Mittwoch, 11. März 2020

Kindheiten und Lebenswege von zwei Dschihadisten

Das Buch „Dschihadisten - Feldforschung in den Milieus. Die Analyse zu 'Black Box Dschihad'“ (2011, Verlag Hans Schiler, Berlin/Tübingen) von Martin Schäuble hat mich wirklich schwer beeindruckt. Schäuble ist akribisch und mit viel persönlichem Aufwand den Lebensgeschichten zweier Dschihadisten nachgegangen. Solch umfassende Analysen von Terroristen sind selten zu finden! Beide Biografien könnten auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein:

Daniel wuchs in Deutschland auf, konvertierte nach einer Sinnkrise und einer kurzen Inhaftierung zum Islam, schloss sich dann der Islamischen Dschihad Union an und plante mit seinen Gesinnungsbrüdern (die Terror-Zelle in Deutschland ist bekannt unter dem Namen Sauerland-Gruppe) einen großen Bombenanschlag in Deutschland. Glücklicherweise flogen sie auf und wurden verhaftet, bevor der Anschlag verübt werden konnte.

Sa'ed wuchs in Palästina auf. Er radikalisierte sich, wurde Teil der sogenannten Aqsa-Brigaden und verübte schließlich einen Selbstmordanschlag in Jerusalem, bei dem 7 Menschen starben und über drei Duzend zum Teil schwer verletzt wurden.

Nach der Durchsicht des Buches wurde mir schnell klar, dass die Gemeinsamkeiten dieser beiden Täter nicht nur im Hang zum Dschihadismus liegen: Beide machten als Kind traumatische Erfahrungen. Beide wuchsen in Familien auf, deren Kommunikation tief gestört war und in denen Probleme nicht offen und konstruktiv besprochen werden konnten. Beide wirkten nach Außen sehr unauffällig und machten ihre Probleme und ihre Sinnkrisen mit sich selbst aus.

Ich konzentriere mich in dieser Besprechung jetzt wesentlich auf die destruktiven Kindheitserfahrungen.

Beginnen wir mit Daniel:

Daniels Mutter wird als dominant beschrieben, die für ihren Sohn Mutter und Vater zugleich war. Der Vater hielt sich im Grunde aus der Kindererziehung raus und konzentrierte sich auf beruflichen Erfolg (S. 84). Schäuble meint, dass der Vater zu seinem Sohn keine emotionale Bindung aufbauen konnte (S. 95) Bereits im Kindergarten fiel Daniel dadurch auf, dass er ernst und ein Einzelgänger war (S. 85).
Die Erziehung der Mutter war offenbar ein Mix aus viel geben im Sinne von wohlhabenden Lebensumständen und materiellen Dingen, aber auch Strenge: „Sie schlug ihn manchmal, ohrfeigte ihn. Das wird andauern bis er dreizehn ist und er ihre Hand einmal dabei festhalten konnte. Für Daniel muss dieses zweideutige Verhalten der Mutter schwer zu verstehen gewesen sein: Einerseits die Mutter, die alle Wünsche erfüllt, anderseits ihre autoritäre Strenge, die sich zumindest in den Schlägen äußerte“ (S. 89). Es deutet nichts darauf hin, dass der Vater seinen Sohn vor den Schlägen geschützt hätte.

Als Daniel 11 Jahre alt war, trennten sich seine Eltern. Der Vater zog aus, Daniel und sein Bruder blieben bei der Mutter, die ihre Freunde einlud und mit Sekt auf den Auszug des Vaters anstieß (S. 95). Daniel dagegen litt unter diesem Verlust und weinte Zuhause wegen der Trennung.

Die Trennung der Eltern entwickelte sich schnell zum Scheidungskrieg, der mit allen Mitteln geführt wurde. Autor Schäuble zog einen Psychoanalytiker zu Rate und kommt zu dem Schluss, dass dieser Scheidungskrieg für Daniel traumatisch war (S. 97). Die Eltern redeten schlecht übereinander; der Vater forderte Daniel sogar auf, die Mutter auszuspionieren; die Mutter wiederum nahm die Telefongespräche zwischen Daniel und seinem Vater heimlich auf. Die Kinder scheinen den Eltern in dieser Zeit egal gewesen zu sein (S. 97). Kurz nach dem Auszug des Vaters zog zudem der neue Freund der Mutter im Haus ein. Mit dem neuen „Stiefvater“ kam Daniel nicht zurecht und es zog ihn eher zu seinem Vater.
Später, der genaue Zeitrahmen wird nicht beschrieben, brach Daniel den Kontakt zur Mutter für mehrere Jahre gänzlich ab (S. 191).
Während des Scheidungskrieges, Daniel war 11 oder 12 Jahre alt, versuchte sich seine Mutter mit Tabletten das Leben zu nehmen. Daniel fand sie und konnte einen Krankenwagen rufen (S. 99).

Zusammengefasst hat Daniel eine traumatische und von emotionaler Kälte geprägte Kindheit erlebt. Als Jugendlicher konsumierte Daniel Drogen, traf falsche Freunde und kam schließlich durch Kontakte zum radikalen Islam.

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Sa'ed wurde 1985 in die Krisenregion Palästina hineingeboren. Die Freund-Feind-Bilder und politischen Konflikte wurden ihm quasi in die Wiege gelegt, wie so vielen Kindern, die in dieser Region aufwachsen.
Aber auch die Familiensituation war sehr konfliktbeladen und destruktiv. Seine Mutter wurde im Alter von 14 Jahren gegen ihren Willen verlobt. Im Alter von 15 Jahren musste sie den acht Jahre älteren Mann heiraten, der der Vater von Sa'ed werden sollte (S. 101). Echte Liebe zwischen den Eltern gab es also nicht.
Sa'ed erlebte im Alter zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr eine rastlose Zeit, die Familie zog zunächst nach Jordanien, bekam allerdings keine Aufenthaltsgenehmigung und musste wieder zurück (S. 102). Zurück in den Palästinensischen Gebieten erlebte Sa'ed im Kindergartenalter die Erste Intifada. Auf den Straßen vor dem Haus der Familie brannten Autoreifen und tobten Kämpfe zwischen Palästinenser und israelischen Soldaten (S. 103). Was Sa'ed davon mitbekam und wie sich dies auf ihn auswirkte, kann man nur vermuten. Schäuble weist auf die Spiele der Kinder hin, von denen er berichtet bekommen hatte und an denen auch Sa'ed mitwirkte. Die Kinder reinszenierten in ihren Spielen die Gewalt auf den Straßen und die Trauerfeiern für die Toten.

Aber auch innerhalb der Familie scheint es gewalttätig zugegangen zu sein. Die Mutter sowie auch der Vater werden als streng beschrieben. Ein früherer Freund von Sa'ed berichtete, dass der Vater seinen Sohn geschlagen habe, auch mal mit einem Stock. Später verneint der selbe Freund und auch der Vater die Gewalt. Der Vater berichtet aber noch, dass er Sa'ed auch angeschrien habe, was ihm heute Leid täte. Zu Recht weist Autor Schäuble darauf hin, dass nach dem Tod von Sa'ed sowohl seinem früheren Freund, als auch dem Vater Erinnerungen an solche Strafmaßnahmen sicher schwer gefallen sein dürfe (S. 110). Im Grundschulalter scheint Sa'ed seinem Vater aus dem Weg gegangen zu sein, er habe nicht das beste Verhältnis zum Vater gehabt.

Sowohl die beengten Lebensverhältnisse zu Hause (er hatte 6 Geschwister) als auch seine Brüder, die als autoritär ihm gegenüber beschrieben werden, bedingten wohl, dass Sa'ed während seiner Grundschulzeit seine Zeit am Liebsten draußen verbrachte (S. 112). An anderer Stelle wird beschrieben, wie Streitereien zwischen ihm und seinen Brüdern ablaufen konnten: Ein Bruder hatte Fotos zerschnitten, auf denen Sa'ed zu sehen war. Bei einem anderen Streit schüttete ein Bruder eine Tasse heißen Tee in das Gesicht von Sa'ed, so dass seine Mutter ihn ins Krankhaus bringen musste. Dabei ist noch etwas sehr auffällig: Sa'ed hatte seiner Mutter nichts von seinen Verbrennungen berichtet. Er lag in seinem Bett und sagte nichts. „Er hatte Angst, dass ich ihn und seinen Bruder bestrafen würde, weil sie gekämpft haben“, sagte die Mutter (S. 273). Wie groß muss die Angst vor der Mutter sein, wenn ein Kind sich nicht traut, ihr von den Verbrennungen zu berichten?
An einer anderen Stelle im Buch wird auch von Hänseleien durch seine Brüder berichtet. Sa'ed half seiner Mutter viel im Haushalt und bei der Betreuung der kleinen Geschwister. „All das brachte ihm immer wieder Spott ein, auch in der eigenen Familie, denn Hausarbeit und Kinderbetreuung ist in Nablus häufig Frauensache. Statt Sa'ed nannten sie ihn Sa'eda. Die weibliche Form seines Vornamens. Den Vater stimmte das manchmal traurig. Die Mutter freute sich über die Unterstützung“ (S. 113).

Bereits mit elf Jahren erschien Sa'ed nicht mehr in der Schule (S. 132). Er wollte (oder musste?) arbeiten, um seine Familie zu unterstützen. Zu der Zeit sah er seinen Vater unter der Woche gar nicht, dieser pendelte nur am Wochenende nach Hause. Die Mutter war stark eingespannt. Unterstützung, Gespräche über Zukunftspläne all dies scheint es nicht gegeben zu haben (S. 134).
Zunächst arbeitete er in einer Schneiderei, von 7-30 Uhr bis 17 Uhr, für 2 € Lohn am Tag. Später in einer Bäckerei, wo die Schicht oft bis 18 Uhr ging, für 9 € Lohn am Tag (S. 135f). In den Betrieben herrschte ein raues Klima und die Kinder standen naturgemäß ganz unten in der Hierarchie.

Sa'ed war zum Beginn der Zweiten Intifada 15 Jahre alt, er erlebte Bombenexplosionen (auch vor dem eigenen Haus) und den Einmarsch der Israelis mit. Seine Mutter verlor eine Freundin, weil eine durch Palästinenser selbstgebaute Bombe versehentlich neben ihr hoch ging (S. 154). Sa'ed wendete sich in dieser Zeit immer stärker der Religion zu.
Als Sa'ed 17 Jahre alt war, wurde sein Freund und Arbeitskollege von israelischen Soldaten erschossen (S. 181). Kurz darauf musste die Familie von Sa'ed fluchtartig umziehen, in ihrem Wohnort war es zu gefährlich geworden, die Kämpfe eskalierten immer mehr. Dann wurde der Bruder eines Freundes von Sa'ed ebenfalls umgebracht. Sa'ed habe dann Rache geschworen (S. 184).

Beenden wir an dieser Stelle den Blick auf Sa'ed, der zum Selbstmordattentäter wurde. Mehrere traumatische Ereignisse in seiner Kindheit und Jugend wurden hier aufgezeigt, inkl. einer sehr destruktiven Familienatmosphäre.

Schlussgedanken

Das "Traumagesamtpaket" von Sa'ed ist gewiss größer (und alleine schon durch seine Umgebung politisch aufgeladen), als das von Daniel. Die Frage ist, ob  Sa'ed auch zum Selbstmordattentäter geworden wäre, wenn er eine liebevolle Familie, keine elterliche und geschwisterliche Gewalt und einen starken familiären Zusammenhalt erlebt hätte, bei gleichen Rahmenbedingungen? Die Frage ist gleichzeitig aber auch, ob bei diesen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen überhaupt liebevolle Familienverhältnisse erzeugt werden könnten? Rahmen und Familie, Familie und Rahmen, in den palästinensischen Gebieten scheint beides eng miteinander verflochten zu sein. Das Traumapotential in dieser Region ist enorm, gerade auch für die Kinder.

Prävention muss in beiden Fällen in der Familie beginnen, mit Hilfen (auch bei der Austragung von Konflikten), mit Anleitung zu einer gewaltfreien Kindererziehung und Kommunikation, mit positiven Ausgleichserfahrungen außerhalb der Familie u.ä. Mit Blick auf Sa'ed wird es komplizierter. Der Autor Martin Schäuble verweist in seinem Schlusswort zu Recht auf die notwendige Lösung der politischen Konflikte in der Region und auf eine notwendige Reduzierung von Gewalt- und Unrechtserfahrungen. Nur so kann dem Terror der Nährboden entzogen werden. Ich würde dem noch anschließen, dass dafür Sorge getragen werden muss, dass Kinder zur Schule gehen können und nicht in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen landen. Der Autor würde das sicher genauso sehen.

Dem Autor Martin Schäuble gebührt Respekt und Dank für diese umfassende Arbeit! Selten gehen derartige Analysen so in die Tiefe. Man vergisst nie, zu was für Taten diese beiden Männer in der Lage waren! Aber man versteht, dass ein Mensch nicht zum Terroristen geboren wird, sondern dass der Lebensweg entscheidende Weichen stellt. Und an diesen Weichen sollten und können wir ansetzen.

Donnerstag, 5. März 2020

Ich bin jetzt auf Twitter!

Ich fühle mich echt alt ;-), ab sofort bin ich auch auf Twitter erreichbar. Ich habe mich dazu überreden lassen... Ich muss zunächst erst noch das System erkunden. Vor allem werde ich schauen, ob mir das Ganze zukünftig mehr nimmt, als es bringt. Soziale Medien sind für mich vor allem große Zeiträuber. Außerdem kratzen sie immer auch an der eigenen Eitelkeit, da muss man sich auch vor sich selbst schützen. Und sie verleiten zu nebensächlichen Kommentaren, die dann wiederum die Zeit anderer Menschen rauben.

Allerdings habe ich ja mein "Gäste/Infobuch" eingestellt, in dem ich kurze INFO-Beiträge veröffentlicht habe. Das fehlt mir schon etwas. Immer wieder habe ich hier und da kurze Gedanken oder auch wichtige INFOS, die keinen eigenen Blogbeitrag rechtfertigen. Dies werde ich zukünftig auf Twitter auslagern! 

Was mich etwas schreckt ist, dass ich Kommentare nicht moderieren kann, so wie in meinem Blog. Ich gebe Twitter ein Jahr, dann schaue ich, ob ich dabei bleibe oder nicht.

Studie: Kindheiten von rechten Gewalttätern


Für nachfolgende Studie wurden 45 verurteilte, gewalttätige Jugendliche und junge Erwachsene, deren Motivation von Seiten der Justiz als vermutlich oder tatsächlich fremdenfeindlich bzw. rechtsextremistisch eingestuft wurde, befragt:
Heitmeyer, W. & Müller, J. (1995): Fremdenfeindliche Gewalt junger Menschen. Biographische Hintergründe, soziale Situationskontexte und die Bedeutung strafrechtlicher Sanktionen. Bundesministerium der Justiz (Hrsg.). Forum Verlag, Bonn. 

Die formale Situation der Herkunftsfamilie zeigte bereits mehrheitlich Auffälligkeiten: Nur 20 von 45 Tätern lebten in einer vollständigen Familienkonstellation (S. 127).

Die Autoren merken an, dass dieses Oberflächenbild zwar eine gewisse Auffälligkeit zeigt, dass aber eine vollständige Familie nicht gleichbedeutend mit dem Fehlen von Desintegrationserfahrungen, wie sie es ausdrücken, ist. Sie schreiben weiter: „Der Blick nämlich auf die hinter der formalen Familienfassade liegenden individuellen Erziehungserfahrungen, auf psychisch-emotionale Beziehungen zu den Eltern bzw. zu einzelnen Elternteilen, auf sicherheitsgebende Unterstützung und Verlässlichkeit in der Familie, auf Kommunikationsstrukturen usw. zeitigt am Ende ein Bild, in dem innerhalb der hier untersuchten Gruppe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen (…) nur eine kleine Minderheit von familialer Desintegration verschont geblieben zu sein scheint. 
Es bleiben schließlich insgesamt acht Jugendliche bzw. junge Erwachsene übrig, deren Schilderung ihrer Familienverhältnisse und Erziehungs- und Sozialisationserfahrungen das vorsichtige Fazit zulassen, dass sie keine subjektiv relevanten Desintegrationserfahrungen in der Familie gemacht haben (…)“ (S. 127f). An Hand der Formulierung der Autoren wird deutlich, dass sie nicht ganz ausschließen, dass evtl. doch Belastungen bei diesen acht Befragten zu finden wären.

Einige Fälle (Hermann, Ewald, Jakob, Tobias, Harry, Siegfried, Rainer und Ulrich; Seite 59- 131) wurden in der Studie etwas ausführlicher ausgebreitet, alle anderen Fälle wurden in einer Tabelle (Seite 132-135) erfasst und mit kurzen Stichworten beschrieben. Aus diesen Beschreibungen habe ich nur die belastenden Erfahrungen herausgesammelt und stelle diese nachfolgend vor. Es wird deutlich, dass die meisten dieser rechten Gewalttäter eine belastete Kindheit hatten:


Hermann (ausführliche Falldarstellung): Vater gestorben, als er vier Jahre alt war; die alleinerziehende Mutter war beruflich stark ausgelastet, so dass seine Schwester oft auf ihn aufpassen musste; zwischen seinem 7. und 11. Lebensjahr hatte die Mutter einen Freund, der zum Vaterersatz wurde; im 11. Lebensjahr von Hermann zog dieser Freund wieder aus, es kam zum Bruch

Harry (ausführliche Falldarstellung): seit 7. oder 9. Lebensjahr Trennung der Eltern (widersprüchliche Angaben dazu in der Tabelle und im Fallbeispiel), im 9. Lebensjahr erkrankte seine Schwester und musste 10 Monate ins Krankenhaus, ihr Leben sei gefährdet gewesen; er habe dann ein ziemliches Tief gehabt, auch die Mutter sei viel weg und im Krankenhaus gewesen; ab dem 14. Lebensjahr wurde die Beziehung zum Vater schwierig, nachdem dieser neu verheiratet war, endgültig kam es zum Bruch, als der Vater behauptete, sein Sohn hätte ihn beklaut, 5 Jahre hatte er dann keinen Kontakt mehr zum Vater; seine alleinerziehende Mutter war voll berufstätig, es wird nicht deutlich, wie dies ggf. die Beziehung zum Sohn beeinflusste; die Beziehung zur Mutter wird als sehr gut dargestellt, allerdings erfährt man auch folgendes: Zwar "gab es schon mal ´n paar Backpfeifen oder so", aber "mit schlagen is gar nich so gewesen" (S. 112). Hier sehen wir in klassischer Weise, wie Gewalterfahrungen im Rückblick als "keine Gewalt" umgedeutet werden (eine typische Folge eben dieser Gewalterfahrungen). Aus den Wörtern "schon mal" und "paar Backpfeifen" schließe ich, dass die Gewalt nicht selten war und es auch nicht bei einigen Ohrfeigen blieb. In der tabellarische Gesamtübersicht wurde von den Autoren geschrieben, dass die Mutter einen "demokratischen Erziehungsstil" pflegte (S. 132). Dies halte ich nach dieser gezeigten Aussage zumindest für zweifelhaft. Wir sehen hier also auch, wie wichtig es ist, detaillierte Infos zu den Einzelfällen zu bekommen.

Oskar: sehr schlechtes Verhältnis zum Vater, autoritäre Erziehung des Vaters, später Trennung der Eltern als er 18 war

Siegfried (ausführliche Falldarstellung): sehr autoritäre Erziehung, sehr schlechtes Verhältnis besonders zum Vater, heute keinen Kontakt mehr zu Eltern: „Beide sind für mich gestorben so“ (S. 130); Schwester stirbt bei einem Unfall, als er 14 Jahre alt ist, danach sei auch ein Teil von ihm gestorben; mit seinen Eltern konnte er seine Probleme nicht besprechen: „Über Probleme reden überhaupt so, das war tabu.“ (S. 128); mit 15 Jahren wurde er in einem Erziehungsheim untergebracht;  zwischenzeitlich immer wieder Versuche, Zuhause zu wohnen; er sei aber einige Male rausgeschmissen worden, so dass er auch einmal vier Monate auf der Straße leben musste.

Stefan: Eltern vor der Geburt geschieden, eher autoritärer Erziehungsstil und Überforderung der Mutter

Ulrich (ausführliche Falldarstellung): seit 3. Lebensjahr bei Pflegeeltern, auffällig vor allem auch die hohe Kinderzahl von 10 in der Ursprungsfamilie, zu leiblichen Eltern sehr schlechtes Verhältnis; als er 19 Jahre alt war, starb sein Pflegevater, danach begann die kriminelle Karriere von Ulrich; sein leiblicher Vater sei alkoholkrank, seine leibliche Mutter sei „schlimmer als ein Rabe“ (S. 131), die alle seine Geschwister gemocht hätte, nur ihn nicht;  seine gesamte Herkunftsfamilie inkl. der Geschwister (außer einer Schwester) bezeichnet er als „Dreck“.

Tobias (ausführliche Falldarstellung): Verhältnis zum häufig abwesenden Vater sehr schwierig (wird ihm gegenüber als "Beziehungslosigkeit" beschrieben inkl. mangelnde Aufmerksamkeit und Zuwendung), Problem in der Familie sei eine Art "Nicht-Erziehung" gewesen, hoher Erfolgsdruck in der Familie, nach eigenen Angeben selten körperliche Gewalt, was allerdings auffällt ist, dass er bezogen auf sich und später seine Erziehung gegenüber Kindern anmerkt: "Ich find so laizer faire-mäßig ist nicht das Richtige, ich find, ich bin auch emotional, aber ein Kind merkt, das ist eine Beziehung, sobald die Beziehung keine Emotionen mehr hat, is sie tot. Ich meine, gut, ein Klaps aufn Arsch ist besser als `Mach deinen Scheiß, weil dann merkt`s, irgendwo sind Emotionen da" (S. 100)
Hier wird zunächst die emotionale erlebte Kälte in der Familie deutlich. Dass ihm als Lösung nur körperliche Gewalt in der Erziehung einfällt, macht mich hellhörig: Hat er vielleicht in jüngeren Jahren doch mehr Gewalt erlebt, als er eingeräumt hat?

Michael: seit 1. Lebensjahr Eltern geschieden,

Matthias: Eltern seit dem 14. Lebensjahr geschieden, Verhältnis zum Vater sehr schlecht, sehr autoritäre Erziehung, abwechselnd wohnhaft bei Vater und Mutter

Horst: seit 5. Lebensjahr Eltern geschieden, autoritäre Erziehung durch den Vater, schlechtes Verhältnis zum Vater

Peter: Seit dem 10. Lebensjahr Eltern geschieden

Christoph: sehr autoritäre Erziehung des Vaters, gespanntes Verhältnis zu beiden Elternteilen

Jakob (ausführliche Falldarstellung): leiblicher Vater unbekannt, darüber wurde er erst im Alter von 17 Jahren aufgeklärt, vorher dachte er, sein Stiefvater sei sein echter Vater; autoritäre Erziehung des Stiefvaters (Prügel und Ohrfeigen); seine Mutter habe viel geredet, aber auch geschrien; seine Beziehung zu seinen Eltern beschreibt er seit seinem 16. Lebensjahr aktuell als "gleichgültig", er kam nur noch zum Schlafen und Essen nach Hause.

Klaus: Eltern seit dem 2. Lebensjahr geschieden, sehr autoritäre Erziehung des Stiefvaters, schlechtes Verhältnis zum Stiefvater

Philip: Eltern seit 11. Lebensjahr geschieden, leiblicher Vater unbekannt, sehr gewalttätiger Stiefvater, 8 Jahre Heimaufenthalt

Harald: Eltern seit 2. Lebensjahr getrennt, Mutter überfordert, Heimaufenthalt zwischen 10. Und 15. Lebensjahr

Patrick: autoritäre Erziehung der Eltern, Vater das erste Mal im Alter von 3 Jahren kennengelernt

Werner: Vater im 8. Lebensjahr gestorben, auffällig die hohe Geschwisterzahl von 8, autoritäre Erziehung der Mutter, Verhältnis zur Mutter sehr schlecht, kaum Kontakt zu Geschwistern

Frank: Eltern seit 11. Lebensjahr geschieden, keinen Kontakt mehr zum Vater

Arno: Eltern seit 13. Lebensjahr geschieden, keinen Kontakt mehr zur Mutter und den jüngeren Geschwistern

Edgar: Eltern seit 10. Lebensjahr geschieden, autoritäre Erziehung durch den Vater, Verhältnis zum Vater sehr schlecht

Gregor: hat Adoptiveltern, er kennt seine leiblichen Eltern nicht, sehr schwieriges Verhältnis zum Adoptivvater

Volker: sehr autoritärer Erziehungsstil und schwieriges Verhältnis zu den Eltern, insbesondere dem Vater

Norbert: Eltern seit 5. Lebensjahr geschieden,

Rainer (ausführliche Falldarstellung): sehr autoritärer Erziehungsstil des Vaters, sehr schlechtes Verhältnis zum Vater; auffällig sind dabei vor allem Schilderungen von besonders schwerer Gewalt seitens des Vaters mit Folgen wie blauen Flecken, so dass er nicht mehr sitzen konnte; ergänzend wird auch eine Szene beschrieben, in der die Mutter gewalttätig wurde, worauf er erst einmal abgehauen sei.

Robert: sehr autoritärer Erziehungsstil der Mutter, Vater war früher beruflich häufig längere Zeit abwesend

Thilo: keine Besonderheiten

Sonja: Eltern seit 4. Lebensjahr geschieden, autoritäre Erziehung, schlechtes Verhältnis vor allem zur Mutter, Mutter war häufig abwesend

Sebastian: Eltern seit dem 4. Lebensjahr geschieden, sehr schlechtes Verhältnis zur Mutter und zum Stiefvater, Überforderung der Eltern, 3 Jahre Heimaufenthalt

Rolf: keine Besonderheiten

Tim: Keine Besonderheiten

Richard: Eltern seit dem 12. Lebensjahr geschieden, 6 Geschwister, zum Vater sehr schlechtes Verhältnis, häufige Abwesenheit des Vaters, seit Jahren keinen Kontakt mehr zum Vater

Albert: Vater eher autoritär, früher schlechtes Verhältnis zum Vater

Günther: Eltern seit 12. Lebensjahr geschieden

Guido: Mutter im 15. Lebensjahr gestorben, Vater war viel abwesend, nach dem Tod der Mutter war Guido auf sich alleine gestellt

Fridolin: Vater unbekannt, seit dem 7. Lebensjahr im Heim, Mutter seit Heimaufenthalt noch 5 mal gesehen, über ihren späteren Tod war er „froh“

Thomas: autoritäre Erziehung der Mutter, schwieriges Verhältnis zur Mutter, Vater oft lange abwesend

Lutz: keine Besonderheiten

Kai: Vater im 1. Lebensjahr gestorben, Verhältnis zur Mutter und zum Stiefvater sei „normal“, allerdings seit dem 13. Lebensjahr Leben in einem Heim

Bert: Eltern im 16. Lebensjahr geschieden, sehr autoritärer Erziehung der Eltern, er fühlte sich als „schwarzes Schaf“ der Familie

Theo: Keine Besonderheiten

Oliver: keine Besonderheiten

Bruno: keine Besonderheiten

Holger: Keine Besonderheiten

Ewald (ausführliche Falldarstellung): kennt seinen leiblichen Vater nicht, sehr autoritäre Erziehung des Stiefvaters (Gewalt und emotionale Kälte) und schlechtes Verhältnis zu ihm; Mutter schützte ihren Sohn nicht, sondern habe sich untergeordnet; Ewald hat zum Zeitpunkt des Interviews seit vier oder fünf Jahren keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern

Mittwoch, 4. März 2020

Zwei kleine Studien über die Kindheitserfahrungen von Rechtsextremisten

Es gibt auch kleinere Untersuchungen, die sich mit der Sozialisation und auch Kindheit von Rechtsextremisten befasst haben. Zwei möchte ich heute vorstellen.

Beginnen wir mit folgender Arbeit:
Nölke, E. ( 1998): Marginalisierung und Rechtsextremismus. Exemplarische Rekonstruktion der Biographie- und Bildungsverläufe von Jugendlichen aus dem Umfeld der rechten Szene. In: König, H.-D. (Hrsg.): Sozialpsychologie des Rechtsextremismus. Suhrkamp -Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main. S. 257-278.

Eberhard Nölke hat im Rahmen eines Projektes an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zwei Jugendliche, die der rechten Jugendszene nahestehen, befragt.

Der Fall Michael (zum Zeitpunkt der Befragung inhaftiert):

War eigentlich ne ganz gute Kindheit so, also die ersten zwei Jahre gings“, sagte Michael (S. 259).
In Falldarstellungen von Gewalttätern oder Extremisten findet man solche Sätze nach meiner Erfahrung gar nicht so selten. „War ganz normal“ + „Alles gut“ sind Aussagen zur eigenen Kindheit, die bei genauer Betrachtung so gar nicht gut und so gar nicht normal sind. Im Fall von Michael sieht man die dunkle Seite seiner Kindheit schon gleich im Nachsatz: „also die ersten zwei Jahre gings“…

Schauen wir uns also einige wesentliche Daten zur Kindheit von Michael an: Zu seinem Vater hatte er kein gutes Verhältnis und konnte sich mit diesem auch nicht über Probleme austauschen. Über seine Mutter und die Beziehung zu ihr gibt Michael gar nichts Preis. Wie problematisch die Verhältnisse in der Familie (die zudem mit sechs Kindern sehr kinderreich war) waren, wird an einer Stelle sehr deutlich: „Auf Nachfragen des Interviewers hin erzählt Michael ergänzend, dass es in der Familie oft zu Streitereien und gewalttätigen Auseinandersetzungen kam, insbesondere zwischen den Eltern sowie seinen beiden älteren Brüdern und dem alkoholisierten Vater. Die biographische Erzählung über die Kindheit wird hier auch zur retrospektiven Annäherung an traumatisierende Erfahrungen und gerät zum Versuch, das Geschehene auszublenden oder zu neutralisieren“ (Nölke 1998, S. 260f).
In der Schule gab es große Probleme, was letztendlich dazu führte, dass Michael auf eine Sonderschule kam. Der weitere Eskalationsprozess nahm seinen Lauf:  „Die zunehmende Entkoppelung von der Schule, der steigende Alkoholkonsum sowie die sich häufenden Diebstähle und gewaltsamen Auseinandersetzungen, in die Michael und sein älterer Bruder verstrickt sind, führen schließlich, nach zahlreichen vergeblichen Interventionen des Jugendamtes, zur Unterbringung in einem entfernt gelegenen Heim“ (Nölke 1998,. 266). Dort traf er auf einen rechten Skinhead, den er als „Artgenossen“ beschrieb. Mit ihm habe er nächtelang über die Nazizeit reden können.

Der Fall Erich:

Über die Kindheit von Erich erhält man nur sehr wenig Informationen (vor allem zum Erziehungsstil gibt es im Grunde keine Infos). Zwei Belastungen stechen ins Auge: Sein Vater verunglückte tödlich, als Erich zwei Jahre alt war. Nach dem Tod des Vaters heiratete seine Mutter erneut. Den Stiefvater kennzeichnet Erich als „Arbeitstier“, der auch im Anschluss seiner Arbeit noch einige Stunden im Keller arbeitete. Auch die Mutter war berufstätig, so dass Erich nach der Schule in einen Hort kam. Viel Zeit der Eltern für das Kind scheint also nicht dagewesen zu sein. Bzgl. des Stiefvaters deutet Erich einen hohen Alkoholkonsum (dieser habe „noch ausgiebiger gefeiert“, als er selbst) an. Bzgl. seines leiblichen Vaters deutet sich an, dass dieser alkoholisiert war, als er mit dem Auto verunglückte. Auch Erich neigt sehr dem Alkohol zu. Erich wird schließlich Teil der rechten Skinheadszene in Ostdeutschland (Nölke 1998,. 268-272). Vom Autor wird Erich als ein durch „Konventionalismus und Unterwürfigkeit unter Autoritäten geleiteter Typus“ beschrieben, dessen Lebens-Prinzip man wie folgt beschreiben könnte: „Man kann eh nichts machen, das ganze Leben ist ein Kompromiss“ (Nölke 1998, S. 275f)

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Für nachfolgende Studie wurden drei Interviews mit männlichen Jugendlichen aus der rechtsextremen Szene geführt: Michel, S. & Schiebel, M. (1989): Lebensgeschichten von rechtsextremen Jugendlichen. In: Rosenthal, G. (Hrsg.): Wie erzählen Menschen ihre Lebensgeschichte? Hermeneutische Fallrekonstruktion distinkter Typen. Forschungsbericht des Lehrprojektes: „Biographie“. Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie. S. 212-233.

Der erste Befragte begann seine Erzählung mit den Worten, dass seine Kindheit „normal“ verlaufen wäre (Michel & Schiebel 1989, S. 213). Auf ähnliche typische Ausführungen in diese Richtung habe ich oben schon hingewiesen. Die weiteren Details: Seine Eltern trennten sich und er sei danach vorübergehend in ein Internat in die Schweiz abgeschoben worden. Über diese Zeit schwieg sich der Befragte aus. Nach dem Internat habe er abwechselnd bei seiner Mutter und bei seinem Vater gelebt. Den Anstoß zu den jeweiligen Umzügen gab immer ein Streit (Michel & Schiebel 1989, S. 213f) Das Interview wurde in einer Kneipe geführt, in der sich rechte Jugendliche trafen. Das Interview sei immer wieder von Anwesenden gestört worden. Ich gehe davon aus, dass in diesem Rahmen kaum Angaben des Befragten über evtl. erlebte schwere Belastungen (Gewalt, Vernachlässigung, Missbrauch usw.) zu erwarten sind. Trotzdem zeigten die o.g. Ausführungen bereits ein sehr konfliktbeladenes Aufwachsen.

Die zweite Befragung fand im gleichen Rahmen statt. „Er begann seine Darstellung mit der Schilderung einer durchweh konfliktreichen Kindheit. Die Scheidung seiner Eltern und ein mehrmaliger Umgebungswechsel (Pflegefamilie, Schwägerin, Internat) waren seiner Darstellung zufolge für seine Kindheit und Jugend kennzeichnend“ (Michel & Schiebel 1989, S. 215). Er erwähnt weitere Krisen in seinem Leben, wie die Trennung von seiner Freundin und später einen Selbstmordversuch. Zum Zeitpunkt der Befragung war er 19 Jahre alt und wohnte weit entfernt von seinen Eltern und der Pflegefamilie. Seine wesentlichen Kontakte hatte er in der rechten Szene (Familienersatz?).

Der dritte Befragte (dieses Interview fand in einem Haus statt, allerdings auch nicht alleine, ein anderer junger Mensch – wohl ebenfalls aus der rechten Szene - war dabei anwesend) hat, laut den Autoren, sehr wenig über sein Leben Preis gegeben. Nur so viel kam zur Kindheit zu Tage: Seine Eltern ließen sich scheiden, als er fünf Jahre alt war. Mit zwei jüngeren Geschwistern kam er bei seiner Mutter unter. Während seiner Hauptschulzeit sei er viel in gewalttätige Konflikte verwickelt gewesen (Michel & Schiebel 1989, S. 216).


Abschließende Bemerkung:

In beiden Studien konnten deutliche Belastungen in der Kindheit der Befragten aufgezeigt werden. Allerdings offenbaren sich auch die Schwierigkeiten, vertiefende Informationen zur Kindheit von rechtsextremen Personen zu bekommen. Bagatellisierungen scheinen eher die Regel zu sein (was sich auch in anderen Studien zeigt). Ich würde dem noch anhängen, dass rechtsextreme Akteure ja bereits durch ihre Gesinnung deutlich machen, dass sie nach Außen Stärke, Kontrolle und Macht demonstrieren und auch Angst verbreiten wollen. Zu diesem Selbstbild passt kaum, sich auf vertiefende Erzählungen zu verletzenden Erfahrungen in der Kindheit einzulassen und Ohnmacht einzugestehen. Es ist deshalb im Grunde schon erstaunlich, dass sich in vielen anderen Extremismus-Studien (die ich hier auch im Blog besprochen habe) deutliche Belastungen (dabei auch Gewalterfahrungen) in der Kindheit von Rechtsextremisten feststellen lassen. Man muss wohl einen guten Rahmen wählen und auch die Fragen geschickt stellen, dann bekommt man auch Antworten. Beide o.g. Studien sind schon etwas älter und waren methodisch sicher auch nicht perfekt. Trotzdem möchte ich sie hier besprechen, denn die Grunderkenntnis ist auch hier, dass sich regelmäßig belastende Kindheitserfahrungen bei Extremisten finden lassen.

Donnerstag, 20. Februar 2020

Hallenser Gewaltstudie: Die Kindheitsgeschichte ostdeutscher, rechter Gewalttäter



Für nachfolgend genannte Studie wurden 24 Interviews mit jungen Gewalttätern in Ostdeutschland geführt:

Bannenberg, B. & Rössner, D. (2000): Hallenser Gewaltstudie - Die Innenwelt der Gewalttäter: Lebensgeschichten ostdeutscher jugendlicher Gewalttäter. In: DVJJ-Journal: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 11 (2000) 2, S. 121-134.

Von den 24 Gewalttätern bezeichneten sich 17 (nur eine Person davon war weiblich) als rechts oder früher rechts, als rechtsgerichtet, als rechtsdenkend, als Skin oder Skinhead mit nationalistischer oder ausländerfeindlicher Einstellung (S. 129). Die Bandbreite reichte dabei von rechtem Denken, das nicht unbedingt mit Gewalthandeln verbunden war, bis hin zu extrem hasserfüllten Denken, das in gewalttätige Handlungen mündete. Sehr häufig wurden die Freundschaft, Kameradschaft und der Familienersatz durch rechte Gruppen betont.

Der familiäre Hintergrund war für viele Jugendliche der Einstieg in die Gewalt. Sie lernten nicht nur, Gewalt als normales Mittel des Verhaltens, der Interessensdurchsetzung und der Konfliktlösung anzuwenden, sondern wurden häufig auch schon sehr früh in extremer Weise Opfer. Sie mussten in frühen Jahren mit ansehen, wie Mutter und Geschwister geschlagen und verprügelt wurden und sie mussten in einem Klima leben, das jederzeit in unberechenbarer Weise in Gewalt, auch gegen sie selbst, umschlagen konnte. Viele machten auch die deprimierende Erfahrung, das keine Hilfe zu erwarten war“ (S. 123).

Die Befragten konnten in ihrer Kindheit und Jugend keine vertrauensvollen und tragfähigen Beziehungen zu Erwachsenen aufbauen. In den Fallbeispielen fällt auch immer wieder der Hinweis auf starken Alkoholkonsum von Elternteilen auf. Viele (die genaue Anzahl wurde nicht dargestellt, es wurde nur von „vielen“ berichtet) waren außerdem phasenweise in Kinderheimen untergebracht. Die Gewalttäter wiesen keine oder nur eine niedrige Bildungsqualifikation auf. Die Mehrheit hatte keinen Schulabschluss.

Manche Fallbeispiele sind extrem, so z.B. der Fall „Philip“. Philip schilderte, dass seine Eltern ihn nicht gewollt hätten. Es gab viel Streit, der Vater hätte randaliert bis die Polizei kam. Seine Mutter habe viel getrunken und sich nicht gekümmert. Weitgehend sei er bei seiner Oma aufgewachsen. Später kam er nur noch nach Hause, um dort zu schlafen. In der Schule gab es massive Probleme. 1992 wurde seine Mutter vergewaltigt und durch viele Messerstiche ermordet. Kurz nach der Wende schloss er sich einer rechten Gruppe an und beging mit 13 Jahren einen Brandanschlag auf eine Gedenkstätte. Seine weitere kriminelle „Karriere“ ist lang, inkl. gefährlicher Körperverletzung. Im Rahmen seiner rechten Aktivitäten wurde er aber auch Opfer von schwerer Gewalt (S. 129).

Mittwoch, 19. Februar 2020

Studie: Der soziobiographische Hintergrund rechtsextremistischer Gewalttäter


Für die nachfolgend genannte Studie wurden 61 rechtsextreme, männliche Gewalttäter, die vom Landgericht Halle und Dessau vorwiegend wegen Mordes, versuchten Mordes, Totschlag oder gefährlicher Körperverletzung angeklagt worden waren, mehrstündig befragt (ergänzend wurden teils auch die Eltern im Gerichtssaal befragt):

Marneros, A., Steil, B. & Galvao, A. (2003): Der soziobiographische Hintergrund rechtsextremistischer Gewalttäter. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform. Band 86, Heft 5. S. 364–372.


Zur Kindheit und Familiensituation gibt es folgende Ergebnisse:
  • Bei 68,9 % (N=42) der Täter konnte eine sogenannte „Broken-home-Situation“ nachgewiesen werden. Darunter fielen:  Trennung/Scheidung der Eltern, Sucht bei einem Elternteil, Wechsel der Erziehungsträger, Heimaufenthalte, aufwachsen ohne Vater, aufwachsen ohne Mutter, Tod eines Elternteils.
  • Besonders auffällig fand ich vor allem die hohen Zahlen suchtkranker Eltern (34,4%) und von Heimaufenthalten (23%). 
  • Nur 34,4 % (N=21) der Täter gaben an, dass sie in ihrer Ursprungsfamilie keine Gewalt erlebt hatten. 
  • 65,6 % der Täter haben entsprechend Gewalt in unterschiedlichen Konstellationen (Mutter gegen Kinder, Eltern gegen Geschwister usw.) erlebt. Die häufigste Gewaltkonstellation war Gewalt durch den Vater gegen die Befragten (60,7%). 

Aus Erfahrung weiß man, dass gerade solche Gewalttäter dazu neigen, negative Kindheitserfahrungen zu bagatellisieren oder zu verdrängen. In dieser Hinsicht haben auch die Autoren der Studie beim Thema Gewalt bzw. problematische Familienhintergründe Hinweise gegeben: Einige Befragte hätten Schwierigkeiten gehabt, ihre Antworten detailliert darzustellen. „Die Motive dafür sind unterschiedlich. So spielen Abwehr, Verleugnung oder auch Intention eine entscheidende Rolle bei der Beantwortung der Fragen“ (S. 366).

Im weiteren Bildungsverlauf zeigt die Studie klassische Ergebnisse ähnlicher Studien: 27,9 % der Befragten hatten die Schule abgebrochen und 23 % waren auf einer Sonderschule. Nur ein Befragter hatte Abitur. Bei 64 % der Befragten wurde ein sehr stark ausgeprägte Störung des Sozialverhaltens (nach Kriterien der WHO) festgestellt.

Dienstag, 18. Februar 2020

NS-Täter. Die Kindheit von Odilo Globocnik


Ich habe mich mit der Kindheit des NS-Täters Odilo Globocnik befasst. Meine Quelle dafür ist:
Sachslehner, J. (2014): Zwei Millionen ham'ma erledigt: Odilo Globocnik - Hitlers Manager des Todes. Styria, Wien – Graz – Klagenfurt. 

Odilo Globocnik wird als der ´“blutigste Einpeitscher von Judenvernichtung und Germanisierung“ im polnischen Generalgouvernement benannt (S. 11). Er gilt als einer der Haupttäter des Holocaust. In der Inhaltsbeschreibung heißt es: „SS-Brigadeführer Odilo Globocnik ist ­Manager: Manager des Todes. Seine Geschäfte sind der millionenfache Massenmord und der Raub jüdischen Eigentums. (…) Sein monströser Vorschlag zur physischen Vernichtung der polnischen Juden durch Giftgas findet im Herbst 1941 rasch die Zustimmung Berlins, ab dem März 1942 rollen die Todeszüge in die neu errichteten Vernichtungslager Belzec, Sobibór und Treblinka.“

Der Vater von Odilo war ursprünglich beim Militär im Rang eines Oberleutnants. Als er heiraten wollte, wurde er in den Stand der Reserve zurückversetzt und war von nun an Postbeamter. Sein Sohn Odilo Globocnik wurde 21.04.1904 in Triest geboren. Im Ersten Weltkrieg wurde der Vater einberufen und schaffte es in den Rang eines Rittmeisters. Wegen eines Magenleidens scheint ihm der Einsatz an der Front allerdings erspart geblieben zu sein.
Eine Offizierskarriere in der Armee des Kaisers sah der Vater offenbar auch für seinen Sohn als erstrebenswert an, „so wird der elfjährige Odilo nach St. Pölten geschickt, wo dieser am 13. Dezember 1915 nach bestandener Aufnahmeprüfung in die Militär-Unterrealschule eintritt“ (S. 22).

Der Biograf Johannes Sachslehner beschreibt einen Bericht eines früheren Zöglings dieses Militärinternats, die „Vergewaltigung seiner Kindheit“ und den körperlichen und geistigen Missbrauch während dieser Zeit (S. 23). Wie Odilo seinen Aufenthalt dort erlebte, wird nicht beschrieben. Der Biograf meint, dass Odilo mit den „Herausforderungen der Militärerziehung besser zurechtgekommen zu sein“ scheint (S. 23); Grundlage für diese Einschätzung sind offenbar sehr gute Zeugnisse des Schülers, keine Aussagen von Odilo.

Nach Ende des Krieges kehrte der nun mehr 14-Jährige zurück zu seinen Eltern, die ihm ein neues Berufsziel auferlegten: Techniker. Am 01.12.1919 starb sein Vater im Alter von 49 Jahren, wohl an einer Krankheit, die er sich im Krieg zugezogen hat. Für Odilos Mutter, „die nun mit drei unversorgten Kindern allein dasteht, beginnt ein verzweifelter Kampf ums Überleben“ (S. 27). In einem Unterstützungsersuch an die Postdirektion schrieb sie, dass sie und ihre Kinder dem Hungertod anheimfallen werden. „Odilo, der diesen Überlebenskampf hautnah miterlebt, fühlt sich von nun an als einziger `Mann` in der Familie für seine Mutter und für seine jüngere Schwester Erika verantwortlich“ (S. 27). Er verdiente sich als Kofferträger etwas dazu. Allerdings betätigte der Jugendliche sich nebenbei auch politisch, die Parolen der extrem Rechten machte er sich schnell zu eigen. In seinem Heimatort scheint es eine sehr aktive politische Szene gegeben zu haben.

Schilderungen über die Familienatmosphäre oder den Umgang der Eltern mit den Kindern findet man im Grunde fast gar nicht in der verwendeten Quelle. Ebenfalls finden sich wie geschildert keine Details über den ca. dreijährigen Aufenthalt im Militärinternat. Ich muss also etwas spekulieren:
Seine Mutter war die Tochter eines Beamten. Sein Vater war sowohl Beamter als auch beim Militär. Die Eltern regelten den Lebensweg ihres Sohnes, erst sollte er Offizier werden, dann Techniker. Einen Elfjährigen – zudem in Kriegszeiten - in ein Militärinternat zu schicken, mag man damals für eine gute Idee gehalten haben; ein Kind bleibt aber ein Kind. Für einen Elfjährigen bedeutet es einen tiefen Einschnitt von der Familie getrennt und den Vorgesetzten im Internat ausgeliefert zu sein. Was sich dort alles abspielte, lässt sich nur erahnen. Ich halte es für extrem unwahrscheinlich, dass das Kind in den Jahren dort keine Verletzungen und Indoktrinationen erlebt hat.

Die Frage bleibt ergänzend, wie die Eltern Zuhause mit den Kindern umgingen?  Eine vom Militär und vom Beamtentum geprägte Familie des Kaiserreichs steht für mich nicht gerade für eine liberale Erziehung, letztere war damals eh selten zu finden. Ich vermute deutliche Belastungen und Gehorsamsforderungen in der Familie.

Bei aller Spekulation bleiben aber auch die deutlichen Fakten, die eine sehr belastete Kindheit aufzeigen: Trennung von der Familie und Zeit im Militärinternat zwischen dem 11. und 14. Lebensjahr, Tod des Vaters als Odilo 15 Jahre alt war und anschließend verzweifelte Situation der Familie.

Montag, 17. Februar 2020

NS-Täter. Die Kindheit von Werner Best


Ich habe mir die Kindheitsgeschichte von Werner Best angeschaut. Meine Quelle dafür ist:
Herbert, U. (1996): Best: Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903-1989. J.H.W. Dietz Nachfolger, Bonn.

Als Stellvertreter Heydrichs bei der Gestapo, Chef der Innenverwaltung im besetzen Frankreich, Reichsbevollmächtigter in Dänemark sowie einflussreicher Ideologe der SS stand Best während der NS-Diktatur immer im Schnittpunkt nationalsozialistischer Weltanschauung und Politik“ (Herbert 1996, Inhaltsangabe)

Werner Best hat seine frühe Kindheit als unbeschwert und behütet dargestellt. Wobei auffällt, dass er sich (den Ausschnitten nach) dabei nur auf Erlebnisse außerhalb der Familie konzentriert: Schlittenfahren, Sommersingen, Theater usw. (S. 46). Als Bruchpunkt beschrieb er den Tod seines Vater, der in Folge einer Verwundung an der Westfront in Frankreich am 04.10.1914 starb. Werner war zu dem Zeitpunkt 11 Jahre alt. Best schreibt: „Der frühe Heldentod meines Vaters hat mich schon mit elf Jahren einsam gemacht, da meine Mutter zusammenbrach und mehr Stütze von seiten ihrer Söhne brauchte, als sie ihnen geben konnte. Ich bin deshalb eher von der Tradition meiner Familie als von meinen Eltern erzogen worden. (…) Mein Vater hatte einen Brief an seine beiden Söhne hinterlassen, in dem er uns die Mutter anbefahl und uns aufforderte, patriotische deutsche Männer zu werden. So fühlte ich mich mit elf Jahren bereits für meine Mutter und meinen jüngeren Bruder verantwortlich. Und vom 15. Lebensjahr ab (1918!) fühlte ich mich verantwortlich für die Wiederaufrichtung Deutschlands. Ich habe deshalb in meiner Jugend nur Ernst und Sorge, Arbeit und Verantwortung gekannt“ (S. 47)
Der Tod des Vaters war für die Familie traumatisch. In der Folge konnte seine Mutter nicht mehr wie vorher für ihre Kinder sorgen, wenn man den Ausführungen folgt. Wenige Wochen nach dem Vater starb zudem auch noch der Großvater (S. 47).

Über den Erziehungsstil und weitere Belastungen in der Familie erfährt man nicht viel in der verwendeten Quelle. Nur so viel: „Der Vater durchlief die höhere Postbeamtenlaufbahn, bei jeder Beförderung wurde er versetzt. Die Familie zog mit, von Darmstadt nach Liegnitz, von Liegnitz nach Dortmund“ (S. 46). Nach dem Tod des Vaters siedelte die Familie erneut um, nach Gosenheim bei Mainz. Das Leben der Kinder und Familie verlief also auch räumlich unstet.

O-Ton Werner Best: „Ich bin in der Atmosphäre deutschen Beamtentums aufgewachsen. Mein Vater war Postbeamter und Sohn eines Eisenbahnbeamten, meine Mutter die Tochter eines Bürgermeisters. Dienst für Volk und Staat, strenge Pflichterfüllung und spartanisch einfache Lebenshaltung waren der Lebensrahmen einer deutschen Beamtenfamilie“ (S. 46)
Hier deutet sich ziemlich klar an, dass viel Wert auf Disziplin und Gehorsam gelegt wurde. Wie genau sich dies im Erziehungsstil niederschlug, wird nicht beschrieben. Fest steht aber auch, dass in der verwendeten Quelle keine Belege für Gewaltfreiheit in der Familie zu finden sind. Überhaupt ist die Informationslage über die Kindheit von Werner Best sehr dünn.

Bei den meisten von mir untersuchten NS-Tätern fällt auf, dass es meisten mehrer Belastungen in der Kindheit gab: Also z.B. strenge, autoritäre Erziehung und Tod eines Elternteils oder strenge, autoritäre Erziehung und lange Trennung von der Familie usw. Bei Werner Best gibt es nur Andeutungen, die eine strenge Erziehung nahe legen. Die traumatischen Belastungen nach dem Tod des Vaters wurde beschrieben. Ebenfalls der Zusammenbruch der Mutter. Eine sehr belastete Kindheit an sich ist insofern belegt.


Freitag, 14. Februar 2020

NS-Täter. Die Kindheit von Wilhelm Keitel

Wilhelm Keitel brachte es im NS-Staat bis zum Generalfeldmarschall und Chef des Oberkommandos der Wehrmacht. Als letzt genannter stand nur noch Adolf Hitler in der Befehlsstruktur der Wehrmacht über ihm. Er gehörte zu den in Nürnberg angeklagten  Hauptkriegsverbrechern und wurde zum Tode verurteilt.

Über seine Kindheit hat er sehr viel in einen Memoiren berichtet:
Keitel, W. (1998): Mein Leben. Pflichterfüllung bis zum Untergang. Edition q, Berlin

Keitel wurde im Jahr 1882 geboren. „Bereits im Sommer 1888 wurde mir, damals 6jährig, zum ersten Mal bewusst, dass mein `Mütterchen` krank war. Sie sang nicht mehr! Ich wurde auch viel von ihr fern gehalten – und war doch so an ihre Zärtlichkeiten gewöhnt und als einziges Kind auch verzogen, ungeachtet der `Strenge` des Vaters“ (S. 22). Wie diese „Strenge“ des Vaters genau aussah, wird nicht beschrieben. Man kann sich in etwa vorstellen, was sich um das Jahr 1885 herum alles an autoritärem Verhalten darunter verstand.

Seine Mutter war an Tuberkulose erkrankt und sie war schwanger. Am 25.12.1888 wurde ein Junge geboren. Keitel erinnert sich, wie er am 03.02.1889 an der Hand seines Vaters zum Totenbett seiner Mutter geführt wurde (S. 22). Wilhelm war beim Tod seiner Mutter 6 Jahre alt. Die folgenden drei Jahre danach beschreibt er überhaupt nicht in seinen Memoiren. Er erwähnt nur noch, dass sich sein Vater nach dem Tod der Mutter zu einem „einsamen Sonderling“ entwickelt hätte (S. 23). Erst viel später, als älterer Jugendlicher, habe er ein engeres Verhältnis zum Vater aufbauen können (S. 33f).

Im Alter von neun Jahren wurde Wilhelm nach Göttingen in eine Schülerpension geschickt, die von einer Lehrerwitwe geleitet wurde. Er habe dort vier Spielkameraden gefunden, „vier `Leidensgefährten`, die gleichfalls ihrem Elternhaus fern sein mussten“ (S. 24). Dass er Leid in dieser Zeit erlebte, wird durch den zitierten Satz deutlich. An anderer Stelle spricht er von „Einsamkeit“ und einer „meist gedrückten Stimmung“ in dieser Zeit in der Pension (S. 27). Kein Kind geht unbeschadet durch eine jahrelange Trennung von der Familie. Nur in manchen Schulferien konnte er etwas Zeit Zuhause verbringen und dabei auch seinen Bruder erleben.

Die „Hausmutter“ in der Pension nennt Keitel übrigens stets nur abschätzig „die Alte“ (S. 24). Ein Mädchen und ein Junge aus der Pension waren ein heimliches Liebespaar. Wilhelm half oft, diese Verbindung vor der Lehrerwitwe zu verbergen, aus Angst der Beiden "vor Dresche“ (S. 24). Offensichtlich gab es also auch Prügelstrafen oder entsprechende Drohungen in dieser Pension. Später, als Wilhelm fast 12 Jahre alt war, wechselte er zumindest die Pension und war anschließend zufriedener.

Aber auch in der Schule, die Wilhelm besuchte, wurde die Prügelstrafe angewendet: „Der Schulbesuch gefiel mir gar nicht. Der Elementarlehrer Neumann, mein Klassenlehrer, hatte mich (…) innerhalb kürzester Zeit auf die vorderste Bank gesetzt, unmittelbar neben seinen Sohn Georg (…) und abwechselnd bekamen wir `Maulschellen`, weil wir nichts konnten oder nicht wussten, wovon gerade die Rede war“ (S. 24f). Als ca. 17-Jähriger zog er dann  für eine übersichtliche Zeit zu seiner Großmutter, sein Vater hatte kurz vorher erneut geheiratet. Im Alter von fast 18 Jahren meldete er sich für eine Offizierslaufbahn an und wurde zum Soldaten und Offizier ausgebildet. Der Rest ist Geschichte. „Pflichterfüllung bis zum Untergang“ lautet der Untertitel seiner Memoiren…

Mittwoch, 12. Februar 2020

NS-Täter. Die Kindheit von Ernst Kaltenbrunner


Ich habe die Kindheit von Ernst Kaltenbrunner durchgearbeitet.

Meine Quelle dafür ist:
Black, P. (1991): Ernst Kaltenbrunner: Vasall Himmlers: Eine SS-Karriere (Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart). Ferdinand Schöningh, Paderborn. 

Ernst Kaltenbrunner war der letzte Chef des Reichssicherheitshauptamtes, der gefürchteten Terrorzentrale des Dritten Reichs. Der SS-Obergruppenführer aus Österreich avancierte im Zweiten Weltkrieg zu einem der mächtigsten Männer des Reichs. 1946 wurde er als Hauptkriegsverbrecher hingerichtet“ (Black 1991, Inhaltsbeschreibung)

Über die Mutter von Ernst Kaltenbrunner hat der Biograf Peter Black nur warme Worte übrig:
Der höchste Grundsatz in ihrem Leben war offenbar aufopfernde Liebe zu ihrem Gatten und ihren Söhnen. Ernst war ihr Liebling; sie widmete ihm viel Aufmerksamkeit und deckte ihn oft, wenn er mit seinem Vater zusammenstieß“ (S. 40) Hier deuten sich bereits Konflikte mit dem Vater an, die noch konkretisiert werden:
 „Im Gegensatz zu dieser engen Mutterbeziehung stand die distanzierte, weniger gefühlsbetonte Beziehung zu seinem Vater, den er als `blonden, stattlichen, immer arbeitsbelasteten Mann` in Erinnerung behielt, `der gut zu uns war, aber manchen Anlass hatte, uns auch den Hosenboden stramm zu ziehen`. Im Allgemeinen war jedoch das Verhältnis zwischen Vater und Sohn nicht schlecht“ (S. 40). Den „Hosenboden stramm gezogen bekommen“ bedeutete damals Prügel auf den Po. Die Hose wurde in der Tat stramm gezogen, damit die Schläge (oft mit Gegenständen ausgeführt) mehr Schmerzen verursachten. Die Gewalt scheint nicht selten erlitten worden zu sein. Zudem gibt der Biograf ja auch im oben angeführten Zitat zu erkennen, dass Vater und Sohn wohl recht häufig „zusammenstießen“.

Klassisch ist, dass der Biograf sogleich darauf bedacht ist, diese Gewalt klein zu reden. Er betont im Nachsatz das allgemein gute Verhältnis zum Vater. Und kurz darauf schreibt er ergänzend: „Nichts in der Familienatmosphäre oder im häuslichen Milieu Kaltenbrunners deutet also auf eine abnormale, zur Kriminalität neigende Persönlichkeit oder auf einen Außenseiter, der unfähig ist, eine sinnvolle Beziehung zu seiner Umwelt zu finden“ (S. 40). Die Kaltenbrunners waren  - dem Biografen nach - eine ganz normale, bürgerliche Familie. Ja, so war das halt damals….

Die Deutungen und Ausführungen des Biografen reihen sich in etliche Biografien ein, die ich bzgl. destruktiver Akteure (NS-Täter, Diktatoren) durchgearbeitet habe. Belastungen in der Kindheit werden teils besprochen, dann aber oftmals sofort wieder gedeckelt und umgedeutet. Aus diesem Grund habe ich in meinem Buch sogar ein gesondertes Kapitel mit dem Titel „Das große Schweigen“ verfasst. Gewalterfahrungen durch den Vater und eine distanzierte Beziehung zu ihm mögen damals mehrheitlich die Norm gewesen sein; dies bedeutet aber nicht, dass die Kinder, die dies erlebt haben, unbeschadet geblieben sind! Außerdem wird hier – trotz der Deutungen des Biografen – erneut meine Grundthese bestätigt, dass als Kind gewaltfrei aufgewachsene Menschen nicht zu Massenmördern werden.

Peter Black hat manche Aussagen aus den „Memoiren“ von Ernst Kaltenbrunner, die sich in Privatbesitz befinden und somit nicht öffentlich zugänglich sind. Es wäre die Frage, ob sich darin evtl. noch weitere Infos zum Erziehungsverhalten des Vaters, ggf. auch der Mutter finden lassen. Da Black die o.g. Gewalterfahrungen beschwichtigend kommentiert, könnte ich mir vorstellen, dass er evtl. auch andere Details ausgeblendet oder übersehen hat.

Auffällig ist auch im Fall Kaltenbrunner, dass den Opfererfahrungen und Demütigungen eine Mutter gegenüberstand, die diesen einen Sohn besondere Aufmerksamkeit zukommen ließ (mehr als den Geschwistern). Dieser Mix aus Ohnmacht und mütterlicher Bevorzugung und Bewunderung ist auffällig häufig bei Diktatoren zu finden. Oder in diesem Fall auch bei einem hochrangigen NS-Täter.

Zudem war die Mutter von Ernst Kaltenbrunner nicht unbelastet: Ihre eigene Mutter war bei der Geburt gestorben, sie wurde von einer Tante mütterlicherseits aufgezogen (S. 39). Wie und ob dies Schicksal in ihren Umgang mit ihren eigenen Kindern hineinspielte, wird nicht beschrieben.

Interessant ist nebenbei bemerkt auch, dass sich der Biograf Black bzgl. einer anderen Gegebenheit widerspricht: Nichts in der Familienatmosphäre habe auf eine abnorme Persönlichkeitsbildung hingedeutet. Allerdings beschreibt Black, dass es in der Familie Kaltenbrunner Antisemitismus gab: „So durchdrang schon vor 1914 eine antisemitische `Stimmung` das Kaltenbrunnersche Familienmilieu“ (S. 41).

Kommen wir aber noch einmal zurück zur Kindheit von Ernst. Es gab auch eine lange Trennung von der Familie, nachdem der Vater seinen Sohn aus dem Heimatort Raab nach Linz aufs Gymnasium schickte: „Am 12. September 1913 zog der Junge, noch nicht ganz zehn Jahre alt, in eine Pension, (…). Seine Erinnerungen an die folgenden Jahre waren nicht angenehm. Er hatte starkes Heimweh nach Raab; außerdem fand er seine Wirtin allzu streng und knauserig“ (S. 44). Erst nach dem Krieg nach 1918 lebte Ernst wieder bei seiner Familie, die ebenfalls nach Linz übersiedelte.
Später, in seiner Zelle in Nürnberg, erinnerte sich Ernst Kaltenbrunner mit Wehmut an seine frühe Zeit in Raab (S. 42f). Die Trennung von Familie und Heimat scheint ihn tief geprägt zu haben.
Was sich alles an Verhalten seiner „Gastmutter“ in Linz unter dem Wort „streng“ verbirgt, kann man nur erahnen. Fest steht, dass er keinen unmittelbaren Schutz durch seine Familie hatte und diese Frau offensichtlich die Aufsicht über ihn führte.

Außerdem stellt sich hier die Frage, wie liebevoll und zugewandt eine Mutter ist, die ihren neunjährigen Sohn für ca. 5 Jahre weg gibt? Sicherlich bestimmte damals der Vater abschließend über die Kinder. Vielleicht ist meine Frage also auch etwas ungerecht dieser Mutter gegenüber. Trotzdem stelle ich sie in den Raum. Denn auch Mütter konnten damals Einfluss nehmen und um ihre Kinder – auch gegen die Ehemänner – kämpfen. Ob und wie eine solche Diskussion im Hause Kaltenbrunner stattfand, erschließt sich nicht in der zitierten Biografie. Zu vermuten ist wohl eher, dass die Mutter dem Willen des Vaters entsprach. Ein guter Bildungsweg zählte damals allgemein viel, sehr viel mehr, als das emotionale Befinden eines Kindes.

Insgesamt betrachtet zeigt sich, dass Ernst Kaltenbrunner als Kind sehr belastet war. Zudem deuten sich weitere Belastungen an (Gewalt- oder Demütigungserfahrungen bei der „Hauswirtin“?) Ich sehe hier deutlich das Fundament für eine massenmöderische Karriere im NS-Staat. Ein solches Fundament führt niemals zwingend zum Terror! Aber ein Mensch, dessen Umgebung sich hin zum Terror entwickelt und der ein solches Fundament aufweist, kann u.U. mitgerissen werden.

Donnerstag, 6. Februar 2020

Zufälle, komplexe Welt und Trauma: Adolf Schicklgruber wäre nicht zu einem "Adolf Hitler" geworden.


Hitlers Vater, Alois Hitler, hatte ursprünglich einen anderen Nachnamen. Er hieß eigentlich Schicklgruber. Aus Überlegungen heraus und der Gelegenheit dafür (sein vermeintlicher Vater hieß wohl „Hüttler“) ließ sich Alois Schicklgruber einst in „Hitler“ umbenennen. Der Biograf John Toland kommentiert dies so: „Seine Entscheidung, den Namen Hitler anzunehmen, war von großer Tragweite; es ist nur schwer vorstellbar, dass 70 Millionen Deutsche in vollem Ernst `Heil Schicklgruber!` gerufen hätten“ (Toland, J. (1977): Adolf Hitler. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach. S. 22)

Diese historische Wendung, diese mehr oder weniger zufällige Namensänderung werde ich wohl für immer im Hinterkopf behalten! Es ist ja bekanntlich so, dass die Fokussierung auf Kindheitserfahrungen und entsprechende Verknüpfungen mit späterem Verhalten - erst recht, wenn dies Verhalten massenmörderisch war - oft belächelt oder kritisch gesehen wird. Denn, so wird gebetsmühlenartig argumentiert, "nicht alle einst misshandelten Kinder werden später zu einem Hitler“. Es ist doch so, dass ein Lebensweg immer durch unzählige Zufälle, Begegnungen, Ereignisse, Erlebnisse und spezifische Rahmenbedingungen geprägt wird, inkl. der eigenen, einzigartigen genetischen Aufstellung. Auch ist beispielsweise klar, dass, wäre Adolf Hitler ein Mädchen geworden, er bzw. sie – bei gleicher Erziehung und Misshandlungsgeschichte, sowie den gleichen tragischen Todesfällen (der jünger Bruder starb, Vater und Mutter verstarben früh, vor Adolfs Geburt hatte seine Mutter dazu noch 3 tote Kinder zu betrauern) in seiner Familie – niemals „die Führerin“ geworden wäre, weil damals Frauen solche Wege patriarchal-strukturell grundsätzlich verbaut waren. So ist das im Leben der Menschen.

Und ich muss Toland beipflichten: Ein „Führer“ wie Adolf Hitler wäre der Welt wohl erspart geblieben, wenn er „Adolf Schicklgruber“ geheißen hätte. Dieser winzige Zufall der Namensänderung hatte große Folgen.

All dies ändert nichts an der Tatsache, dass destruktive Kindheitserfahrungen immer Folgen haben, die sich um so deutlicher abzeichnen, je schwerer und je häufiger die Belastungen in der Kindheit waren und auch je mehr verschiedene traumatische Erfahrungen sich zu einem „Traumapaket“ kumulieren. Daraus folgt NICHT automatisch ein Weg zum Massenmörder oder Terroristen. Dazu braucht es etliche weitere Einflüsse und auch Zufälle.

Ein „Adolf Schicklgruber“ hätte wohl niemals einen NS-Staat begründet und wäre diesem vorgestanden. Etliche andere Menschen laufen (und liefen) in dieser Welt herum, die unfassbare Traumageschichten im Gepäck haben. Und niemals wird sich ein Historiker mit ihnen befassen, weil sie nicht auf die historische Bühne treten, aus welchen Bedingungen, Begrenzungen und Lebensverläufen auch immer, die es so viele gibt, wie es Menschen gibt.

Aber fest steht auch: Ein als Kind liebevoll, empathisch und gewaltfrei behandeltes Kind Adolf  Hitler wäre nicht zum Massenmörder geworden! Und deswegen ist die Analyse der Kindheit von solcher Art Tätern so ungemein wichtig und bedeutsam.

Dienstag, 4. Februar 2020

Belastende Kindheitserfahrungen von Soldaten und Soldatinnen



Ich empfehle einmal, in eine Suchmaschine Begriffspaare wie „Kindheit von Soldaten“ oder „Kindheiten von Soldaten“ oder „Kindheitserfahrungen von Soldaten“ u.ä. einzugeben. Im deutschsprachigen Raum findet man nahezu nichts zu dem Thema! Dass Soldaten übermäßig als Kinder belastet waren, scheint kaum jemanden zu interessieren. 

In meinem Buch habe ich ein eigenes Kapitel dazu verfasst: „15 Die Kindheiten von Soldaten und Soldatinnen“. In dem Kapitel habe ich mehrere Studien besprochen, in denen belastende Kindheitserfahrungen von Soldaten und Soldatinnen erfasst wurden. Die Studienlage zeigt, dass Soldaten enorm in der Kindheit belastet wurden; deutlich über dem Durchschnitt der Bevölkerung und tendenziell eher auf dem Belastungs-Niveau, das man oft auch bei Befragungen von Gewaltstraftätern findet.

Ich habe kürzlich eine weitere, aktuelle Studie gefunden, die meine o.g. Ergebnisse bestätigt:
Scoglio, A. A. J., Shirk, S. D., Mazure, C., Park, C. L., Molnar, B. E., Hoff, R. A. & Kraus, S. W. (2019): It all adds up: Addressing the roles of cumulative traumatic experiences on military veterans. In: Child Abuse & Neglect, Volume 98. Epub 2019.

Für diese Studie wurden 850 Veteranen (498 Männer und 352 Frauen) der US-Army befragt. Die Veteranen waren in einem Zeitraum nach den Terroranschlägen vom „11. September“ im Einsatz, u.a. im Irak und in Afghanistan. Zum Zeitpunkt der Befragung waren sie nicht mehr Angehörige des Militärs. Das Durchschnittsalter der Befragten lag bei 42 Jahren.

Ergebnisse:
  • 73 % aller Befragten wurden als Kind körperlich misshandelt (von denen, die von Misshandlungen berichteten, waren 61,7 % männlich). Körperliche Gewalt unterhalb von dem Level von Misshandlung (Definition in der Studie von "Misshandlung": Schläge in der Familie vor dem 18. Lebensjahr, die Prellungen oder Spuren hinterließen; Körperstrafen, die als grausam empfunden wurden und/oder Körperstrafen, die mit Gürteln, einem Holzbrett oder einem anderen, harten Gegenstand durchgeführt wurden) wurde nicht abgefragt und ist gedanklich hinzuzurechnen. 
  • 22,8 % der Befragten wurden als Kind sexuell missbraucht (von denen, die von Formen von sexuellen Missbrauch berichteten, waren 70,5 % weiblich)
Ich halte es nach meinen Recherchen für keinen Zufall, dass das Militär vor allem Menschen anzieht, die als Kind viel Leid erlebt haben.

Freitag, 31. Januar 2020

Holocaust. "Wann sprechen wir endlich über die Täter?": Offener Brief an Filipp Piatov

Dieser Offene Brief bezieht sich auf den Kommentar von Filipp Piatov in BILD-Online vom 28.01.2020 ( "Wann sprechen wir endlich über die Täter?")

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Lieber Herr Piatov,

mit großem Interesse habe ich Ihren Artikel „Wann sprechen wir endlich über die Täter?“ gelesen.
In vielem sprechen Sie mir aus dem Herzen. Letztlich ist es aber auch so, dass sich Teile der Wissenschaft sehr wohl und ausführlich mit den NS-Tätern befassen und befassten. Nur im öffentlichen Raum und Bewusstsein kommt der Blick auf die Täter viel zu selten vor und darum ging es Ihnen wohl auch.
Nun kommt mein Anliegen bzw. meine Anregung an Sie: Ich teile wie gesagt in fett gedruckten Buchstaben Ihren Satz. „Wann sprechen wir endlich über die Täter?“. Ich persönlich bin darüber hinaus noch einen Schritt weiter. Meine Fragen lauten: „Wann sprechen wir endlich über die wesentlichen Gemeinsamkeiten der Täter? Wann sprechen wir endlich über die Kindheiten der Täter?

Und ja, dies ist ein Bereich, bei dem sich i.d.R. auch die Wissenschaft blind stellt, was erstaunt. Denn mittlerweile kann man viel zu den Kindheitshintergründen der NS-Täter finden.

Ich selbst habe 2019 ein Buch dazu veröffentlicht: „Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen“

Darin habe ich die Kindheiten von Adolf Hitler, Rudolf Heß, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Martin Bormann, Albert Speer, Julius Streicher, Karl Dönitz, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Rudolf Höß, Josef Mengele, Adolf Eichmann, Alfred Filbert, Amon Göth und Reinhard Heydrich analysiert. Die Kindheits-Erfahrungen dieser Akteure reichten von Misshandlungen über Demütigungen, autoritäre Erziehung, emotionaler Kälte, Vernachlässigung, Zwängen, Gehorsamsforderungen, Miterleben von Gewalt, Außenseiterstatus, Ehekrisen der Eltern, Suchtverhalten von Elternteilen, Nahtoderfahrungen bis zu Trennung von der Familie und/oder bis zum Tod von Geschwistern und Elternteilen. Dominierend in der Kindheit der NS-Täter war eine strenge und autoritäre Erziehung. Ich habe ergänzend bisher weitere Kindheiten analysiert, z.B. von Alfred Jodl und Robert Ley. Auch dort wurde ich fündig und fand deutliche Belastungen in der Kindheit. Derzeit arbeite ich weitere Biografien von NS-Tätern durch.

Ergänzend dazu habe ich in meinem Buch das Ausmaß von körperlicher Gewalt gegen Kinder und auch von so etwas wie „elterlicher Zuwendung“ in Deutschland erfasst. Je mehr wir uns den Geburtsjahrgängen um die ca. 1930 annähern, desto mehr Gewalt und desto weniger Zuwendung erlebten nachweisbar die Kinder. Der Psychohistoriker Lloyd deMause hat zwei eindrucksvolle Texte geschrieben, die ich Ihnen – neben meinem Buch – sehr empfehle: „The Childhood Origins of World War II and the Holocaust“ und The Childhood Origins of the Holocaust. Er macht klar, dass die Mehrheits-Kindheit im Deutschen Reich um 1900 ein reiner Alptraum war.

In meinem Buch schließe ich mich seinem Schluss an, dass diese alptraumhaften Kindheiten das Fundament für die NS-Zeit und auch den Holocaust bildeten. Umgekehrt ist es so, dass weit verbreitete alptraumhafte Kindheiten nicht zwangsläufig in einer Gesellschaft zu Auswüchsen führen, die wir ab 1933 sahen. Dazu ist die Welt zu komplex, dazu sind die Einflüsse und Rahmenbedingungen zu unterschiedlich, zu umfassend und auch zu verzahnt. Aber: Die destruktiven Kindheiten bildeten das Fundament! (Nebenbei bemerkt sehen wir dies auch heute noch in Ländern wie z.B. Syrien, Afghanistan, im Irak oder sogar auch in den USA, in diesen Ländern finden wir ein enorm hohes Ausmaß von Gewalt gegen Kinder und weiteren Belastungen von Kindern.)

In meinem Buch habe ich ein persönliches Nachwort geschrieben. Daraus möchte ich hier zitieren:

Mir selbst haben meine jahrelangen Recherchen und jetzt auch mein Text irgendwie Ruhe und auch Frieden gebracht. Mein Großvater väterlicherseits war ein überzeugter Nazi und bei der SS. Meine anderen Großeltern hielten einfach ihren Mund während der NS-Diktatur. Diese familiäre Geschichte und die NS-Zeit in meinem Heimatland an sich haben mich schon früh sehr aufgewühlt. Die Frage nach dem Warum tauchte auf, aber auch die Frage, ob so etwas hierzulande wieder passieren könnte. Ich selbst habe nach meinen Recherchen für mich Antworten gefunden. Ich kann heute aus meiner Sicht sagen, dass sich die NS-Zeit in dieser Form niemals hierzulande wiederholen könnte, egal wie die Rahmenbedingungen sich entwickeln. Mit der neueren Generation in Deutschland (die im Buch oben ausführlich beschrieben wurde), die weitgehend gewaltfrei, nicht-autoritär und umsorgt aufwachen durfte, wird es weder einen großen Krieg, noch einen Genozid geben. Dies wäre, davon bin ich überzeugt, unmöglich. Diese neue Generation wird ganz selbstverständlich auch später ihre eigenen Kinder ähnlich umsorgt und gewaltfrei erziehen und wahrscheinlich sogar noch weitere Verbesserungen erreichen.“

Steinmeier sagte wörtlich in seiner Rede in der Gedenkstätte Yad Vashem: „Weil ich dankbar bin für das Wunder der Versöhnung, stehe ich vor Ihnen und wünschte, sagen zu können: Unser Erinnern hat uns gegen das Böse immun gemacht. Ja, wir Deutsche erinnern uns. Aber manchmal scheint es mir, als verstünden wir die Vergangenheit besser als die Gegenwart. Die bösen Geister zeigen sich heute in neuem Gewand. Mehr noch: Sie präsentieren ihr antisemitisches, ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Antwort für die Zukunft, als neue Lösung für die Probleme unserer Zeit. Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt. Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten.“

Natürlich haben wir weiterhin Probleme (Rechtsextremismus, AfD, Antisemitismus usw.) in Teilen unserer Gesellschaft und die werden kurzfristig auch nicht verschwinden. Es war richtig, dass Steinmeier dies angesprochen hat. Was er übersehen und wohl auch gar nicht wirklich darüber nachgedacht hat ist, dass die emotionale Lage der heutigen Nation in Deutschland eine ganz andere ist. Viele Menschen in Deutschland sind heute nicht mehr derart „emotional bewaffnet“ wie Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Kindheiten wurden und werden immer friedlicher in unserem Land. Weitere traumatische Erfahrungen nahmen ergänzend gravierend ab (z.B. sterben Eltern und Geschwister nicht mehr so oft, wie dies um 1900 noch der Fall war; Gewalt durch Lehrer wurde verboten usw.). Und: Seit den 1980er Jahren wurde das psychotherapeutische Angebot in Deutschland stetig und massiv ausgeweitet. Wem es schlecht geht, wer Schlimmes erlebte, wer in Gefahr ist, sich selbst oder Anderen etwas anzutun, der kann auf Hilfen zurückgreifen.

All dies ist ein Modell auch für den Rest der Welt, für Frieden in der Welt. In Deutschland wird es nie wieder so etwas wie Ausschwitz geben, weil die Menschen emotional und psychisch viel weiterentwickelt sind. Und an dieser Entwicklung ist ganz wesentlich die stetige Verbesserung der Kindererziehungspraxis und Kinderfürsorge beteiligt. So etwas in Jerusalem auszusprechen, wäre ganz sicher zu viel gewesen. Es wäre auch einfach unpassend, ja sicher. Aber: Die Medien sollten dieses Thema aufgreifen und darüber debattieren. Darum schreibe ich Sie an. Mein Schreiben veröffentliche ich auch als „Offenen Brief“ in meinem Blog: www.kriegsursachen.blogspot.de.

Viele Grüße

Sven Fuchs

Freitag, 24. Januar 2020

Islamistische Radikalisierung: Religion, Milieu oder doch viel mehr die Kindheit?


Ich habe eine in doppelter Hinsicht interessante Studie zum Thema islamistischer Radikalisierung durchgearbeitet: Aslan, E.,  Akkılıç, E. E. & Hämmerle, M. (2018): Islamistische Radikalisierung: Biografische Verläufe im Kontext der religiösen Sozialisation und des radikalen Milieu (Wiener Beiträge zur Islamforschung). Springer VS, Wiesbaden. 

Ich betone „in doppelter Hinsicht“! Denn der Umgang mit den Ergebnissen und Interviews durch die Forschenden ist auf eine Art schon ein Thema für sich. Die zentrale Forschungsfrage war, wie die Rolle der Religion im Prozess der Radikalisierung ist. Die Autoren schreiben zusammenfassend:
Die vorliegende Studie hat gezeigt, dass es sich bei dieser Form der Radikalisierung um einen aktiven Prozess der Auseinandersetzung des Individuums mit bestimmten religiösen Lehren, Normen und Wertvorstellungen handelt. Dabei radikalisieren sich Individuen nicht isoliert, sondern in direkter Auseinandersetzung mit einem sozialen Umfeld, das in dieser Studie als radikales Milieu bezeichnet wird. Dieses engere soziale Umfeld stellte sich in der Studie als einer der zentralen Punkte für den Radikalisierungsprozess der interviewten Personen dar“ (S. 265).

Nun ist es so, dass ich den Einfluss des radikalen Milieus gar nicht gering reden möchte. Ebenso wenig wie die Suche dieser Akteure nach einem Sinn oder einfach nur der Ausübung einer Religion. Die Ursachenkette ist komplex.
Was mich beim Umgang der Forschenden mit ihren Ergebnisse allerdings gewundert hat ist, dass sie die Kindheitserfahrungen nicht betont und hervorgehoben haben. In anderen Studien (die BKA-Studie „Die Sicht der Anderen“ z.B. ist den Forschenden bekannt) wurde betont, dass destruktive Kindheitserfahrungen und die Suche nach Familienersatz ganz wesentlich den Weg in das radikale Milieu (der „Ersatzfamilie“) begünstigt haben. Daraus leite ich die These ab, dass als Kind weitgehend unbelastet aufgewachsene und geliebte Menschen ein solches Milieu meiden würden, wenn sie durch Zufälle oder Begegnungen darauf stoßen.

Auch das Autorenteam Aslan et al. (2018) (die o.g. Studie) hat ganz deutlich destruktive Kindheitserfahrungen erfasst. Trotzdem wurden wesentlich (ganz im Sinne der Ausgangsforschungsfrage) nur das soziale Umfeld und die Religion hervorgehoben, was erstaunt. Die Studie von Aslan et al. reiht sich letztlich in etliche Extremismusstudien (eine Übersicht hier) ein, die ich hier im Blog oder in meinem Buch bereits besprochen habe. Der rote Faden, der sich auch hier findet, sind belastende Kindheitserfahrungen.

Kommen wir also zu den Ergebnissen der o.g. Studie: 

2016 wurden von dem Forscherteam 29 Interviews durchgeführt, davon 26 in Gefängnissen in Österreich und drei in Jugendeinrichtungen. Diese Befragten standen im Zusammenhang mit der Verübung von terroristischen Straftaten (islamistischen Charakters). Zusätzlich wurden zwei Gruppeninterviews in Gefängnissen geführt. Aus den Befragungen wurden drei Fallbeispiele (Ismail, Givi und Seyidhan) herausgefiltert, die ausführlich besprochen wurden. Am Ende wurden dem noch 11 Fallbeispiele in stark verkürzter Zusammenfassung besprochen. Insgesamt hat man also biografische Einblicke bezogen auf 14 islamistische, männliche Akteure. Für die große Mehrheit der Befragten zeigten sich Belastungen in der Kindheit. Für eine deutliche Minderheit der Fälle wurden zu wenig Angaben gemacht, Belastungen sind aber auch hier somit nicht ausgeschlossen. Der Erziehungsstil der Eltern wurde i.d.R. nicht besprochen. Auch hier bleiben also Fragezeichen. Allerdings kommen die Befragten bzw. ihre Eltern aus Regionen, in denen nachweisbar die Mehrheit der Kinder Gewalt in ihren Familien erlebt. Dies sollte man im Hinterkopf behalten.
Allerdings wird in der Studie sehr deutlich, dass nicht wenige Befragte als Kind traumatisiert wurden (vor allem durch Kriegs- und Fluchterfahrungen). Ich habe die wesentlichen Infos herausgefiltert und nachfolgend dargestellt. Vielleicht wird nach der Durchsicht deutlich, warum ich mich über die Art und Weise der Verarbeitung und die fehlende Hervorhebung von Kindheitserfahrungen durch das Forscherteam wundere:


Ismail

Ismail wurde 1998 in Tschetschenien geboren. Ca. ein Jahr darauf begann der zweite Tschetschenienkrieg. Seine Erinnerungen an diese Zeit haben weitgehend mit dem Kriegsgeschehen zu tun. „Aus seinen Erzählungen geht hervor, dass er bereits früh mit Gewalt konfrontiert wurde. So habe er die meiste Zeit in einem Keller zugebracht, in dem die Familie Schutz vor den Bombenangriffen und den Übergriffen der Kriegsparteien, wie Säuberungsaktionen und Entführungen, suchte“ (S. 98).
Als er sechs Jahre alt war, floh die Familie aus dem Land und siedelte nach Österreich über. An die Flucht kann er sich kaum mehr erinnern. Am Anfang kam die Familie in einer Flüchtlingsunterkunft unter, an die Ismail wenig positive Erinnerungen hat. Als Kind habe er auch in Österreich häufig Angst vor lauten Geräuschen und vor Flugzeugen gehabt. In seiner Kindheit und frühen Jugend sei es ihm schwer gefallen, soziale Kontakte zu knüpfen. Die meiste Zeit habe er mit Computerspielen verbracht.
Die Familie lebte in prekären Verhältnissen, was sich noch zuspitzte, als der Vater an Krebs erkrankte. Nach der dritten Klasse fing der Junge Schlägereien an und kiffte. Eine delinquente Jugenclique, mit der er oft in Parks herumhängte, bekam für ihn zusehends Bedeutung. Aus einem Konflikt mit einer anderen Gruppe heraus, verübte Ismail eine schwere Körperverletzung und wurde angezeigt. Später folgte seine erste Inhaftierung auf Grund von Raubüberfällen. Nach seiner zweiten Inhaftierung bekam er im Gefängnis durch Mitgefangene Interesse für den Islam nach radikaler Auslegung. Dies wird als Wendepunkt beschrieben. Nach seiner Gefängniszeit füllte die Religion das Vakuum, das der Bruch mit seiner delinquenten Clique hinterlassen hatte. Im Umfeld seiner Mosche traf er dann auf islamistische Anwerber und er driftete zusehends ins radikale Milieu ab. Es folgte eine erneute Inhaftierung auf Grund des Verdachts der Straftat der terroristischen Vereinigung.

Givi

Givi wurde Mitte der 1990er Jahre in einem Nachbarland Tschetscheniens geboren. Die Familie war dorthin auf Grund des ersten Tschetschenienkrieges geflohen.  Nach Kriegsende kehrte die Familie wieder in ihre Heimat zurück. Givi war zu der Zeit noch ein Säugling. Als Givi 5 Jahre alt war, verließ der Vater (der vermutlich Alkoholprobleme hatte) die Familie. Givi hat ihn nie wiedergesehen und weiß auch nicht, ob sein Vater noch lebt.
Die Familie kam bei den Großeltern unter. Über seine Großeltern sagt er viel Gutes, sie hätten ihn auch immer vor seiner Mutter „beschützt“, wenn diese „geschimpft hat oder so, ein bisschen Stress gemacht hat“ (S. 139). Was genau seine Mutter tat und was sich hinter dem „Stress“ verbirgt, den er mit ihr hatte, wird nicht klar. Vom fünften bis zum sechsten Lebensjahr erlebte er dann den zweiten Tschetschenienkrieg mit: „Als Kind erlebte er die Gewalt, das Kriegsgeschehen und die Übergriffe gegen Zivilisten waren Teil seines Alltags, und er versuchte sie zu normalisieren, obwohl der Krieg in der Familie der Mutter Opfer forderte“ (S. 140).
2011 floh er mit seiner Mutter nach Österreich. In Österreich intensivierte er dann seine Beschäftigung mit dem Islam vor allem im Rahmen der tschetschenischen Gemeinde. Später bekam er dann Kontakt zur salafistischen Szene Österreichs und radikalisierte sich. Er wurde dann inhaftiert, weil man davon ausging, dass er nach Syrien ausreisen wollte, um sich dort den Terroristen. anzuschließen.

Seyidhan

Seyidhan lebte den Großteil seiner Kindheit in einer Großstadt in der Türkei. Er hatte vier Brüder und drei Schwestern. Der Vater war LKW-Fahrer und oft abwesend. Die Mutter musste sich weitgehend alleine um die 8 Kinder kümmern. An seine frühe Kindheit hat er kaum Erinnerungen. Als Seyidhan 12 Jahre alt war, schickte ihn sein Vater in eine andere Stadt in eine von der Außenwelt weitgehend abgeschottete religiöse Einrichtung (eine Art Internat), da die Kriminalität in seinem Heimat-Viertel sehr hoch war und der Vater auch eine religiöse Ausbildung für seinen Sohn wünschte. Seyidhan konnte von da an seine Familie lange Zeit nicht mehr sehen, nur im Sommer besuchte er seine Familie Zuhause. Wie der Alltag in der religiösen Einrichtung aussah, erschließt sich nicht. Erst im Alter von ca. 19 Jahren kam er zurück in die Stadt, in der seine Familie lebte. Nach seiner Heirat zog er nach Österreich, wo die Eltern seiner Frau lebten. Seyidhan hat ein sehr fundamentalistisches Religionsverständnis, das er in dem Internat vermittelt bekommen hatte und pflegte dies auch in Österreich. Die Bildung eines „Islamischen Staates“ betrachtet er als Ideal.

Amir

Fast keine Angaben über seine Kindheit, der er schlicht als "harmonisch" bezeichnet.

Imran

Fast keine Angaben über seine Kindheit, die er als normal und vom sowjetischen System geprägt beschreibt.

Islam

Erlebte beide Tschetschenienkriege mit. Als der erste Krieg begann, war er sechs Jahre alt. Mehrere Familienmitglieder wurden getötet. Sein Vater - zu dem er ein distanziertes Verhältnis hat und der weitgehend abwesend war - und auch seine Mutter seien streng und sehr traditionell gewesen. Mit 17 Jahren flüchtet er mit Verwandten nach Österreich. Im Rahmen einer Jugendclique wurde er kriminell. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet er sich in Haft, weil im vorgeworfen wurde, dass er nach Syrien zum IS ausreisen wollte.

Jamal

Er flüchtete im Alter von 3 Jahren mit seiner Familie aus Afghanistan nach Österreich. Ansonsten keine vertiefenden Infos über seine Kindheit.

Karim

Stammt aus Ägypten. Keine Infos über seine Kindheit.

Khalid

Floh im Alter von 12 Jahren mit seiner Familie nach Österreich. Sein Vater wurde im Tschetschenienkrieg getötet. Später stieß Khalid im Internet auf ein Video, in dem zu sehen ist, wie sein Vater umgebracht wird. Ab dem Zeitpunkt habe er sich verstärkt mit dem Islam befasst.

Magomed

Im Alter von 4 Jahren flüchtete er mit seiner Familie aus Tschetschenien nach Österreich. Er erinnert sich an den Krieg, u.a. daran, wie das Haus der Familie zerstört wurde. Seine Erziehung zu Hause sei „normal“ verlauf, was auch immer dies bedeuten mag. Als Kind besuchte er den islamischen Religionsunterricht. Seine Lehrer dort seien sehr streng gewesen und hätten die Kinder geschlagen, wenn diese Fehler machten. Ab der 8. Klasse wurde er kriminell. Später im Gefängnis bekam er Kontakt zu Islamisten.

Selim

Im Alter von 3 Jahren zog er mit seiner Familie aus einer armen Region in der Türkei nach Österreich. Den konservativen Eltern war eine religiöse Ausbildung wichtig. Er wurde sowohl in den islamischen Religionsunterricht als auch in Kurse der Moschee geschickt. In diesen Institutionen wurde Gewalt als Erziehungsmethode ausgeübt und Selim machte auch Gewalterfahrungen. Später bekam er Kontakt zu Salafisten. Er wurde auch inhaftiert.

Serkan

Fast keine Infos über seine Kindheit. Im Alter von 6 Jahren zog die Familie von Istanbul nach Österreich. Sein Vater bekam Probleme mit der Polizei und wurde abgeschoben. Seine Mutter blieb mit den Kindern. Von Lehrern sei Serkan diskriminiert worden und kam auf eine Sonderschule.

Rustam

Wuchs in Tschetschenien auf. Seine Erinnerungen an diese Zeit sind von den damaligen Konflikten, die sich in dem Land abspielten, geprägt. Der Vater verließ die Familie (Zeitpunkt unklar).

Yusuf

Wurde in Tschetschenien geboren. Im Krieg verlor er mehrere Verwandte, darunter zwei Brüder. Er selbst erlitt schwere Verletzungen und war fortan invalide. 2004 flüchtete die Familie nach Österreich.

                             

Donnerstag, 23. Januar 2020

Linksextremismus: Die Kindheit von Katharina de Fries


Über die Kindheit von Katharina de Fries hatte ich schon während meiner Recherchen zu meinem Buch gelesen. Sie wurde zwar von der Bundesrepublik Deutschland als RAF-Terroristin verfolgt, allerdings kam es nie zu einem Prozess, da sie nach Frankreich floh. Ich fand keine Belege dafür, dass de Fries Mitglied der RAF war. Deswegen hatte ich sie im Rahmen meiner Fallbesprechungen von RAF-Terroristen in meinem Buch auch nicht aufgenommen.

In meiner „Terror von Links“-Reihe im Jahr 2019 habe ich hier im Blog viele Kindheiten von Linksterroristen besprochen. Auch die Kindheit von Katharina de Fries möchte ich dem nun anhängen. Ich selbst würde de Fries nach meinen Recherchen als Linksextremistin bezeichnen, die u.a. an ideologisch begründeten Raubüberfällen beteiligt war.

Meine wesentliche Quelle ist das Buch: Schmid, U. (2014): Frau mit Waffe: Zwei Geschichten aus terroristischen Zeiten. Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main.

Ulrike Edschmid hat wochenlange Gespräche mit de Fries (und auch Astrid Proll, deren Kindheit ich in meinem Buch besprochen habe) geführt und draus eine biografische Erzählung gemacht.
So weit ich es aus dem Bericht herausfiltern konnte, war de Fries in den 1970er und 1980er Jahren stark in die militant-linke Szene Berlins eingebunden. In dem Bericht wird u.a. erwähnt, dass sie mit Georg von Rauch befreundet war (Edschmid 2014, S. 56). Oder sie spricht davon, wie „ihre Freunde von Tod und Gefängnis sprachen und sich des Risikos bewusst waren“ (S. 62). Wer diese „Freunde“ alles waren und was diese angestellt haben, lies sie offen.
Ging es an dieser Stelle um Tod oder Gefängnis (und wohl um entsprechend schwere Straftaten ihrer Freunde), so berichtet sie an anderer Stelle vorher im Buch folgendes: „Nachts schlich sie mit ihren Freunden durch die Stadt, sie hinterließ ihre Zeichen. In der einen Hand den Hammer, in der anderen den Brandsatz, auf der Schulter die Leiter, näherten sie sich den Fenstern der Herrschenden und scheiterten am Panzerglas. Es waren Zeichen eines anarchistischen Gerechtigkeitssinns, wobei Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Menschen strikt unterschieden wurden“ (S. 48).

Schmid schreibt an einer Stelle: „Es war kein Zufall, dass die marxistisch-leninistischen Organisationen und die Rote Armee Fraktion gleichzeitig entstanden. Nicht die illegale Aktion hielt sie davon ab, sich ihr anzuschließen, sondern das Leben in der Illegalität, das die Trennung von den Kindern, von den Menschen, die sie liebte, vom Leben bedeutet hätte. Dazu war sie niemals bereit. (…) In tiefster Seele stellte sie sich den bewaffneten Kampf als eine Abenteuerexistenz vor, mit mutigen Frauen und Männern und warmherzigen Familien, die für die Kinder sorgten“ (S. 54). Sie erkannte wohl aber auch die Realitäten, die sich hinter dem Leben der Terroristen verbargen. Und auch dies scheint sie im Rückblick abgeschreckt zu haben. Ich betone hier „im Rückblick“. An den zitierten Zeilen wird auch deutlich, wie schmal der Grat war und wie leicht auch de Fries zur Terroristin im Untergrund hätte werden können.

Kommen wir nach diesem kleinen Überblick zu ihrer Kindheit:

Katharina wurde 1934 geboren und verlebte entsprechend eine Kriegskindheit. Drei Mal sei sie aus einem zerbombten Haus herausgezogen worden. Außerdem wird von dem Heulen der Bomben, den Schreien der Menschen und ihrem Zusammenbrechen berichtet (S. 63).
Aber schon vor dem Krieg begannen massive Probleme. Als Katharina drei Jahre alt war, gingen ihre Eltern fort. Ihr Vater schloss sich in Spanien den Anarchisten an, die Mutter ging zu den Kommunisten. Mit ihrer älteren Schwester wurde sie bei den Großeltern untergebracht. 1938 kamen beide Eltern zurück. Später (der genaue Zeitpunkt erschließt sich nicht) trennten sich die Eltern. Die Mutter verschwand auf Jahre aus dem Leben von Katharina. Der Vater brachte die Kinder erneut zu den Großeltern und scheint ansonsten oft abwesend gewesen zu sein (S. 13f).

Ihr Vater holte eine neue Frau an seine Seite. „Die Stiefmutter war eine harte Frau“, die die jüngere Schwester schlug, „bis das Blut aus der Nase lief“ (S. 17). 1944 wurde der Vater von der Gestapo abgeholt und kam dann in ein Strafbataillon. Später kam er in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Eines Tages tauchte er plötzlich wieder Zuhause auf. Zuhause scheiterte er beruflich und musste die Kinder erneut bei den Großeltern unterbringen. Während der gesamten Zeit scheint das Verhältnis von Katharina zur Stiefmutter weiter und extrem eskaliert zu sein:
Nach dieser letzten Rückkehr zu den Großeltern beschloss sie, ihre Stiefmutter umzubringen. Sie war elf Jahre alt, und die Auseinandersetzungen waren ausweglos geworden. Auch die Großeltern hassten die Stiefmutter, alle hassten sie. Der Vater stand dazwischen. Die kleine Schwester machte das Bett naß und wurde dafür von der Stiefmutter geschlagen. Wochenlang lief sie mit Rattengift in der Tasche herum. Im Keller probierte sie es aus. Als sie eine Ratte mit offenem Mund und hochgezogener Lippe fand, schämte sie sich, dass sie das Tier umgebracht hatte“ (S. 22).
Eine Zeit danach wusste sie keinen Ausweg und wollte sich und ihre Schwester in einem Fluss umbringen, was misslang. „Der Hass auf ihre Mutter prägte ihr Verhältnis zu sich selbst. Von Kindheit an hatte sie sich nur dann lieben können, wenn sie sich aus ihrem eigenen Willen heraus bewegen konnte, losgelöst war von dem Schicksal, Frau zu sein“ (S. 24).
Zu den ganzen Umständen kam noch der Hunger dazu. Es gab nichts zu essen. Die Kinder zogen oft los, um irgendwo Nahrung aufzutun.

Zusammenfassend betrachtet ist Katharina de Fries als Kind komplex und schwer traumatisiert worden.

Dienstag, 14. Januar 2020

Jungenbeschneidung in den USA und das "Traumagesamtpaket"


Dank einer kritischen Stimme bin ich auf das Thema Jungenbeschneidung in den USA aufmerksam geworden. Thematisch habe ich das Thema bisher hin und wieder gestreift, mich aber nicht vertiefend damit befasst. Und in meinem Blog habe ich bisher auch nichts dazu geschrieben. Meine Einstellung zur - medizinisch nicht notwendigen - Jugenbeschneidung war und ist ganz klar: Sie verstößt gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit!

Ich werde auch in diesem Beitrag nicht vertiefend auf das Thema eingehen können, weil ich mich immer noch zu wenig mit der Materie befasst habe. Mir geht es hier um folgendes: Die kritische Stimme, die mich kürzlich angeschrieben hat, stellte die These auf, dass die Jungenbeschneidung auch politische Folgen haben kann. Außerdem verwies Sie auf den aktuell hohen Anteil von als Kind beschnitten Männern in den USA (und historisch auch etwas weiter zurückgeblickt in Großbritannien). Für den muslimischen und auch afrikanischen Raum und die jüdischen Lebenswelten war mir natürlich bewusst, dass die Jungen dort entsprechend belastet werden. Mein erster Reflex auf das Anschreiben war, dass ich das Ausmaß in den USA anzweifelte. Keinesfalls konnte ich glauben, dass in diesem westlichen Land die Mehrheit der Männer - ohne religiöse Begründung - als Kind beschnitten wurden.

Nun, ich wurde eines Besseren belehrt.

Zwei seriöse Medienberichte haben das Ausmaß der Jungenbeschneidung in den USA thematisiert.

Der erste von mir gefundene Artikel ( DIE ZEIT, 19.11.1998: "Mit Geduld und Stahl") wurde Ende 1998 verfasst. Darin heißt es, dass an sechs von zehn männlichen Neugeborenen (also 60%) in den USA dieser operative Eingriff durchgeführt wurde. Dies betrifft also die heutige Erwachsenengeneration in den USA ab dem 22. Lebensjahr aufwärts. Ursprünglich, so im Artikel weiter, waren christliche Prediger Ende des 19. Jahrhunderts für die Verbreitung der Praxis in den USA verantwortlich. Moralapostel des Viktorianischen Zeitalters begrüßten damals die Jungenbeschneidung als "Präventivmaßnahme gegen Masturbation"...
In dem Artikel wird ergänzend auch folgendes geschrieben: „In einer im Juli veröffentlichten Studie der Healthpartners Medical Group in Minneapolis gaben 55 Prozent von 1769 befragten Ärzten an, bei diesem Eingriff keine Schmerzmittel zu benutzen.“ Neben den Belastungen, die eine Beschneidung an sich schon für den Säugling oder das Kind bedeuten, kommt also noch in ca. der Hälfte der Fälle ein massives Trauma durch den betäubungsmittelfreien Eingriff dazu.

In einem Artikel im Tagesspiegel wurde geschrieben, dass die Weltgesundheitsorganisation für die USA von einer Beschneidungsrate von Jungen und Männern von rund 70 % ausgeht (Tagesspiegel, 28.06.2012: "Beschneidung. In den USA ist es Routine").

Ich muss gestehen, dass diese Zahlen mich wirklich erstaunt haben. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass in den USA die Mehrheit der Jungen beschnitten werden. Dazu oftmals noch ohne Betäubung.

Dieser Sachverhalt sollte gedanklich zum bekannten Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in den USA hinzuaddiert werden. Bzgl. der Analyse einer Gesellschaft geht es immer darum, das "Traumagesamtpaket" zu erfassen. Kinder können Verletzungen oft gut verarbeiten, wenn sie in einem gesunden Umfeld aufwachsen. Wenn sich Verletzungen allerdings anhäufen und zu einem "Traumapaket" kumulieren, dann wird es kritisch. Die Jungenbeschneidung in den USA muss hier ebenso in den Blick genommen werden, wie all die anderen Belastungen, die Kinder in diesem Land erleben. Nur mit Blick auf das Gesamtpaket wird ersichtlich, warum diese Nation so häufig durch politische Destruktivität und Irrationalitäten auffällt.



Montag, 6. Januar 2020

Islamistische Radikalisierung: Kindheit von Oliver N.


Oliver N. konvertierte als Jugendlicher zum Islam und hatte sich dann in relativ kurzer Zeit der Terrorgruppe „Islamischen Staat“ angeschlossen. Es existiert u.a. ein Video, in dem Oliver N. in der syrischen Stadt Rakka sagte: "Ich lade alle ein, hierherzukommen, um die Ungläubigen zu schlachten wie die Schafe“.
Später stellte er sich und kehrte zurück nach Österreich. Dort wurde er zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Über seine Erlebnisse hat er ein Buch veröffentlicht:
N., Oliver & Christ, Sebastian (2017): Meine falschen Brüder: Wie ich mich als 16-Jähriger dem Islamischen Staat anschloss. Kiepenheuer & Witsch, Köln.

Zudem gab es kürzlich eine sehr interessante Doku über ihn und sein Leben:
Panorama - die Reporter (2019, 03. Dez.): „Der IS-Rückkehrer“

In der Doku sagte er an zwei Stellen etwas, das ich hier unbedingt zitieren muss:
Als ich 16 Jahre alt war, bin ich zum Islam konvertiert, durch einen Schulfreund. Das Gefühl, das ich dann erlebt habe, das war unglaublich schön. Ich war da ein Teil einer Gemeinschaft, die so eng miteinander verbunden waren (…). Warum ich mich dem so leicht hingegeben habe? Ich war einfach verloren. Familie, das hat mir gefehlt. Und danach habe ich gesucht. Und wäre da damals eine rechtsradikale Gruppe zu mir gekommen, die mir genau das geboten hätte, dann wäre ich Nazi geworden.“
Und: „Aus meiner Ideologie, aus meiner kranken Ideologie heraus habe ich mir nur gedacht, ich töte ja nur die bösen Menschen: Die Unterdrücker, die Vergewaltiger, die Mörder (…). Du rechtfertigst es mit dem Gedanken, dass sie das Selbe mit Deiner Familie gemacht haben. Ab dem Zeitpunkt, wo ich Muslim wurde, wurde mir beigebracht, dass jeder Mann im Islam mein Bruder ist und jede Frau im Islam meine Schwester ist. Also war es ganz egal, wo die Person ist. Wenn ihr geschadet wird, dann ist das meine Familie, der geschadet wird.“

Wie sehr seine destruktive Kindheit, seine Suche nach Halt und Familie seinen Weg hin zum Terror bedingt haben, wird durch die zitierten Zeilen deutlich. Ebenfalls wird deutlich, wie zufällig und austauschbar die Gruppe und Ideologie im Grunde ist. Das verlorene Opfer von einst fand plötzlich eine „Pseudofamilie“, die ihn „pseudowärmte“, die ihm "eine Bedeutung" gab und die vorgab, angegriffen zu werden und viele Opfer zu beklagen. Seine neue „Familie“ galt es zu schützen und das ging – der kranken Ideologie folgend – nur im IS in Syrien.

Über seine Kindheit spricht Oliver N. nicht gerne. Trotzdem sind einige Eckdaten öffentlich geworden. 

Seine Eltern trennen sich, als er 5 Jahre alt ist, er bleibt zunächst bei der Mutter  (N. & Christ 2017, S. 12) „Ich kam zu meiner Mutter. Es entbrannte ein hässlicher Kleinkrieg zwischen ihr und meinem Vater. Eines Tages standen dann Angestellte des Amts bei uns auf der Matte, meiner Mutter wurde das Sorgerecht entzogen. Mein Vater beantragte das Sorgerecht, doch meine Mutter manipulierte mich so, dass ich nicht zu meinem Vater zurückwollte, und ich war von diesem Tag an ein Heimkind. Später, als ich älter war, tingelte ich von einer Wohngruppe des Jugendamtes zur nächsten“ (N. & Christ 2017, S. 12).

In dem o.g. Panorama Beitrag wurde ergänzend folgendes über seine Kindheit berichtet:
- Im Alter von 6 Jahren kommt er in ein Kinderheim
- Er ist 11 Jahre alt, als sich sein Bruder erhängt

In einem ZEIT-Artikel fand ich ergänzend die Info, dass seine Mutter Alkoholikerin war.

In vielerlei Hinsicht ist der Fall Oliver N. ein Paradebeispiel dafür, was das Fundament für Terror und Extremismus bildet. Aus seinem Fall können wir auch Präventionsmaßnahmen ablesen:

1. Natürlich und zu aller erst Kinderschutz und Elternförderung

2. Es braucht gerade für solche „verlorenen Kinder“ konstruktive Gruppenangebote, in denen sie sich Zuhause fühlen können und in denen sie wirklich Verbundenheit und Anerkennung finden. Wenn sie einmal fest verbunden sind, werden sie – trotz ihrer destruktiven Kindheit – nicht so leicht auf Anwerber destruktiver (politischer oder religiöser) Gruppen hereinfallen.

3. Psychotherapeutische Angebote müssen nicht nur gefördert werden und gut aufgestellt sein, sondern es muss auch mehr "Werbung" dafür geben. Sprich: Jeder Jugendliche, der in Deutschland das Schulsystem durchläuft, sollte innerhalb einen allgemeinen Bildungsplans darüber aufgeklärt werden, dass es psychotherapeutische Angebote gibt und diese besonders von den Menschen angelaufen werden sollten, die in ihrer Kindheit viel Destruktivität erlitten haben. Psychotherapien sind - neben vielen anderen Vorteilen - Extremismusprävention!