"Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen" (2015: S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. Kindle E-Book Version) von Ahmad Mansour stand schon seit langer Zeit auf meiner Lesewunschliste. Jetzt endlich habe ich das Buch gelesen.
Ich will hier keine komplette Rezension verfassen, sondern einige wesentliche Zeilen herausfischen und vor allem auch die Kindheitsbiografie des Autors selbst besprechen. Denn Mansour radikalisierte sich als junger Mensch islamistisch und wurde Teil der Muslimbruderschaft.
Seit Jahren arbeitet Mansour als Psychologe in der Extremismusprävention und hilft Menschen beim Ausstieg aus der radikalen Szene. Sein Buch ist also ein Mix aus Autobiografie (als greifbares Fallbeispiel, das ihn gleichzeitig zum Experten macht), psychologischem und pädagogischem Fachwissen und Praxisanleitung für Extremismusprävention. Ein wirklich gutes Buch!
Ich wusste bereits, dass der Autor als Kind belastet war und dass dies das Fundament für seine damalige Radikalisierung legte. Die vielen (schweren) Belastungen und Traumatisierungen, die er bzgl. seiner Kindheit schildert, haben mich allerdings doch ziemlich überrascht, damit hatte ich nicht gerechnet. Wobei seine Kindheitsbiografie wohl auch stellvertretend für viele andere palästinensische Kinder steht, die in einer Krisenregion aufwachsen müssen.
Seine Eltern und Großeltern waren schwer belastet, wahrscheinlich auch traumatisiert. Krieg, Leid und Flucht hatten ihr Leben geprägt. Dazu kamen weitere Belastungen, wie Zwangsheirat seiner Großmutter und ihre Erfahrungen mit häuslicher Gewalt. "Die Erwachsenen, deren eigenes Leben von so viel Entbehrungen geprägt war, haben zu dieser Zeit nicht viel Rücksicht auf die Bedürfnisse von Kindern genommen. Kinder hatten nichts zu sagen. Sie störten. Und sie sollten möglichst schnell in der Lage sein zu arbeiten" (Kapitel: Wie ich Islamist wurde, Position 532).
Eltern und Großeltern hätten zudem kein Interesse daran gehabt, dass die Kinder eigenständig denken. Dazu kam eine tiefe Tabuisierung von Sexualität. Das ganze noch gepaart mit starkem elterlichen Leistungsdruck und hohen Erwartungen. Ahmad wurde von seinen Großeltern, die sehr präsent in seiner Kindheit waren, nicht ernst genommen und sollte vor allem gehorchen. Aber: Es gab auch glückliche Momente mit ihnen, scheibt er. Inkl. liebevoller Pflege, wenn er mal krank war. "Vermutlich waren es diese positiven Erfahrungen, die mir später die Kraft gegeben haben - anders als vielen Jungen aus meinem Umfeld -, den radikalen Irrweg wieder zu verlassen" (Kapitel: Wie ich Islamist wurde, Position 548). Das ist in der Tat ein ganz wesentlicher Punkt, den er erwähnt: Positive Ausgleicherfahrungen stärken die psychischen Abwehrkräfte. Ich würde noch ergänzen, dass auch seine offensichtlich hohe Intelligenz einen Beitrag leistete.
Seine Großmutter habe ihn als Kind häufig mit Gruselgeschichten z.B. über Untote geängstigt. Dies hätte zum Sinn gehabt, Gehorsam zu erzeugen. Mansour erwähnt auch Bestrafungen, die die Großmutter ausübte, geht aber nicht in Detail. Vor allem sein Vater wird als Strafender erwähnt (aber Gewalt, so deutet es sich an, scheint auch allgemein Bestandteil seines Alltags gewesen zu sein):
"Feste Bestandteile der Erziehung waren zudem Strafe und Gewalt. Ich glaube nicht einmal, weil meine Eltern wirklich überzeugt davon waren, sondern aus Überforderung. (...) Mein Vater kam (...) nach oben und gab den Ärger, den Druck an mich weiter. Bis ich zehn oder elf war, habe ich fast täglich körperliche Gewalt erlebt" (Kapitel: Wie ich Islamist wurde, Position 579). Auch die Lehrer in der Schule schlugen zu. Hinzu kam Mobbing durch Gleichaltrige.
In der frühen Kindheit - er war ca. 1 Jahr alt - kam ein weiteres Trauma hinzu: Der Großvater mütterlicherseits wurde überfallen und angeschossen, er starb einige Monate später. Dies bedeutete für Ahmad eine lange Phase der mütterlichen Abwesenheit (sowohl physisch als auch emotional).
Als 14-Jähriger erlebte er Bombenangriffe mit, nie wieder habe er in seinem Leben eine solche Angst verspürt.
Ein Imam aus seiner Schule wurde dann auf Ahmad aufmerksam, der Imam wurde zur Vaterfigur für den Jungen und gab ihm Anerkennung. Und natürlich sollte und wollte Ahmad seinen Koranunterricht besuchen. Auch dort fühlte sich Ahmad aufgehoben und traf Gleichaltrige, die ihn anerkannten. Die Radikalisierung nahm ihren Lauf...
Nun fasst der Autor in einigen Zeilen ganz zentrale Erkenntnisse zusammen:
"Was ich erlebt habe, ist eine ganz typische Entwicklung, auf die ich auch in meiner Arbeit mit Jugendlichen immer wieder treffe. junge Menschen, denen es auf Grund ihrer Erziehung und des schulischen und sozialen Umfeldes nicht möglich war, eine stabile Persönlichkeit zu entwickeln, die unsicher sind, sich als ausgestoßen empfinden, sind dankbar und empfänglich, wenn sich plötzlich jemand für sie interessiert und ihre Bedürfnisse nach Anerkennung und Aufgehobensein erfüllt. Fatal ist, dass das, was eigentlich die Familie, die Schule und die Mehrheitsgesellschaft tun sollte, oftmals von den falschen Menschen übernommen wird, den Verführern. Denn in dem Moment, in dem den Jugendlichen dämmert, worauf sie sich eingelassen haben, ist es meist schon zu spät. Viel zu tief sind sie dann schon in ihr neues Umfeld verstrickt" (Kapitel: Wie ich Islamist wurde, Position 590)
Noch etwas kam in seinem Fall hinzu: Er konnte nun in direkte Konfrontation mit seinen Eltern gehen, sich über sie stellen, sie belehren, ihnen sagen, sie seien keine richtigen Muslime usw. Die gleiche Dynamik passierte in der Schule, das neue Auftreten brachte dem gemobbten Kind Respekt.
Das muss ein wirklich "gutes" Gefühl für den misshandelten und vernachlässigten Jungen gewesen sein. Und ist es nicht genau das, was wir so oft bei Islamisten sehen? Dieses Bedürfnis nach dem über den Anderen stehen, nach der einzigen, überlegenen Wahrheit? Die radikal ausgelegte Religion verleiht Sicherheit, Selbstbewusstsein, Orientierung und Größe. Die radikale Gruppe bietet Geborgenheit, Anerkennung und Familienersatz. Gleichzeitig bietet die Ideologie eine Opfererzählung und Opferinszenierung: Wir sind das Opfer von XY, dort sind also unsere Feinde, wir müssen uns wehren und behaupten.
Dem fehlenden Urvertrauen, das durch ungünstige Bedingungen in der Kindheit bedingt ist, widmet der Autor ein eigenes Unterkapitel unter gleichnamigen Titel. Diese Prägungen machen Menschen empfänglich für radikale Verführer.
Der Autor fasst wunderbar und eindringlich zusammen:
"Von der paradiesischen Verheißung bis zur rigorosen Härte korreliert das salafistische Gott-Phantom mit den Sehnsüchten und Nöten, die Resultate einer dysfunktionalen, oft traumatischen Erfahrung in der frühen Kindheit sind. Es ist ein großes kompensatorischen Angebot an die beschädigte Psyche."(Kapitel: Über-Ich, Position 1283).
Im Buchverlauf stellt der Autor - neben seinem eigenen - 3 weitere Fallbeispiele ausführlich vor. Auch hier finden sich diverse Problemlagen und Belastungen in Kindheit und Familie. Außerdem hat er eine sehr gute Zusammenfassung von Präventionsansätzen aufgestellt. Vor allem der Punkt "In Elternarbeit investieren" gefällt mir besonders gut!
Fazit: Das Buch eröffnet Innansichten bzgl. dem Weg in die Radikalisierung, mit Tiefgang. Die Erkenntnisse des Autors decken sich mit der Forschungslandschaft bzgl. der Ursachenketten von Extremismus. Dass Mansour zentriert auf Kindheit und Trauma den Blick richtet, hebt sein Buch allerdings besonders hervor! In vielen anderen Veröffentlichungen findet sich oftmals nicht eine solche Deutlichkeit (davon abgesehen, dass viele Bücher über Extremismus gar nicht auf Kindheitserfahrungen eingehen).