevölkerung direkt oder indirekt durch die Roten Khmer umgebracht wurden - die Schätzungen schwanken zwischen einer und zwei Millionen Opfern. (vgl. planet-wissen.de, 01.06.2009, ) „Duch“ war dabei letztlich nur einer unter vielen brutalen Mördern. Wie sagte er noch: "Wir sahen überall Feinde, Feinde, Feinde!“ „Kriege sind klinische emotionale Störungen, kollektiv psychotische Episoden von wahnhaft erzeugter Schlächterei“ zitierte ich deMause bei der Definition von Kriegen. In Kambodscha führten die Menschen in den 70er Jahren ganz offensichtlich ihre frühen Traumata wieder auf. Die ganzen bekannten Ereignisse von damals kann man nur mit dem Wort Wahnsinn bezeichnen.

Freitag, 10. September 2010

George W. Bush: war "feels good"

19. März 2003, 22.15 Uhr, Washington:
Bush ballt Hand zur Siegesfaust, sagt "feels good!". Dann verkündet er der Nation, dass der Krieg begonnen hat. Amerika ist am Ziel. Die ersten Bomben fallen auf Bagdad.“ Das sind die Schlussworte aus dem Stern Artikel „Die Kriegslüge“ vom 11.03.2004, einer der besten Artikel, den ich bisher zu dem Thema gelesen habe. Der Krieg war das feste Ziel, der Weg dahin wird im Artikel haarklein aufgezeigt. Er bestand aus gezielten Lügen, Druckausübung auf Mitarbeiter, Wegesehen, Umdichten, Schaffung von „Realitäten“ usw. (was ja vielen schon bekannt sein dürfte) und vor allem aus einer Eskalationsstrategie in der Sprache über den Irak gegenüber dem eigenen amerikanischen Volk. Saddam Hussein musste als böses Monster aufgebaut werden, damit die AmerikanerInnen dem Krieg folgen würden. Dies gelang, wie wir alle wissen, in Perfektion.

Im Stern Artikel kam auch immer wieder auf dem Weg zum Krieg zur Sprache, dass einzelne interne Mitarbeiter aus Beraterkreisen, Geheimdiensten usw. es kaum glauben konnten, was die Führungsspitze da aufbaute und von sich gab. Vielen war klar, dass der Irak keine Gefahr für die USA darstellte. Viele schwiegen, obwohl sie den Wahnsinn kommen sahen. Als Deutsche wissen wir nur zu gut um diese Prozesse. (Ich erinnere an dieser Stelle auch an das Kapitel "Das einst misshandelte Volk identifiziert sich mit dem Aggressor" im Grundlagentext)

Je mehr ich mich mit dem Irakkrieg und George W. Bush beschäftige, desto mehr wird mir klar, dass dieser Weg zum Krieg in der Tat sehr viel etwas mit totalem Realitätsverlust und Wahnvorstellungen zu tun hatte. Die amerikanische Führung war kriegslüstern und das Volk folgte ihnen bereitwillig, ohne irgendetwas von dem, was da vor sich ging, kritisch zu hinterfragen.
Für Krieg und Wohlstandsreduzierung war George W. Bush auch gewählt worden. Kurz nach seinem Wahlsieg sagte er am 14. Juni 2001 zum schwedischen Premierminister Göran Perrson: „Irre, dass ich gewonnen habe. Ich trat an gegen Frieden, Wohlstand und gegen den Amtsinhaber.“ (Original: „It was amazing I won. I was running against peace and prosperity and incumbency.“) Bush hatte nicht bemerkt, dass eine Fernsehkamera noch lief. Deutlicher kann man nicht werden.

Für mich persönlich ist die Rückschau auf diesen Krieg immer noch auch ein Stück weit Aufarbeitung und Verarbeitung. Dass dieser Wahnsinn im 21. Jahrhundert möglich war, hat mich zutiefst schockiert. Dass ein ähnlicher Wahnsinn weiterhin in Afghanistan stattfindet, schockiert mich weiterhin.

Ich bin mir sicher, dass ein geschickter Analytiker, der sich mit den Ereignissen und Reden dieser Zeit beschäftigen würde, sehr klar den emotionalen Gehalt des Krieges und dessen Vorbereitung herausstellen könnte. Überall finden sich Hinweise darauf. Man könnte wahrscheinlich ein ganzes Buch dazu schreiben.

Auf zwei Dinge möchte ich in diesem Zusammenhang hier noch hinweisen. Bush besuchte am 11. September 2001 eine Grundschule in Florida - als er von dem zweiten Flugzeug erfuhr, das im World Trade Center eingeschlagen war. „Ein zweites Flugzeug hat den zweiten Turm getroffen. Amerika wird angegriffen.“, flüsterte ihm ein Mitarbeiter zu. Wie versteinert saß er ca. 7 Minuten da und tat gar nichts. Dies brachte ihm viel Spott ein. Viele fragten sich: Was dachte er in diesen Minuten?
Viele scheinen nichts über die traumatische Kindheit von George W. Bush zu wissen. Wenn man darum weiß, dann könnte man diese „7 Minuten Starre“ auch als eine Retraumatisierung deuten, während der Bush wieder in die alte Ohnmacht und Schockstarre aus seiner Kindheit zurückfiel. Ein extremer Angriff von Außen fand statt, gleichzeitig wiederholten Kinderstimmen eintönig die Vorgaben der Lehrerin in der Grundschulklasse. (auf youtube kann sich jeder das Video ansehen). Es hat etwas sehr symbolisches, dass Bush gerade zu diesem Zeitpunkt in Mitten von Kindern saß...

„feels good!" sagte George W. Bush, als er den Beginn des Krieges verkündete (siehe oben). Das alleine sagt im Grunde schon alles. Mit emotionaler Freude wurde in der Geschichte immer und immer wieder auf den Beginn von Krieg von Menschen reagiert. Kaum ein Forschender hat sich bisher wirklich gefragt, was das auf sich hat. Warum sich Menschen auf das Töten anderer Menschen freuen und auch auf den evtl. eigenen Tod. (siehe dazu z.B. auch den Beitrag „Krieg der Kindergangs“ ) Vielmehr folgt die Rationalisierung von Kriegen in der späteren Analyse (siehe meine vorherigen Beiträge zum vermeintlichen Ölkrieg, der aber gar keiner war). Da muss dringend ein Umdenken stattfinden. Es muss klar werden, dass einzelne Menschen wie z.B. Bush aber auch Nationen sich auf Grund traumatischer Kindheitserfahrungen „schlecht fühlen“, dass ein gesellschaftlicher und ökonomischer Fortschritt dieses „sich schlecht fühlen“ noch (bis ins unerträgliche) verstärkt und sie sich dann endlich „gut fühlen“, wenn sie etwas großes zerstören können, wenn ein deutlicher Feind gefunden wurde, wenn Menschen sterben und die Wirtschaftskraft zurückfällt.

Freitag, 3. September 2010

"Blut für Öl These" als Scheuklappe

Der Friedensforscher Daniele Ganser spricht aktuell im FOCUS-Online-Interview („Der Kampf ums Erdöl hat schon begonnen“) „über den Erdölrausch der Nachkriegszeit und Kriege um Rohstoffe“:

Meiner Meinung nach hat der Kampf ums Erdöl schon begonnen, obschon nicht öffentlich von „Peak Oil Kriegen“ gesprochen wird, das ist tabu. (…) nehmen Sie den Angriff auf den Irak durch die USA und Großbritannien im März 2003, das ist für mich ein klarer Erdölbeutezug. Der Irak besitzt die drittgrößten Erdölreserven der Welt. Die Produktion in den USA und Großbritannien bricht ein. Gegenüber der Öffentlichkeit hat man als Kriegsgrund von Massenvernichtungswaffen gesprochen, aber das waren alles Lügen, wie man heute weiß. (..) Als Historiker halte ich es für dringend notwendig, dass der Terror vom 11. September im Kontext von Ressourcenkriegen und Peak Oil analysiert wird.

Überall finden sich solche Thesen und Aussagen, in Medien, Büchern, auf Homepages der Friedensbewegung und in Kommentaren. Dabei kann sich jeder, der etwas Zeit investiert, vom genauen Gegenteil überzeugen. Die Informationen sind allen im Internet frei zugänglich. Aktuell habe ich dazu ja einen Beitrag geschrieben und die These vom Krieg ums Öl widerlegt.

Wir brauchen scheinbar einen Grund für Krieg. Es wäre für uns Menschen schwer zu ertragen, wenn ein so einschneidendes Ereignis wie Krieg keinen Grund, keine Ursachen hätte. Wenn der Krieg „einfach so“ stattfindet, weil er unweigerlich zu unserer Spezies gehört, wie das Atmen von Luft. Das wäre unerträglich, übrigens auch für mich. Die Forschenden suchen nach Gründen, im Irak vor allem am Beispiel vom Öl. Dabei ist es so offensichtlich, dass es hier eben nicht um Öl ging. Doch was wäre der nächste Schritt? Was wenn die Forschenden auch zu dieser Einsicht kämen? Dann müsste nach anderen Ursachen gesucht werden. Massenvernichtungswaffen? Eine Lüge von Anfang an! Der 11. September? Da hatte der Irak schier gar nichts mit zu tun! Die Luft würde dann immer dünner. Bliebe noch eine Analyse von sicherheitspolitischen Interessen der USA. Doch der Krieg scheint die zukünftige Sicherheit der USA eher gefährdet zu haben, da spätestens jetzt wirklich jeder muslimische Fanatiker die USA als Feindbild lieb gewonnen hat.

Eine der wenigen übrig bleibenden Gründe, wäre dann die psychohistorische Sicht. Doch diese Sicht an sich birgt unheimlich viele Ängste, da man unweigerlich auch auf sich selbst zurückfallen wird. Schließlich sind nicht-misshandelte, geliebte Kinder eher die Ausnahme in dieser Welt. Darum suchen die Menschen weiter fleißig nach rationalen Erklärungen für Krieg, dabei liegt die Antwort in den Emotionen der Menschen. Die Blindheit bzgl. der Ursachen von Krieg wird am Irakkrieg fast idealtypisch rein deutlich. Wenn selbst ausgewiesene Fachleute diese These einfach so aussprechen, ohne die Fakten nachzuprüfen, dann spricht das Bände. Die These vom Krieg ums Öl ist die unbewusst gewollte Scheuklappe für viele Menschen, damit wir nicht links und rechts mögliche andere Abgründe entdecken könnten, die uns weniger lieb wären.

Freitag, 27. August 2010

Irakkrieg:Das Märchen vom Krieg ums Öl - Teil 2

In der Überleitung vom Magazin "Monitor" (Sendung vom 19.08.10) zu den Tagesthemen hat Sonia Mikich ganz selbstverständlich darauf hingewiesen, dass der Irakkrieg bekanntlich um Öl geführt wurde. „Blood for oil? Wie die US-amerikanische Öl-Industrie den Irak erobert“ hieß auch eine "Monitor" Sendung vom 25.09.2008, was diese Sichtweise noch mal erklärt.

Dass die „Blut-für-Öl-These“ so selbstverständlich vor einem Millionenpublikum als quasi allgemein bekannte Realität benannt wird, hat mich nochmal motiviert, etwas weiter zu dem Thema zu recherchieren. Den folgenden Beitrag sehe ich als eine Ergänzung von dem Text „Irakkrieg: Das Märchen vom Krieg ums Öl“ vom 21.04.2010.
Nebenbei bemerkt war ich zu Beginn des zweiten Golfkrieges Anfang der 90er Jahre Schüler. Unsere LehrerInnen motivierten uns damals zu einer Demo gegen den Krieg vor unserem Rathaus. Fleißig bastelten wir Transparente „Kein Blut für Öl!“. Nun, bekanntlich marschierten damals die USA nicht im Irak ein und ließen Saddam an der Macht. Kein Tropfen irakisches Öl floss als „Kriegsgewinn“ in die USA (und der Anteil der Ölförderung in Kuwait an der weltweiten Förderung hatte kaum Gewicht). Schon damals war diese These gründlich falsch (siehe auch den Beitrag "Der Golfkrieg als emotionale Störung") und ich selbst arbeite gerne die Dinge auf, alleine schon, weil ich einst selbst an die o.g. These glaubte.


Zum Thema: Ab 1972 hatte Saddam Hussein die irakische Ölförderung verstaatlicht, westlichen Konzernen wurde somit der Einfluss entzogen. Insofern ist dies ein Punkt, wo man auf den Gedanken kommen könnte, dass der Sturz Saddams zum Ziel hatte, die Rückkehr der (vor allem amerikanischen) Ölmultis zu ermöglichen.
Aufschlussreich fand ich folgendes: „Entgegen einer verbreiteten Vermutung lässt sich empirisch kaum erhärten, dass die USA ihre politische Macht nutzen, um den internationalen Wettbewerb zugunsten amerikanischer Ölfirmen außer Kraft zu setzen. In der Regel werden große Projekte ohnehin von multinationalen Konsortien durchgeführt. (…) An allen sind amerikanische Firmen beteiligt, aber in keinem sind sie Konsortialführer oder im Besitz der Mehrheitsanteile. Vielmehr zeigt gerade diese Region, dass politische Interessen der USA und die Interessen der Ölunternehmen auseinanderklaffen können und Washington auf die Unternehmensinteressen wenig Rücksicht nimmt. Im Übrigen würde eine drastische Bevorzugung amerikanischer Unternehmen, die den üblichen Spielregeln zuwiderliefe, in dem Geflecht multinationaler Unternehmen große Unruhe auslösen. Und dies würde den USA vermutlich mehr Schaden als Nutzen eintragen.(…) Dass die USA die Intervention aus wirtschaftlichen Interessen suchen, ist ganz unwahrscheinlich. Es lässt sich kein Szenario vorstellen, bei dem amerikanische Firmen oder speziell die amerikanische Ölversorgung aus einem Regimewechsel im Irak übermäßig profitieren sollte.“ (Stiftung Wissenschaft und Politik, September 2002: Das Öl des Irak. (Von Friedemann Müller) ) Natürlich gilt, dass in einem einigermaßen rechtsstaatlich geführten Irak von ausländischen Unternehmen lukrative Geschäfte gemacht werden können. Dass die amerikanischen Konzerne dabei nur einige Akteure unter vielen anderen sind, wurde oben bereits angedeutet. Die Welt (20.01.2010, "Im Irak blasen die Konzerne zur letzten Bonanza") berichtet, welche Firmen u.a. im Irak aktiv sein wollen: Shell aus Holland, Petronas aus Malaysia, Japex aus Japan, Eni aus Italien, Sonangol aus Angola, Gazprom-Neft aus Russland, Lukoil aus Russland und Statoil aus Norwegen. Daneben sind vier Unternehmen aus China an Verträgen interessiert, darunter die China National Petroleum Corporation (CNPC) (vgl. ZEIT-Online, 22.3.2010, "Das Öl-Monopoly", von Frank Sieren), die – neben BP aus Großbritannien - bereit zu Abschlüssen kam. Zusätzlich fand ich die Namen von weiteren im Irak aktiven Firmen: OMV aus Österreich, Repsol YPF aus Spanien, TotalFinaElf aus Frankreich und SK Energy aus Südkorea. Sicherlich sind dort auch noch weitere Unternehmen aktiv oder warten auf ihre Chance.
Friedemann Müller – der seinen Text im Jahr 2002 schrieb – lag insofern richtig, die US-Unternehmen geben nicht den Ton an, wenn es um das irakische Öl geht, sie müssen sich das Geschäft aufteilen, sofern sie überhaupt zum Zug kommen. Die US-Politik scheint keinen Einfluss auf die Ölgeschäfte zu nehmen oder gar Verträge für US-Firmen zu diktieren.

Die „Blut-für-Öl-These“ lässt auch außen vor, dass einer Produktionssteigerung erhebliche Investitionen vorausgehen müssen. Interessantes zu dem Thema fand ich in einem Bericht vom 18.04.2009 von Gunnar Maul auf der Homepage der „WPI Wirtschaftsplattform Irak“. Internationalen Organisationen schätzen, dass 30 Milliarden US-Dollar in den Wiederaufbau der Öl-, Gas- und Elektrizitätsinfrastruktur fließen müssen, um das Niveau der Ölförderung vor der US-Invasion wieder zu erreichen. Angestrebt sind vom Ölministerium Förderquoten von sechs Millionen Barrel. 25 bis 75 Milliarden US-Dollar werden benötigt werden, um diese Kapazitäten überhaupt erreichen zu können. Ohne technische Hilfe von ausländischen Firmen, wird dieses Ziel nicht zu erreichen sein, heißt es weiter.

Die Weltbank schätzt – laut einem Focus-Bericht- , dass die Modernisierung der irakischen Ölindustrie 100 Milliarden Dollar kosten wird. Kriege, Vernachlässigung und UN-Embargos gegen Diktator Saddam Hussein versetzten die Ölfelder und Raffinierien in einen miserablen Zustand.

Das Ergebnis einer der „Presse“ vorliegenden Studie der amerikanischen Beratungsfirma IHS Cera zeigt: Die tägliche Fördermenge werde bis 2020 bestenfalls auf 6,5 Millionen Barrel ansteigen. Das sind weitere 10 Jahre! Wer weiß schon, was dann sein wird.

Wir sehen hier also, dass eine Produktionssteigerung sehr viel Geld kostet und auch nicht von heute auf Morgen umzusetzen ist. Auch der Regierung Bush musste dies im Jahr 2003 klar gewesen sein. Ein „Ölraubbeutefeldzug“ macht unter diesen Umständen wenig Sinn und birgt unkalkulierbare Risiken.
Mit den Planungen für den Irak-Krieg wurde genau sechs Tage nach den Anschlägen von New York und Washington begonnen. Glaubt jemand ernsthaft, dass damals ein Rohstoff-Krieg in Aussicht genommen wurde?“ schrieb DIE ZEIT 2003 im Artikel „Die Mär vom Ölkrieg“. „In Wahrheit würde der Irak-Krieg nicht wegen, sondern trotz des Öls geführt. Schon jetzt lastet auf dem Barrel-Preis eine beträchtliche „Angstprämie“. Ein Krieg, wäre er kurz, kostete konjunkturdämpfende 100 Milliarden Dollar. Zöge er sich hin, gäbe es im Irak nichts mehr zu verteilen, und eine globale Rezession wäre unausweichlich. Die ökonomischen Risiken des Krieges sind unabsehbar und auch die Meriten schwer kalkulierbar. Ginge es nur darum, den Ölpreis niedrig zu halten, wäre es risikoloser, das Ölembargo aufzuheben und Saddam zu rehabilitieren. Im auskömmlichen Umgang mit Diktatoren hat Amerika ja Erfahrung.“, so der Artikel weiter.

Auch eine drastische Produktionssteigerung – sofern diese gelingt - birgt Risiken. Denn wenn das Angebot die Nachfrage übersteigt, fällt der Rohölpreis. „Geht alles so, wie die Iraker es sich vorstellen, dann werden über 400 neue Ölförderstellen erschlossen und die Tagesproduktion steigt von heute 2,4 Millionen auf bis zu zwölf Millionen Fass. Spezialisten halten allerdings die Hälfte für realistisch. Schon eine solche Steigerung könnte den Ölpreis aber stark senken, sagt James Williams vom Energiefachdienst WTRG: „Wenn es dem Irak gelingt, seine Produktion innerhalb von zwei Jahren auf fünf Millionen Fass zu steigern, würde das Angebot die Nachfrage übersteigen und der Ölpreis von den jetzt knapp 80 auf unter 50 Dollar fallen.“ „ (http://www.welt.de/wirtschaft/article5922622/Im-Irak-blasen-die-Konzerne-zur-letzten-Bonanza.html) Zudem ist der Irak Mitglied der OPEC. Diese legt maximale Förderquoten fest, um eben den Preis stabil zu halten.

Da alte Ölfelder bereits stark ausgebeutet sind, hat die Ölindustrie (vor allem auch die amerikanische welche) ihre Bohrungen auf den Meeren erheblich ausgeweitet. Die aktuelle Ölpest im Golf von Mexico brachte dies uns allen nochmal stark ins Gedächtnis... Die Förderkosten liegen hier aber sehr viel höher, als bei einfacheren Landbohrungen. Um dabei rentabel arbeiten zu können, braucht es ein einigermaßen hohes Ölpreisniveau. Matthias Reich, Professor für Bohrtechnik an der Technischen Universität Bergakademie im sächsischen Freiberg, meint, dass ein Preis von über 50 US-Dollar pro Barrel nötig sei, damit die Weiterentwicklung aufwendiger Bohr- und Fördertechniken für tiefe Bohrungen Sinn mache. (vgl. Welt-Online, 11.06.2010, "Bessere Bohrtechniken hängen vom Ölpreis ab") Ein zu starkes Abfallen des Ölpreises liegt hier nicht im Interesse der US-Ölkonzerne.
Das Geschäft auf dem Meer ist auf Grund der hohen Investitionen vor allem in der Hand großer Konzerne wie es z.B. ExxonMobil und Chevron sind, berichtet DIE ZEIT ("Im Rausch der Tiefe"). Im klassischen Raffineriegeschäft (die Weiterverarbeitung von Rohöl etwa zu Benzin) seien nur noch geringe Margen zu verdienen, weshalb die Fördergeschäfte immer interessanter werden. „Der Mineral Management Service, eine Fachbehörde der US-Regierung, schätzte allein im Jahr 2006 die Offshore-Ölvorkommen in bislang unentdeckten Feldern vor der amerikanischen Küste auf 86 Milliarden Barrel. Das wäre mehr als an Land.“ (vgl. DIE ZEIT) Derzeit erfolgt 5 % der weltweiten Rohölförderung auf den Meeren. Bis 2012 soll sich diese Zahl auf 10 % verdoppeln. (vgl. Greenpeace-Magazin, 5.2010,„Die Party geht weiter“) Bedenkt man dabei, dass weltweit Staatskonzerne 80 Prozent der Ölvorkommen kontrollieren und alle privaten Unternehmen um nur ein Fünftel der Reserven konkurrieren (vgl. ebd.), dann wird zusätzlich deutlich welche enorme Bedeutung die Tiefsee für die Konzerne spielt. Nochmal: Ein durch den Irakkrieg (vermeintlich) angestrebter niedriger Ölpreis durch rasche Ausbeutung der irakischen Quellen konnte von Anfang an nicht im Sinne der US-Ölindustrie sein.

Die Iraker lassen sich bei der Vergabe von Förderrechten übrigens alles andere als übers Ohr hauen und agieren sehr autonom. „Als gewiefte Händler boten die Iraker den Ölkonzernen eine Gewinnbeteiligung von maximal zwei Dollar pro Fass Öl an – bei einem Weltmarktpreis von heute knapp 80 Dollar. Eine erste Versteigerung Ende Juni 2009 wurde zum Fiasko: Von acht Feldern wurde nur ein Ölfeld an British Petroleum (BP) und die China National Petroleum Company (CNPC) vergeben. Vier andere Ölfelder wurden ebenfalls zu irakischen Vorstellungen vergeben.“ (siehe "Welt" Artikel oben) Auch hier ist keine diktierende Einflussnahme durch die USA festzustellen.
In einem relativ aktuellen Artikel in der Welt-Online vom 15.06.2010 („US-Amerikaner profitieren nicht vom Irak-Öl“) wird berichtet, dass am 7. März der vorerst letzte der Ölverträge mit ausländischen Firmen unter Dach und Fach gebracht wurde. „Russlands Lukoil zusammen mit der norwegischen Statoil bekam den Zuschlag für die Erschließung eines der größten Ölfelder im Süden des Irak – West Qurna. Damit sind insgesamt 15 ausländische Firmen mit der Entwicklung künftiger Ölquellen betraut worden. Amerikanische Unternehmen sind dabei klar in der Minderheit.“ Die schon erschlossenen Quellen im Irak werden sämtlich von zwei Staatsfirmen bewirtschaftet, so der Artikel weiter. Von neuen Verträgen profitieren bisher vor allem Asiaten im Irak, die malaysische Gesellschaft Petronas führt mit drei Lizenzen die Liste der ausländischen Firmen im irakischen Ölgeschäft an. Lediglich zwei amerikanische Firmen sind bisher involviert: Exxon Mobil hat den Zuschlag für ein Projekt bekommen, Occidental ist innerhalb eines Konsortiums an der Entwicklung eines anderen Feldes beteiligt, schreibt die Welt-Online. „Dass die US-Konzerne nicht umfangreicher einsteigen, liegt an der Natur der Verträge. Der irakische Staat bietet Dienstleistungsverträge, keine Gewinnbeteiligungen. Für jedes gepumpte Fass gibt es einen Bonus zwischen 1,9 und sechs Dollar, je nach Förderkosten. US-Vertreter werteten dies als Affront und blieben den Auktionen meist fern.

Im Irak werden ca. 10-11 % der weltweiten Ölreserven vermutet. Das ist das Fundament der „Blut-für-Öl-These“. Die Rohölversorgung aus dem Irak ist also langfristig von Interesse. So weit kann allerdings niemand (auch die USA nicht) vorausplanen. Erst recht nicht, wenn im Irak Krieg und Terror herrschen. (Nebenbei bemerkt besteht das reale Risiko, dass langfristig das ÖL von den regenerativen Energien abgelöst wird und an Bedeutung verliert) Und: Die USA haben bisher keinen sichtbaren Vorteil durch die Invasion bzgl. dieser Reserven erreicht, wohl eher das Gegenteil dürfte der Fall sein. Bildlich gleicht die Situation folgender Lage: Da ist eine Gruppe (deren Führer früher in der Diamentenbranche gearbeitet haben), die die Besitzer einer Diamantmine unter einem Vorwand überfällt und viele von ihnen tötet, inkl. ihrem bösen Anführer und vieler Kinder. Die Diamanten liegen nicht einfach abholbereit da, sondern sind im Stollen verborgen. Dann setzt diese Gruppe Wahlen und eine junge Demokratie durch und zieht sich langsam wieder zurück. Die Diamanten werden nun über Jahre und Jahrzehnte von der neuen Führung gefördert und in alle Welt verkauft. Draußen vor der Mine stehen dabei die Demonstranten und rufen: „Kein Blut für Diamanten!“, „Ihr habt die Leute nur überfallen, weil ihr sie ausbeuten wolltet!“

Die damalige Außenministerin Condoleezza Rice war vor ihrer Politkarriere 10 Jahre Direktorin von Chevron, einer der größten Ölfirmen der Welt. Dick Cheney, Vizepräsident unter George W. Bush, war vor seiner Amtszeit Präsident eines anderen großen Unternehmens: Halliburton - eines der größten Ölexplorationsunternehmen. Handelsminister Donald Evans war Präsident der Energie- und Erdölgesellschaft Tom Brown. Auch die Familie Bush hatte geschäftlich mit Öl zu tun. Diese Verbindungen heizten die „Blut-für-Öl-These“ kräftig an. Ein aktueller Artikel im Greenpeace-Magazin 5.2010 („Die Party geht weiter“) stellte heraus: „Einen guten Ölkonzern gibt es nicht.“ Bei etlichen Unternehmen der Branche finden sich Verwicklungen in Menschenrechtsverletzungen, Handel mit Militärregierungen usw. und vor allem schwere Umweltverschmutzungen. Das Ölgeschäft scheint ein schmutziges Geschäft zu sein. Dass sich darin Menschen wie George W. Bush & Co. tummelten, passt einfach zu ihrem destruktiven Charakter. (Oder könnte sich jemand George W. Bush als Besitzer mehrerer Biobauernhöfe oder von Solaranlagen in seinem früheren Leben vorstellen?) Daraus gleich eine direkte Verbindung zum Krieg ziehen zu wollen, halte ich für fragwürdig. Mehr noch, ich möchte sogar behaupten, dass gerade die US-Führungsriege, die sich fachlich mit dem Ölhandel auskannte, um die Fakten, die ich in diesem Text zusammengetragen habe (und die sich sicher noch ausweiten ließen), hätte wissen müssen bzw. diese hätte voraussehen können. Rein von der Faktenlage her machte der Irakfeldzug ums Öl herum allerdings überhaupt keinen Sinn.
(Der steigende Öldurst der USA könnte außerdem voraussichtlich gleich von ihrem Nachbarn Kanada gedeckt werden, Kanada steht heute dank enormer Ölsand-Vorkommen auf Platz 2 der ölreichsten Länder der Erde und verfügt über 15 Prozent der Weltreserven. Ein hoher Ölpreis würde diese Art der Förderung weiter rentabel machen und die Transportkosten wären gering.)


Zum Schluss möchte ich noch darauf hinweisen, dass US-Ölunternehmen nicht die einzigen Unternehmen sind, die einflussreiche Lobbyarbeit leisten und Druck bzgl. ihrer Interessen auf die US-Politik ausüben können. Der Irakkrieg war – neben anderen Gründen - ein bedeutender Grund dafür, dass der Rohölpreis explodierte. Die energieintensive Industrie in den USA dürfte darüber wenig erfreut gewesen sein. Ebensowenig wie die autofahrenden WählerInnen und die Autoindustrie. Im Jahr 2002 lag der Benzinpreis in den USA etwas über 100 Cent/Gallone. Ab 2003 – dem Jahr, in dem der Krieg gegen den Irak begann – stieg der Preis stetig. Den Höhepunkt erreichte er ca. Mitte 2008 mit etwas über 400 Cent/Gallone. Danach sank der Preis wieder ab. (vgl. http://www.markt-daten.de/chartbook/oel-benzin.htm) Diese Steigerung hing eng mit der Rohölpreisentwicklung zusammen. Der Irakkonflikt war sicher nicht der einzige Grund für Preissprünge, aber er lastete schwer auf dem Rohölpreis. Niemand wusste damals auch, ob sich der Konflikt ggf. ausweiten und Nachbarländer einbezogen würden.
Darüberhinaus gibt es Hinweise dafür, dass die enormen Kosten des Krieges und die entsprechende Kreditaufnahme durch die USA die nachfolgende Weltwirtschaftskrise mit verursacht hat. (vgl. heise.de, „Der Billionen-Krieg im Irak als Ursache für die Wirtschaftskrise?„) Die US-amerikanische Zentralbank (FED) hatte versucht, die enormen Kriegskosten mit Hilfe billiger Kredite zu kompensieren, „die schließlich zur Subprime-Krise und einen Konsumboom geführt haben. Das habe die USA nun eine Rezession und die höchste Verschuldung beschert.“ (heise.de) Der Leitzins wurde von der FED ab 2001 (also nach dem „11. September“, ab dem die Kriegsplanung begann) stetig gesenkt, von ca. 6,5 % auf unter 2 % im Jahr 2002 und ca. 1 % zwischen 2003 und 2004. (vgl. http://www.leitzinsen.info/charts/funds.htm) „Sollte der Irak-Krieg tatsächlich ein Grund für Kredit- und Bankenkrise sein, die sich von den USA ausbreitet, dann würden die tatsächlichen weltweiten Kosten noch weitaus höher als einige Billionen Dollar sein.“ (heise.de)

Wo ist der Gewinn aus diesem angeblichen Ölkrieg? Ich kann ihn einfach nicht finden! (Auch sicherheitspolitisch kann ich keinen Vorteil feststellen, das "Feindbild USA" ist durch die Kriege aktueller denn jeh, das wäre nochmal ein Thema für sich.) Der Krieg scheint vor allem emotionale Ursachen zu haben. Diese Sicht wird leichter verständlich, wenn man den fehlenden "Nutzen" von Kriegen klar aufdecken kann wie oben geschehen. Dieses Ursachenverständnis würde im Übrigen aber auch dann noch Bestand haben, wenn Kriege wirklich ökonomische Vorteile hätten. Denn auch dann wäre es das Handeln von emotional leblosen, tief psychisch gespaltenen Menschen, die für das Erreichen ihrer Nutzen- und Machtmaximierung über Leichen gehen und die letztlich wie Maschinen handeln. Thesen und Antworten in diese Richtung findet man in diesem Blog. Mir scheint es, als ob wir die These "Blut für Öl" umformulieren müssen in "Krieg für Blut" oder "Krieg als Opferritual", das Leid von Menschen und die Reduzierung von Wirtschaftskraft und ökonomischem Wachstum sind die immer wieder beobachteten Folgen und wohl auch Ziele von Krieg. Wenn diese Folgen von Krieg als eigentliche Ziele erkannt und analysiert würden, würden wir auch ein ganz anderes Bild und Verständnis vom Krieg bekommen und die Chance, etwas an den tieferen Ursachen zu rütteln.

Donnerstag, 12. August 2010

Bill Clinton. "Dämonen" im Kopf und sanktionierter Massenmord

Meinen Beitrag "Bill Clinton. Kindheit und Kriegsführungspersönlichkeit" möchte ich noch mit ein paar Zeilen ergänzen:

Bill Clinton wurde 1999 der deutsche Medienpreis verliehen. „In der Begründung der Jury wird Clinton als Präsident beschrieben, der die globale Macht seines Landes und den Einfluss seines Amtes genutzt habe, um Unterdrückung und Missachtung von Menschenrechten als Unrecht aufzuzeigen. Als 42. Präsident der USA habe er, mehr als seine Vorgänger, die Welt als globale Gemeinschaft gesehen mit einer kollektiven Verantwortung kriegerische Konflikte zu beenden.http://www.deutscher-medienpreis.de/index.php?id=1999|content|index (Die prominente Jury bestand aus 20 Chefredakteuren deutscher Zeitungen, Zeitschriften und TV-Sendern)

Im Angesicht der unzähligen militärischen Operationen (siehe meinen o.g. Beitrag) während seiner Amtszeit ist diese Verleihung höchst fragwürdig. Bill Clinton führte auch das gegen den Irak verhängte Embargo nach seinem Amtsantritt strickt weiter. Das Embargo begann kurz nach Ende des Krieges im Jahr 1991. Anfang 2003 wurde Bill Clinton US-Präsident. Er ist somit hauptsächlich für den durch die Sanktionen bedingten Tod von unzähligen Menschen im Irak (darunter sehr viele Kinder) verantwortlich.

In einem Jahresbericht 2001 stellte UNCEF fest, dass zwischen 1990 und 2000 die Kindersterblichkeit im Irak um 160% anstieg, die höchste Steigerungsrate unter allen Ländern der Welt. Im Jahre 1998 war fast jedes vierte Baby, wegen Unterernährung der Mutter, auch untergewichtig. 2001 waren 22.1% der Kinder, jedes fünfte Kind, körperlich zurückgeblieben, was auf chronische Mangelernährung oder akute Unterernährung zurückzuführen ist. (AlSammawi, Faris 2006: (Dissertation) "Die UN-Sanktionen gegen Irak und deren Auswirkungen auf die Bevölkerung von 1990 bis 2003". Köln.)
Seit 1991 (per. Anmerkung: bis 2003) sind nach Schätzungen internationaler humanitärer Organisationen rund 1,5 Millionen Iraker, darunter über 550 000 Kinder unter fünf Jahren, den Folgen dieser Wirtschaftssanktionen zum Opfer gefallen - durch Mangelernährung und unzureichende medizinische Versorgung. Das entspricht rund sieben Prozent der irakischen Bevölkerung.“ (http://www.km.bayern.de/blz/web/irak/golfkriege.html) Ander Schätzungen gehen von bis zu 1,5 Million toter Kinder aus. (vgl. Büttner, C. 2004: Kinder aus Kriegs- und Krisengebieten: Lebensumstände und Bewältigungsstrategien. Campus Verlag, Frankfurt/Main, S. 234) Siehe ergänzend auch: Untersuchungsberichte von UN- und anderen Hilfsorganisationen über die Auswirkungen des Embargos
Als Madeleine Albright (erste Frau im Amt der Außenministerin in den USA 1997-2001 unter Bill Clinton) am 20.05.1996 gefragt wurde, ob der Tod der vielen irakischen Kinder durch die Sanktionen, die eigentlich Saddam Hussein schwächen sollten, nötig wäre, antwortete sie: „Ich denke, es ist eine sehr schwere Wahl, aber der Preis, wir denken, es ist den Preis wert.“ (zit. nach deMause, 2005, S. 38) (Original: "This is a very hard choice, but we think the price is worth it.”) Zu diesem Zeitpunkt war sie noch US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen. Die Regierung Clinton befand sich derzeit im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahl am 05.11.2006 und ihr möglicher Posten als Außenministerin wird sicherlich schon fest eingeplant gewesen sein. Sie gehörte also zum engsten Führunsstab der Regierung Clinton. Mit "wir" wird Albright vor allem auch Clinton gemeint haben. (nebenbei entlastet das "wir" von der Verantwortung...)
Ich habe bisher keine Äußerungen von Bill Clinton finden können, in denen er sein Bedauern zum Ausdruck brachte und die Iraker um Entschuldigung bat. Dieses Embargo, schrieben die US-Wissenschaftler Noam Chomsky und Edward Said, sei „keine Außenpolitik“, sondern „sanktionierter Massenmord“. (vgl. Büttner, 2004, S. 234) Und in der Tat war Bill Clinton für den massenhaften Tod von Menschen verantwortlich.

Vor den US-Präsidentschaftswahlen im Jahre 2000 führte Amy Goodman ein interessantes spontanes Interview mit Bill Clinton. Clinton wies darin alle Verantwortung bzgl. des Embargos von sich:
AMY GOODMAN: President Clinton, UN figures show that up to 5,000 children a month die in Iraq because of the sanctions against Iraq.
PRESIDENT CLINTON: (Overlap) That’s not true. That’s not true. And that’s not what they show. (…)
Anschließend gibt er Saddam Hussein die Schuld am Leid der irakischen Bevölkerung und sagt, dass Hussein mehr Geld zur Verfügung gestanden hätte, als vor dem Krieg und den Sanktionen. „He has more money today than he did before the embargo, and if they’re hungry or they are not getting medicine, it is his own fault.“
Ein Artikel in ”der Freitag” macht deutlich, dass Clinton hier nicht die Wahrheit sagte.
Hans Graf von Sponeck, der ab 1998 das Programm Oil for Food leitete und im Februar 2000 aus Protest von seinem Amt zurücktrat, hat mit detaillierten Aussagen aufgedeckt, dass die USA und Großbritannien die Weltöffentlichkeit bzgl. der Sanktionspraxis manipulierten. In der Weltöffentlichkeit wurde die Darstellung lanciert, „der irakische Diktator behindere das Oil for Food-Programm und beschaffe sich mit den entsprechenden Einnahmen neue Waffen und Paläste. Wie Hans von Sponeck belegt, wurde diese Version 1999 in einer Studie des US-Außenministeriums vertreten und dank einflussreicher US-Medien weltweit kolportiert. Gegenteilige Erklärungen, etwa von Caritas, Care und anderen NGO, wonach nicht Saddam, sondern allein die Praxis der Sanktionen die entscheidende Ursache für das Leiden der Iraker seien, wurden ebenso ignoriert wie die Reports des Beauftragten von Sponeck an den UN-Generalsekretär.“ Und „Jahrelang haben westliche Regierungen und Medien, ebenso die Öffentlichkeit (auch wir selbst), an das Märchen geglaubt, es sei Saddam Hussein, der die Gelder aus dem Programm Oil for Food für die Rüstung abzweige und dafür vorsätzlich den Tod Hunderttausender Iraker in Kauf nehme. Tatsächlich jedoch war sein Regime dank der strengen UN-Kontrollen zu einer solchen Zweckentfremdung der Gelder nie in der Lage.
Madeleine Albright hat dagegen deutlich gemacht, dass der Tod der zivilen Bevölkerung bewusst durch die US-Regierung in Kauf genommen wurde. Bei dieser Gelegenheit krampte ich das Buch „Stupid White Men“ von Michael Moore (2002) aus dem Keller. Dessen Sprache liegt mir nicht mehr, aber folgende Passage bzgl. Clintons destruktiver Umweltpolitik möchte ich hier zitieren: Bill Clinton „hat festgestellt, dass etwas sagen praktisch das Gleiche ist wie etwas tun. Wenn man sagt, man sei für eine saubere Umwelt, dann reicht das völlig aus – man brauchte nichts weiter zu tun für eine saubere Umwelt. Man könnte sie sogar ungestraft noch stärker verschmutzen, und die meisten Menschen würden das gar nicht merken.“ (S. 266)
Und so ähnlich verhielt es sich wohl auch mit dem Irak (und auch Jugoslawien). Clinton sagte: „Ich tue das für das Volk der Iraker, für die Menschen auf dem Balkan. Wir sind die Guten. Wir sind für Frieden und Freiheit. Deshalb bombardieren wir Euch und deshalb bekommt ihr nichts zu essen.“ Bill Clinton, so scheint es, hat eine Scheinpersönlichkeit aufgebaut (siehe auch Anmerkungen zu seiner Kindheit im vorherigen Beitrag). Und die Menschen wollten es ihm glauben. Das ist das absurde Zusammenspiel vom emotional Delegierten und dem Volk. Letztlich hat er auch seit Kindheit an lernen müssen, die Augen vor Realitäten, vor eigenem Schmerz und Qualen zu verschließen. Für das Leid Anderer scheint er ebenfalls blind zu sein.


Die Auszeichnungen (davon einige in Deutschland), die Clinton erhielt, sind ein Skandal. Ebenso unverstänlich ist, dass er weiterhin salonfähig ist, diverse Ämter inne hatte und weiterhin als Redner international gefragt und hoch bezahlt ist.

Montag, 9. August 2010

Bill Clinton: Kindheit und Kriegsführungspersönlichkeit

Kürzlich bin ich auf eine Chronologie aller US-Militäreinsätze und Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg bis Ende 1999 gestoßen. Ich erinnerte mich dabei an einen Satz von Lloyd deMause: Bill Clinton "hat es in seiner Amtszeit übrigens fertiggebracht, mehr Nationen zu bombardieren als jeder andere Präsident in der US-Geschichte vor ihm." ("Entschärft die menschlichen Zeitbomben", Interview mit Lloyd deMause)
Hier nun die Einsätze und Kriege während Clintons Amtszeit (wobei ihm auch ein paar wenige „vererbt“ wurden, er war vom 20. Januar 1993 bis Anfang 2001 im Amt, militärische Konflikte/Einsätze, die mit einem Datum vor dem 20. Januar 1993 aufgeführt werden, wurden von Clinton weitergeführt):

Operation "Distant Runner": Ruanda, 9. April 1994 bis 15. April 1994
Operationen "Quiet Resolve"/"Support Hope": Ruanda, 22. Juli 1994 bis 30. September 1994
Operation "Uphold/Restore Democracy": Haiti, 19. September 1994 bis 31. März 1995
Operation "United Shield": Somalia, 22. Januar 1995 bis 25. März 1995
Operation "Assured Response": Liberia, April 1996 bis August 1996
Operation "Quick Response": Zentralafrikanische Republik, Mai 1996 bis August 1996
Operation "Guardian Assistance": Zaire/Ruanda/Uganda, 15. November 1996 bis 27. Dezember 1996
Operation "Pacific Haven/Quick Transit": Irak - Guam, 15. September 1996 bis 16. Dezember 1996
Operation "Guardian Retrieval": Kongo, März 1997 bis Juni 1997
Operation "Noble Obelisk": Sierra Leone, Mai 1997 bis Juni 1997
Operation "Bevel Edge": Kambodscha, Juli 1997
Operation "Noble Response": Kenia, 21. Januar 1998 bis 25. März 1998
Operation "Shepherd Venture": Guinea-Bissau, 10. Juni 1998 bis 17. Juni 1998
Operation "Infinite Reach": Sudan/Afghanistan, 20. bis 30. August 1998
Operation "Golden Pheasant": Honduras, ab März 1988
Operation "Safe Border": Peru/Ekuador, ab 1995
Operation "Laser Strike": Südafrika, ab 1. April 1996
Operation "Steady State": Südamerika, 1994 bis April 1996
Operation "Support Justice": Südamerika, 1991 bis 1994
Operation "Wipeout": Hawaii, ab 1990
Operation "Coronet Oak": Zentral- und Südamerika, Oktober 1977 bis 17. Februar 1999
Operation "Coronet Nighthawk": Zentral- und Südamerika, ab 1991
Operation "Desert Falcon": Saudi Arabien, ab 31. März 1991
Operation "Northern Watch": Kurdistan, ab 31. Dezember 1996
Operation "Provide Comfort": Kurdistan, 5. April 1991 bis Dezember 1994
Operation "Provide Comfort II": Kurdistan, 24. Juli 1991 bis 31. Dezember 1996
Operation "Vigilant Sentine I": Kuwait, ab August 1995
Operation "Vigilant Warrior": Kuwait, Oktober 1994 bis November 1994
Operation "Desert Focus": Saudi Arabien, ab Juli 1996
Operation "Phoenix Scorpion I": Irak, ab November 1997
Operation "Phoenix Scorpion II": Irak, ab Februar 1998
Operation "Phoenix Scorpion III": Irak, ab November 1998
Operation "Phoenix Scorpion IV": Irak, ab Dezember 1998
Operation "Desert Strike": Irak, 3. September 1996; Cruise Missile-Angriffe: Irak, 26. Juni 1993, 17. Januar 1993, Bombardements: Irak, 13. Januar 1993
Operation "Desert Fox": Irak, 16. Dezember 1998 bis 20. Dezember 1998
Operation "Provide Promise": Bosnien, 3. Juli 1992 bis 31. März 1996
Operation "Decisive Enhancement": Adria, 1. Dezember 1995 bis 19. Juni 1996
Operation "Sharp Guard": Adria, 15. Juni 1993 bis Dezember 1995
Operation "Maritime Guard": Adria, 22. November 1992 bis 15. Juni 1993
Operation "Maritime Monitor": Adria, 16. Juli 1992 bis 22. November 1992
Operation "Sky Monitor": Bosnien-Herzegowina, ab 16. Oktober 1992
Operation "Deliberate Forke": Bosnien-Herzegowina, ab 20. Juni 1998
Operation "Decisive Edeavor/Decisive Edge": Bosnien-Herzegowina, Januar 1996 bis Dezember 1996
Operation "Deny Flight": Bosnien, 12. April 1993 bis 20. Dezember 1995
Operation "Able Sentry": Serbien-Mazedonien, ab 5. Juli 1994
Operation "Nomad Edeavor": Taszar, Ungarn, ab März 1996
Operation "Nomad Vigil": Albanien, 1. Juli 1995 bis 5. November 1996
Operation "Quick Lift": Kroatien, Juli 1995
Operation "Deliberate Force": Republika Srpska, 29. August 1995 bis 21. September 1995
Operation "Joint Forge": ab 20. Juni 1998
Operation "Joint Guard": Bosnien-Herzegowina, 20. Juni 1998
Operation "Joint Edeavor": Bosnien-Herzegowina, Dezember 1995 bis Dezember 1996
Operation "Determined Effort": Bosnien, Juli 1995 bis Dezember 1995
Operation "Determined Falcon": Kosovo/Albanien, 15. Juni 1998 bis 16. Juni 1998
Operation "Eagle Eye": Kosovo, 16. Oktober 1998 bis 24. März 1999
Operation "Sustain Hope/Allied Harbour": Kosovo, ab 5. April 1999
Operation "Shining Hope": Kosovo, ab 5. April 1999
Operation "Cobalt Flash": Kosovo, ab 23. März 1999
Operation "Determined Force": Kosovo, 8. Oktober 1998 bis 23. März 1999

Der größte Kampfeinsatz war dabei bekanntlich der auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens, der vor allem Folgen für die Zivilbevölkerung hatte: "In den 79 Tagen und Nächten vom 24. März bis 10. Juni 1999 flogen die NATO-Luftstreitkräfte mit zunächst 420 und schließlich 1.200 Flugzeugen insgesamt 37.465 Einsätze, bei denen sie 20.000 Raketen und Bomben auf das gesamte Territorium der Bundesrepublik Jugoslawien abfeuerten. Allein schon diese Tatsache macht deutlich, wie falsch und irreführend der Propaganda-Begriff vom ‚Kosovo-Krieg‘ ist. Bei diesem ersten Krieg gegen eine entwickelte Industrielandschaft in Europa wurden mindestens 200 Fabriken und Kraftwerke, 300 Schulen, 50 Krankenhäuser und 50 Brücken zerstört, womit die Wirtschaft Jugoslawiens etwa auf den Stand von 1900 zurückgeworfen wurde. Durch das systematische Bombardement von Betrieben der chemischen und pharmazeutischen Industrie, von Öl-Raffinerien und -Depots wurde in Jugoslawien und seinen Nachbarstaaten die größte Umwelt-Schädigung seit dem Krieg der USA gegen Vietnam verursacht." ("Kollateralschäden" oder Kriegsverbrechen? Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien und das Kriegsvölkerrecht von Ernst Woit) Darüberhinaus gibt es viele Hinweise darauf, dass große Flüchtlingsströme überhaupt erst durch die NATO-Bombardements ausgelöst wurden. (Hier sei nochmal wiederholt, dass die NATO 37.465 Kampfeinsätze flog!)

Über Bill Clintons Kindheit und seine Kriegsführungspersönlichkeit hatte ich kurz etwas hier geschrieben. Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch mal deMause in seiner Schilderung über Bill Clintons Kindheit ausführlich zitieren:

Folgt man seinem Biographen, war Clintons Familienrolle ebenfalls die eines sich aufopfernden Helden, der der "Umsorger und Beschützer der Familie" und seiner Mutter Virginia war.4 Sein alkoholischer Stiefvater war so gewalttätig seiner Mutter gegenüber, daß Clinton sich daran erinnert, wie dieser mit einem Gewehr auf seine Mutter geschossen hat, als er selber fünf Jahre alt war, und der kleine Billy "mußte zweimal echte Gewalttätigkeiten stoppen, als Roger drohte, Virginia umzubringen".5 Clintons Rolle des Familienhelden" war es natürlich, die ihn zu so einem meisterhaften Politiker machte, der fähig ist, die unbewußten emotionalen Bedürfnisse anderer zu spüren und seine eigenen Werte für die Verherrlichung, die er dadurch gewann, zu opfern. Es gab wenig Liebe in seiner Familie. Sein Stiefvater mißhandelte ihn physisch während seiner Trunkenheits-Wutanfälle, und seine Großmutter, die sich in den ersten Jahren, als die Mutter abwesend war, hauptsächlich um ihn kümmerte, hatte ein "grimmiges Wesen" und verwendete zweifellos "eine Peitsche" gegen ihn, wie sie es auch bei seiner Mutter getan hatte, als diese klein war.6
Zusätzlich zu diesem körperlichen Mißbrauch war Bill Clinton auch ein ungewünschtes Kind, dessen Mutter ihn als Kleinkind zwei Jahre lang bei ihrer Mutter ließ, während sie in eine andere Stadt zog, um eine Krankenschwestern-Ausbildung zu absolvieren, und die ihn später, während er aufwuchs, regelmaßig allein ließ und sich dem Glücksspiel widmete. "Ich wurde erzogen in der Art von Kultur, wo du ein glückliches Gesicht machst und deine Schmerzen und Qualen nicht zu erkennen gibst", sagte er.7 Der Psychotherapeut Jerome Levin verbindet Clintons suchthaften Sex mit Hunderten von Frauen unmittelbar mit seiner einsamen Kindheit.

http://www.mattes.de/buecher/psychohistorie/978-3-930978-44-1_demause.pdf

Bill Clinton wörtlich über seinen Stiefvater: "Er war ein guter Kerl, aber er hatte dieses Alkoholproblem. Er konnte seine Dämonen nicht kontrollieren - daraus entstanden Hass und Zerstörung. Ich habe sein Handeln gehasst, ihn habe ich nicht gehasst. Die Gewalt nahm kein Ende. Irgendwann haben meine Mutter und ich erkannt, das wir uns entscheiden mussten. Wir entschieden, dies alles zu ertragen, und unser Leben so normal wie möglich fortzusetzen." (Zitiert nach einer Rezension von Clintons Biografie "Mein Leben" im Deutschlandradio)
Bill Clinton spricht - so die Rezension weiter - nach eigener Aussage über "Dämonen", die er mit ins Weiße Haus trug und auch von einem Doppelleben. Auch der stern schreibt in seiner Buchbesprechung etwas von Dämonen: "Nach einem Jahr intensiver Eheberatung und seinem Freispruch im Amtsenthebungsverfahren habe er sich dann am Ende "befreit" (von seinen "Dämonen") gefühlt." Dies sind klassische Hinweise auf abgespaltene emotionale Anteile, wie sie fast immer bei Menschen vorkommen, die solch extreme Gewalt in der Kindheit erfahren haben. Das an sich ist etwas, was nun einmal Realität im Leben von Clinton war. Wenn diese Realität nicht aufgearbeitet wird - und Clinton selbst sagt ja einiges zum Thema "Wegsehen" und Verdrängen -, dann besteht die Gefahr, dass einen die "Dämonen" von einst wieder einholen, erst recht gilt dies, wenn man der mächtigste Mann der Welt wird inkl. einer großen Militärmaschinerie hinter sich...

Wenn man sich diese o.g. Informationen vor Augen führt, hätte ich den "Demokraten" Bill Clinton auch gut im Grundlagentext unter Kapitel 3. aufführen können…

siehe ergänzend: "Bill Clinton. "Dämonen" im Kopf und sanktionierter Massenmord"

Freitag, 6. August 2010

Afghanistan: Gewalt gegen Kinder und der (un)mögliche Frieden

„Afghanistan braucht vor allem mehr Kinderschutz und nicht mehr deutsche Soldaten!“, schrieb ich im September 2009 in dem Beitrag „Lösungen für Afghanistan
Damals wie heute ist es schwierig, genaue Zahlen zur Gewalt gegen Kinder in diesem Land zu finden. Klassisch sind z.B. Berichte wie dieser von Amnesty International aus dem Jahr 2003. Im Kapitel 5.1 „Gewalt gegen Frauen und Mädchen innerhalb der Familie“ wird auf Grund allgemeiner Berichte und Erfahrungen von der Alltäglichkeit der häuslichen Gewalt und auch öffentlichen Gewalt berichtet, konkrete Studien fehlen aber. Ein anderes Beispiel: Die Caritas ließ 3600 Frauen in Kabul zu ihrer Lebenssituation befragen. (Studie "Women in Kabul"). Erfahrungen von Gewalt in der Kindheit und zu häuslicher Gewalt durch Ehemänner wurden bei dieser Gelegenheit nicht abgefragt.

Um so erstaunter war ich, als ich kürzlich die Diplomarbeit (Fachbereich Psychologie der Universität Konstanz) von JeanPaul Leo François Bette (2006) mit dem Titel „PTBS, häusliche Gewalt und Kinderarbeit – eine epidemiologische Untersuchung von Schulkindern in Kabul, Afghanistan“ fand.

In den Einleitungen zum Thema schreibt Bette: „700.000 Witwen und 200.000 durch Bomben und Minen verkrüppelte Väter haben keine andere Überlebensmöglichkeit als ihre Kinder. Viele arbeiten in Fabriken, in Läden oder in der Teppichindustrie. In Kabul arbeiten schätzungsweise 60.000 Kinder unter meist sehr schwierigen und unsicheren Bedingungen. Viele von ihnen werden nicht nur zur Arbeit gezwungen, sondern auch sexuell ausgebeutet.

287 afghanische Schulkinder aus dem Dashti Barchi Distrikt in Kabul im Alter von 7 bis 14 Jahren wurden in Interviews befragt. Die Ergebnisse sind wie erwartet erschütternd:

31% der Kinder gaben an, dass ihre Mutter von ihrem Vater geschlagen würde und 4,3% der Kinder gaben an, dass auch die Mutter ihren Vater schlagen würde. 41,6% der Kinder berichteten, von ihrem Vater geschlagen zu werden und 59,9% berichteten, von ihrer Mutter geschlagen zu werden. 37,8% der Kinder wurden von ihren älteren Geschwistern geschlagen.
Fast ein Drittel aller Kinder berichtete von mehr als fünf Typen häuslicher Gewalterfahrungen. Die Typen häuslicher Gewalterfahrung, die am häufigsten berichtet wurden waren Schläge auf den Körper, die Arme oder die Beine und angeschrien, oder beleidigt zu werden.
11,4% der Kinde, gaben an, aufgrund familiärer Gewalt verletzt worden zu sein. 8,6% so schlimm, dass sie daraufhin medizinisch versorgt werden mussten. Häufig berichtet wurden dabei „blaue Augen“, Verletzungen an Kopf und Gesicht, Platzwunden und gebrochene Gliedmaßen.
58,8% der Jungen und 40,2% der Mädchen berichteten zudem über mindestens ein kriegerisches Ereignis in ihrem Leben. 20% der Jungen und 13% der Mädchen berichteten über mehr als drei kriegerische Ereignisse in ihrem Leben.
Insgesamt erfahren Jungen nicht nur signifikant mehr verschiedene Typen häuslicher Gewalt als Mädchen, sondern geben auch signifikant mehr verschiedene Typen kriegsbedingter Gewalterfahrungen an.“, schreibt Bette in der Nachbesprechung der Arbeit.

Bette stellt in dieser Arbeit richtigerweise einen Zusammenhang zwischen erlebter kriegerischer Gewalt und häuslicher Gewalt fest. Leider wird über den umgekehrten Zusammenhang nicht diskutiert, nämlich dass häusliche Gewalt bzw. Gewalterfahrungen in der Kindheit wiederum zu kriegerischer Gewalt führen können. Aber das nur nebenbei.

Diese Arbeit zeigt neben den anderen Infos zwei interessante Aspekte, die in der westlichen Öffentlichkeit kaum besprochen wurden. Erstens die hohe Gewaltrate von weiblicher bzw. mütterlicher Gewalt gegen Kinder von 59,9 %. Hier ist zu vermuten, dass die Frauen, die in der afghanischen Gesellschaft als „Giftcontainer“ für männliche Niederlagen, Ohnmachtserfahrungen und Verletzungen herhalten müssen, wiederum ihre Kinder als „Giftcontainer“ benutzen. Niemand sonst steht unter ihnen und über niemanden sonst verfügen sie über Macht. Der Kreis der Gewalt ist somit geschlossen. In der islamischen Welt ist die Erziehung der Kinder hauptsächlich Frauensache. Wenn fast 60 % der afghanischen Kinder von ihren Müttern geschlagen werden, dann sagt das auch etwas über die sonstigen Umgangsformen mit Säuglingen, Kleinkindern und Kindern aus. Und wenn dann noch 41,6% von ihren Väter - soweit sie anwesend sind - Schläge bekommen, dann lässt sich erahnen, warum die afghanische Gesellschaft auch im Politischen so im Chaos und in Gewalt versinkt.
Zweitens sind auch Jungen vielfachen Gewalterfahrungen ausgesetzt. Trotzdem gilt im Westen hauptsächlich das Argument „Mädchenschulen“, „häusliche Gewalt gegen Mädchen“, „Mädchenunterdrückung“ usw. Diese Jungen werden irgendwann erwachsene Männer sein. Neben den Mädchen muss auch den Jungen gezielt geholfen werden, aus humanitären Gründen, aber auch, damit sie die Gewalt später nicht weitergeben und für eine demokratische Gesellschaft arbeiten. Werden ihre Ohnmachtserfahrungen ausgeblendet, wird ihnen nicht geholfen wird es auch langfristig keinen Frieden in Afghanistan geben.

Afghanistan. Krieg und häusliche Gewalt

Der SPIEGEL berichtet aktuell über eine junge Frau - Bibi Aisha. „Sie wurde geschlagen und geknechtet, sie floh vor der gewalttätigen Familie ihres Ehemanns. Doch der verfolgte sie und schnitt ihr Nase und Ohren ab. (…) Das "Time"-Magazin hat ein Porträt von ihr auf dem Titel gedruckt, daneben steht: "Was passiert, wenn wir Afghanistan verlassen". Kein Fragezeichen hinter dem Satz, eine Feststellung.

Was passiert eigentlich, wenn die alleierten SoldatInnen aus dem Kriegsgebiet zurück in ihre Heimat kommen frage ich mich?

Laut einem Bericht haben in der US-amerikanischen Siedlung Killeen, in der die meisten Soldaten des anliegenden Militärstützpunktes mit ihren Familien leben (ca. 100.000 Einwohner), die Meldungen uber häusliche Gewalt seit Beginn des Afghanistankrieges um 75 % zugenommen. Verschiedene Kennziffern uber den Anstieg von Gewaltkriminalitat sind um 22 % gestiegen, in vergleichbaren Gemeinden landesweit jedoch um 7 % gesunken. Die schulischen Leistungen der Kinder haben deutlich ab- und auffälliges Verhalten deutlich zugenommen. (Dr. med. Thomas Lukowski, http://www.dr-lukowski.com/pdf/DNP2_2010_22-25.pdf)

Es ist absehbar, was auf unsere Gesellschaft zukommen wird, schreibt Dr. med. Thomas Lukowski (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie). Eine Untersuchung an insgesamt 289.328 US-amerikanischen Armeeangehorigen, die von 2002 bis 2008 im Irak oder in Afghanistan eingesetzt waren, ergab erschreckende Zahlen:
- 21,8 % (also 90 000 Menschen!) litten an einer PTBS.
- 17,4 % litten an einer Depression.
- 36,9 % litten an einer anderen psychischen Erkrankung.
- Soldaten nach Kampfeinsatz und im Alter von ca. 25 Jahren
wiesen die hochsten Raten an PTBS, Drogen- oder Alkoholmissbrauch auf.

Nahezu jeder zehnte Häftling im britischen Justizsystem ist ein ehemaliger Soldat Ihrer Majestät, schreibt der SPIEGEL. "Wenn wir Menschen auffordern, schreckliche Dinge zu tun und regelmäßig in Feuergefechten und im Nahkampf zu stehen, dann kommen wir zu dem Punkt, dass sie gegenüber Gewalt abstumpfen", sagte der Psychologe Tim Robbins dem SPIEGEL. Von 90 britischen Soldaten, die in Nordirland, Bosnien, Irak und Afghanistan gedient haben, wurden 57 später für Gewaltanwendung verurteilt, die meisten für häusliche Gewalt. In weiteren zehn Fällen ging es um Missbrauch von Kindern. Die Hälfte litt unter Depressionen und posttraumatischem Stresssyndrom. Ein gutes Drittel hatte ein Alkoholproblem. Die Ergebnisse bestätigten eine ähnliche Napo-Umfrage unter Bewährungshelfern vom vergangenen Jahr, schreibt der SPIEGEL.

Was passiert, wenn die alleierten Truppen weiterhin Krieg in Afghanistan führen? Die Caritas (Das Caritas Projekt "Windows for life" bietet psychosoziale Beratung für traumatisierte Menschen in Afghanistan) schreibt: „Das extrem patriarchalische System und die religiösen Restriktionen haben sich in der Gesellschaft verfestigt. Und so leiden die Frauen auch nach dem Ende des Talibanregimes nicht nur unter den Folgen der Unterdrückung, sondern sind noch immer extrem häufig psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt. Vor allem die häusliche Gewalt dient häufig als Ventil, über das die Männer ihre aus den Kriegsjahren stammenden Aggressionen und Ohnmachtsgefühle ablassen.„ (http://www.caritas-international.de/37041.html)

Zu den möglichen Zusammenhängen von Krieg und häuslicher Gewalt habe ich auch hier etwas geschrieben.

Der Krieg in Afghanistan dient also nicht dem Schutz vor häuslicher Gewalt (wie das Time-Magazin annimmt), er scheint diese vielmehr in erheblichem Maße mit zu verursachen, auf beiden Seiten.

Freitag, 30. Juli 2010

Geheime Afganistan Militärprotokolle und das "heimliche" Ziel von Kriegen

Die meisten Menschen dürften es laut vielen aktuellen Medienberichten schon wissen. 91.731 Berichte des US-Militärs, die meisten davon als geheim eingestuft, gelangten auf die Internetplattform WikiLeaks. Sie dokumentieren die unzähligen „Zwischenfälle“ in Afghanistan. DER SPIEGEL veröffentlichte in Kooperation mit der „NEW York Times“ und dem „Guardian“ ausführlich in einer Titelstory zu dem Thema in seiner Printausgabe. (DER SPIEGEL, 26.07.2010, „Protokoll eines Krieges“, S. 70ff) Die meisten Infos aus den Berichten scheinen nicht wirklich neu zu sein. Brisant ist vielmehr, dass jetzt von jedem Internetnutzer die letzten Kriegsjahre haarklein aus erster Hand eingesehen werden können und natürlich die Fülle der Daten, die ein Gesamtbild ergeben.

Das Bild ist bekanntlich ein düsteres. Seit 2004 stiegen die Sprengstoffanschläge, Kampfhandlungen und Todesopfer rasant an. Von „Erfolgen“ (also der Befriedung des Landes) keine Spur, wie es eigentlich fast immer aussieht, wenn das Militär für Frieden Verantwortung übernehmen soll.
Die Sprengstoffanschläge stiegen kontinuierlich von im Jahr 2004 weit unter 200 (laut SPIEGEL Grafik beruhend auf den Protokollauswertung des US-Militärs) auf 3.300 Anschläge im Jahr 2009. Insgesamt starben zwischen 2004 und 2009 4.459 Menschen (die meisten davon Zivilisten, gefolgt von afghanischen Sicherheitskräften und dann alliierten Soldaten) durch Anschläge. Dazu kommen etliche Verwundete.
Leider berichtet der SPIEGEL nicht über genaue Opferzahlen durch Angriffe seitens der Amerikaner bzw. der Alliierten. Es wird nur etwas von tausenden Toten auf Seiten der Taliban geschrieben. Allerdings wird über die Anzahl von Kampfhandlungen berichtet. Laut SPIEGEL Grafik – von mir ca. errechneter Wert – gab es zwischen 2004 und 2009 ca. 28.000 Kampfhandlungen. Im Jahr 2004 lagen die Kampfhandlungen noch unter 1.000. 2009 verzeichnen die US-Militärdaten exakt 11.695 Kampfhandlungen, also fast 12 mal (!!) so viele wie 2004.

Wie viele Tote gab es bei diesen 28.000 Kämpfen auf der afghanischen Seite? Wie viele Zivilisten kamen dabei um, wie viele „Aufständische“ (ein unmögliches Wort…), wie viele als „Aufständische“ definierte? Bei einem Toten pro Kampfhandlung (was wohl der unwahrscheinlichste Durschnitt wäre) wären es also 28.000. Der SPIEGEL dokumentiert einen Fall, bei dem insgesamt 7 Kinder durch einen Angriff eines US-Sonderkommandos auf eine Koranschule starben. Während einer anderen Offensive durch US-Elitekämpfer wurden in 5 Tagen 130 „Aufständische“ getötet. Wir alle erinnern uns auch an den deutschen Fall „Oberst Georg Klein“, durch einen Luftangriff auf einen Tanklaster kamen damals ca. 142 Zivilisten ums Leben. Der SPIEGEL schreibt dazu nach der Datenauswertung: „Was in Deutschland eine leidenschaftliche Diskussion über den Sinn des Bundeswehreinsatzes hervorruft, erscheint in den Militärprotokollen nur als ein Fall unter Hunderten ähnlicher Fälle.“ (S. 77)
Es dürfte klar sein, dass die Opferzahlen erheblich sind, wenn man an der Multiplikation der Zahl 28.000 „herumspielt“. Gab es im Schnitt 3 Tote pro Kampfhandlung, also insgesamt 84.000 tote Afghanen? Gab es im Schnitt 6 Tote pro Kampfhandlung, also 168.000 tote Afghanen? Oder noch mehr? Und wie viele Verwundete kommen dazu?
Mir geht auch gerade durch den Kopf, dass ein realer Taliban vielleicht ein grober, gewaltbereiter Mensch ist (und vielleicht vor der US-Invasion gar nicht wusste, wo das Land USA überhaupt liegt...), er aber auch eine soziale Einbindung in seiner Heimat hat. Er hat Verwandte, Freunde, vielleicht auch Ehefrau und Kinder. Wen wundert es da, dass der Krieg immer weiter eskaliert? Jeder tote Afghane – egal ob Talibankämpfer oder Zivilist – erzeugt noch mehr Hass und Rachegedanken. Der SPIEGEL schreibt entsprechend in einem Schlusswort, dass trotz all der toten Taliban der "Strom an neuen Fußsoldaten endlos" scheint.

Afghanistan wurde nach allem was wir wissen zum großen Opferaltar gemacht. Tausende Menschen starben, noch mehr wurden verletzt, unzählige Gebäude wurden zerstört oder beschädigt. Warum? Darum: Das Ziel von Kriegen ist die Opferung von Menschenleben und die Reduzierung von Wohlstand. Tote, Verletzte, Zerstörung, Leid, Wohlstandsreduzierung und eine stetige Eskalation der Gewalt sind die immer wieder beobachteten Ergebnisse von Kriegen, obwohl angeblich niemand diese „Ergebnisse“ will, wird doch „für den Frieden“ gekämpft, „für Sicherheit“, "Gerechtigkeit", „gegen Terror“, „für Mädchenschulen“…. Wir müssen, so meine ich, Kriege so betrachten wie sie sind. Sie bringen keinen Frieden, keine Sicherheit, keinen Wohlstand, keinen Gewinn. Sie erzeugen Opfer. Das ist das eigentliche „heimliche“ Ziel (welches wiederum viel mit dem Opfer zu tun hat, das viele Menschen einst als Kind waren). Wenn das erkannt wird, kann auch die psychohistorische Uraschenanalyse besser verstanden und vor allem sehr ernst genommen werden.

Dienstag, 27. Juli 2010

Intensivtäter und das Ende der Geduld

Ca. drei Wochen nach dem Tod der Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig ist ihr Buch „"Das Ende der Geduld" erschienen, wie ich gestern im Deutschlandfunk erfuhr. Folgendes Zitat aus der Sendung möchte ich hier hervorheben:

Die Autorin beginnt mit Fallschilderungen aus ihrer Praxis als Jugendrichterin. Man liest hier über Familien von jugendlichen Straftätern, über ihre oft alkoholabhängigen Eltern, über verwahrloste Wohnungen, über Vernachlässigung, Prügel und schwere Misshandlung. Ein Beispiel aus der Kindheit eines jugendlichen Straftäters:
Die Eltern banden ihn im Badezimmer an ein Heizungsrohr, verbrannten seine Haut mit glühenden Häkelnadeln und schlugen ihn mit dem Kopf auf einen scharfkantigen Gegenstand, als er einen Gegenstand verschluckt hatte. Seine Verletzungen waren für alle anderen sichtbar. Nur ein einziges Mal wurde hierauf reagiert. Eine Sportlehrerin sah die großen Hämatome und schaltete sofort das Jugendamt ein. Der Junge kam für einen Monat in ein Heim. Er verbrachte dort die einzige Zeit seiner Kindheit, in der er nicht verprügelt wurde. Dann gelobten die Eltern Besserung, bekamen das Kind zurück, und alles ging von vorn los.
Als Juristin wollte Kirsten Heisig mit ihren Urteilen den Jugendlichen auch den Weg in ein Leben ohne Straftaten weisen. Die Richterin musste jedoch feststellen: Wenn die Kindheit eines Jungen derart von Gewalt geprägt war, wie hier skizziert, hat die Justiz es schwer, Werte zu vermitteln. Sanktionen und Hilfen kamen fast immer zu spät. Jugendhilfe und Polizei Vermieter, Erzieher, Lehrer und auch Nachbarn hätten zuvor überhaupt erst einmal hinschauen müssen.


Gezielt beschäftige ich mich nicht mehr unbedingt mit den familiären Hintergründen von StraftäterInnen. Letztlich scheinen sie alle eines gemeinsam zu haben: Eine traurige Kindheit. Man wird auf dieser Welt keinen Intensivtäter oder auch politischen Verbrecher finden, der eine weitgehend glückliche und liebevolle Kindheit hatte. Immer scheint die Kindheit dieser Menschen von dem genauen Gegenteil geprägt zu sein: Schwere Gewalt, Vernachlässigung, Missbrauch. Das zeigen die Berichte, die ich in den letzten Jahren hier und da gelesen und gehört habe immer wieder. Jede ernst zu nehmende Analyse von Gewalttaten muss diese Hintergründe abklopfen und benennen. Dies passiert leider - trotz aller vorliegenden Erkenntnisse – oft zu wenig bis gar nicht. Vor allem in der Kriegsursachenanalyse eher gar nicht. Meine Geduld ist dabei noch lange nicht zu Ende, ich schreibe hier einfach munter weiter.

Montag, 19. Juli 2010

Aborigines. Gewalt und Missbrauch. Entzauberung eines Urvolkes?

Ausstralische Medien berichteten in der Vergangenheit (wohl beginnend ab 2004, mit einem Höhepunkt im Jahr 2006 durch die Veröffentlichung eines Berichtes durch Nanette Rogers, Staatsanwältin des Bundesstaats Northern Territory, auf dessem Gebiet viele Traditionen der Ureinwohner erhalten geblieben sind und sie in vielen Gemeinden unter sich leben. ) fast täglich über katastrophale Zustände in Aborigine-Familien: Gewalt, Vergewaltigungen und sexueller Missbrauch von Kindern.
Im Bericht ist von endemischem Kindsmissbrauch die Rede. Rogers kritisierte, viele Verbrechen blieben nicht nur ungeahndet, sondern würden von den Tätern und Entscheidungsträgern in den Aboriginal-Gemeinden unter Hinweis auf "Traditionen der Männer" entschuldigt.“, schreibt die taz. Neu ist das Problem des Kindsmissbrauchs laut taz Bericht nicht. „Experten wiesen schon vor Jahren darauf hin, dass Sex mit Kindern, Vergewaltigungen und brutalste, nicht selten tödlich endende Gewalt gegen Frauen in vielen Aboriginal-Dörfern alltäglich sind. Fachleute sind der Meinung, der Grund liege vor allem beim Alkoholmissbrauch und der sozialen Verwahrlosung ganzer Gemeinden.
Der Präsident der australischen Labour-Partei, Warren Mundine (er ist selbst Aborigine, der erste, der es geschafft hat, eine Spitzenposition in der Politik zu erreichen), spricht „von einem Zusammenbruch der sozialen Strukturen“ innerhalb der Aborigine Gesellschaft und darüber, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder als normal angesehen würden. (vgl. tagesschau Bericht „"Die Aborigine-Gesellschaft implodiert")
Prof. Dr. Adi Wimmer, Vorsitzender der deutschen Gesellschaft für Australienstudien schreibt in einem GEO Bericht etwas von „systematischem Kindesmissbrauch“. Auch der SPIEGEL schreibt, dass Inspektoren der Regierung von systematischem Kindesmissbrauch in Gemeinden des Bundesstaats Northern Territory (wo überwiegend die als Aborigenes bezeichneten australischen Ureinwohner leben) berichteten.

Im Jahr 2007 gab es in Australien weiteres großes Aufsehen nachdem der Report “Little Children are Sacred” veröffentlich war. Auch hier wurde über weit verbreiteten sexuellen Missbrauch, aber auch über häusliche Gewalt, Drogen- und Alkoholmissbrauch usw. berichtet. 2007 intervenierte schließlich die Regierung Howard mit harten Maßnahmen. „Die Maßnahmen wurden ausgelöst durch einen schockierenden Expertenbericht über Kindesmissbrauch und Alkoholismus bei den Aborigines, den die Regierung des Northern Territory in Auftrag gegeben hatte. Der Bericht wies unter anderem darauf hin, dass bereits dreijährige Aborigine-Kinder an Geschlechtskrankheiten leiden. Die Studie geht von etwa 20 Prozent schweren Alkoholikern im Northern Territory aus.“ (Focus, "Die Entmündigung der Aborigines")
Das deutsche Auswärtige Amt schreibt dazu: „Nach dem Bekanntwerden von weitverbreitetem sexuellen Missbrauch von Kindern in zahlreichen Gemeinden des Northern Territory sah sich die Regierung Howard im Juni 2007 veranlasst, dort den nationalen Notstand zu erklären und unter Einsatz des Militärs und der Bundespolizei direkt zum Schutz der Kinder einzugreifen. Die Maßnahmen der sog. Intervention umfassten u.a. die Unterbindung des Alkohol- und Drogenhandels, den Entzug von Landrechten sowie die zwangsweise Gesundheitsuntersuchung aller Kinder. Die Intervention stieß in der Bevölkerung auf ein unterschiedliches Echo, wird jedoch überwiegend – nicht zuletzt von vielen Aborigines selbst – als notwendig angesehen. Die jetzige Regierung hat im März 2009 die bestehenden Zwangsmaßnahmen, mit geringfügigen Veränderungen, um weitere drei Jahre verlängert.
Ein anderer Bericht schildert, dass auf die Regierungsmaßnahmen mit unterschiedlicher Kritik reagiert wurde. „Nicht nur Aborigines-Verbände laufen dagegen Sturm, auch Menschenrechtsgruppen und progressive Politiker kritisieren den Vorstoß der Regierung als untauglich und werten ihn als einen verheerenden Rückfall in gescheiterte Politikmuster im Umgang mit der wichtigsten nationalen Minderheit.

Fakt ist, dass muss hier erwähnt werden, dass auch der Durchschnittsaustralier oft Alkoholprobleme hat (wie in anderen westlichen Kulturen auch) und sexueller Missbrauch natürlich in allen Gesellschafsschichten und – gruppen vorkommt. Insofern wäre es sicher konstruktiver und glaubwürdiger gewesen, wenn die australische Regierung parallel auch diese Probleme benannt und angegangen wäre.


Mir geht es in diesem Beitrag jetzt aber um etwas anderes, nämlich um die Entzauberung von Urvölkern. Lloyd deMause hat die Idealisierung von Kindheit bei primitiven Gesellschaften scharf kritisiert. (vgl. deMause, 2005, S. 192ff) Er zeigt insbesondere am Beispiel der Kindererziehung in Neuguinea (nahe Australien) auf, wie gewaltbeladen, missbrauchend und vernachlässigend der Umgang mit Kindern in dieser Kulturregion war und ist und wie Kindestötungen alltäglich waren. Dazu bringt er etliche Beispiele an, wo Anthropologen die Kindheit bei entsprechenden Völkern idealisieren und umdeuten, Fakten weglassen oder übersehen. Als Beispiel sei folgende Stelle zitiert, wo er sich zusammenfassend äußert: „Diese Arten von täglichen Missbräuchen, zusammen mit verschiedenen Typen von ritueller Päderastie, Folter und Verstümmelung sind so weit verbreitet, dass die Schlussfolgerung im Standardwerk der Anthropologie über kulturübergreifenden Kindesmissbrauch – „es steht so gut wie fest, dass es keinen Kindesmissbrauch in Neuguinea gibt.“ – total unerklärlich erscheint.“ (ebd., S. 205). Seine Schilderungen über die dortige Kindheit sind derart schockierend, dass es mir schwer fiel, sie in einem Stück zu lesen.
An Hand einer Quelle aus dem Jahr 1965 berichtet deMause auch, dass die australischen Aborigines früher bis zu 50 % ihrer Säuglinge umbrachten. (vgl. ebd., S. 194) Ich habe schon oft in Texten und Kommentaren über Kindestötungen bei Stämmen und Urvölkern verständnisvolle Reaktionen gelesen. Das Motto war durchgehend: „Wenn man arm ist, in der Steppe wohnt und lebt, dann ist das Leben dort sehr hart. „Überschüssige“ Kinder, schwache und gebrechliche umzubringen, kommt damit eher einer “ Fürsorge“ für das Überleben des Stammes gleich.“ De Mause berichtet aus verschiedenen Regionen, dass wenn gefragt wird, die Akteure etwas anderes berichten: Die Säuglinge wurden umgebracht, weil „Kinder zu viele Probleme bereiten“, weil „die Mütter auf ihre Ehemänner wütend waren“, weil sie „dämonische Kinder“ wären, weil das Kind „ein Hexer werden könnte“, weil „ihre Ehemänner zu einer anderen Frau gehen“, weil „sie keine Kinder haben wollten, die sie in ihren Liebschaften einschränken würden“, weil „es weiblich war“, weil „sie einen bald verlassen würden“ oder weil “sie nicht bleiben werden, um im Alter auf uns zu schauen.“ (ebd., S. 194)
Schockierendes las ich auch auf der österreichischen Homepage www.babyguide.at – „erste Anlaufstelle zum Thema Schwangerschaft, Geburt, Baby, Kind, Familie, Ernährung“:
Bis auf kleinere Abweichungen ist das Geburtsritual bei allen Stämmen der Aboriginals gleich. Die werdende Mutter verlässt gemeinsam mit ihrer Mutter das Lager und begibt sich an einen geschützten Ort, der in der Nähe einer mit Wasser gefüllten Felsmulde liegt. Die zukünftige Großmutter hebt ein Loch im Boden aus, (…) Ist das Kind schwach oder behindert darf sie es in der Erde vergraben noch bevor es den ersten Schrei tut. Das ist sehr wichtig, denn wenn die Mutter ihr Kind einmal schreien hört, ist bereits eine Bindung zu ihm hergestellt. Meist aber gelingt die Geburt (…) Nun wird das Baby kurz kopfüber über das Feuer gehalten und im Anschluss aus rituellen Gründen mit Sand und Asche eingerieben.
Geboren, schon mit dem möglichen Grab vor Augen (und die Mutter gebärend, mit dem Bewusstsein, dass das Kind auch gleich im Grab landen könnte), danach gehalten übers Feuer (wie auch einst im europäischen Mittelalter üblich, um „Dämonen“ vom Kind zu vertreiben, wie man in Europa damals sagte.)… ein traumatischer Start ins Leben, der auf der o.g. Familienhomepage nicht weiter kommentiert wird. Ich frage mich auch, was passiert z.B., wenn Mutter und Großmutter vielleicht gerade Streit oder andere Konflikte, in denen es um Macht geht, hatten? Was für ungeheure Macht wurde hier den Großmüttern gegeben, über Tod oder Leben innerhalb von Sekunden zu entscheiden? „Sind die Kinder aber auf der Welt“ heißt es einige Sätze weiter, „werden sie mit viel Zärtlichkeit und Liebe groß gezogen, auch die Väter kümmern sich geduldig um ihren Nachwuchs. Kleine Kinder genießen große Freiheit und werden niemals bestraft. Der Übergang von der Kindheit in das Erwachsenenalter wird mit einem speziellen Ritual gestaltet, die Initiation.“ Einer Schilderung über eine traumatische Geburt und möglicher Kindestötung folgt die Idealisierung des Urvolkes und seiner Erziehung, um dann auf die Initiation hinzuweisen, ohne zu erwähnen, dass auch diese traumatisch ist und wenig mit Liebe und Mitgefühl gemein hat.
Manche Mädchen müssen sich bei einigen australischen Stämmen einer “rituellen Operation“ unterziehen, der sogenannten „Atna-ariltha-kuma“. Vor allem erleben aber die Jungen "Initiationsrituale" (siehe dazu wikipedia), durch die sie „zum Mann werden“ und die Wochen andauern können. Dazu gehört die Entfernung der männlichen Vorhaut und später auch die vollständige oder teilweise Spaltung der Harnröhre an der Unterseite des Penis. Das ganze ohne Betäubung und mit primitiven Werkzeugen, was nicht selten zu bleibenden Schäden oder gar zum Tod führen kann. (siehe auch "Beschneidung von Jungen und Männern") Im Internet habe ich einige Bilder dazu recherchiert, die ich hier nicht zeigen möchte, weil ich sie zu heftig finde. Mehrere Männer halten die Jungen fest, während sie beschnitten werden. Die Jungen sind total ausgeliefert. Angstvoll, schmerzverzerrt sind die Gesichter der Jungen. Eigentlich schreien sie nur noch auf den Bildern, die ich fand… Ohne Zweifel ist dies eine erhebliche Gewalterfahrung in diesen frühen Jahren. "In einer abschließenden Initiationsstufe im Alter von 16 oder 17 Jahren wurde bei fast allen Völkern die Haut junger Männer und Frauen skarifiziert (das Einbringen von Ziernarben in die Haut), womit sie heiratsfähig wurden.“ (wikipedia) Ein Bild aus Papua-Neuguinea zeigt den zwangvollen Charakter dieser Prozedur.
Unter dem Deckmantel „Kultur“ und „Tradition“ verschweigen westliche Kommentatoren all zu oft, wie traumatisch so etwas für Heranwachsende ist. DeMause schreibt in diesem Zusammenhang passend: Überall werden „ältere Kinder als Strafe für ihre Individuation und Selbstständigkeit gefoltert und verstümmelt. Obwohl diese Folter von den Anthropologen Initiationsrituale genannt werden, sind sie weniger Initiationen in irgendetwas, als Bestrafungen für das Heranwachsen. Sie dramatisieren eine Reinigung von maternalen Giften, damit Jungen dann von den Männern als Projektionsfläche benutzt werden können. Die meisten von ihnen führen maternale Traumata in der einen oder anderen Weise wieder auf.“ (deMause, 2005, S. 204)

Lloyd deMause widerspricht der Annahme von AnthropologInnen, dass das Inzesttabu eine der wenigen kulturellen Allgemeinheiten von Menschen darstellt. Er zeigt vielmehr auf, wie alltäglich sexueller Missbrauch bei Urvölkern ist. „Da die Verwendung von Säuglingen und Kindern als erotische Objekte kulturübergreifend so alltäglich ist, überrascht es nicht, dass in Neuguinea auch andere Erwachsene als die Eltern üblicherweise Kinder sexuell missbrauchen. Babys im Besonderen werden behandelt, als wären sie Brüste, um daran zu saugen und den ganzen Tag zu masturbieren. (…) Die inzestuöse Verwendung von Kindern in Neuguinea und Australien dehnt sich auf die anderen melaneschen und polynesischen Inseln aus, obwohl bei komplexer werdenden Gesellschaften die Praktiken stärker ritualisiert vorkommen.“ (deMause, 2005, S. 197f) und „In vielfacher Art und Weise demonstrieren neuguinesische Eltern, dass, wenn das Kind nicht erotisch gebraucht wird, es nutzlos ist.“ (ebd., S. 200) Er schildert darauf, wie bei Urvölkern den Kindern oftmals keine Aufmerksamkeit geschenkt wird, wie sie ignoriert werden, wie kleine Kinder mit scharfen Messern spielen dürfen oder am Feuer spielen, wobei nicht wenige sich ernsthafte Verletzungen zufügen. (Ich glaube, dass viele westliche Beobachter die Realität umdeuten, indem sie angeben, dass die Kinder in Urvölkern „viele Freiheiten“ hätten, obwohl der dortige Alltag eher zeigt, dass sie einfach vernachlässigt werden. Viele Menschen aus unserer westlichen Kultur scheinen wohl „auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ zu sein, sie wollen in den alten Kulturen etwas finden, das macht sie blind für die dortige Realität.)

Wenn wir über diverse Probleme – von Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Verwahrlosung, Gewalt usw. - von Urvölkern wie den Aborigines in Australien sprechen, dann muss die Analyse der Ursachen selbstverständlich die historische Unterdrückung und Entrechtung und die kollektive Traumatisierung dieser Völker durch die oft mörderische Verfolgung seitens der Kolonialisten beinhalten. Aber: Die Analyse muss vor allem auch beinhalten, dass diese Völker oftmals schon immer sehr gewaltvolle „Traditionen“ gegenüber ihren Kindern auslebten, wie deMause zeigt. Der systematische sexuelle Missbrauch in der heutigen traditionellen Aborigine-Gesellschaft, scheint hier seine tiefen Wurzeln zu haben.

Die Arbeit von deMause hat mir persönlich ein ganz neues Bewusstsein für Urvölker gegeben. Viele der traditionellen Mythen und Rituale, die mit Geistern, Dämonen, Hexerei, rituellen Opfern, Tierwesen usw. zu tun haben, scheinen demnach vielmehr Ausdruck einer psychisch zersplitterten Persönlichkeit (deMause spricht in diesem Zusammenhang von der „Schizoiden Psychoklasse“) zu sein. Ich war richtig erschrocken, als ich einige Zeit nach meiner erstmaligen Lektüre von deMause im Fernsehen zwei Dokus (erinnere leider nicht mehr die Titel) über zwei südamerikanische Urvölker gesehen habe. Ich achtete plötzlich auf ganz andere Details und Verhaltensweisen der vorgestellten Völker. Und ich sah vor allem auch, wie die dort Forschenden mit leuchtenden Augen und total idealisiert von den Völkern berichteten. (In einem Moment hoben sie z.B. hervor, dass sie von der kindlichen Fröhlichkeit und Leichtigkeit der Menschen berührt waren. In einem anderen Moment kam es zwischen einer Gruppe und einem anderen Stamm fast zu kriegerischer Gewalt, die nur dadurch beendet wurde, dass ein Schwein geopfert wurde. Unter wüsten Beschimpfungen und Drohungen trennten sich dann die Gruppen) Vielleicht geht es manch einem ähnlich, der sich mit deMause befasst hat. Das würde mich interessieren. Bitte gerne Kommentare dazu.