Freitag, 14. Januar 2022

Trauma-Täter und der Gehirntumor meines Nazi-Großvaters

In diesem Beitrag geht es mir um die Sicht von Menschen (dabei auch vor allem von Menschen, die zum Opfer wurden oder die Angehörige von Opfern sind) auf Täter und Täterinnen. Dem möchte ich einige Gedanken des Psychologieprofessors und Psychotherapeuten Franz Ruppert (*siehe unten eine ergänzende kritische Anmerkung bzgl. Rupperts Wirken in der Corona-Pandemie) voranstellen:

Trauma-Täter zu sein ist, wenn es einmal geschehen ist, ein bleibendes Faktum. Wenn jemand einen anderen Menschen Schaden zufügt, der nicht gutzumachen und sozial inakzeptabel ist, so ist das nicht nur für sein Opfer, sondern auch für ihn als Täter eine traumatisierende Lebenserfahrung. Sie führt zu einer bleibenden Beschädigung der Psyche. Denn aus dem Faktum des Trauma-Täterseins folgt: Solange seine Psyche gesund funktioniert, und einen Rest gesunder Psyche hat auch jeder Täter, hat ein Täter angesichts der Realität seiner Tat ein nagendes schlechtes Gewissen. Er macht sich selbst schwere Schuldgefühle, es steigen massive Schamgefühle in ihm hoch und er hat Angst vor sozialer Ächtung. Das sind auf Dauer nicht aushaltbare emotionale Spannungszustände. Daher müssen solche Gefühle aus dem Bewusstsein eines Trauma-Täters ausgegrenzt und abgespalten werden. D.h., auch Trauma-Täter sind – wie ihre Opfer – nach einer Tat gezwungen, sich psychisch zu spalten, um innerlich zu überleben. Dies umso mehr, wenn sie weiter mit ihrem Opfer oder deren Angehörigen in einer (Zwangs-)Gemeinschaft zusammen sind“ (Ruppert, Franz (2021): Die Täter-Opfer-Dynamik. In: Reiß, H. J., Janus, L., Dietzel-Wolf, D. & Kurth, W. (Hrsg.): Kindheit ist politisch – Die Bedeutung der frühen Kindheit für die Konflikt- und Handlungsfähigkeit in der Gesellschaft (Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 21), Mattes Verlag, Heidelberg, S. 376) 

Das Wortpaar „Trauma-Täter“ finde ich sehr passend! Es beschreibt nach meinem Verständnis zwei Seiten: 

1. Die Täter waren (meist) vorher selbst Opfer, die Grundlage für eigene Täterschaft. 

2. Durch ihre eigene Taten werden Täter und Täterinnen ebenfalls traumatisiert. 

Meine Anmerkungen dazu: 

Je mehr Taten ein Mensch begeht, desto mehr muss er innerlich abwehren. Logisch! In der Folge wird ein solcher Mensch emotional immer „kälter“ bzw. spürt nichts mehr. Nach außen können teils große Gefühlsausbrüche gespielt/inszeniert werden, was der innerlichen Realität allerdings nicht entspricht. 

Mir geht es hier wie anfangs gesagt aber gar nicht so sehr um die Täter, sondern darum, dass viele Opfer meiner Beobachtung nach oftmals an den Tätern emotional „hängen“ bleiben. Die Taten sind unfassbar und haben so viel Leid erzeugt, ob nun das eigene Leid oder das Beobachtete. Menschen neigen dazu, von den Tätern eine Regung zu fordern, eine Erklärung, bestenfalls eine ernst gemeinte Entschuldigung, eine empathische Reaktion, etwas Menschliches, irgendetwas! Die Erfahrung zeigt, dass solche Reaktionen kaum zu erwarten sind. Im Gegenteil: Täter wie z.B. Anders Breivik bedauern noch im Gerichtssaal, dass sie nicht noch mehr Menschen getötet haben. Oder sie steigern sich in diverse Abwehrhaltungen hinein („Es waren nur Befehle, ich selbst bin das Opfer“).  

Noch verstrickter wird es, wenn die Täter (Frauen sind mitgemeint!) aus der eigenen Familie kommen. Die Opfer sind emotional gebunden und fordern noch weit mehr eine Reaktion des Täters ein, sofern sie es irgendwann schaffen, diesen zu konfrontieren. Die Erfahrung zeigt, dass die Reaktionen oder besser Nicht-Reaktionen der Täter oft nur erneute Verletzungen verursachen. Opfer sollten ihre eigene Heilung und ihren eigenen weiteren Lebensweg nicht von der Reaktion der Täter abhängig machen! 

Was aber hilft, davon bin ich überzeugt, ist, die innere Dynamik von Tätern zu verstehen. Denn dies löst Menschen von ihren Fragen und ihrem Warten auf Reaktionen. Wenn also erstens Täter oftmals selbst Opfer waren (was an sich eine innere Spaltung begünstigt) und zweitens durch ihre Taten erneut traumatisiert werden und sich dadurch noch mehr innerlich von ihrem eigenen „Ich“ abspalten müssen, dann bräuchte es wohl etliche Jahre an Psychotherapie, starken Willen und schmerzhafter Arbeit an sich selbst, damit solche Menschen zu wirklich emotionalen Reaktionen gegenüber den Opfern fähig wären. Damit sie wirklich nachfühlen und sich ernsthaft für ihre Taten schämen und entschuldigen könnten. 

Ich bin davon überzeugt, dass ab einem gewissen Grad der eigenen Täterschaft Menschen auch bzgl. menschlicher Regungen „verloren“ sind. Sie werden es in ihrem Leben nicht mehr schaffen, aus der inneren Kälte herauszutreten (im Grunde die größte Strafe für einen Menschen, der nur dieses eine Leben hat!). Menschen wie Anders Breivik z.B. haben so viele Menschen getötet, wenn er selbst dies wirklich innerlich nachfühlen könnte, was er getan hat, er würde innerlich gesprengt werden und müsste sich wohl selbst töten (Breivik strahlt es an sich auch wie ein Paradebeispiel aus: dieser Mann ist emotional absolut tot!). Das Gleiche gilt aber natürlich auch für den Täter-Vater oder die Täterin-Mutter, die jahrelang die eigenen Kinder terrorisiert haben. 

Ich möchte nicht alle Aussöhnungsprozesse und auch Therapieangebote für Täter in Abrede stellen. Bitte versteht mich nicht falsch! Jeder kleine Erfolg bzgl. Trauma-Tätern ist ein Erfolg. Und ja, sie sind und bleiben auch immer Menschen. Mir geht es schlicht darum, dass wir nicht all zu viel von Trauma-Tätern erwarten dürfen. Diese Erwartungen und auch viele Fragen an die Täter sind Fakt und auch verständlich. Ich für meinen Teil konzentriere mich lieber auf die Prävention: Opfererfahrungen verhindern und frühzeitige Aufarbeitung von Opfererfahrungen IST Täterprävention. 

Franz Ruppert hat über Trauma-Täter auch folgendes geschrieben: 

Weil sie kein eigenes Ich haben und mit sich selbst nichts anfangen können, brauchen Trauma-Täter weiterhin die Beziehung zu ihren Opfern und können diese nicht in Ruhe lassen. (…) Ohne ihre (potentiellen) Opfer sind Trauma-Täter selbst nichts! Eine leere Hülle! Wenn man bedenkt, wie viele Trauma-Opfer sich ihr Leben lang unablässig Gedanken über die Trauma-Täter machen, so muss diese Erkenntnis für sie absolut erschütternd und ernüchternd sein: Der Trauma-Täter besteht in Wahrheit innerlich aus nichts! Alles an ihm ist nur Fassade.“ (ebd., S. 380). Besser kann man es kaum zusammenfassen. 

Mein Großvater väterlicherseits war ein Nazi und bei der SS. Außerdem war er als Vater kalt und teils auch grausam. Er hatte auch seine menschlichen Seiten (Franz Ruppert würde von dem „gesunden Teil der Psyche“ sprechen, der immer bleibt). Aber er hatte auch bis zum Ende diese „innerliche Kälte“, aus der er nicht heraustreten konnte. Vor seinem Tod traf ich ihn ein letztes Mal im Krankenhaus. In seinen Augen sah ich Angst. Trauma-Täter gehen nicht in Frieden aus dieser Welt. Das ist tragisch, aber so ist es. 

Mein Großvater starb an einem Gehirntumor. Auch wenn es sicher keine empirischen Belege dafür gibt, dass Nazis häufiger an einem Tumor sterben, als andere Menschen: Für mich steht fest, dass dieser Gehirntumor auch ein Ausdruck dessen war, wie er sein Leben gelebt, was für Entscheidungen er getroffen und welche Taten er begangen hat. Als mein Großvater starb, hat mich das kaum berührt. Er war kein Mensch, dem man sich emotional nahe fühlen konnte...


* Ich schätze die Expertise von Franz Ruppert bzgl. Traumafolgen sehr, deswegen zitiere ich ihn hier! Mir ist bewusst, dass Ruppert bzgl. der Corona-Pandemie eine Haltung gezeigt hat, die eine deutliche Tendenz für Verschwörungsglaube zeigt. Seine Haltung zeigte er sehr offen auf entsprechenden Portalen wie KenFM oder Rubikon. Ich distanziere mich von solchem Gedankengut! Solange Ruppert nicht in eine verfassungsfeindliche Richtung abdriftet, greife ich allerdings trotzdem auf seine Expertise bzgl. Traumatisierungen zurück. 

Dienstag, 11. Januar 2022

Kindheit des Ex-Nazis Matthew Collins

Hate: My Life in the British Far Right“ heißt die Autobiografie von Matthew Collins (2011, Biteback Publishing, London). 

Sein Buch beginnt Collins mit Schilderungen über den Vater seiner Mutter, den er als „tyrannical father“ beschreibt, vor dem seine Mutter verzweifelt floh (S. 1). Auch der Großvater väterlicherseits scheint schwierig gewesen zu sein. Er blieb der Hochzeit seines Sohnes fern, da dessen zukünftige Frau, die Mutter von Matthew, eine Protestantin war. Dieser Großvater habe in seinem Hinterhof auch Hunde fast totgeschlagen. Collins ergänzt: „He hated my mother“ (S. 1). 

Entsprechend ist zu vermuten, dass die Kindheiten der Eltern von Matthew Collins belastet waren, was wiederum die Wahrscheinlichkeit stark erhöht, dass diese Eltern auch die eigenen Kinder belasten. Bzgl. seines Vaters wird Collins ziemlich deutlich: Sein Vater war Alkoholiker. Außerdem scheint der Vater kaum Bindungen innerhalb der Familie eingegangen zu sein. Obwohl der Vater bis zu Beginn der Grundschulzeit von Matthew in der Familie lebte, schreibt Collins: „Sadly, I have no recollection of my father ever living with us“ (S. 1).
Danach trennten sich die Eltern und Matthew sah seinen Vater nur noch sporadisch. Sein Vater habe bei den Treffen oft nach Schnaps gerochen (S. 2). „When I remember him back then I think he did care strange, detached way. But I always wondered why he couldn`t love us and our mum as much as he loved alcohol and why he wouldn`t just stay with us …“ (S. 3). 

Matthew buhlte um die Aufmerksamkeit seines Vaters, bekam sie aber nicht. Er fragte sich, ob er seinen Vater vielleicht langweilte und geht gedanklich in seine Kindheit zurück: „`Look at me, I can read! I´m the best in my class, read a book with me, please`, I`d beg. But he never did. I´d dump a hundred toy soldiers onto the floor und say `Let´s play!` but he never did“ (S. 3)

Die Familie war außerdem relativ arm, eine weitere Belastung für die Kinder. Das Verhältnis zu seiner Mutter beschreibt Collins nur sehr knapp, was vielleicht wiederum für sich spricht. Er deutet an, dass es oft Streit am Tisch gab (S. 4). Außerdem beschreibt er die Strenge „Regierung“ seiner Mutter: „My mother`s reign at home was tight, but never tyrannical“ (S. 8). Nun, wie oben erwähnt war der Vater der Mutter tyrannisch. Collins war es hier offenbar ein Bedürfnis, seine Mutter dahingehend abzugrenzen, indem er betont, sie sei nicht tyrannisch, sondern nur streng gewesen. Wie der Erziehungsalltag genau aussah, berichtet er leider nicht. 

Auch mit einem seiner Brüder geriet Matthew schon als Jugendlicher in Konflikt. Sein Bruder ging zur UNI und Matthew störte diese intellektuelle Entwicklung des Bruders offensichtlich. Über 20 Jahre habe er mit dem Bruder nicht mehr geredet (S. 10). Auch dies spricht für wenig emotionale Bindungen in dieser Familie. 

Als Jugendlicher entwickelte sich Matthew schnell zum „Problemschüler“. Er hatte den Ruf „the worst kind of bully“ zu sein (S. 8). Im Alter von 13 Jahren galt er bereits als Rassist. Die Nähe zu rechtem Gedankengut suchte er geradezu und fand seinen Weg in die Szene. Matthew fühlte sich vor allem unverstanden. Und er war voller Fragen und Selbstzweifel. An einer Stelle fragt er rückblickend auf seine jungen Jahre: „What was eating at me, why was I so angry?“ (S. 10). Ich glaube, dass seine Familiengeschichte sehr gut deutlich macht, woher all die Wut und der Hass kamen. 


Donnerstag, 30. Dezember 2021

"Kindheit ist politisch": Zwei Jahrbücher für psychohistorische Forschung zu verschenken!

Das neue Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 21 ist draußen. Der Titel lautet: 

Kindheit ist politisch – Die Bedeutung der frühen Kindheit für die Konflikt- und Handlungsfähigkeit in der Gesellschaft.

In dem Jahrbuch sind viele Vorträge der diesjährigen Jahrestagung verschriftlicht. 

Ich habe zwei Exemplare zu verschenken! Bitte Email an mich, ich werfe dann Mitte Januar alle Namen in einen Topf und ziehe blind zwei.

Für das Jahrbuch habe ich zwei Beiträge verfasst: 

"Kindheitsursprünge von politischer Gewalt und Extremismus. Oder: Die Kindheit ist politisch!

und

"Kindheit in Afghanistan und der nie enden wollende Krieg und Terror"






Freitag, 17. Dezember 2021

Hitlers Heerführer - Lebenswege von 25 NS-Akteuren und Details über Kindheit und mögliche Traumaerfahrungen

 „Hitlers Heerführer - Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42“ (2007, R. Oldenbourg Verlag, München) von Johannes Hürter ist ein Buch, das auf den ersten Blick nicht viel über Kindheitshintergründe und potentiell traumatische Erfahrungen der hohen NS-Militärs bietet. Beim genaueren Hinsehen erschließen sich allerdings einige interessante Details! 

25 NS-Oberbefehlshaber wurden hier systematisch durchleuchtet:
Fedor von Bock, Ernst Busch, Eduard Dietl,  Nikolaus von Falkenhorst, Heinz Guderian, Gotthard Heinrici, Erich Hoepner, Hermann Hoth, Ewald von Leist,  Günther von Kluge, Georg von Küchler, Wilhelm Ritter von Leeb, Georg Lindemann, Erich von Lewinski gen. Manstein, Walter Model, Friedrich Paulus, Walter von Reichenau, Hans-Georg Reinhardt, Gerd von Rundstedt, Richard Ruoff, Rudolf Schmidt, Eugen Ritter von Schobert, Adolf Strauß, Carl-Heinrich von Stülpnagel und Maximilian Freiherr von Weichs. 

Die Geburtsdaten der Akteure schwanken zwischen ca. 1875 und 1891. 

92 % der Akteure stammten aus den damals „erwünschten Kreisen“, um einen hohen militärischen Rang einnehmen zu können: Die Väter der Akteure waren Offiziere, höhere Beamte, Gutsbesitzer oder Akademiker. Wobei mit 60 % die meisten Väter der Akteure Offiziere waren. Ich mutmaße alleine auf Grund dieser Zahl, dass ein entsprechender Anteil der Akteure auch in der Kindheit in ihrer Familie sehr militärisch geprägt wurde und entsprechende Erziehungsmethoden vorherrschten. 

Auch die Daten zur Schulbildung bringen einige Erkenntnisse zu Tage. 60 % (N= 15) der Akteure besuchten als Kind ein humanistisches Gymnasium, 40 % (N= 10) besuchten ein Kadettenkorps. 

Die 10 Kadettenschüler waren Fedor von Bock, Ernst Busch, Nikolaus von Falkenhorst, Heinz Guderian, Hermann Hoth, Günther von Kluge, Erich von Lewinski gen. Manstein, Gerd von Rundstedt, Rudolf Schobert und Eugen Ritter von Strauß. 

Wie es dort zuging, beschreibt Hürter wie folgt:
Die Kadettenhäuser (…) waren militärisch geführte, straff organisierte Internatsschulen, auf denen Kinder und Jugendliche nach strengen Regeln und weitgehend abgeschottet von der Außenwelt die für den Offiziersnachwuchs als ideal angesehene Erziehung und Schulbildung erhalten sollten. Die Kadettenanstalt wurde mit guten Gründen  als `totale Institution` beschrieben, deren Normen sich der Zögling vollständig unterwerfen musste, wenn er nicht ausgesondert werden wollte. (…) Die Erziehung war in der Regel hart, besonders in den Voranstalten. “ (S. 42). Die Erziehung war von Begriffen wie "Ehre", "Pflicht", "Gehorsam", aber auch "Verantwortung" geprägt.  

Johannes Hürter zitiert u.a. aus dem autobiografischen Roman „Die Katetten“:
Sie sind hier, um Sterben zu lernen. Alles, was Sie bisher erlebten, sahen und begriffen, haben Sie zu vergessen … Sie haben von nun an keinen freien Willen mehr; denn Sie haben gehorchen zu lernen, um später befehlen zu können“ (S. 42f.)
Der Autor zitiert auch den Heeresführer Herman Hoth: „Die Erziehung als Kadett wurde entscheidend für meine ganze innere Entwicklung. Ich habe hier in 8-jähriger Gemeinschafts-Erziehung eine glühende Liebe zum Soldatenberuf in mich aufgenommen, nicht durch Soldatenspielerei, sondern durch das Beispiel meiner militärischen Erzieher u. einen vorzüglichen Unterricht, der auf geschichtlichem Bewusstsein ruhte. Gewiss haben diese Jahre, die unter dem Zwang standen, mich sehr früh u. sehr eng in eine Gemeinschaft einordnen zu müssen, in mir das Gefühl für Disziplin, Gehorsam, Zurückstellung eigener Wünsche u. Ansichten besonders stark gefördert. Eine gewisse Überschätzung des Autoritätsglaubens, die in diesen Jahren ihren Ursprung hat, habe ich nicht mehr ganz verloren“ (S. 45f.) 

Jahrelange Erziehung in solchen Anstalten prägen und – davon gehe ich aus – traumatisieren die Kinder und Jugendlichen auch. Diese Erziehung gilt wie gesagt für 40 % der untersuchten Akteure!

Aber auch an den damaligen Gymnasien ging es rau und streng zu, wenn auch sicher nicht in dem Ausmaß, wie an den Kadetteneinrichtungen: „Die Stellung des Humanistischen Gymnasiums als Verteidigerin der Tradition gegen die Moderne besaß auch einen politischen Aspekt. Sie stützte die konservative bürokratische und akademische Klientel gegen fortschrittlich-liberale Kräfte des Bürgertums und erst recht gegen alle `Reichsfeinde`. Besonders im Wilhelmischen Deutschland verstärkten sich die autoritären und nationalistischen Züge. An der Loyalität gegenüber Kaiser und Reich gab es ohnehin keinen Zweifel. Die Schüler trugen uniforme Jacken und Mützen, die Disziplin war in der Regel streng, Sedantage und Kaisergeburtstage wurden mit Pathos gefeiert“ (S. 39).

Dazu kam mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine strenge, autoritäre Erziehung im Elternhaus, was der Autor allerdings weder im Allgemeinen, noch direkt auf die 25 untersuchten Akteure beschreibt. Die Geburtsdaten der Akteure und das bekannte Wissen um damalige Erziehungspraktiken und -einstellungen lassen allerdings viel erahnen.   

Dazu kommen vermutlich auch Traumatisierungen im Ersten Weltkrieg. Alle 25 Akteure waren „vom ersten bis zum letzten Kriegstag“ im Dienst und bestanden die „große Überlebens- und Bewährungsprobe des Ersten Weltkriegs“ (S. 70). 

Diese Akteure führten später Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion. 

Ich selbst habe in meinem Blog bereits die belastete Kindheit von Friedrich Paulus (einem der 25 hier untersuchten Führer) besprochen. Paulus besuchte keine Kadettenschule. Dies zur Ergänzung. 



Donnerstag, 16. Dezember 2021

Mein Interview mit Nick Greger

Ich habe heute ca. 1 ½ Stunden mit Nick Greger (online) gesprochen. Er hatte mich auf Grund meines Blogbeitrags ("Die angeblich harmonische Kindheit des Ex-Neonazis Nick W. Greger und meine Anmerkungen dazu") über ihn angeschrieben und sich bereit erklärt, sich meinen Fragen zu stellen, was ich dankend annahm. 

Wir haben über sehr vieles gesprochen. Wir sind fast gleichalt und ich fand schnell Draht zu Greger, der sehr offen und redegewandt ist. Wir haben auch etwas abgestimmt, über was ich dann öffentlich berichten kann. Ich bin kein Journalist oder ähnliches und fand es großartig, diese Gelegenheit zu bekommen. 

Nick Greger hat im Prinzip sehr viel von dem bestätigt, was er schon kurz in seiner Autobiografie ausgeführt hatte. Er erlebte seine Familie als harmonisch und zugewandt. Es gab keine Körperstrafen, keinen Suchtmittelmissbrauch, keine schweren Konflikte zwischen den Eltern oder ähnliche Belastungen. 

Eine für mich neue Info darf ich hier erwähnen: Seine Mutter war gerade einmal 16 Jahre alt, als Nick geboren wurde. Sie wurde im Alter von 15 Jahren schwanger. Dies sei so geplant gewesen. Nicks Vater war einige Jahre älter und konnte die junge Familie finanziell stemmen. Seine Mutter sei damals bereits sehr reif und verantwortungsvoll gewesen. 

Was auffällt ist, dass Nick ebenfalls im Alter von 15 Jahren „ausbrach“ und einfach seine Familie verließ, um in Dresden zu wohnen. Ich sehe da eine gewisse Parallele zu seiner Mutter und ihrem „Ausbruch“ aus der Norm durch die frühe Schwangerschaft.

Das Thema „Ausbruch“ aus dem kleinen Ort, der ihm nicht viel bot und ihn einengte, war auch Nicks Lebensthema als Jugendlicher. Der Anschluss an die kleine rechte Gruppe im Ort war zunächst quasi Mittel zum Zweck und nicht ideologisch bedingt (was viele Ehemalige so oder so ähnlich berichten). Die Ideologie kam natürlich später dazu. 

Ich habe Greger gegenüber sehr deutlich gemacht, dass ich trotzdem vorsichtig mit seinen Angaben über seine Kindheit bin und skeptisch bleibe. Es ist für jeden Menschen schwer, objektiv auf die eigene Kindheit zu schauen. Ich glaube ihm aber auch den Grundrahmen seiner Kindheit, den er sehr deutlich und klar gemacht hat. 

Ich kann den "Fall Greger“ einfach für sich so stehen lassen. Meine Datensammlungen zeigen, dass die allermeisten Extremisten als Kind destruktiven Bedingungen ausgesetzt waren. Bzgl. Prävention und Ursachenanalyse bleibt dies ein gewichtiger Faktor. 


Dienstag, 14. Dezember 2021

Kindheit des ehemaligen Skinheads und Rassisten Arno Michaelis

My Life After Hate“ heißt die Autobiografie (erschienen 2010: La Prensa de LAH, Milwaukee) des ehemaligen Skinheads und Rassisten Arno Michaelis. Er schreibt nicht viel über seine Kindheit. Das, was er schreibt, ist allerdings überdeutlich und spricht für sich selbst. Ganz „klassisch“ ist hier auch, wie er seine Kindheitserfahrungen in ihrer Wirkung für sein Leben ausklammert bzw. relativiert und im selben Part über Schilderungen über seine Kindheit (z.B. eine dysfunktionale Familie und Alkoholismus des Vaters) anhängt, er wäre sehr von seinen Eltern geliebt worden:  

Yeah, there were issues at home; dysfunction that paled in comparison to the billions of people on this planet with real problems that was nevertheless catastrophic to me. But looking back I don’t see any valid excuse for how fucked-up I turned out.
In the movies I would have been physically beaten by parents and/or ghetto thugs while clawing out survival from an impoverished hovel, like many of my comrades were to one degree or another. But in real life I grew up in a nice house in a nice neighborhood and never went hungry or took a beating. My parents loved me dearly, but that made my dad’s drinking and their subsequent fighting a constant hurt that drove me to lash out, denying their love for me and filling that void with hate.
In the absence of love’s light, hate can be exciting, seductive. It beckons you and sends torrid, empty power coursing through your veins. At first you think you can dabble. Just for kicks. Just a bit of entertainment to ripple the excruciating monotony of your disdain for the world. You blink, and you’re covered in someone’s blood. Another blink and the doors of your cell are slamming shut
“ (S. 29).

Für das „Forgiveness Project“ hat er auch online etwas über seine Kindheit geschrieben:
I grew up in an alcoholic household where emotional violence was the norm and as a kid who was told I could achieve anything, I reacted to that emotional violence by lashing out and hurting people. I started out as the bully on the school bus, and by the time I was in middle school I was committing serious acts of vandalism.
As a teenager I got into the punk rock scene which for a while was the ultimate outlet for my aggression. But, like any other addiction, my thrill seeking needed constant cranking up, so when I encountered racist skinheads I knew I’d found something far more effective. I joined up for the kicks and to make people angry.“



Montag, 13. Dezember 2021

Drei Jahre „Die Kindheit ist politisch!" - Rückblick und Ausblick

Kinder, wie die Zeit vergeht! Ich wollte eigentlich auf zwei Jahre „Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen“ zurückschauen. Dann merkte ich: es sind ja schon drei Jahre rum… Gut, na dann also drei. Es ist viel passiert seitdem. 

Fange ich zunächst so an: Die Thesen in meinem Buch sind im Grunde nicht neu und im Kern sage ich einfach: „destruktive Kindheitserfahrungen haben destruktive Folgen“. Auch die Übertragung auf das Politische ist nicht neu (auch wenn es nach meiner Googelabfrage im deutschsprachigen Raum das Wortpaar „Kindheit ist politisch“ vor meiner Arbeit nicht gab: Warum eigentlich nicht?). Ich habe ja auch das Rad nicht neu erfunden, was schon allein das umfangreiche Quellenverzeichnis im Buch deutlich macht. 

Neu ist die reine Masse und Dichte an Informationen und Empirie. Neu ist insbesondere auch die Masse an Biografieforschung bezogen auf politische Akteure. Es gab vorher meines Wissens nach keine Einzelarbeit, in der derart viele Kindheitsbiografien von Diktatoren, politischen Führern, Extremisten und NS-Tätern systematisch aufgestellt wurde. Vor allem alleine letzteres, die Kindheiten der NS-Täter, hätte zu einer breiten öffentlichen Diskussion anregen können. Aber auch das Aneinanderhängen von allgemeinen Arbeiten aus der Extremismusforschung bzgl. Kindheitshintergünden habe ich in der Form noch nirgends vorher gesehen (und in meinem Buch war ich sogar erst am Anfang, mittlerweile habe ich 32 Studien und Einzelarbeiten gefunden, innerhalb derer Kindheiten von rechten Gewalttätern bzw. Rechtsextremisten besprochen wurden!).

Ich fühlte und fühle mich mit diesem Buch so, als ob ich die „Zündschnur“ für eine Art „Bombe“ entzündet hätte und wöchentlich mit der „Explosion“ rechne. Es ist nicht ganz einfach, sich so zu fühlen (aber ich komme klar, keine Sorge!). Gleichzeitig weiß ich um die Mängel des Buches (ich bin kein bekannter Fachmensch mit akademischen Verdiensten, was eine allgemeine Aufmerksamkeit erschwert; zudem einige Formmängel im Buch, vielleicht hätte man auch einiges straffen können, letztendlich fehlte im Rückblick ein umfangreiches, professionelles Lektorat, das sich nur größere Verlage so leisten können). Und ich weiß um die emotionalen Hürden, weil das Sprechen über destruktive Kindheitserfahrungen und deren Folgen stets individuelle und öffentliche Scheuklappen aktiviert (ich habe auch einige Bekannte, die von mir mein Buch erhalten haben und nie wieder darüber gesprochen haben. Was ich auch verstehen und so stehen lassen kann, weil das Buch reines „Feuer“ ist und die Gefahr besteht, dass man sich emotional "verbrennt"…). 

Durch meinen Verlag wurde mein Buch 2020 auch für den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch und für den Preis "Das politische Buch" der Friedrich-Ebert-Stiftung vorgeschlagen. Für beide Preise hatte ich mir keine großen Hoffnungen gemacht. Allerdings wird bei der Preisverleihung der Friedrich-Ebert-Stiftung i.d.R. auf 3-5 Bücher gesondert verwiesen und in der entsprechenden Pressemitteilung eine Empfehlung dafür herausgegeben. Ich hatte gehofft, hier genannt zu werden, was leider nicht der Fall war…
Für sein Buch „Deutschland rechts außen. Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können“ erhielt also 2020 der Rechtsextremismusforscher Matthias Quent den Preis für „Das politische Buch“. Dies sei ihm gegönnt! Er verfügt über eine sehr gute Vita und sein Verlag war Piper. Wie wir die Rechten und andere Extremisten langfristig und nachhaltig stoppen können, das fand man allerdings nicht in Quents Buch, sondern nach meinem Ursachenverständnis in meinem. Ich hoffe sehr, dass dies gesellschaftlich zukünftig mehr gesehen und besprochen wird. 

Die „Explosion“ blieb also aus. Auch wenn es einige kurze Höhenflüge gab, so z.B. als die Journalistin Caroline Fetscher im Tagesspiegel mein Buch besprochen hat. Danach dachte ich kurz: Oh mein Gott, was kommt jetzt? Rein auf meine Person bezogen beruhigt mich die ausbleibende Explosion wiederum auch etwas. Ich mag an sich keinen Rummel um meine Person. Ich mag es auch nicht, wenn ich bewundert werde. Ich sehe mich eher als „Arbeiter“, der sich einfach durch Texte und Infos wühlt, diese sortiert, zentrale Ergebnisse herausnimmt und einfach alles zusammenfasst. Man mag meinen Fleiß würdigen, Neues schaffe ich nicht, das tun eher die Forschenden, die die Studien durchführen und veröffentlichen, auf die ich mich dann beziehen kann. 

Um so mehr freut es mich, dass überall immer mehr Fachleute eine Art „Zündschnur“ für eine Art „Bombe“ entzünden. Dazu gehört vor allem die enorm dynamische und sich stark beschleunigende Adverse Childhood Experiences (ACEs) Forschung. Dazu gehören aber auch Zusammenfassungen bzgl. einzelner Belastungsfaktoren und deren Folgen wie beispielsweise der Bericht „Corporal punishment of children: summary of its impacts and associations“ (2021), in dem es heißt:
The evidence that corporal punishment is harmful to children, adults and societies is overwhelming – the more than 300 studies included in this review show associations between corporal punishment and a wide range of negative outcomes, while no studies have found evidence of any benefits. Corporal punishment causes direct physical harm to children and impacts negatively in the short- and long-term on their mental and physical health and education. Far from teaching children how to behave, it impairs moral internalisation, increases antisocial behaviour and damages family relationships. It increases aggression in children and increases the likelihood of perpetrating and experiencing violence as an adult. It is closely linked to other forms of violence in societies, and ending it is essential in combatting other violence, including partner violence”.

Ich kann mich also etwas entspannen, wir laufen Stück für Stück auf die „Explosion“ zu. Was meine ich eigentlich mit der Explosion? Ich habe da ein inneres Bild vor Augen, das einem Misch aus der öffentlichen Debatte um Kindesmissbrauch in der Kirche und der Debatte um die Klimakrise gleicht. Also einer stetigen, jahrelangen öffentlichen Debatte (inkl. Titelstorys in den Medien), die zu einer traumainformierten und sich der kollektiven, individuellen, politischen, sozialen und ökonomischen Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen bewussten Gesellschaft führt. Einer Gesellschaft, die sich bewusst macht, wie sehr sie von Kindheiten geprägt ist. Vielleicht ist „Explosion“ also auch das falsche Wort. Aber einen zentralen Auslöser oder auch mehrere muss es wohl geben. Es gab diese Auslöser bzgl. der Kirche ebenso wie bei der Klimadebatte (z.B. mit Greta Thunberg und ihrem anfangs einsamen Protest an den Freitagen). 

Was ist sonst noch alles passiert, seitdem mein Buch herausgekommen ist? War das Buchprojekt nun ein Erfolg oder nicht? Tja, wie soll ich „Erfolg“ definieren und messen? Ich gehe von bisher ca. 1.000 verkauften Buchexemplaren aus. Ist diese Zahl nun ein Erfolg? Finanziell ist es bescheiden. Aber ich verdiene eh ausreichend Geld. Um Geld ging es mir nie. Mein erstes Autorenhonorar habe ich außerdem für ein Kinderschutzprojekt komplett gespendet. Die restlichen Einnahmen decken vielleicht meine Recherchekosten. 

Für einen gänzlich unbekannten Autor mit kleinem Verlag ist diese Zahl aber schon ein kleiner Erfolg. Was mich besonders freut ist, dass mein Buch in vielen UNI-Bibliotheken und teils auch öffentlichen Bücherhallen gelistet ist und dass immer mehr Autoren und Autorinnen mein Buch für ihr Buchprojekt verarbeiten. Ich kann auch etwas stolz auf eine Reihe von Buchrezensionen oder Kommentierungen von Fachleuten sein. Ganz besonders hat mich gefreut, dass ich für die „Interdisziplinäre Fachzeitschrift für Prävention und Intervention (DGfPI) Kindesmisshandlung und -vernachlässigung“ den Beitrag „Die Kindheit ist politisch!“ veröffentlichen durfte. Der Beitrag hat es in sich und die Leserschaft kommt aus allen möglichen Professionen aus Deutschland. Ohne meine Buchveröffentlichungen wäre ein solcher Fachblattbeitrag nicht möglich gewesen!

Das gilt u.a. auch für meinen Vortrag "Kindheit ist politisch!" auf der 35. Jahrestagung der GPPP und für meinen Vortrag "Kindheitsursprünge von politischer Gewalt und Extremismus" beim 26. Deutschen Präventionstag (beide Vorträge wurden von mir verschriftlicht und werden nächstes Jahr in Textform erscheinen). Außerdem war man auch bei der World Association for Dynamic Psychiatry (WADP) auf mein Buch aufmerksam geworden. In der Folge wurde ich zum Vortrag für den Kongress „Peace and aggression – a social challenge for psychiatry and psychotherapy“ in Berlin eingeladen, der leider coronabedingt abgesagt wurde. Ersatzweise konnte ich meinen Vortrag für „Dynamische Psychiatrie - Internationale Zeitschrift für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychiatrie“ verschriftlichen: „Die Kindheitsursprünge von (politischer) Gewalt und Friedlosigkeit“.
Unter  Leitung von Prof. Paul H. Elovitz durfte ich am 20.11.2021 im "Psychohistory Forum Meeting" unter dem Titel “The Childhood Origins of Political Violence and Extremism” online vortragen. Man möchte sich jetzt dafür einsetzen, mein Buch ins Englische zu übersetzen. Nun, wir werden sehen...

Ich ziehe also Bilanz: Mein Buch hat mir einige Türen geöffnet. Und mein Buch hat so einige Menschen sehr bewegt (Rückmeldungen zu Folge). Allerdings bleibt es dabei, dass bei diesem schwierigem Thema nur langsame Schritte zu erwarten sind. Ich werde weiterhin meinen Teil dazu beitragen, die Öffentlichkeit zu informieren und Aufklärung zu leisten. Dazu nutze ich auch immer mehr mein Twitter-Account, dem mittlerweile auch einige bekannte Fachleute und Institutionen folgen. Mittel- bis langfristig plane ich den Umbau des Blogs. Bzw. ich möchte zentrale Texte und meine Biografieforschungen überarbeiten und dann auf eine extra eingerichtete Homepage stellen. Das wird viel Arbeit sein und seine Zeit brauchen. Es wird also nicht langweilig!



Donnerstag, 9. Dezember 2021

Die angeblich harmonische Kindheit des Ex-Neonazis Nick W. Greger und meine Anmerkungen dazu

Die Schilderungen des ehemaligen Neonazis Nick W. Greger über seine Kindheit erstaunen zunächst bzw. stellen eine Ausnahme bzgl. meiner Recherchen dar. Er beschreibt seine Kindheit als durchgängig sorglos. Bei genauerem Hinsehen stellen sich aber Fragen, was ich gleich ausführen werde. 

Meine Quelle: "Verschenkte Jahre - Eine Jugend im Nazi-Hass" von Nick W. Greger (2012, epubil, Berlin)

Gleich zu Beginn des Buches stellt Greger klar: „Aus meiner Kindheit gibt es nichts Aufregendes zu berichten. Ich stamme aus einer bürgerlichen Familie der demokratischen Mitte, wie man heute wohl sagen würde. (…) Eltern und Großeltern kümmerten sich rührend um mich, und da ich ein Einzelkind war, stand ich als Jüngster im Mittelpunkt der Familie. Es fehlte mir an nichts, und mir wurde so ziemlich jeder Wunsch erfüllt. Auch mein späteres Agieren als Neonazi sollte das Verhältnis zu meiner Familie niemals ernsthaft trüben können. Kurz gesagt, ich hatte nichts zu leiden und gebe heute auch offen zu, dass es mir wohl ein bisschen zu gut ging und ich einfach nur ein verwöhnter Rotzlöffel war“ (S. 10).

Ab dem 7. Schuljahr habe er ein starkes Bedürfnis nach Auflehnung und rebellischem Verhalten entwickelt, „gegen die Schulordnung, die Lehrer, meinen Vater und einfach jede Autorität, die versuchte, mein Leben in einer Bahn zu halten“ (S. 11). Zunächst drückte sich dies in Schulschwänzen, zu-spät-nach-Hause-Kommen und Herumtreiben in der Stadt aus. „Als Konsequenz gab es natürlich Sanktionen von der Schule und vom Elternhaus, also Nachsitzen und Hausarrest“ (S. 12). 

Schließlich musste er die 7. Klasse wiederholen. In dieser Zeit traf er auf eine rechte Gruppe im Ort, die aus deutlich älteren Jugendlichen bestand. „Ich sollte eine Gruppe, in der ich meinen Frust gegen die über mich herrschende Ordnung ausleben konnte, gefunden haben“ (S. 12). 

Ziemlich schnell kam es dann auch zu Gewaltverhalten und Schlägereien. Die Lehrer seiner Schule sprachen entsprechende Warnungen aus, sich ja nicht mit Greger einzulassen. Wie solche Gewalt u.a. aussehen konnte, beschreibt Greger an einer Stelle, wo es gegen eine Gruppe von Punks auf einem Dorffest ging:
Zum Auftakt der Keilerei hatten wir einen benachbarten Gartenzaun zerlegt und die Latten verwendet, um auf den Gegner einzuprügeln. Einige Punks waren zu Fuß geflüchtet, andere hatten versucht, mit ihren Pkws unserem kleinen, jedoch Amok laufenden Mob zu entkommen. Wir hatten ein Auto gestoppt, mit dem fünf Punks zu flüchten versuchten und mit den Zaunlatten auf das Fahrzeug eingeschlagen. Scheiben waren zu Bruch gegangen, die Insassen durch Glassplitter und Lattenhiebe verletzt worden“ (S. 20). Zu der Zeit muss Greger 15 oder jünger gewesen sein. Er wurde erstmals verurteilt und musste 40 Arbeitsstunden absolvieren. 

15 war auch das Alter, in dem er eine weitere Grenze überschritt: er lief von zu Hause fort. Er wollte in den Osten nach Dresden, das damals als Neonazihochburg galt. In der Tat fand er schnell Anschluss und wurde von der rechten Szene aufgenommen und untergebracht. Seine Eltern waren in großer Sorge und gaben eine Vermisstenanzeige bei der Polizei auf. Erst Monate später gab er seiner Familie ein Lebenszeichen von sich. Die kommenden acht Jahre verließ er Sachsen nicht mehr, auch wenn seine Familie ihn zur Heimkehr bewegen wollte (S. 22).

Greger ging in dieser Zeit in Gewalt und Hass auf. Man zog durch die Straßen und verprügelte jeden, der „bunte Haare hatte, irgendwie links orientiert aussah oder einem Ausländer glich“ (S. 27). 1995 kam er das erste Mal ins Gefängnis, was nicht das letzte Mal gewesen sein sollte. 

Machen wir an dieser Stelle einen Strich und erinnern uns an die anfänglichen Schilderungen über eine harmonische Kindheit. Ich finde: Das passt alles nicht zusammen!

Wir bekommen hier ein Bild von einem Jungen, der schon ab der 7. Klasse auffällig wurde und schnell Gewaltverhalten entwickelte. Es kam auch, wie geschildert, zu schwerer Gewalt gegen andere Menschen. Als 15Jähriger floh der Junge aus seiner „harmonischen Familie“, in der sich alle „rührend“ um ihn gekümmert haben sollen und kam jahrelang nicht zurück. Wie es seiner Familie damit ging, scheint ihm herzlich egal gewesen zu sein. Dies spricht nicht für eine real starke Bindung innerhalb der Familie, sondern für das genaue Gegenteil. 

Interessant ist dabei auch, dass Greger im Grunde gar nichts über seine Familie schreibt, außer bzgl. der Zusammenfassung oben. Er beschreibt keine Szenen oder Episoden mit der Familie, keine Ausflüge, kein Erziehungsverhalten, gar nichts. Nur einmal wird, wie oben zitiert, erwähnt, dass zu Hause mit Hausarrest gestraft wurde. Auch das „Verhätscheln“ wurde erwähnt. Verhätscheln ist keine Liebe, sondern oft ein Anzeichen für ein problematisches Familiensystem. Was mir aber am aller meisten ins Auge sticht, ist der Hang zu Hass und (schwerer) Gewalt im jungen Leben von Greger. Wo soll der Hass herkommen? Aus der Luft? Greger wurde nicht gemobbt, beschreibt keine Übergriffe gegen sich als Kind außerhalb der Familie oder ähnliches. Ich gehe davon aus, dass in der Familie einiges schief gelaufen sein muss. Indizien dafür gibt es wie geschildert. 

Ich warne eindringlich davor, den Fall Nick W. Greger in der Extremismusforschung als Beispiel dafür aufzuwarten, dass auch geliebte Kinder zu hasserfüllten Neonazis werden können. Solche Fälle sollten eher dazu motivieren, weitere Nachforschungen zu betreiben und den Dingen auf den Grund zu gehen; Familie, ehemalige Lehrer, Klassenkameraden usw. zur Kindheit von Greger zu befragen. Und natürlich auch, so es denn die Gelegenheit dafür gibt, Greger direkt und ausführlich über seine Familie und Kindheit zu befragen. Ihn dabei auch Episoden berichten zu lassen, nicht nur allgemeine Etiketten wie „alles war normal und gut“.  Ergänzt ggf. auch um einen Fragebogen aus der ACEs-Forschung, der viele Belastungsfaktoren aus der Kindheit erfasst. Nun ist es so, dass dies alles sehr intime, ggf. schambesetzte Gegebenheiten berührt und es an sich schwierig ist, über Kindheit die ganze Wahrheit zu erfahren. Dies ist und bleibt ein Grundproblem bei der Erfassung der Kindheitsbiografie von Tätern.  

Nachtrag: Ich hatte die Gelegenheit, Nick Greger zu interviewen! Eine wichtige Info bzgl. seiner Kindheit kam dadurch hinzu:  
Seine Mutter war gerade einmal 16 Jahre alt, als Nick geboren wurde. Sie wurde im Alter von 15 Jahren schwanger. Dies sei so geplant gewesen. Nicks Vater war einige Jahre älter und konnte die junge Familie finanziell stemmen. Seine Mutter sei damals bereits sehr reif und verantwortungsvoll gewesen, sagte Greger zu mir.


Montag, 6. Dezember 2021

Tochter eines Ku-Klux-Klan Mitglieds und Leben in der Hölle: Kindheit von Jvonne Hubbard

 „White Sheets To Brown Babies“ heißt die Autobiografie von Jvonne Hubbard (2018, Sakshi Press). 

Die Lebensgeschichte von Jvonne Hubbard hat mich ursprünglich vor allem auf Grund ihres rassistischen und extremistischen Vaters interessiert, der tief in den Ku-Klux-Klan verstrickt war.

Immer wieder ist mir aufgefallen, dass extremistische Familien auch die eigenen Kinder misshandeln und terrorisieren. Dies ist für mich bedeutsam in der Hinsicht, dass es zum einen logisch ist, dass hasserfüllte Menschen mit ihrem Schwarz-Weiß-Denken natürlich auch in der Familie nicht aus ihrer Haut schlüpfen (entsprechend sollte auch das Jugendamt bei solchen Familien sehr aufmerksam sein!!). Zum anderen ist die Misshandlung und Demütigung der eigenen Kinder für mich immer auch ein Indiz dafür, dass diese Leute selbst eine traumatische Kindheit hatten und weitergeben, was sie selbst erlitten haben. Letzterer Punkt stellt für mich eine gedankliche Ableitung und Möglichkeit dar, etwas über die Kindheit von Extremisten zu erfahren, über die es ansonsten keine konkreten Infos über Kindheitshintergründe gibt (siehe dazu auch meinen Beitrag Die Kinder der NS-Täter und die Kindheit der NS-Täter). 

Die Lebens- und Kindheitsgeschichte von Jvonne Hubbard entpuppte sich im Textverlauf für mich aber als weit mehr. Ihre Geschichte ist derart traumatisch und kaum in Worte zu fassen, dass ein Filmregisseur das Manuskript wahrscheinlich ablehnen würde, weil es zu „unglaublich“ ist. 

Ihre Geschichte ist ein wichtiges Zeugnis für Kinderschutz und Aufklärung über Kindesmisshandlung und geht weit über die Extremismusforschung hinaus. 

Das Ausmaß an Gewalt und Trauma in dieser Familie ist derart komplex, dass ich kaum weiß, wo ich anfangen soll. Der Vater war gewalttätig, rassistisch, launisch, kalt und Alkoholiker. Was das für die Familie bedeutet, kann man sich vorstellen. Dazu kamen viele Alltagsdemütigungen und Verletzungen. So z.B. in der Grundschule. Jvonnes beste Freundin, Yonnie, war schwarz. Als der Vater davon erfuhr, drohte er: „If I ever see or even hear tell of you playing with or associating with any nigger ever again I am going to have to whip your ass and burn a cross in little Yonnie`s yard to make you understand“ (S. 7). Um sich und ihre Freundin zu schützen, ignorierte Jvonne ihre beste Freundin zukünftig, was ihr das Herz brach…

Dass ihr Vater gefährlich war, wurde ihr schon als Siebenjährige klar. Ihre Mutter musste das Auto lenken, Jvonne musste sich im Auto hinlegen. Ihr Vater schoss aus dem fahrenden Auto mit einer Waffe auf das Auto eines Anderen, um ein Zeichen zu setzen. Ein anderes Mal warf der Vater eine Art Molotov-Cocktail aus dem fahrenden Auto in das Fenster einer Familie, in der eine weiße Frau ein schwarzes Baby hatte (S. 9). 

An einer Stelle formuliert Jvonne Hubbard (nachdem sie etliche Schrecklichkeiten ausgebreitet hat, die sie in dieser Familie erlebte): „I can´t really remember all of what I was thinking and feeling save one thing: my dad had finally succeeded in teaching me hate. The first person I ever truly hated in my life was him (S. 14). 

Auch ohne rassistische Motivation verbreitetete dieser Vater Terror, auch gegenüber seiner Frau. Dies gipfelte eines Tages darin, dass er Jvonnes Mutter eine Waffe an den Kopf hielt und drohte, sie zu töten (S. 11). Ihre Mutter hatte in der Folge nichts anders zu tun, als sich bei ihrer Tochter auszuweinen und zu fragen, warum ihr Vater sie nicht mehr lieben würde (Parentifizierung). „I´ll admit (…) this was the beginning of when I started to lose resprect for my mother. In my little mind, with only two horribly dysfunctional examples of how human beings conduct themselves during a crisis, it was my mom who worried me most. Why? Because she accted being a victim“ (S. 11f.). 

Diese Mutter neigte immer wieder zu extrem destruktiven Verhalten. Nicht in der Art, dass sie mit einer Pumpgun neben dem Auto wartete (wie der Vater dies einmal tat; S. 13) und die beiden anderen Familienmitglieder bedrohte. Sondern durch unterlassene Hilfeleistung, durch Verhalten wie ein kleines Kind, Ignorieren der Bedürfnisse ihrer Tochter, durch absolute Hilflosigkeit und gleichzeitige Identifikation mit ihrem aggressiven Mann, dem sie alles unterordnete. 

Überhaupt fällt im Verlauf des Buches auf, dass alle Familienmitglieder - auch aus dem weiteren Verwandtenkreis - zu destruktiven Beziehungen neigten. Wenn der eine schlagende und alkoholkranke Partner verlassen wird, dann war der Nächste garantiert nicht viel besser! Angefangen bei der eigenen Mutter, die nach der Trennung von ihrem Mann erst zu One-Night-Stands überging (teils musste beim Sex die Tochter im Flur eingeschüchtert zuhören, S. 17) und sich dann einen Partner suchte, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war. Diverse Beziehungsabbrüche und Konflikte folgten. 

Jvonne hatte indes mit weiteren Problemen zu kämpfen: Armut, Wohnortwechseln, fehlende Freunde und fehlender Anschluss in der Schule, Hänseleien usw. 

In dieser Situation bot ein Mann namens Fred eine gewisse Stütze für Jvonne. Er war 44 Jahre alt, Jvonne war 14. Ihre Familie wusste um diese „Freundschaft“, hatte damit aber kein Problem. Als Jvonne 15 Jahre alt war, fuhr ihre Mutter sie zu Freds Haus, um sie dort übernachten zu lassen. Fred hat sie dann offensichtlich vergewaltigt (weitere Übergriffe sollten später folgen). „Pain, disgust, confusion, not knowing what to do or how to feel, followed. When my mom picked me up the next morning I told her what had happend. All she had to say was `Did it hurt? The first time is often painful`. Then the next move was to take me to the health department and put me on birth control!“ (S. 50). Von dieser Mutter war keine Hilfe und kein Schutz zu erwarten, in jeder Hinsicht...

Alle anderen Erlebnisse und Traumatisierungen hier zusammenzufassen, überfordert mich. Fast auf jeder Seite des Buches schildert die Autorin irgendwelche Grausamkeiten und destruktiven Erlebnisse. Dazu gehören z.B. Dinge wie eine Situation, in der eine Frau, die mit ihrem Freund im schweren Streit lag, zum Vater von Jvonne ging und ihn um eine Waffe bat. Sie wolle ihren Freund erschießen. Der Vater übergab die Waffe, die Frau erschoss ihren Freund. Jvonne wunderte sich, warum ihr Vater dafür nicht inhaftiert wurde (S. 82). 

Später wurde ihr Vater selbst zum Opfer. Er hatte eine Alkoholiker-Freundin, die ihn später stalkte. Sie schoss ihm eines Tages mehrere Kugeln in den Körper. Er überlebte und blieb pflegebedürftig. 

All diese Erlebnisse blieben nicht ohne Folgen für Jvonne. „Sometimes it feels like I am a hundred years old, for all the life I`ve lived“ (S. 162). Ihre Gesundheit war schwer beeinträchtigt. „Those ailments were as follows: anxiety, depression, panic attacks, fibromyalgia, TMJ, interstitial cystitis, irritable bowel syndrome, premature ventricular oft he heart, chronic episodes of bronchitis, immun deficiecy and eventually pneumonia. My immune system and even my heart (…) were damaged (…)“ (S. 140). Die meisten Diagnosen waren chronisch. 

Ihr Fall und die Gesundheitsfolgen werden auch durch die Adverse Childhood Experiences Forschung bestätigt: Je mehr Trauma als Kind, desto höher die Wahrscheinlichkeit für diverse Erkrankungen. 

Der Fall Jvonne Hubbard hat mich sehr berührt und teils sprachlos gemacht. Jvonne Hubbard ist fast so alt wie ich. Ihre Geschichte stammt nicht aus dem Mittelalter! Sie ist ganz nah und real. Und viele andere Kinder erleben immer noch ähnliches. Das sollten wir nicht vergessen!


Mittwoch, 1. Dezember 2021

Linksextremist, Rechtsextremist, Söldner und Mörder. Die Kindheit von Thomas Adolf

Thomas Adolf hat in seinem Leben scheinbar alle Extreme mitgenommen, die es zu fassen gibt. Am Ende wurde er zum kaltblütigen Mehrfach-Mörder... 

Thomas Adolf sei das unerwünschte Ergebnis einer Kneipenbekanntschaft, sagte sein Vater. Von dem Kind und der Mutter wollte dieser nichts wissen. Thomas Adolf aber fehlte ein Vater: „Dem Vater, der ihn in der Kindheit jämmerlich im Stich gelassen hat, schreibt er emotionale Briefe. `Wer bin ich in Deinem Leben? Gibt es irgendwann einmal einen flüchtigen Gedanken in Dir, in dem ich vorkomme? Es gäbe viele Dinge, die ich mit meinem Vater besprechen könnte, die intim und diskret sind`“ (Elendt, G. & Schmalenberg, D. 2003 (23. Okt.): MORDE VON OVERATH. "Zwei bis drei nehme ich mit", Stern.de)
Hannelore Adolf, bei der Entbindung 18 Jahre alt, kümmert sich auch nicht um Thomas. Elterliche Wärme und Geborgenheit lernt er nie kennen. Die Mutter schiebt ihn zur Großmutter ab und wandert selbst bald wegen Diebstahls, Betrugs und Hehlerei ins Gefängnis“ (Ebd.).
Thomas war zu dieser Zeit fünf Jahre alt und wirkte verwahrlost. In einem anderen Bericht wurde geschrieben: „Verstoßen von seiner Mutter, einer Prostituierten, erhält Adolf bereits in der Kindheit bei der Großmutter seine nationalsozialistische Prägung“ (Spilcker, A. (2004, 18. Nov.): Staatsanwältin fordert lebenslänglich, Kölner Stadt-Anzeiger)

Als Thomas ca. 11 Jahre alt war, verschwand die Mutter spurlos. Kurz darauf starb auch noch die Großmutter. Thomas kam bei einem Onkel unter. Das Kind wurde um diese Zeit bereits stark verhaltensauffällig, schlug zu, drohte und quälte seine Mitmenschen.  "Der Junge hat einen tiefen Hass auf das Leben", sagte der Onkel (Elendt & Schmalenberg, 2003).

Als Jugendlicher driftete Thomas in die die linksextreme Szene ab. Als 19Jähriger kam er das erste Mal in U-Haft. Danach kam er mit rechtsextremen Parolen nach Hause. Sein Onkel schmiss ihn daraufhin raus. 



Dienstag, 30. November 2021

Kindheit des ehemaligen Neonazis und Terroristen Odfried Hepp

Der ehemaliger Neonazi und Terrorist Odfried Hepp hatte eine deutlich belastete Kindheit. 

Meine Quelle: Winterberg, Y. (2004): Der Rebell: Odfried Hepp: Neonazi, Terrorist, Aussteiger. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach.

Der Vater von Odfried gehörte einem deutsch-völkischen Gesinnungsbund an. Später baute er ein Haus für die große Familie, inkl. „Germanenkeller“, in dem auf Holzbänken und Fellen Heldensagen und Geschichten vom Krieg erzählt werden. Um Deutschland tobe schon immer ein Kampf um die Kultur, lässt der Vater seine Kinder wissen. Als die rechtsextreme NPD 1968 in Baden-Württemberg 9,8% der Stimmen erhielt, sah der Vater dies mit Genugtuung. Später überlegte der Vater nach Südafrika auszuwandern, weil dort "deutsche Tatkraft" und "weiße Hautfarbe" noch etwas zählten. Zum 14. Geburtstag erhält Odfried vom Vater das Buch “Vater aller Dinge“ vom Zentralverlag der NSDAP aus dem Jahr 1943 (S. 18, 20, 24, 32, 38). Ganz eindeutig war dieser Haushalt politisch rechtsextrem und konservativ orientiert! 

Die Familie funktioniert nach dem Schema eines UFA-Familienfilms aus den Vierzigerjahren. Der Vater ist eine Respektsperson, der Wohlverhalten belohnt und Unartigkeiten tadelt, nicht immer sanft, aber immer gerecht“ (S. 19) Es ist erstaunlich, dass der Biograf hier Strafen des Vaters mit „immer gerecht“ einordnet. Wie kommt er zu so einem Wortlaut, einer solchen Einschätzung? Ist es nicht der Wortlaut der alten Generationen, der Wortlaut vom immer recht habenden und gerechten Vater, selbst wenn dieser straft?  Solche Kommentierungen sehe ich grundsätzlich mit einer gewissen Skepsis. 

Gelegentliche „Donnerwetter“ des Vaters hätten sich meist an den älteren Geschwistern entladen, nicht gegenüber Odfried, dem Liebling des Vaters. Die Mutter wird als sanft beschrieben, Bestrafungen lagen ihr nicht, schreibt der Biograf. Zuhause war sie meist auf sich allein gestellt, der Vater arbeitete an seinem beruflichen Aufstieg. Insgesamt fällt auf, dass das Bild der Mutter sehr schemenhaft bleibt: über sie wird fast nichts berichtet. Im Zentrum steht der Vater, der die gesamte Familie dominierte. 

Wegen der großen familiären Belastungen muss Odfried "ab und zu", wie sich der Vater erinnert, „eingesperrt“ werden, zunächst in ein Gitterbettchen, dann in einen Laufstall. Der Vater wörtlich:
Ich sehe ihn noch heute vor mir, wie er an den Stäben rüttelt und gegen sie tritt. Sagen konnte er es noch nicht, aber gedacht hat er sicher: Lasst mich hier raus!“ (S. 19). Ein einziges Mal habe er Odfried den Hintern versohlt, hängt der Vater dem an. „Odfried wird weder bestraft noch gedemütigt“, schreibt der Biograf zwei Seiten weiter (S. 21).
An dieser Stelle erschließt sich vielleicht auch der oben zitierte Wortlaut vom „immer gerechten Vater“. Der Biograf scheint viele Informationen über Kindheit und Erziehungsstil direkt vom Vater bekommen zu haben. Dies ist eine legitime und wichtige Quelle. Allerdings sollte man die Quelle auch kritisch hinterfragen, wenn es um mögliches Täterverhalten und Strafen geht. Denn schließlich spricht man direkt mit Demjenigen, dem die möglichen Taten auch anlastbar wären (gerade auch vor dem Hintergrund des späteren Lebenslaufs seines Sohnes).  

Fünf Kinder hat die Familie insgesamt. Diese begehrten allerdings Stück für Stück gegen den Vater auf. „Karl-Lutz hat mit 15 beschlossen, den Vater abzulehnen. Damals hat der ihm beizubringen versucht: `Du musst in bestimmten Situationen bereit sein, einen Menschen zu töten.` Für Karl-Lutz dagegen ist jeder Soldat ein Mörder. Wenig später überrascht Karl-Lutz seine Schwester mit der Erkenntnis: `Vater sagt uns nicht die Wahrheit über das Dritte Reich`“ (S. 25). 

Es war Ende der 1960er Jahre zu dieser Zeit. Die Kinder wurden offensichtlich von der Revolte der jungen Generation erfasst. Mit 17 riss der älteste Sohn Karl-Lutz von Zuhause aus und reiste nach Paris. Zurück in Deutschland wurde er vom Vater mit heftigen Ohrfeigen begrüßt, "entgegen seiner Gewohnheit", wie der Biograf betont (S. 27). Wir haben hier also den bereits zweiten Beleg für Gewaltverhalten des Vaters, wieder etwas abgemildert durch die Kommentierung des Biografen. Da wie gesagt der Vater eine wesentliche Quelle für Informationen war, rate ich erneut zur Vorsicht und würde weitere Übergriffe zumindest nicht ausschließen. 

Karl-Lutz floh erneut, diesmal nach Nordirland. Auch zwei Schwestern brachen jetzt aus. „Auch Karin und Heidi laufen nun von zu Hause fort. Einerseits kämpft der Vater verzweifelt darum, sie wieder zurückzuholen, andererseits erwartet er Reue und Umkehr zu einem Leben in seinem Sinne. Da ist der Keim für den nächsten Ausbruch schon gelegt. (…) in die kleinbürgerliche Idylle ist eine Art von Grauen eingedrungen, für das ihm der Name fehlt – und die Rezepte sowieso“ (S. 27).

Odfried habe von all dem nur wenig mitbekommen, betont der Biograf. „Er verkriecht sich in sein Zimmer – und will gar nicht so genau wissen, weshalb es im Wohnzimmer unter ihm laut wird“ (S. 27). Hier sehen wird erneut eine Abmilderung seitens des Biografen. Natürlich hat Odfried von den Auseinandersetzungen etwas mitbekommen, deswegen hatte er sich ja verkrochen!

Im Herbst 1970 übertrat der Vater eine Grenze. Im Streit und bei einer heftigen Auseinandersetzung mit Karl-Lutz stellte sich die Mutter dazwischen und wurde von einem Schlag des Vaters getroffen. Ein „zufälliger Schlag“, wie der Biograf anhängt (S. 28) (Wortlaut des Vaters?) Wir haben hier also den dritten Beleg für Gewaltverhalten des Vaters. Am nächsten Tag erklärte die Mutter, dass sie die Scheidung will. Odfried war zu dieser Zeit zwölf Jahre alt.
Odfried beschloss, beim Vater zu bleiben. Ihm ging es vor allem um die vertraute Umgebung. Die Familie brach auseinander. Die Geschwister gingen in verschiedene Richtungen. Odfried blieb alleine beim Vater zurück und dieser bestärkte Odfried in der Ablehnung seiner Mutter. 

Der Vater hatte allerdings kaum Zeit für seinen Sohn. Eine Haushälterin kümmerte sich um den Haushalt. Schließlich brachte der Vater seinen Sohn Odfried im rechten Bund Heimattreuer Jugend unter. Die rechtsextremen Prägungen nahmen ihren weiteren Verlauf. 

Als Odfried 15 Jahre alt war, kamen Vater und Mutter wieder zusammen und heirateten erneut. „Über Nacht ändert sich für Odfried alles. Zwei Jahre lang hat Odfried wie ein Erwachsener gelebt. Jetzt wird er aus seiner Sicht in der sozialen Stellung zurückverwiesen, in den Status des Kindes zurückgestuft. (…) Odfried beginnt an seinem Vater zu zweifeln. (….) Der Bund Heimattreuer Jugend wird zum Familienersatz“ (S. 41f.).

In der Kindheit von Odfried Hepp gab es eine Reihe von Belastungen, wie oben aufgeführt. Das Bild über seine Kindheit erschließt sich nur, indem man einzelne Puzzleteile zusammenfügt und auch ein Gefühl für die Familienatmosphäre entwickelt. Ein deutlich rechtsextremer Vater mit seinen völkischen Ideen und seinem Anspruch über die Familie zu bestimmen, wird auch zu Verletzungen im Alltagsleben der Kinder geführt haben. Väterliche Feinfühligkeiten sind hier kaum zu erwarten. Wie geschildert haben wir wenig konkrete Berichte über Erziehungsverhalten. Allerdings wollten die Kinder aus dieser Familie ausbrechen, ganz am Schluss auch Odfried. Ich gehe von ganz erheblichen Belastungen in dieser Familie aus, die weit über die z.B. vereinzelt berichteten körperlichen Übergriffe des Vaters hinausgehen. Für mich ergibt sich vor allem das Bild von einem Geflecht aus Kontrolle, Dominanz, psychischem Missbrauch und Manipulationen, gepaart mit ideologischer "Aufladung".


Montag, 29. November 2021

Kindheit des ehemaligen Nazis und Rechtsterroristen Stefan Michael Bar

Die Kindheitsbiografie des ehemaligen Nazis und Rechtsterroristen Stefan Michael Bar stellt einen weiteren Beleg dafür da, wo die tieferen Ursachen für Rechtsextremismus liegen. 

Meine Quelle: Bar, S. M. (2003): Fluchtpunkt Neonazi. Eine Jugend zwischen Rebellion, Hakenkreuz und Knast. (Hrsg. Klaus Farin und Rainer Fromm). Verlag Thomas Tilsner. 

Bereits die Umstände seiner Geburt waren schwierig: Seine Mutter war 15 oder 16 Jahre alt, der Vater nicht viel älter. Bar selbst bezeichnet sich in diesem Kontext als „biologischer Unfall“ (S. 9). Im Alter von drei Jahren kam er für ein Jahr in ein Kinderheim. Dort erlebte er Gewalt durch andere Kinder. Eine Lehrerfamilie adoptierte schließlich den Vierjährigen. 

Die Adoptiveltern hatten sehr hohe Erwartungen an das Kind. Leistung ging über alles. Der Vater (ein Gymnasialdirektor) hatte zudem sehr wenig Zeit für die Kinder und Familie und war häufig abwesend. „Vormittags gab`s staatlichen, nachmittags privaten Unterricht. (….). Das Leben kann nicht nur aus Schule und Lernen bestehen, selbst in den Ferien ging der Drill weiter. (…) Keine Zeit für gar nichts, das war nicht ich selbst“ (S. 11). Stefan Michael begann dann Stück für Stück mit Rebellion gegen alles und jeden. Er schwänzte schon als Grundschüler die Schule, begann mit Diebstählen usw. 

Der heranwachsende Junge wurde durch Kontakte zu anderen gleichgesinnten Jugendlichen Stück für Stück immer delinquenter. Es folgten Einbrüche, Dogenhandel, versuchte Brandstiftung, Sachbeschädigungen und Gewalt. Auch rechtsextreme Einflüsse kamen hinzu. Sein Bruder entwickelte sich ebenfalls zum Rechtsextremisten.  

Im Alter von 16 Jahren wurde Bar seinen Adoptiveltern entzogen und kam in ein Jugendheim. Dort traf er auf andere Rechte und Nazis, die seinen Weg noch mehr verdunkelten und zusätzlich negativ prägten. 

An einer Stelle wird Bar nochmals sehr konkret und beschreibt seine damalige Gefühlslage in seiner Jugend: „(…) Angst oder gar Respekt hatte ich vor niemandem. Keinem Lehrer, keinem Bullen, nicht mal meinen Eltern. (…) Ich hatte mich mit Gewalt befreit, durch Schläge, Verweigerung und Trotz, niemand hatte mir mehr etwas zu sagen, die Zeiten waren vorbei. Ich ganz allein bestimmte über mich, ich nahm mein Leben selbst in die Hand. Vorher hatte sich auch niemand um mich gekümmert, auf sich allein gestellt. Aber die Zeile aus dem Anti-Fascho-Song `Schrei nach Liebe` trifft bei mir brutal zu:
`… denn deine Eltern hatten niemals für dich Zeit`, auf mich bezogen eine beschissene Wahrheit. Das ist vielleicht `ne harte Anklage, aber es ist so, meine Eltern waren nie für mich da. Gute Noten waren alles, was zählte. (…) Irgendwann sagst du dir, drauf geschissen, bin jetzt alt genug, mach mein eigenes Ding. (…) Euch bin ich doch sowieso egal, also seid ihr es mir auch
!“ (S. 16)

Die weiteren Schilderungen über sein Leben und seine Straftaten habe ich nur ansatzweise gelesen. Wir haben es hier mit einem Mehrfachtäter höchster Kategorie zu tun, der einfach nur zerstörte und sich nahm, was er wollte. Mit der Welt und der Gesellschaft scheint er komplett gebrochen zu haben. Dies wird überdeutlich. 

Sehr ärgerlich machte mich das Nachwort des Mitherausgebers Klaus Farin. Im Zeitraffer blickt er auf die Sozialisation von Stefan Michael Bar und kommentiert:
Doch so logisch, fast zwangsläufig sich der Weg des Stefan Michael Bar in die Neonazi-Szene auch lesen mag, er ist es nicht. Millionen von jungen Männern in Deutschland mach(t)en ähnliche Erfahrungen“ (S. 150f.) Er beschreibt dann die Konflikte zwischen Alt-Nazis und 68ern, schreibt von 50.000 Jugendlichen unter 18 Jahren, die in einem Heim leben und von 37.000, die in einer Pflegefamilie untergekommen sind, berichten von unzähligen Kindern, die von ihren Eltern misshandelt werden usw. Und hängt dem an: „Doch nur eine winzige Minderheit der so in ihrer Entwicklung geschädigten Jugendlichen landet in der Neonazi-Szene (…). Allgemeinverbindliche Ursachen, gar Kausalzusammenhänge – wenn…, dann… - lassen sich aus den inzwischen zahlreich geführten biographischen Gesprächen und Analysen rechtsextremer Ideologen und (Gewalt)Täter nicht ableiten“ (S. 151). 

1. Das Buch stammt aus dem Jahr 2003. Insofern sei diese Anmerkung etwas verziehen. Das bis heute vorliegende biografische Material zeigt deckungsgleich mit dem Finger auf destruktive Kindheitserfahrungen von Rechtsextremisten

2. Bedeutet diese Anmerkung des Herausgebers also, dass die massiv traumatischen Kindheitserfahrungen von Bar gar keine Rolle bei seinem spezifischem Lebensweg spielen? Hätte man diese Schilderungen im Prinzip auch aussparen können, weil sie nicht von Relevanz sind? Weil „Kindheit“ ja nicht prägt? Die Zusammenhänge hier ausblenden zu wollen, ist geradezu nachlässig und fahrlässig! Ich habe schon oft gegen solche Kritik Stellung bezogen und werde mich hier jetzt nicht wiederholen. Heute ärgert mich es einfach nur noch wenn ich lese „Nicht alle einst misshandelten/traumatisierten Kinder werden zu Extremisten!“ und dadurch die Ursachenkette quasi weggewischt wird...


Dienstag, 23. November 2021

"Vom Saulus zum Paulus": Kindheit des Ex-Skinheads Johannes Kneifel

 "Vom Saulus zum Paulus: Skinhead, Gewalttäter, Pastor - meine drei Leben" heißt die Autobiografie von Johannes Kneifel (2012, Rowohlt Verlag, Reinbek)

Johannes Kneifel war als Jugendlicher Teil der rechten Skinheadszene. Schon in der Grundschule begann er mit Diebstählen und zündelte mit Feuer. Später neigte er zu Gewalt. Mit 17 Jahren kam er wegen Totschlags für fünf Jahre ins Gefängnis. Er brach mit der rechten Szene und wurde schließlich zum Pastor. 

Seine Kindheitserfahrungen sind, die meisten Blogleserinnen und Blogleser werden sich darüber kaum wundern, massiv destruktiv. 

Angst, Ohnmacht und Scham – immer wieder sind es dieselben Gefühle, die hochkommen, wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke. Ich fühlte mich wie in einem Gefängnis, allein, nicht wahrgenommen. Echte Wertschätzung erfuhr ich keine, an Lob von meinen Eltern kann ich mich nicht erinnern. Das galt nicht nur für meine schulischen Leistungen, sondern auch für alle anderen Bereiche“ (S. 75). 

Ich kam mir wie ein Fremder vor, egal wo ich war. Auch zu Hause. Einmal kam mir sogar der Gedanke, als Baby im Krankenhaus vertauscht worden zu sein, so wenig zugehörig fühlte ich mich meiner Familie (…)“ (S. 24). 

Wesentliche Grundlage der familiären Probleme waren die frühe, schwere Erkrankung seiner Mutter an Multipler Sklerose und die fast Blindheit seines Vaters. Dazu kam Armut und Geldsorgen. Die Eltern waren heillos überfordert, haderten mit dem Leben, kämpften sich durch. Für Johannes blieb da nicht viel. „Meine Familie war nicht nur finanziell in Not geraten. Die Sorge darum, wie es weitergehen soll, die Sorge um unser aller Wohl muss für meine Eltern so schlimm gewesen sein, dass sie den Mangel an Zuwendung, an Austausch gar nicht bemerkten. Auch nicht die Bedürfnisse ihrer Kinder“ (S. 29). Johannes schämte sich für seine Herkunft, für die Armut und für seine behinderten Eltern. 

Als Jugendlicher beschimpfte er sie, nannte seine Mutter „Du Krüppel!“ und seinen Vater „Versager“ (S. 45). Er trat sogar Zuhause Türen ein. Sein Vater zog sich zurück und schwieg. Nie brachte Johannes Schulfreunde mit nach Hause. An sich war er aber auch eher ein Außenseiter an der Schule, der kaum Anschluss fand. 

Die rechte Skinheadszene bot offensichtlich Halt und Ausgleich. „Ich war damals noch stolz darauf, Skinhead zu sein; mit diesem Stolz konnte ich die Scham über meine Herkunft, mein Elternhaus überdecken“ (S. 38). „Ich schien im Kreis der Rechten einen Rückhalt zu haben, den ich bis dahin nirgendwo anders gefunden hatte: Hier zählte Kameradschaft, das Gemeinschaftsgefühl“ (S. 42). 

Dies ist etwas, was sich wie ein roter Faden durch etliche Schilderungen von Ehemaligen oder auch entsprechenden Studien zieht: Die Suche nach Halt, Familienersatz, Freundschaft, Bindung, Schutz, Zugehörigkeit. Die extremistische Gruppe stopft quasi ein emotionales Loch. Dies zeigt auch auf die Chancen für Prävention, in dem jungen Menschen mit schwierigem Hintergrund konstruktive Gruppenangebote gemacht werden, in denen sie sich etwas Zuhause fühlen können. 

Seine Gefühlwelt beschreibt er mit Rückblick auf eine kurze Jugendliebe so: „ (…) nie im Traum hätte ich daran gedacht, dass ich zu solchen Gefühlen imstande sein könnte. Nach all den Jahren, in denen ich mich völlig in mich zurückgezogen, meine Gefühle in mir abgetötet hatte, erlebte ich den Himmel auf Erden“ (S. 37). Seine Situation war offenbar derart schwierig, dass er nichts mehr fühlte. Bis zu dieser kurzen Zeit des Flirts. 

Als Jugendlicher (der genaue Zeitpunkt erschließt sich nicht) kam er in ein Internat. Auch das Jugendamt war offensichtlich an dieser Entscheidung beteiligt (S. 37). Schon während seiner Schulzeit plagten ihn Suizidgedanken. Später im Gefängnis überlegte er erneut, sich umzubringen. Mit Blick auf Suizidgedanken und Schulzeit schreibt er: „Ich fühlte mich benachteiligt, missachtet, ausgegrenzt, wollte aber um jeden Preis vermeiden, damit aufzufallen. Es gab niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Zu allen negativen Gefühlen kam jetzt noch der Neid auf die Mitschüler, die in geordneten und behüteten Verhältnissen aufwuchsen. Meine Ohnmacht, an der eigenen Situation nichts ändern zu können, brachte mich irgendwann dazu, für meine Mitschüler nur noch Verachtung zu empfinden“ (S. 44). 


Montag, 22. November 2021

Kindheit des Ex-Nazis Stefan Jahnel

Die Autobiografie „Mythos Neonazi“  von Stefan Jahnel (2004, pro Literatur Verlag, Mammendorf) zeigt einmal mehr in Richtung Einflussfaktor Kindheit. 

Stefans Eltern trennten sich (das genaue Jahr wird nicht beschrieben). Die Ehe der Eltern war schon früh gescheitert, wie Jahnel ausführt. Und zwar bereits ab dem Zeitpunkt, wo Stefan vier Jahre alt war. Die Mutter wartete aber Jahre, bis sie sich schließlich trennte. Was Jahnel so kommentiert: „Ich denke, es war eine falsche Entscheidung“ (S. 11). Er meint: Sie hätte sich früher trennen sollen. Offensichtlich gab es häufig Konflikte in der Familie. „Die Streitereien zwischen meinem Vater und meiner Mutter führten dazu, dass ich es zuhause nicht mehr aushielt. Mein Vater arbeitete drei Tage in München und hatte dann wieder frei. Ich hasste es, wenn er aus München kam. (…) Dann mischte sich mein Vater in schulische Dinge etc. ein, was jedes Mal zu einem Familienkrach führte“ (S. 11). 

Stefan war es leid, all die Streitereien zu erleben. „Mein Wunsch war es damals, auf ein Internat zu gehen. Und mit 13 konnte ich meine Eltern dann auch tatsächlich überzeugen. Drei Tage später hat meine Mutter die Scheidung eingereicht. Dieser Schritt schien mir nur logisch, auch wenn er mich emotional berührte“ (S. 12) Es wird klar, wie schlimm es für ihn gewesen sein muss, wenn sich ein Kind in diesem Alter zu diesem Schritt entscheidet. Zwei Jahre verbrachte er im Internat und kam dann zurück zu seiner Mutter. „Meine Mutter war wieder liiert. Der Herr hieß Fred und um es ganz prägnant zu formulieren: Wir hassten uns! Zumindest hasste ich ihn“ (S. 11). 

Einmal eskalierte ein Streit zwischen ihm und dem Stiefvater. Der Stiefvater hatte Stefan und dessen weibliche Bekannte zum Essen eingeladen. Nach einem Streit lud er Stefan vom Essen aus. Die Bekannte kam trotzdem zum Essen (der Stiefvater war ein extrem guter, prominenter Koch). Stefan zündete dann aus Rache einen großen Molotowcocktail vorm Haus. Die Mutter ließ ihren Sohn daraufhin für eine Woche in die Psychiatrie einweisen.
„(…) so eine Woche Psychiatrie ist so ziemlich das Übelste, was man erleben kann. Es gibt kaum etwas Schlimmeres. Knast hätte mir weniger ausgemacht. Im Knast hat man zumindest die Chance, einen Rechtsanwalt zu bekommen, der zu 100 Prozent auf deiner Seite steht, den man auch ins Vertrauen ziehen kann. (…) Egal was mir aufgrund meiner politischen Tätigkeit passieren würde, es würde nie etwas Schlimmeres geben, als das, was ich eben erlebt hatte. (….) Die ganze Sache hatte mich ehrlich etwas aus der Bahn geworfen. Ich konnte ja nun schlecht zu meiner Mutter zurück. Mein Vater wollte mich zwar zu sich aufnehmen, aber das hieß: er und vor allem seine Frau wollten nicht mich aufnehmen, sondern einen Sohn, der ihren Vorstellungen entsprach. Und diesen Vorstellungen konnte ich auf die Dauer nicht entsprechen, und ich wollte ihr auch nicht entsprechen“ (S. 23).
Dazu muss ergänzt werden, dass Stefan bereits als Jugendlicher deutlich rechte Ansichten vertrat.  Wobei sein Vater in seiner eigenen Jugend Kameradschaftsführer in der Hitlerjugend gewesen war und Jahnel andeutet, dass sein Vater zumindest deutlich konservative Ansichten vertrat und für Politikerschelte zu haben war (S. 23f.). 

Nach dem Umzug zum Vater zog die Mutter ins Ausland. „Meine Mutter zog relativ kurze Zeit später nach Spanien, aber das tangierte mich nicht mehr. Ich war eigentlich sogar recht froh, dass sie mir nicht mehr über den Weg lief“ (S. 24). Der krasse Bruch zwischen Mutter und Sohn zeigt sich in dieser Aussage überdeutlich. 

Als 17Jähriger kam eine weitere traumatische Erfahrung hinzu. Stefan war in seine Bekannte Manu verliebt. Die Liebe seines Lebens, wie er schreibt. Manu litt wohl unter Depressionen und kam aus schwierigen Verhältnissen. Sie starb als 16Jährige bei einem Autounfall. Alles deutet darauf hin, dass der Wagen absichtlich gegen einen Baum gefahren wurde. Zusammen mit dem Fahrer war das Ganze offensichtlich als Doppelselbstmord geplant. „Am liebsten wäre auch ich gestorben, aber das Leben musste weitergehen. Allerdings bedeutete mir mein Leben zu diesem Zeitpunkt fast gar nichts mehr. Ich hätte mich sicherlich zu fast jeder blödsinnigen Aktion hinreißen lassen: Das Zeigen von Reichskriegsflaggen in Schulräumen ist verboten? Na egal, dann habe ich eben eine aus dem Fenster gehängt“ (S. 27). In der Folge drang Jahnel immer weiter in die rechte Szene ein. Über 10 Jahre war er darin aktiv. 

Es wird deutlich, dass Stefan Jahnel als junger Mensch vor allem psychosoziale Hilfen dringen gebraucht hätte. Besser noch wäre Unterstützung von Familienangehörigen gewesen. Letztere scheinen aber eher DAS Problem in seinem Leben gewesen zu sein. 


Freitag, 19. November 2021

Kindheit und Jugend des Neonazis und Söldners Wolfgang Niederreiter

Die Kindheit und Jugend des Neonazis und Söldners Wolfgang Niederreiter gehört zu den mit grausamsten Kindheiten, über die ich bisher recherchiert habe.  Das Wort Kindesmisshandlung trifft es hier nicht. Viel mehr erlebte er Folter und Terror! Außerdem wuchs er in einer Kultur der Gewalt auf, inkl. in dem Kinderheim, in das er später kam.

Meine Quelle: Santer, C.  & Niederreiter, W. (1995): Ich geh jetzt Rambo spielen. Müllkind, Neonazi, Söldner in Bosnien, Bekehrung - und ein Mordprozess. Aufbau Verlag, Berlin. 

Schon die Geburt von Wolfgang war belastet, er kam als Frühgeburt. Über seine Kindheit sagt er:
Wenn ich an diese Zeit denke, steigt vor allem Wut in mir auf. Aber ich sage mir: Wenn ich meine Kindheit überlebt habe, dann kann es wohl nicht mehr viel schlimmer kommen. (…) Meine ersten Erinnerungen bestehen aus den Schlägen, die wir vier Kinder (….) von unserem Vater ständig bekommen. Er haut uns ins Gesicht oder drischt uns auf den nackten Arsch. Meine Mutter hat auch nichts zu melden. Die schönsten Zeiten sind für uns die Stunden, wenn er Besuch von Bekannten erhält, denn für diese Zeit sind wir vor ihm sicher. Wenn wir Kinder unseren Eltern zu schlimm sind, werden wir ins Kinderzimmer gesperrt. Vor das Fenster kommt eine Platte, damit wir nicht abhauen können. Wir sind dann dazu verurteilt, den ganzen Tag im Bett zu bleiben, öfters sind es auch mehrere Tage. Natürlich werden wir auch zusätzlich gestraft, indem wir nichts zu essen bekommen“ (S. 11f.). 

Ich erinnere mich noch an die Weihnachtstage, als ich vier Jahre alt bin. Am Morgen nach dem Heiligen Abend spielen wir mit den neuen Spielsachen. Dadurch wacht mein Vater auf. Er wird wütend und lässt uns in einer Reihe antreten. Auf den ausgestreckten Armen müssen wir ihm unsere Spielsachen präsentieren, die er uns auf dem Kopf zerschlägt. Und schließlich müssen wir auf Holzscheiten knien und bekommen auf die ausgestreckten Arme Bücher gelegt. Jedesmal, wenn eines herunterfällt, legt er zwei drauf. Ich weiß noch, dass ich vor lauter Erschöpfung umkippe“ (S. 13).   

Zur Strafe sperrte der Vater die Kinder auch in ihre Zimmer und schraubte die Türklinken ab. Es gab dann kein Essen und kein Trinken. „Vorsichtshalber haben wir uns schon ein Vorratslager mit rohen Kartoffeln und Zwiebeln angelegt, die wir jetzt essen. Wir werden schließlich so durstig, dass wir unsere eigene Pisse trinken. Wir haben einen Eimer im Zimmer, den wir als Toilette benutzen müssen. Ich hasse diesen Geruch, der dann im Zimmer liegt“ (S. 13f.). 

Als ich und mein kleiner Bruder mit dem Essen herumspielen, werden wir in den Keller gesperrt. Dort unten ist es völlig dunkel, weil es kein Licht gibt. Ich habe große Angst. Mein Vater hatte mir immer wieder erklärt, dass es in diesem Keller Schlangen gäbe“ (S. 15f.). 

Die Mutter bietet keinen Schutz, im Gegenteil, sie meldet „Fehlverhalten“ dem Vater, der dann die Kinder verprügelt. Ansonsten bleibt die Rolle der Mutter schemenhaft, man erfährt fast nichts über sie. Der Vater selbst ist in einem Kinderheim aufgewachsen. Später droht er oft: „Ich hätte euch gleich schon ins Heim geben sollen, als ihr noch ganz klein wart, dann hätte ich mir den ganzen Ärger mit euch erspart“ (S. 19). 

Wenn die Kinder nicht eingesperrt sind, müssen sie die Nachmittage im Freien verbringen, auch im Winter. Das Haus bleibt für sie versperrt. Die Kinder reagieren wiederum mit destruktivem Verhalten, sie zünden z.B. ihre Teddybären an, der älteste Bruder nimmt die Spielsachen der Jüngeren weg und zerstört sie. Wolfgang ist lange Zeit Bettnässer. Als ältere Kinder sind Wolfgang und sein Bruder ständig in Schlägereien verwickelt.

Die Familie ist zudem arm. Oft reicht das Geld nicht, um die Kinderzimmer zu heizen. Der Vater sammelt Spielzeug vom Müll. Beim Jugendamt ist die Familie bekannt. Als Wolfgang dreizehn Jahre alt ist, wird er schließlich auf Veranlassung des Jugendamtes in ein Kinderheim gebracht. Auch dort herrscht das Gesetz des Stärkeren und Wolfgang setzt sich mit Gewalt durch. Während seiner Lehre versucht Wolfang sich mit Schlaftabletten umzubringen. Er kommt ins Krankenhaus und wird gerettet. Auch später wird er weiter Suizidgedanken haben. 

Später schlägt Wolfang zusammen mit einem Kumpel einen Mann zusammen. Die Polizei nimmt sie fest. Wolfang schlägt einen Polizisten und wird daraufhin von Polizisten verprügelt. Wie psychisch gespalten er bereits ist, zeigt sich in folgender Aussage dazu. „Ab einer gewissen Schmerzgrenze spüre ich nichts mehr. Obwohl ich mittendrin bin im Geschehen, kommt`s mir dann so vor, als wäre ich gar nicht daran beteiligt. Ich ziehe mich auf einen Platz in mir selbst zurück, wo mich niemand mehr verletzen kann, völlig egal, was mit mir geschieht“ (S. 43). Die Traumafolgen zeigen sich hier überdeutlich! 

Wolfang Niederreiter wird schließlich zum Neonazi und geht später als Söldner nach Bosnien. Er bringt Menschen um und wird dafür bezahlt... 

Donnerstag, 18. November 2021

NS-Zeit: Kindheit von Friedrich Paulus

Friedrich Paulus, der Generalfeldmarschall und Oberbefehlshaber der 6. Armee, die gegen Stalingrad zog, ist vom Namen her der breiten Öffentlichkeit sicherlich nicht so nachhaltig bekannt, wie andere führende NS-Akteure. Allerdings spielte er eine wichtige Rolle bei Hitlers Feldzügen. 

Für mich ist seine Kindheit von Interesse, über die es so einige Informationen in dem Buch „Paulus. Das Trauma von Stalingrad. Eine Biografie“ (2009, 2. Auflage, Verlag Ferdinand Schönrich, Paderborn – München – Wien – Zürich) von dem Historiker Torsten Diedrich gibt. 

Friedrich wurde im Jahr 1890 geboren. Er war in seinen frühen Jahren ein „eher kränkliches, wenig robustes Kind“ (S. 29). Dies wird bei seinen Eltern zu einigen Sorgen geführt haben, denn sie hatten vor seiner Geburt bereits ein Kind ein viertel Jahr nach dessen Geburt verloren. 

Friedrichs Mutter hatte eine belastete Kindheit erlebt. Ihre Mutter war bei der Geburt gestorben und das Verhältnis zur späteren Stiefmutter war angespannt. Friedrichs Mutter litt unter Depressionen und hatte zudem häufig gesundheitliche Probleme. „Vielleicht vermochte sie nicht die negativen Erfahrungen ihrer Jugend zu verarbeiten (…)“ (S. 28). Auch der Tod ihres ersten Kindes wird sie sicher schwer und ergänzend belastet haben. Wie sich der Gemütszustand der Mutter auf Friedrich auswirkte, kann nur erahnt werden. 

Die Familie Paulus zog zumeist den Dienststellen des Vaters, ein Beamter des Kaiserreichs, folgend mehrfach um (S. 30). Ob und wie dies die Kinder belastete, wird nicht beschrieben.
Der elterliche Erwartungsruck auf Friedrich war sehr hoch, schließlich war er der erstgeborene Sohn. Der angesehene, herrische Großvater mütterlicherseits, Friedrich Wilhelm Nettelbeck, wurde zu einem Vorbild für Friedrich. Dieser Großvater war früher beim Militär, später leitete er mit strenger Hand eine Haftanstalt („Korrektionsanstalt“) und war entsprechend geprägt (S. 27-32). „Wahrscheinlich war für den jungen Friedrich das heimliche Familienoberhaupt Nettelbeck eher Vorbild als der eigene Vater, weil der weit weniger erfolgreich schien und als Persönlichkeit nicht das Charisma seines Schwiegervaters, anderer Brüder oder Vorfahren erreichte. Auch könnten heute kaum mehr nachzuweisende Strenge oder Erziehungsmittel seiner Eltern, die `missratene` Menschen ja in der Korrektionsanstalt vor Augen hatten, beim Sohn ein gewisses `Obrigkeitsdenken` erzeugt haben“ (S. 35).
Den letzten Satz schreibt der Autor Diedrich mit Blick auf das Einzelgängertum des Schülers Friedrich, sowie dessen Eigenheiten, seiner Strebsamkeit und Anlehnung an die strengen Pädagogen seiner Schule, was starken Unmut bei seinen Mitschülern auslöste. Ganz offensichtlich fand der Biograf keine Belege für das Erziehungsverhalten der Eltern. Seine zitierten Deutungsversuche zeigen allerdings, dass er eine autoritäre Erziehung in dieser Familie für durchaus wahrscheinlich hält. 

Dies wird auch an anderer Stelle im Buch deutlich, wenn der Autor allgemein ausführt:
Es entsprach durchaus „den Erziehungsmaximen dieser Zeit, den Willen eines Kindes frühzeitig zu brechen. Erziehung hieß in den vom Adel geprägten Wertevorstellungen der Gesellschaft, die Kinder zum `Funktionieren` zu bringen. Die zu vermittelnden Grundtugenden waren Zucht, Gehorsam, Anpassung, Ordnung, Leistung und Erfolg. Eine derartige Werteausrichtung erfolgte sowohl im Elternhaus wie in der Schule. Prügelstrafen waren dabei organischer Bestandteil der Erziehung. Das aufstrebende Bürgertum stand in dieser Gesellschaft unter einem besonderen Erfolgsdruck, welcher von den Eltern an die Kinder weitergegeben wurde. (…) Insbesondere der Sohn stand dabei unter besonderer Anforderung. Er musste den Erwartungen des Vaters gerecht werden und sollte sich zum Stolz der Familie entwickeln. Disziplin und Selbstkontrolle bildeten dabei die Basis des Funktionierens. Der so entstehende Leistungsdruck war oft bedrückend für das Kind und wurde durch bestimmte Verhaltensweisen kompensiert. Nicht selten zählten dazu ein reduziertes Gefühlsleben, Anpassung bis zur Selbstaufgabe, Distanz zu anderen Menschen, Kühle oder Introvertiertheit als Selbstschutz. Ganz offenbar hat Paulus nicht nur die Werte seines gesellschaftlichen Umfeldes sehr stark in sich aufgenommen, sondern zugleich ebenfalls einen solchen Schutzschild um seine Seele geformt“ (S. 34). Deutlicher kann man es im Grunde nicht ausdrücken: Der Biograf geht von negativen Prägungen in Kindheit und Jugend von Friedrich Paulus aus, die seinen Charakter formten. 

Für mich steht diese Kindheitsbiografie bzw. die allgemeinen Ausführungen des Biografen exemplarisch für das Leben und Erleben von Kindern der damaligen Zeit. Die Kindheiten von 25 bekannten NS-Tätern/Führern habe ich bisher analysiert. Auch diese Fälle stellen im Grunde Paradebeispiele dar. Die NS-Ideologie baute auf eine strenge, zu Gehorsam, Anpassung und Spaltung ausgerichteten Erziehung der Kinder auf. Hinzu kamen oft leidvolle Umstände der Zeit, wozu u.a. der Tod von Geschwistern oder Elternteilen gehörte. Letzteres kann schwer einfühlsam aufgefangen werden, wenn das Ziel ist, zur Härte zu erziehen. Das Fundament, das die NS-Zeit möglich machte, ist klar. Merkwürdig nur, dass dies nicht immer und immer wieder auch so besprochen und mahnend hoch gehalten wird. 

Mittwoch, 3. November 2021

"Generation Greta" und was Kindheit damit zu tun haben könnte

In der EMMA (Ausgabe Nov/Dez 2021, Nr. 6) schreibt die Journalistin und Autorin Bettina Weiguny unter dem Titel „Junge Rebellinnen“: „Hier wächst eine politische Generation heran. Junge Menschen setzen sich fürs Klima ein, für sauberes Trinkwasser und soziale Gerechtigkeit; gegen Kinderehe und Diskriminierung. Sie finden sich nicht damit ab, die Welt zu belassen wie sie ist, wenn es doch besser sein könnte. Keine Protestbewegung vor ihnen war so global vernetzt, so jung und so weiblich wie die `Generation Greta`.“ (S. 48)

Das greenpeace magazin hat die aktuelle Ausgabe (6.21 Okt / Nov 2021) mit „YES SHE CAN. Wie Frauen weltweit um Klima, Umwelt und Gerechtigkeit ringen“ betitelt. Die gesamte Ausgabe befasst sich mit dem Wirken von starken und mutigen Frauen in aller Welt und das Magazin hält fest: „Frauen for Future“. 

Ich kann diese Feststellungen nur teilen: Frauen, vor allem der jüngeren Generation, sind weltweit im Aufbruch. Viele Jungs stehen an ihrer Seite. All das kann nur gut sein! 

Ich möchte diese Entwicklungen aber in einer Hinsicht kommentieren, die oft nicht bedacht wird: Was ebenfalls „im Aufbruch“ und in stetiger (positiver) Entwicklung war und ist, sind die Kindheitsbedingungen. Ich bin der Auffassung, dass beides miteinander in einem starken Zusammenhang steht. 

Kaum jemand hat so präzise auf den Punkt gebracht, um was es mir geht, wie der Kriminologe Christian Pfeiffer. In seinem Buch „Gegen die Gewalt: Warum Liebe und Gerechtigkeit unsere besten Waffen sind“ (2019) stellt er zunächst auf Grundlage empirischer Daten einen massiven Wandel der elterlichen Erziehung fest (vor allem ein Mehr an Zuwendung und ein Weniger an elterlicher Gewalt). Gleichzeitig zeigt Pfeiffer einen massiven Rückgang von Gewalt, Kriminalität, Rauschmittelkonsum und Suizid bei der jüngeren Generation auf. Er spitzt diese Beobachtungen in einem einfachen Satz zu: „Je jünger die Altersgruppe, desto positiver ihre Entwicklung“ (Pfeiffer 2019, S. 67) An anderer Stelle im Buch fasst er eindrucksvoll zusammen:
Damit liegt eine Hypothese auf der Hand: Je jünger die heute in Deutschland lebenden Menschen sind, desto stärker haben sie vom Wandel der Erziehungskultur profitiert. Sogleich stellt sich eine naheliegende Frage: Haben wir heute möglicherweise in vielerlei Hinsicht die beste Jugend, die es in Deutschland seit der Wiedervereinigung gegeben hat?“ (Pfeiffer 2019, S. 64)

Nun, warum eigentlich ab der Wiedervereinigung? Vielleicht haben wir sogar die beste Jugend, die es jemals gab? Und: Der positive Wandel der Erziehungskultur schreitet weiter fort und wird das Land weiter nachhaltig verändern. 

Luisa Neubauer, Pauline Brünger, Carla Reemtsma und wie sie alle heißen (inkl. der vielen unbekannten Namen). Sind diese mutigen, stolzen, selbstbewussten und engagierten Frauen als Kind geschlagen, gedemütigt und niedergemacht worden? Sind diese Frauen als Kind nicht geliebt worden? Ich kann diese Frage nicht beantworten, weil ich keine Informationen dazu gefunden habe. Ich kann mich aber auf Pfeiffers allgemeine Daten beziehen und diese zeigen eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein hohes Maß an elterlicher Zuwendung und elterlicher Gewaltfreiheit dieser Generation. Aber auch ohne diese Daten würde ich beide Fragen aus meiner Erfahrung und aus meinem Bauchgefühl heraus mit einem Nein oder einem "eher nicht" beantworten.
Vor allem Mädchen und junge Frauen profitieren besonders von den errungenen Freiheiten durch ihre Mütter und Großmütter, was für ihre Brüder schon vorher selbstverständlich war. Friedlichere, weniger belastete Kindheiten plus mehr Freiheit zur Entfaltung ist ein sehr produktiver Mix.

Diese Generation ist so wenig als Kind traumatisiert worden wie keine Generation zuvor. Dies schafft Raum für den geraden Blick auf Realitäten, für eine gesunde Wahrnehmung, für Vertrauen, Kooperation und für konstruktive Konfliktlösungen. 


Donnerstag, 21. Oktober 2021

Fehlende Öffentlichkeit: "Kindesmisshandlung betrifft uns alle" versus "all das hat doch keine Folgen"

Oprah Winfrey gab in einer Gesprächsrunde (15.10.2021, Dr. Burke Harris and Oprah Winfrey discuss Adverse Childhood Experiences (ACEs) for NumberStory.org) folgende Begebenheit wieder:
I remember doing a show once where there was a young black woman who was saying: „Yeah, my father came into pulled me from the choir one day and beat me in front of  the church. But, you know, I´m fine, nothing happend as a result of that.“ I said, it`s impossible to be pulled from the church choir and beaten in the church and not be serverely humiliated and damaged by that. It`s impossible.“

Dieses Beispiel ist klassisch und ich habe solche Aussagen in ähnlicher Art und Weise unzählige Male gehört oder gelesen! Erlittene elterliche Gewalt und Demütigungen umzudeuten, auszublenden, zu verharmlosen oder gar gut zu heißen sind psychische Abwehrstrategien des Kindes, um (psychisch) zu überleben. Dies wirkt oft bis ins Erwachsenenalter fort (und kann wiederum Ursache dafür sein, andere Menschen oder auch die eigenen Kinder zu verletzten oder eigene Verletzungen durch andere Menschen lange zu erdulden, weil „das ist ja alles gar nicht schlimm“).

Dabei geht es nicht nur um körperliche Misshandlungen, sondern auch um viele "kleine" Demütigungen und Verletzungen, die Kinder im Alltag erleben (inkl. fehlenden Trost und Schutz durch Elternteile).  

Nun ist es so, dass ich (und viele andere ähnlich Aktive) stets das Gefühl habe, gegen Windmühlen zu kämpfen. So erhielt ich kürzlich eine Mitteilung eines Bekannten, der eine große deutsche Zeitung angeschrieben und auf meinen Text „Kindheit in Afghanistan und der nie enden wollende Krieg und Terror“ hingewiesen hatte. Die Reaktion aus der Redaktion war abwehrend und dies wurde u.a. so begründet: „Zugleich gibt es auch in hoch entwickelten und vermögenden und gut ausgebildeten Gesellschaften Gewalt in Familien und an Kindern. Wenn Sie die komplexen Ereignisse in Afghanistan vor allem mit den vermeintlich gewalttätigen Eltern-Kind-Beziehungen zu erklären suchen, dann fehlen doch (geo-)politische, wirtschaftliche, historische und gesellschaftliche Zusammenhänge.“ (Man achte auch auf das Wort "vermeintlich"!)

Der Hinweis auf weitere Einflussfaktoren ist natürlich nicht falsch. Menschliche Gesellschaften sind hoch komplex, natürlich! Die Reaktion spricht aber Bände bzgl. des Unwissens und vor allem des fehlenden Nachfühlens bzgl. der möglichen Folgen von Kindesmisshandlung und von belastenden Kindheitserfahrungen. 

Wer meinen zitierten Text über Afghanistan gelesen hat und meint, dass Kindheit keine große Rolle bzgl. der Situation des Landes spielen würde, hängt meiner Auffassung nach in einer ähnlichen Dynamik fest, wie die durch Oprah Winfrey oben zitierte Frau („alles nicht so schlimm, destruktive Kindheit ohne Folgen“). Dies kann man nicht (nur) mit Wissen und Informationen lösen. Ich habe das schon vor langer Zeit erkannt, obwohl ich trotzdem wie ein Hamster weiter meine Runden drehe und eine Information zum Thema nach der anderen heraushaue. 

Wirklich tiefgreifend und nachhaltig  lösen könnten wir dies nur, wenn erstens viel mehr Menschen in der Kindheit gewaltfrei, weitgehend unbelastet aufwachsen und dadurch Realitäten und mögliche Folgeschäden von Kindheitserfahrungen nicht ausblenden müssen und zweitens, die als Kind Belasteten an sich arbeiten (z.B. mit Hilfe von Psychotherapie), ihrer Kindheit ins Auge schauen, die Folgen für das eigenen Leben sehen und anerkennen und ein Stück weit heilen. Wer die Folgen für sich selbst sieht, wird auch die gesellschaftlichen Folgen von Kindheitsleid nicht mehr ausblenden. 

Ich selbst habe einen solchen Prozess auch durchlaufen und negative Folgen für meine Leben durch meine eigene Kindheit erkannt, gesehen und bearbeitet. Bei mir kam aber noch etwas ganz Wesentliches hinzu: Ich wurde einige Male wie vom Blitz getroffen, als ich massive Folgen von Kindesmisshandlung im Leben mehrerer Erwachsener in meinem Umfeld wahrnahm, inkl. einer ehemaligen Freundin von mir. Gepaart mit dem damals angelesenen Wissen um das Ausmaß von Kindesmisshandlung hat mir dies erst einmal als junger Mann den Boden unter den Füßen weggerissen. Für mich wurde mit einem großen Paukenschlag klar: Gewalt gegen Kinder betrifft mich selbst und uns alle ständig und überall, weil die Folgen UND das Ausmaß so massiv sind. 

Was mein Nachbarskind einst erlitten hat, kann später jederzeit auf mich als unbeteiligten Dritten zurückkommen, sei es durch die Höhe meines Krankenversicherungsbeitrags, Sozialbeiträge, durch Kriminalität, Terrorakte, durch das Miterleben von Selbstmorddrohungen oder auch durch toxische Beziehungen und zwischenmenschlich massiv gestörte Kontakte und Kommunikation (sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld). 

Von all dem habe ich mich längst erholt. Was mich weiterhin umtreibt ist die fehlende Öffentlichkeit, ist das fehlende öffentliche Bewusstsein. Natürlich hat sich viel bewegt, sind Schranken gefallen und wurde die Öffentlichkeit auch immer sensibler und bewusster mit Blick auf Kindheitsleid. Das Gesamtbild wird aber immer noch kaum erfasst.  Vor allem an die politischen Folgen traut sich immer noch kaum jemand heran. Leider schwebt verdeckt immer auch der Satz im gesellschaftlichen Raum:


But, you know, I´m fine, nothing happend as a result of that!“


Montag, 18. Oktober 2021

Kindheiten von rechten Jugendlichen und Hooligans

Ich habe eine weitere Arbeit gefunden, innerhalb der die Kindheiten von rechtsextremen Jugendlichen besprochen wurde:

Bohnsack, R., Loos, P., Schäffer, B., Städtler, K. & Wild, B. (1995): Die Suche nach Gemeinsamkeit und die Gewalt der Gruppe: Hooligans, Musikgruppen und andere Jugendcliquen. Leske + Budrich, Opladen. 

Die Biografien gewaltbereiter Hooligans werden dabei mit denen nicht-gewaltbereiter, anderer Jugendgruppen verglichen. Für mich von Interesse sind die Biografien von vier Hooligans, von denen drei auch in der rechten Szene aktiv waren: 

Bernd (geboren 1973) hat kaum Erinnerungen an seine frühe Kindheit. In der Schule hat er körperliche Gewalt und Demütigungen durch Lehrkräfte erlitten und war weitgehend ein Einzelgänger. „Die Geschichte der Schulzeit von Bernd erscheint als eine Zeit des Erleidens und des Ausgeliefertseins, durch die er sich bis heute verunstaltet fühlt (…) und von deren Auswüchsen und Stigmatisierungen er noch heute `träumt`“ (S. 138).
Der Vater war gewalttätig gegenüber Bernd (inkl. schwerer Prügel oder Angriffen mit einer Schere) (S. 140). Er habe seinen Vater gehasst. Bernd geriet als Jugendlicher in die rechte Skinheadszene, wechselte später dann zu gewaltbereiten Hooligans. „Bernd hat siebzehnmal in Untersuchungshaft gesessen, wobei die Eltern nur in wenigen Fällen (`dreimal`) über seine Aktionen und auch nur selten über die Untersuchungshaft informiert waren, was wiederum Aufschluss über die Art der innerfamilialen Kommunikation gibt“ (S. 147). 

Über die Erziehungsstile der Eltern von Benno (geboren 1970) erfährt man im Grunde kaum etwas. Allerdings berichtet er von einer schweren traumatischen Erfahrung. Nach der Scheidung der Eltern fing der Vater an zu trinken. Angetrunken geriet er unter eine U-Bahn und starb, als Benno 14 Jahre alt war. Durch anderen Personen liegt die Vermutung im Raum, dass der Vater sich vor die U-Bahn geworfen hätte, was Benno nicht glauben will. Weitere Problemlagen kamen hinzu: „Die Nachbarn  beschuldigen die Mutter, den Vater in den Tod getrieben zu haben und wollen Benno und seine Geschwister adoptieren. In der damaligen schwierigen Situation, in der Ehe und Familie in doppelter Weise (Scheidung der Ehe und Tod des Vaters) zerbrochen sind, zerbricht zugleich auch die Einbindung in die dörfliche Gemeinschaft (…). Von Seiten der Nachbarschaft wird nicht nur die moralische Degradierung der Mutter betrieben, sondern ihr wird die Erziehungsfähigkeit abgesprochen (…)“ (S. 152f.) Die Mutter habe laut Benno all dies seelisch nicht verkraftet und sei ein paar Mal „umgefallen“ (S. 152).
Die Mutter reagierte schließlich mit Flucht aus dem Dorf und zog mit ihrem Sohn um. In dieser Phase schloss sich Benno der Skinheadszene an. Mit dem Einstieg in die Gruppe fing für Benno „das Leben erst richtig an“ (S. 155). Die Gruppe war für ihn eine „riesengroße Familie“ (S. 156). Mit seiner Mutter geriet Benno in der Folge zunehmend in Konflikt und Streitigkeiten (S. 158f.) Später veränderte sich sie Skinheadszene und Benno wurde offenbar zum Hooligan. 

Falko (1973 geboren) war ebenfalls Teil der Hooliganszene, allerdings war er im Gegensatz zu den anderen Fallbeispielen nicht vorher in der rechten Szene aktiv. Der Vater wendete häufig körperliche Gewalt an (S. 173). Als Falko 14 Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden. Allerdings verschwiegen sie dies ihren Kindern. Die Kinder bekamen dies zufällig heraus, als sie entsprechende Unterlagen einsahen. „Falko reagiert (…) auf die Scheidung der Eltern mit dem Wunsch nach einer Kur, also mit einer Flucht“ (S. 175). Nach der Scheidung sah Falko seinen Vater nur noch selten (S. 178f.). 

Arno (geboren 1968) war zunächst Teil der rechten Skinheadszene in der DDR. Das Verhältnis zu seinen Eltern beschreibt er als gut, die Eltern seien tolerant gewesen. Seine Kindheit sei normal verlaufen. Ich bin bei solchen Schilderungen immer sehr misstrauisch, vor allem wenn ich mir das Verhalten von Arno anschaue, der sehr gewaltbereit war. Die Forschenden konnten seine Schilderungen nicht abgleichen (Befragungen anderer Familienmitglieder). Im Alter von 16 Jahren war Arno an einer Schlägerei beteiligt, bei der ein Polizist verletzt wurde. Nach bevor Arno volljährig war, kam er in den Erwachsenstrafvollzug. Auch später geriet er immer wieder in Konflikt zum DDR-Staat und kam auch erneut in Haft. Durch seine erste Haftzeit kam er in Kontakt mit der rechten Skinheadszene. Später orientierte er sich in Richtung Fußball und wurde Teil der Hooligans. 

Hier liegen genau genommen also nur drei Biografien vor, die sich auf rechte Jugendliche beziehen. In zwei von drei dieser Biografien (wenn man - bei einer so kleinen Untersuchungsgruppe - so will also bei der deutlichen Mehrheit der untersuchten Fälle) lassen sich schwere Belastungen in der Kindheit ausmachen. Die Kindheitsbiografie von Arno bleibt für mich mit Fragezeichen behaftet.  



Dienstag, 12. Oktober 2021

The Childhood Origins of Political Violence and Extremism

I have translated the main results of my research into English. I hope that through this I can reach more people. I would be happy if you share the text:

The Childhood Origins of Political Violence and Extremism 

Included in the factsheet:

  • Extent of violence against children in the world
  • Possible consequences of adverse childhood experiences (ACEs) / child abuse
  • Experiences of violence and own violent behavior
  • Global costs of violence and adverse childhood experiences
  • Trauma, adversity, and violent extremism/terrorism
  • Childhood Analysis of 17 RAF terrorists
  • Childhood backgrounds of right-wing extremists
  • Childhood and youth of 25 Nazi leaders / Nazi perpetrators
  • Analysis of the childhood of 14 Dictators of the 20th Century
  • Childhood backgrounds of US presidents



Montag, 27. September 2021

Rechtsextremismus. Kindheit des Aussteigers Jörg Fischer.

Jörg Fischer kam als 13Jähriger durch einen NPD-Funktionär in Kontakt mit der rechten Szene und blieb jahrelang darin aktiv. Fischer war später u.a. Gründungsmitglied der DVU. Später stieg er aus und arbeitet u.a. als Journalist. 

Seinen Lebensweg hat er in dem Buch „Ganz rechts. Mein Leben in der DVU“ (1999 erschienen im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek) verarbeitet. Über seine Kindheit finden sich einige wenige, aber ziemlich aussagekräftige Passagen. Fischer wurde 1969 geboren. Fünf Jahre später wurde die Ehe der Eltern geschieden.  Die Mutter war fortan alleinerziehend. „Zu meinem Vater habe ich bis heute kaum Kontakt: Meine einzige konkrete Erinnerung an ihn ist ausgesprochen negativ; er hatte meine Mutter kurz vor unserem Wegzug nach Nürnberg schwer misshandelt“ (S. 14). Ob auch Jörg geschlagen wurde, berichtet er nicht. 

1974 wurde bei Jörg Diabetes festgestellt. Er blieb neun Wochen im Krankenhaus. „Meine Mutter reagierte auf die Erkrankung, indem sie mich mehr als zuvor überfürsorglich behütete. In regelmäßigen Abständen gehörten fortan zwei- bis dreiwöchige Krankenhausaufenthalte zu meinem Leben. Dies und der Umstand, dass ich durch Diät, regelmäßiges Insulinspritzen und gewisse Einschränkungen in der Leistungsfähigkeit im Vergleich zu meinen Altersgenossen gehandicapt war, führte zu einer gewissen Isolierung. Außerhalb des Unterrichts hatte ich kaum Kontakt zu meinen Mitschülern. Rückblickend habe ich meine Kindheit mit mir selber verbracht (…)“ (S. 14)
Als unglücklich habe er seine Kindheit aber nicht empfunden, schreibt Fischer weiter. Zu seiner Mutter habe er ein gutes Verhältnis gehabt. 

Seinen ersten Kontakt zur rechten Szene bekam Jörg – wie eingangs beschrieben – über einen NPD-Funktionär, der ihn zu einem Stammtisch der Jugendorganisation der NPD einlud. „Plötzlich gab es Leute, die Interesse an mir zeigten und mir vermittelten, dass ich zu ihnen passen würde. (…). Dem Dreizehnjährigen, der ich damals war, war es wichtig, zu einer Gemeinschaft von Älteren Zugang gefunden zu haben und von ihr aufgenommen zu werden. Schon bei meinem zweiten Besuch wurde ich begrüßt, als ob ich bereits dazugehöre“ (S. 13f.).
Vor dem Hintergrund seiner Kindheitserfahrungen erschließt sich ziemlich schnell, warum dieser Junge derart in der Szene aufging.