Freitag, 8. April 2022

Kindheit von Zar Paul I. (1754 - 1801, Russland)

Quelle für diesen Text: "Zar Paul I. Mensch und Schicksal" von Valentin Graf Zubow (1963, K. F. Koehler Verlag, Stuttgart)

Schon für den Fötus scheint es deutliche Belastungen gegeben zu haben: „Es ist zu bemerken, dass Katharina während ihrer Schwangerschaft Ängsten und Kummer ausgesetzt war. Sie fühlte, dass ihr Geliebter sich ihr entzog, und sie klammerte sich mit all ihren Kräften an diese Liebe“ (S. 16).

Bereits kurz nach der Geburt wurden Mutter und Sohn getrennt: „Das Leben Pauls erhielt schon von den ersten Atemzügen an eine tragische Färbung. Kurz nach der Geburt befahl die Kaiserin Elisabeth der Hebamme, das Kind in ihre Räume zu bringen, während die Mutter von ihrer Tante, ihrem Gatten und dem ganzen Hofe vollständig vergessen wurde und stundenlang ohne jegliche Pflege blieb“ (S. 15). Der einzige Zweck Katharinas Anwesenheit in Russland war, dem Land einen Thronfolger zu schenken, schreibt der Biograf. Die ganze Härte und Gefühlskälte der Gesellschaft wird in dieser Szene deutlich.

Für Paul bedeutet dieser Schritt eine sofortige und dauerhafte Trennung von seiner Mutter:
Jahre hindurch durfte Katharina ihren Sohn nur in großen Abständen, und auch dann nur für kurze Augenblicke sehen; die Kaiserin hatte die Pflege des Kindes ganz übernommen (….). Es ist anzunehmen, dass die Behandlung, die Katharina erfahren hatte, in ihr die mütterlichen Gefühle abstumpfen ließ, wenn sie überhaupt je welche besessen hat (…)“ (S. 15).

Die Pflege des Kindes sah dann so aus, dass er von „einer Menge Weiber aus dem Volke gehütet“ wurde (S. 16). Offensichtlich nicht zu seinem Wohle, der Säugling wurde u.a. überhitzt. Und: „Die Zahl der Wärterinnen erhöhte die Sicherheit des Kindes keineswegs, im Gegenteil; es geschah, dass sie morgens beim Aufwachen den Kleinen außerhalb der Wiege ruhig am Boden schlafend vorfanden“ (S. 16).
Es ist auch möglich, dass die Wärterinnen die Keime der Angst in die Seele des Kindes gepflanzt haben. Um der persönlichen Überwachung der Kaiserin Elisabeth zu entgehen, suchten sie aus ihr ein Schreckgespenst für den Kleinen zu machen; es gelang ihnen so gut, dass er an all seinen Gliedern zitterte, sobald sie sich näherte. Als sie die Wirkung ihrer Besuche bemerkte, erschien sie immer seltener und kam schließlich überhaupt nicht mehr (…)“ (S. 16).
Der Junge hatte somit auch seine "Ersatz-Mutter“ verloren. Die Frage ist, was die „Wärterinnen“ alles mit dem Jungen anstellten, der ihnen nun komplett ausgeliefert war? Pauls Schwester wurde ebenfalls der Obhut dieser Frauen überlassen. Der Biograf schreibt: „Während der Knabe die Pflege der Wärterinnen überlebte, unterlag ihr das weniger robuste Mädchen. Paul hing sehr an seiner Schwester, und ihr Tod verursachte ihm großen Kummer“ (S. 17). Die Betreuungspersonen konnten offensichtlich lebensgefährlich für die Kinder sein, was diese Passage hervorhebt. Der Tod der Schwester bedeutet ein Trauma für sich für das Kind Paul. 

Im Alter von sieben Jahren musste Paul einen weiteren Schlag erleben. Pauls (vorgeblicher und wohl nicht biologischer) Vater, Peter III., „den der Knabe kaum kannte“ (S. 18), folgte nach dem Tod der Kaiserin auf den Thron. „Sechs Monate später traf ein dritter und entscheidender Schlag Pauls von Natur aus verängstigte Seele: der Staatsstreich vom 28. Juni 1762, der seine Mutter auf den russischen Thron hob und seinen vorgeblichen Vater das Leben kostete“ (S. 18).  In der Fantasie des Kindes muss eines klar geworden sein: Sicherheit ist eine Illusion! 

Der Biograf beschreibt neben den vielen Ängsten einen weiteren Wesenszug von Paul: Minderwertigkeitsgefühle (S. 20). Dies mag kaum verwundern, wenn wir uns seine frühe Kindheit vor Augen führen. 

Für den heranwachsenden Jungen war u.a. auch sein Haupterzieher Patin zuständig. Dieser tadelte den Jungen wegen dessen ständiger Ungeduld, betont der Biograf. Paul kamen z.B. die Tränen, wenn Hofempfänge zu lange dauerten. „Er wurde von Patin wegen dieser Verstöße gegen die Etikette streng getadelt und sogar bestraft“ (S. 22). In welcher Form diese Strafen ausgeübt wurden, wird nicht berichtet. 

Mir stellt sich die Frage, ob Paul auch sexuellem Missbrauch ausgesetzt war? Der Biograf schreibt an einer Stelle etwas schwammig: „Man wird angesichts der Atmosphäre eines Hofes des 18. Jahrhunderts, in welcher Paul aufwuchs, kaum verwundert sein, ein vorzeitiges Aufblühen erotischer Gefühle bei ihm festzustellen. Mit sechs Jahren war er schon verliebt, mit zahn spielte sich ein richtiger kleiner Roman, platonisch und reizend, mit einem Hoffräulein der Kaiserin ab. Freilich waren auch die Gespräche, die an seiner Tafel von Patin und den Gästen geführt wurden, in Anwesenheit eines Kindes bei weitem nicht vorsichtig genug; sie hätten im 19. Jahrhundert für unerhört gegolten“ (S. 25f.). Ich denke an dieser Stelle ergänzend auch an die vielen „Wärterinnen“ in der frühen Kindheit von Paul, die um die zukünftige Macht des Jungen wussten und damals viel Macht über das Kleinkind (den "kleinen Mann und Herrscher") inne hatten. Die sexualisierte Atmosphäre am damaligen Hofe lässt einiges erahnen. (Auch die vielen Liebschaften seiner leiblichen Mutter Katharina II. sind ja legendär).

Der älter werdende Paul wünschte später, Einblicke in die Regierungsgeschäfte seiner Mutter zu bekommen. Sie wich aus. Katharina II.. „hatte eine instinktive Angst vor Paul; Angst gebiert Feindseligkeit; auf die Feindseligkeit der Mutter antwortete der Sohn mit Feindseligkeit“ (S. 27)

Mutter und Sohn waren von Anbeginn an entfremdet, das Verhältnis scheint angespannt geblieben zu sein. Aus heutiger Sicht ist die Kindheit von Paul I. hoch traumatisch verlaufen. Dies wird auch Folgen bzgl. seines politischen Wirkens gehabt haben. 


Alarming study: Adverse Childhood Experiences are increasing in the US!

The public and especially the psychohistorical community should know about a new study from the US:

Adverse Childhood Experiences Across Birth Generation and LGBTQ+ Identity, Behavioral Risk Factor Surveillance System, 2019”, published online: March 23, 2022, American Journal of Public Health 

It's about Adverse Childhood Experiences (ACEs) of the US population. (I present the data and results below.) At first glance, the title of the study suggests that it is primarily about sexual minorities, which is not true. A total of 56,262 people were interviewed. Of these, only 5.11% belong to a sexual minority.

What particularly alarms me about this study is the negative trend regarding younger generations!

First an overview:

19.26% of the current sample (n = 56 262) reported 4> ACEs! 

This is more than in previous BRFSS surveys between 2011-2014 (result: 15.81% = 4 or more ACEs). 

Currently every 5th US-American belongs to the high-risk group with regard to health and behavior problems (according to the earlier data, it was every 6th)! 

Note: This is the average value! Take a look at the details: 

4 or more ACEs:

Baby Boomers: 14.69%

Generation X: 22.31%

Millennials: 26.77%

Generation Z: 26.78%

Currently every 4th US-American of the younger generations belong to the high-risk group with regard to health and behavior problems! The data can also be interpreted as follows:
The US society is a traumatized society!

Here are some excerpts regarding the (often traumatic) stress factors (in childhood) by generation (from the current study):

Emotional abuse:

Baby Boomers: 29.99%

Generation X: 35.28%

Millennials: 41.77%

Generation Z: 44.53%


Household depression:

Baby Boomers: 12.28%

Generation X: 17.84%

Millennials: 26.37%

Generation Z: 31.47%


Household incarceration:

Baby Boomers: 4.18%

Generation X: 7.85%

Millennials: 13.86%

Generation Z: 16.43%


Household drug use:

Baby Boomers: 6.25%

Generation X: 12.04%

Millennials: 17.04%

Generation Z: 15.74%


Parental divorce:

Baby Boomers: 19.87%

Generation X: 35.64%

Millennials: 42.38%

Generation Z: 40.87%


For other ACE-Scores (household alcoholism, interpersonal violence, physical abuse, sexual violence) there is no significant increase. I would like to mention that the extent of physical abuse in all generations is high at approx. 25%.

With regard to the drug/opioid epidemic in the US, rising suicide rates, but above all with regard to the deep political division/polarization (including the catastrophic Donald Trump presidency), I would suspect connections to the high level of ACEs. 

It remains for me to note that the “baby boomer” generation is often not used to reporting on stressful childhood experiences. In addition, high ACE-scores have been shown to lead to premature death, so that the high-risk group may be underrepresented in the surveys. But this could only partly explain the bad trend.

I assume that this negative trend is real!


Donnerstag, 7. April 2022

Studie: Kindheiten von 50 weiblichen Dschihadisten aus Europa

Nina Käsehage stellt die Ergebnisse aus Befragungen von 50 weiblichen Dschihadisten aus Europa vor: 

Käsehage, N. (2020). Empowerment through Violence - European Women in Jihadi Movements. In: Hock, K. & Käsehage, N. (Hrsg.). ‘Militant Islam’ vs. ‘Islamic Militancy’? Religion, Violence, Category Formation and Applied Research. Contested Fields in the Discourses of Scholarship. LIT Verlag Zürich, S.  169-194.

Gewalterfahrungen durchziehen die Biografien dieser extremistischen Frauen:

All of the women have suffered psychological or physical abuse in their nuclear or extended families” (S. 180). Und: “All of the women from my European sample had experienced violence in a psychological, physical or sexual way in their childhood and have found specific methods of channelling their negative experiences in order to feel ‘relief` or to `recover`” (S. 182). 

Manche würden diese Erfahrungen in folgender Form für sich umdeuten:
I had to suffer so much in my childhood, because God tests the chosen people” (S. 182). 

Ausführlicher wird der Fall der 20-Jährigen “Umm Yasar“ vorgestellt. Sie lebt in Italien und hat einen algerischen Migrationshintergrund. Ihre Eltern waren nicht streng muslimisch. Die Eltern trennten sich, als Umm noch ein Kind war. Sie blieb bei ihrer Mutter, die oft trank und das Kind misshandelte. Die Mutter fand einen neuen Partner, der Umm sexuell missbrauchte bzw. vergewaltigte. Ihre Mutter glaubte ihr dies nicht und wurde noch gewalttätiger gegen ihre Tochter (S. 181).
Umm Yasar schloss sich als Jugendliche einer weiblichen Gang an, die sich sehr gewaltvoll verhielt. Durch einen radikalen Imam wurde sie weiter radikalisiert. In der Moschee traf sie auch ihren zukünftigen Ehemann, der ebenfalls radikalisiert war. 

Umm Yasar`s motives for joining a Jihadi group are based in her disposition for physical violence. Raised in a family where `survival of the fittest` was an everyday experience for a child, being physically tortured by her mother and occasionally raped by her step-father, the young woman had to find a way to canalize her pain. Umm Yasar choses violence towards others as an appropriate way for herself to feel strong and self-reliant, even if only for a moment. She joined an all-girls gang and made other become `victims` in order to forget her parents victimizing her day after day” (S. 185). 

Nun, die Zusammenhänge sind überdeutlich und ergänzen das Bild über die destruktiven Kindheiten von Extremisten, das ich hier im Blog unzählige Male zeichnen konnte! 


Montag, 21. März 2022

Mein Online-Vortrag in Kanada: "Childhood Origins of Political Violence"

Ich bin seit 20 Jahren im Internet aktiv bzgl. des Themas Kindesmisshandlung und Folgen (vor meinem Blog hatte ich lange Jahre eine Homepage zum Thema). Ich war immer sehr vorsichtig mit meinen Daten, speziell auch Fotos von mir. 

Ich habe aber auch festgestellt, dass es mir am Herzen liegt, das Thema in dieser von mir recherchierten/ausgearbeiteten Form international bekannter zu machen (erst recht auch nach den aktuellen Ereignissen in der Ukraine). Denn auch international wird viel zu selten auf die politischen Folgen geschaut. Dafür muss man auch "Gesicht" zeigen.

In diesem Sinne hatte ich einer Anfrage zugesagt und habe am 18.03. live einen Online-Vortrag für das Projekt "No Violence for Kids Canada" gehalten. Ich musste mir dafür einen Ruck geben, weil mein Englisch begrenzt ist. Dennoch, ich konnte mich und mein Anliegen verständlich machen.

Der Vortrag ist online einsehbar: Facebook oder Youtube.

Hier der Link zu den Folien.



Donnerstag, 17. März 2022

Doku „Diktatoren - Wurzeln des Terrors“ und einige Anmerkungen dazu

 „Hitler, Mussolini, Stalin, Mao, Pol Pot, Saddam Hussein, Kim Jong Un: Alle dieser Diktatoren waren einst Kinder und Teenager, bevor sie zu Tyrannen wurden. Die Dokumentation blickt in die Kindheit und die Jugendzeit der schrecklichsten Diktatoren im 20. und 21. Jahrhundert. Die Porträts dieser Jugendlichen begeben sich auf die Spur nach den Wurzeln des Wesens dieser Männer, die später absolute Macht anstrebten.

So wurde die französische TV-Doku „Diktatoren - Wurzeln des Terrors“ (2021 vom Regisseur François Chayé; original Titel „A la source de la tyrannie“) angekündigt, was mich natürlich extrem neugierig machte. Aktuell kann die Doku noch (mit Werbeblöcken) hier gestreamt werden. 

Die Doku ist in verschiedene Kapitel unterteilt. Ein Kapitel heißt: „Gewalttätige Kindheit“!

Ich wundere mich ehrlich gesagt schon länger, dass es bisher meines Wissens nach keine Doku gab, die die destruktiven Kindheiten von Diktatoren in den Blick nimmt. Jetzt also das! Das ist ein wirklich großer und wichtiger Schritt. 

Zwischendrin kamen mir allerdings erste Zweifel, ob die Doko in eine für mich zufriedenstellende Richtung geht. Z.B. als über die Mutter von Adolf Hitler gesagt wird, dass sie für ihn „emotionale Sicherheit“ bot, etwas, das ich deutlich anders sehe. 

Es tauchten aber auch erste vielversprechende Kommentare auf. Beispielsweise als dieser Satz fällt: „Für Hitler verschmolzen sein Vater und das Kaiserreich zu einem Hasssymbol“. Diese Stelle wurde nicht gesondert kommentiert, sie zeigt aber deutlich die Verschmelzung von Kindheit (Gewalt durch den Vater und Hass auf den Vater) und Gesellschaft bzw. Übertragung von Hass aus der Kindheit auf Vaterfiguren/“Vaterstaat“/“das Alte“. 

Unter dem o.g. Kapiteltitel geht es dann wirklich in die Tiefe der Kindheitsabgründe: Maos Vater sei alles andere als liebevoll gewesen und habe nicht gezögert, seinen Sohn zu schlagen. Mao habe seinen Vater gehasst.
Saddam Hussein sei in extremer Armut aufgewachsen. Es habe „wenig Liebe“ in seiner Kindheit gegeben und er galt „als Bastard“. Und: „Der Stiefvater war gewalttätig und schlug ihn fast täglich.“ Über den Alkoholismus des Vaters von Stalin und dessen Gewaltverhalten wird ebenso berichtet, wie über all die Demütigungen und Entbehrungen, die Stalin in einem Priesterseminar erlitten hat.
Über die häufige väterliche Gewalt, die auch Mussolini erlitten hat, wurde leider nichts berichtet, obwohl dieser Diktator Thema war. 

Zum Schluss hin kommt dann diese Aussage:

Bei einigen Diktatoren liegen die Wurzeln ihres Handelns in einer besonders traumatischen Kindheit. Die prägenderen Faktoren für ihre kriminelle Entwicklung liegen jedoch meist im historischen, sozialen und politischen Umfeld, in Kombination mit einer blutigen Ideologie schaffen die Despoten dann den Aufstieg an die Macht.“

Nach dieser Stelle war den vorherigen Ausführungen zur Kindheit schon einmal deutlich der Wind aus den Segeln genommen. Glaubt es mir oder nicht, ich ahnte schon, welcher Nachsatz noch kommen würde und er kam auch, von dem Historiker Johann Chapoutot:

 „Es besteht kein Zweifel daran, dass Hitler eine unglückliche Kindheit hatte. Die Beziehung zu seinem Vater war katastrophal und bereitete ihm große psychische und physische Schmerzen. (…) Doch im 19. Jahrhundert gab es viele Kinder, die Opfer von Misshandlungen wurden und sie wurden nicht alle zu Massenmördern. Den Gewaltherrschern ist auf ihrem Lebensweg noch etwas anderes passiert. Hitler verstand es, auf die Erwartungen der damaligen Gesellschaft zu reagieren. Diese wollte eine klare Identität und Hitler vermittelte durch den Nationalsozialismus und die deutsch-völkische Ideologie das Gefühl, dass man etwas darstellt.“ 

Da ist er wieder, dieser klassische Satz:Aber nicht alle traumatisierten Kinder werden zu…“.
Die Ursachenkette zwischen destruktiver Kindheit und politischer Gewalt wird durch diesen Satz sofort zerrrissen. Bereits in dem zuvor zitierten Part wurde der Blick von der Kindheit weg in Richtung anderer „prägenderen“ Faktoren („historischen, sozialen und politischen Umfeld, in Kombination mit einer blutigen Ideologie“) gelenkt. 

Es ist selbstverständlich, dass es keinen einfachen Link zwischen destruktiver Kindheit hier und Diktatoren dort gibt. Selbstverständlich bedarf es weiterer Einflussfaktoren, wovon der größte natürlich das Streben nach und das Erreichen von Macht ist. Diese Leute müssen zudem redegewandt und intelligent sein. Sie müssen männlich sein. Sie müssen zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein usw. usf.  

Was mich so ungemein stört, wenn Kindheitseinflüsse gering geredet werden, ist, dass nie die umgedrehte Frage gestellt wird: Wären Hitler, Mussolini, Stalin, Mao und Saddam Hussein auch zu solchen Diktatoren und Massenmördern geworden, wenn sie eine liebevolle und weitgehend unbelastete Kindheit gehabt hätten? Diese Frage taucht einfach nicht auf!

Der zweite Punkt ist, dass der Satz „doch im 19. Jahrhundert gab es viele Kinder, die Opfer von Misshandlungen wurden und sie wurden nicht alle zu Massenmördern“ mit Blick auf das Werden eines Diktators im Grunde bereits die Lösung des Rätsels mit enthält. Nur ein einziger Mensch kann logischer Weise in einer Diktatur zum Diktator werden. Wenn doch aber eine destruktive Kindheit in einem deutlichen Zusammenhang zu menschlicher Destruktivität und Gewaltverhalten und auch „Ohnmachtsverhalten“ steht (was wir heute einfach auf Grund wissenschaftlicher Befunde wissen), dann erklärt sich doch gerade aus der Feststellung „doch im 19. Jahrhundert gab es viele Kinder, die Opfer von Misshandlungen wurden“ die Entwicklungen hin zu einer Diktatur! 

Johann Chapoutot hat es oben nach seiner kritischen Anmerkung bzgl. Kindheitseinflüssen im Grunde bereits gesagt: „Hitler verstand es, auf die Erwartungen der damaligen Gesellschaft zu reagieren. Diese wollte eine klare Identität“. Ein als Kind traumatisierter Führer stand in Resonanz mit der als Kind traumatisierten Bevölkerung, die sich eine Identität wünschte (Identitätsprobleme sind eine klassische Folge von Kindesmisshandlung!). Warum wurde hier nicht der Einfluss von Kindheit erkannt?

Vergessen werden darf außerdem auch nicht, dass die vielen Kinder des 19. Jahrhunderts, die Opfer von Misshandlungen wurden, zwar nicht alle zu Massenmördern und Diktatoren wurden, aber viele (vor allem männliche) Kinder wurden zu "Diktatoren im Kleinen", in der Familie. Das war ihr Einfluss- und Machtbereich! Historische Berichte über tyrannische Väter finden sich haufenweise. Sie „mordeten“ die Seelen ihrer untergeordneten Familienmitglieder. Und ja, beim genaueren Hinsehen finden wir im historischen Rückblick auch haufenweise Mütter (+ Großmütter, Dienerinnen, Ammen), die sich gegenüber Kindern wie Diktatoren und Menschenschinder verhielten, obwohl sie nach außen hin (der patriarchalen Sitte/Struktur nach) nicht die absolute Macht in der Familie inne hatten. 

Der andere Weg, Hass auszudrücken, ist der Weg nach innen: Selbsthass, Krankheit, Suizid, Depressionen, sich in Ohnmachtsbeziehungen ergeben usw. usf. Auch das wird gerne unterschlagen, wenn es heißt, dass nicht alle als Kind misshandelten Menschen zu "ihr wisst schon was" werden. 

Doch im 19. Jahrhundert gab es viele Kinder, die Opfer von Misshandlungen wurden und sie wurden nicht alle zu Massenmördern“. Dieser Satz ist schlicht unterkomplex, obwohl das erklärte Ziel des Satzes ja gerade war, die Komplexität von Menschen und Gesellschaften zu beachten. 

Im Grunde liegt hier stets auch das gleiche Problem zu Grunde: Historiker sind nun einmal keine Psychologen und Experten für Traumafolgen. Ihnen fehlt entsprechend das Wissen um die komplexen Folgen von Kindesmisshandlung, die sich in unzähligen Formen ausdrücken können.

Die Doku war ansonsten gut und auch wichtig! Es wird sicher der Tag kommen, an dem in einem ähnlichen Format selbstbewusst die These formuliert wird, dass destruktive Kindheiten das Fundament für Diktaturen bilden können. 

Die Doku "Diktatoren - Wurzeln des Terrors" lief am 15.03. in der Zeit zwischen 02:20 - 03:00 Uhr auf N-TV

Ist schon irgendwie symbolisch, dass das Thema gesendet wird, wenn alle schlafen...


siehe ergänzend auch meinen Blogbeitrag: "Eine lieblose Kindheit haben viele erlebt und werden trotzdem nicht zu Mördern"



Donnerstag, 3. März 2022

Kindheit von SoldatInnen (auch mit Blick auf den aktuellen Krieg in der Ukraine)

Bei der besonderen Gruppe der Soldaten und Soldatinnen findet die Forschung regelmäßig ein sehr hohes Ausmaß von belastenden Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences, ACEs). In meinem Buch habe ich zu dem Thema ein eigenes Kapitel verfasst! 

Die aktuelle Kriegssituation in der Ukraine bringt das Thema „Soldatentum“ und „Befehl + Gehorsam“ mit einem bösen Paukenschlag auf die Tagesordnung. Ohne tausende SoldatenInnen, die auf Befehl Putins in den Krieg ziehen (trotz wohl auch nicht selten innerer Widerstände, laut Medienberichten), wäre Putin eine reine Lachnummer. 

Ich habe aktuell eine weitere Studie gefunden, die ein hohes Ausmaß von ACEs bei Militärs fand. 

Gottschall, S., Lee, J. E. C. & McCuaig Edge, H. J. (2022). Adverse childhood experiences and mental health in military recruits: Exploring gender as a moderator. Journal of Traumatic Stress

50.603 kanadische Rekruten / Offizieranwärter wurden befragt. 

Belastende Kindheitserfahrungen (ACEs) / Ergebnis für die Männer:

  • psychisch misshandelt: 58,1%
  • körperlich misshandelt: 37,2 %
  • sexuell misshandelt: 2,5%
  • Miterleben von häuslicher Gewalt: 21,9%
  • Haushaltsmitglied depressiv oder psychisch krank: 15,4%
  • Haushaltsmitglied Alkoholmissbrauch oder Alkoholiker: 14,6%
  • irgendeine dieser Belastungen: 70%

Belastende Kindheitserfahrungen (ACEs) / Ergebnis für die Frauen:

  • psychisch misshandelt: 56,5%
  • körperlich misshandelt: 36,1%
  • sexuell misshandelt: 10%
  • Miterleben von häuslicher Gewalt: 25,5%
  • Haushaltsmitglied depressiv oder psychisch krank: 21,7%
  • Haushaltsmitglied Alkoholmissbrauch oder Alkoholiker: 19,5%
  • irgendeine dieser Belastungen: 71%

Befragungen von US-Kriegsveteranen zeigten sogar noch höheren Misshandlungsraten, wie hier im Blog bereits besprochen. 

Auch andere Studien zeigten ein enorm hohes Ausmaß von Kindesmisshandlung bzw. ACEs bei Militärs:

Studien aus Russland liegen dazu nicht vor. Aber es ist naheliegend, ähnliche Zahlen in dieser Population zu finden. 

Zugespitzt lässt sich sagen, dass das Militär vor allem als Kind gedemütigte und verletzte Seelen in seinen Bann zieht. Das kann kein Zufall sein! In sich schlummernde Hass- und Rachegefühle, fehlendes Empathievermögen, geringeres Selbstbewusstsein, Neigung zu Schwarz-Weiß-Denken, Neigung zu Verdrängung oder Abspaltung von belastenden Erlebnissen usw. all dies sind mögliche Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen. Auf eine Art „passen“ diese Folgen zu dem Soldatenberuf und dessen besondere Anforderungen. 

Wir sehen also mal wieder: Die Kindheit ist politisch!


Mittwoch, 2. März 2022

Studienergebnis: Vergleichsweise unbelastete Kindheit von Terroristen? VORSICHT!

Für diesen Text beziehe ich mich auf die Studie:
Clemmow, C., Schumann, S., Salman, N. L., & Gill, P. (2020). The Base Rate Study: Developing Base Rates for Risk Factors and Indicators for Engagement in Violent Extremism. Journal of Forensic Sciences. Vol. 65, No. 3, S. 865-881. 

Es ist nicht das erste Mal, dass ich eine Studie finde, in der dargestellt wird, dass Terroristen eine verhältnismäßig unbelastete Kindheit hatten (siehe dazu meinen Beitrag „Neue Studie zeigt: IS-Terroristen sind extrem selten als Kind belastet. Warum dies nicht stimmen kann!“).
Clemmow et al. (2020, S. 877) schreiben in ihrer Zusammenfassung bzgl. dem Vergleich von 125 “lone-actor terrorists” und 2.108 Befragten aus der Allgemeinbevölkerung: „The general population were significantly more likely to experience a range of distal stressors such as growing up in an abusive home, being a victim of bullying, and experiencing chronic stress.” 

Solche Studien/Ergebnisse sind selten, aber es gibt sie. Also muss ich auch darauf antworten und eingehen. 

Wie schon bei meiner Kritik an der Studie von Speckhard & Ellenberg (2020) (siehe Link oben!) zeigt sich sehr schnell die Lösung des Rätsels, wenn man sich die Methodik genau anschaut. 

Vorher aber noch ein Auszug aus den Ergebnissen der Studie von Clemmow et al. (2020): 

(Blau steht für die Allgemeinbevölkerung, die andere Farbe für die Terroristen!)


Die Ergebnisse sind hoch signifikant: Terroristen haben demnach deutlich weniger Misshandlungen in der Kindheit erlitten, als die Allgemeinbevölkerung. Das gleiche gilt für Mobbingerfahrungen. 

Das Fatale an solchen Studien: In Zusammenfassungen von verschiedenen Ursacheanalyse-Ansätzen neigen WissenschaftlerInnen dazu, Studien kurz hintereinander aufzuführen und dann zentrale Ergebnisse zu nennen. Klassisch wäre z.B. der Verweis auf einzelne Studien, die ein hohes Ausmaß von belastenden Kindheitserfahrungen aufzeigen und dann in etwa so etwas anzuhängen: „Allerdings sind die Ergebnisse durchaus nicht einheitlich. Clemmow et al. (2020) fanden z.B., dass Terroristen deutlich weniger in der Kindheit belastet sind, als die Allgemeinbevölkerung.“ (Gedankenbeispiel) Und wenn sie dann ausreichend recherchiert haben, könnten sie dem noch anhängen: „Auch die Daten von Speckhard & Ellenberg (2020) zeigen kaum Auffälligkeiten in der Kindheit von Terroristen“ (Gedankenbeispiel). 

Die Message wäre klar: Wir wissen nicht wirklich, was die Ursachen von Terror sind, denn auch bzgl. Kindheitserfahrungen gibt es in der Wissenschaft ein uneinheitliches Bild! Platz für einen genaueren Blick auf solche Studien ist in solchen wissenschaftlichen Zusammenfassungen i.d.R. nicht. 

Des „Rätsels Lösung“ bzgl. der - für mich auf Grund unzähliger anderer Ergebnisse und Daten bzgl. Kindheitserfahrungen von Terroristen/Extremisten erstaunlichen – Ergebnisse von Clemmow et al. (2020) zeigt der Blick auf die Methodik! 

Die Befragten aus der Allgemeinbevölkerung entstammen aus einem online Panel, d.h., sie wurden mehrfach ausführlich direkt befragt. Die 125 Terroristen wurden nicht befragt (manche lebten auch gar nicht mehr, weil sie bei Anschlägen umkamen, das nur nebenbei): „The data were compiled from open sources, including sworn affidavits, court reports, first-hand accounts, and news reports obtained predominantly via LexisNexis searches. Additional sources such as biographies and scholarly articles were used where available and relevant” (Clemmow et al. 2020, S. 868). 

Die Herangehensweise der WissenschaftlerInnen ist grundsätzlich logisch und auch sinnvoll. Objektive Daten wie z.B. Familienstand, Ausbildung, Alter, Geschlecht, Beruf, Religionszugehörigkeit usw. lassen sich so einigermaßen gut vergleichen. Es macht allerdings gänzlich keinen Sinn, so etwas wie Misshandlungen in der Kindheit zu vergleichen. Hier geht es um ein höchst schambesetztes Themenfeld, über das i.d.R. geschwiegen wird (oder das sogar nicht mehr bewusst erinnert werden kann). Oft gilt dieses Schweigen sogar, wenn die Betroffenen direkt befragt werden (hier wäre es wichtig, dass die Studiendesigner traumainformiert sind!). Die Ergebnisse zu Traumaerfahrungen wären nur direkt vergleichbar gewesen, wenn beide Gruppen (also die Terroristen und die Allgemeinbevölkerung) den gleichen direkten Befragungen ausgesetzt gewesen wären, was nicht der Fall war. Insofern halte ich die Ergebnisse bzgl. der Terroristen für diesen Bereich für gänzlich nicht aussagekräftig! Punkt!

Andere Ergebnisse der Studie zeigen allerdings auch für mich aufschlussreiche und gewinnbringende Ergebnisse. So waren z.B. 48,6 % der Terroristen vorher kriminell eingestellt, dagegen nur 2,5 % der Allgemeinbevölkerung. 26,4 % der Terroristen wurden schon einmal inhaftiert, dagegen 0,4% der Allgemeinbevölkerung. Zu Suchtmittelmissbrauch neigten 26,4% der Terroristen, dagegen 9,5% der Allgemeinbevölkerung. Suchtmittelmissbrauch und kriminelles Verhalten sind in der Forschung deutlich mit dem Erleben von belastenden Kindheitserfahrungen „verlinkt“. Wir landen also abgleitet auch hier wieder beim Thema Kindheit...



Montag, 14. Februar 2022

Studie "Canadian Male Street Skinheads" und entsprechende Kindheitshintergründe

Für eine Studie aus Kanada wurden 14 männliche Skinheads (Alter zwischen 15 und 22 Jahre) befragt:

Baron, S. W. (1997). Canadian Male Street Skinheads: Street Gang or Street Terrorists? Canadian Review of Sociology and Anthropology. Volume 34, Issue 2, S. 125-154.

Alle Befragten waren ohne festen Wohnsitz und schlugen sich irgendwie durch. Acht Befragte waren innerhalb von 12 Monaten vor der Befragung eine Zeit lang inhaftiert. Alle Befragten waren häufig in Gewalthandlungen verstrickt. Darüber hinaus waren sie auch in anderer Hinsicht kriminell, vor allem bzgl. Drogendelikten. Neun Befragte waren in den Handel mit Drogen verstrickt. Alle Befragten nahmen verschiedene Rauschmittel zu sich. 

Politische Einstellungen / Rassismus

In dem Sample gab es ca. drei bis sechs Skinheads (je nach Fragestellung wird dies nicht eindeutig klar), die im Prinzip apolitisch waren. Sechs Skinheads waren extreme Rassisten (einer machte deutlich: „Kill everything that`s not white. Kill all the niggers“ (S. 145) ). Die anderen (wie wohl auch die Unpolitischen) waren offensichtlich hauptsächlich wegen der Gewaltevents in der Gruppe. Neun aller Befragten befürworteten allerdings auch einen gewaltsamen Systemsturz, um z.B. Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Insofern ist die Gruppe bzgl. ihrer Ansichten und politischen Einstellungen nicht homogen, die rechten Tendenzen und Neigung zu extremen Denken wird allerdings deutlich. Es ist nicht ganz einfach, alle 14 Befragte eindeutig zu kategorisieren. 

Der Autor betont (auch an Hand anderer Forschungsarbeiten), dass es Überschneidungen der Skinheadszene mit organisierten Rechtsextremnisten gibt. Das verbindende Element wäre der Rassismus und die Gewaltbereitschaft. Aus diesem Sample wurde nur bei einem Skinhead eine reger Austausch und eine Verbindung zu rechten, rassistischen Organisationen festgestellt. 

Familie und Kindheit (S. 134-136)

  • Nur drei Befragte kamen aus intakten Familien mit beiden biologischen Eltern. Ca. 78,5 % (n = 11) kamen entsprechend aus nicht-intakten Familien. 
  • 12 (85,7 %)  Befragte erlebten regelmäßig körperliche Gewalt in ihrer Familie. 
  • 10 (71,4 %) Befragte berichteten von erlittenen schweren körperlichen Misshandlungen durch Erziehungspersonen, die u.a. zu Brüchen und Blutungen führten. 
  • 4 (28,6 %) Befragte berichteten von „leichteren“ Formen von sexuellem Missbrauch 
  • 2 (14,3%) Befragte berichteten von schwerem sexuellen Missbrauch

Together the responses provide overwhelming evidence that these youths have been severely victimized by their parents” (S. 135). 

Einige Auszüge aus den Aussagen und weitere Belastungen in der Kindheit: 

My parent´s didn`t want me so I left. My parents beat the shit out of me so I thought, if they don`t want me, I´ll go with my friends” (S. 135)

There were lots of beating, always. I remember a lot of beatings, parties. Locked in my room at night so I couldn`t get out” (S. 135).

I just don´t get along with my Mom. I tried to kill her. My Mom hated me because I remind her of my father, who is in jail for a couple of murders he committed” (S. 136)

Auch manche andere Befragte äußerten Tötungsfantasien gegenüber Elternteilen. In den genannten Einzelaussagen wird auch deutlich, dass psychische Gewalt bzw. weitere Belastungen hinzukamen (Ablehnung des Kindes, Einschließen in den Raum, Inhaftierung von Elternteilen). Dies ist zahlenmäßig leider nicht in der Studie erfasst worden. 


Donnerstag, 10. Februar 2022

Kindheit des schwedischen Neo-Nazis, Söldners und Mörders X. Eine Fallstudie.

Jessica Eve Stern hat einen schwedischen Neo-Nazi ausführlich befragt: 

Stern, J. E. (2014). X: A Case Study of a Swedish Neo-Nazi and His Reintegration into Swedish SocietyBehavioral Sciences and the Law. 32(3), S. 440-453. 

X ist seit 1999 inhaftiert. Er hat zusammen mit zwei weiteren Nazis eine Reihe von Morden an Migranten verübt. Außerdem haben sie u.a. Banken ausgeraubt. Wir haben es hier also mit einem Schwerverbrecher zu tun. 

Bereits im Alter von 10 oder 11 schloss er sich der schwedischen Neo-Nazi Szene an, die ihn sehr faszinierte. Als er 18 Jahre alt war, ging er zum schwedischen Militär, war aber sehr frustriert, als er dies nach 10 Monaten wieder verlassen musste. Vor allem sah er in Schweden keine Perspektive dafür, real an einem Krieg teilnehmen zu können. Er wurde anschließend Söldner für Kroatien und machte diverse Kriegserfahrungen und tötete viele Menschen. Auch Folterhandlungen oder das Erschießen von verwundeten gegnerischen Soldaten gab er zu. Letzteres hätte er wegen dem Adrenalin und der Aufregung getan. 

Seine Kindheitsgeschichte wird nur kurz ausgeführt, allerdings deutlich. „Like many people who become violent in later life, X was beaten as a child. (…) His parents beat him, he said, from when he was five years old until he was 11” (Stern 2014, S. 447). Interessant ist hier, dass die Schläge offensichtlich in dem Alter aufhörten, als sich X den Neo-Nazis anschloss! War die Gruppe also auch eine Art Schutzschild gegen die gewalttätigen Eltern?
Es waren zudem nicht seine biologischen Eltern, sie hatten ihn adoptiert. Insofern lassen sich hier auch weitere schwere Belastungen in der frühen Kindheit im Rahmen seiner Herkunftsfamilie vermuten. Die Trennung von den biologischen Eltern wird an sich traumatisch gewesen sein. Genaueres dazu wird im Text leider nicht ausgeführt. 

Auf der einen Seite berichtete X, dass er seinen Adoptiveltern und auch seinem Bruder gegenüber Nahe stand. Auf der anderen Seite sagte er: „I don`t feel connected with anyone. I´ve always felt I don`t belong anywhere. I have always felt I have nowhere to live or to breathe” (Stern 2014, S. 447).

X wirkt auf mich, den Schilderungen folgend, wie ein Psychopath. Er suchte die Aufregung im Kampf. Krieg und Gewalt war für ihn wie eine Droge, wie er sagte. 

Wir sehen hier erneut eine ganz klassische Kindheitsbiografie eines Nazis und Mörders. Sie reiht sich ein in all die anderen Kindheitsbiografien, die ich bisher recherchiert habe. 


Mittwoch, 9. Februar 2022

Pink-Panther, Terror und Gewalt: das ängstliche Kind im Täter

Dr. James Garbarino beginnt gleich auf der ersten Seite seines eindrucksvollen Buches „Listening to Killers. Lessons Learned from My 20 Years as a Psychological Expert Witness in Murder Cases“ (2015) mit Schilderungen über den Fall „Danny Samson“ (einem Mehrfach-Mörder). „Danny“ ist ein derart bedrohlicher Mann, dass er vor Gericht von sechs Wachleuten begleitet wurde, weil man davon ausging, er könne jederzeit gewalttätig werden. Seit seinem 15. Lebensjahr verbrachte dieser Mann sein Leben abwechselnd in Freiheit und im Gefängnis. Garbarino fragte ihn, was er über sich erzählen könne, das andere Leute sehr überraschen würde. Dannys Antwort: „I cry myself to sleep at night“ (Garbarino 2015, S. 1). Garbarino kommentiert: „Afterwards, I check out his story: he does. Inside this big, scary, dangerous man is a frightened and hurt little child. You wouldn`t know by seeing him“ (ebd., S. 1).

Garbarino bringt ein weiteres Beispiel: 

Billy Bob, like many inmates, had arms that were covered with prison tattoos—skulls, crosses, women, lightning bolts. But when he opened his shirt, I saw for the first time what might be called his "private collection," tattoos. I had not seen six years earlier, tattoos that are not so often seen in public, sometimes to protect tender feelings in an otherwise brutal world.  Among them, in the middle of his chest, was the clue I had been looking for without knowing it. A tattoo of the Pink Panther, his stuffed animal from childhood. For me, this image represented the mostly invisible connection between Billy Bob the killer who sat on death row and Billy Bob the abused and neglected child who had suffered so much. lt all fit: there really was an untreated traumatized child living within this man who had brutally murdered Connie Kerry. It didn't excuse what he did, but it helped to validate why compassion for this killer was not a ridiculous bit of softhearted, wishful  thinking on my part, but rather a "scientific" perspective on him and his life, a recognition that within the scary adult was a child, a scared child whose trauma had never been addressed and had never healed” (ebd., S.48) Die extrem traumatische Kindheit von Billy Bob beschreibt Garbarino ebenfalls, diese Kindheitsbiografie macht sprachlos. 

Ich muss bei diesen Schilderungen zwangsläufig an das Bekennervideo des Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) denken: Im Mittelpunkt des Films steht die Cartoonfigur Paulchen Panther!

 „Es ist ein zynisches Dokument des Triumphes: In einem 15 Minuten langen Film feierten die rechtsextremistischen Terroristen aus Zwickau ihre Verbrechen, verhöhnten ihre Opfer, spotteten über machtlose Ermittler (…) Es gibt diese Szene, 10 Minuten und 38 Sekunden Wahnsinn sind schon vorbei, da zündet Paulchen Panther eine Rakete, die er auf dem Rücken trägt, die Musik im Hintergrund ist heiter und beschwingt, und auf dem Geschoss, das Paulchen mit einer Zündschnur in die Luft jagt, steht: "Bombenstimmung in der Keupstraße".“ schreibt der SPEIEGEL

Auch Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt hatten beide nachweisbar eine traumatische Kindheit!

Ein Teil in der Psyche dieser Leute blieb offenbar durch die Traumaerfahrungen quasi „eingefroren“ und in einem kindlichen Status. Dieser Teil konnte sich nicht entwickeln und zu einem reifen Erwachsenen-Ich formen. Das „traumatisierte Kind“ von damals drückt sich in solchen kindlichen Bildern wie oben geschildert aus. Die Öffentlichkeit schockiert es sehr, wenn eine Terrororganisation solche Kindercartoons für ein Bekennervideo nutzt. Mich verwundert dieser „kindliche“ Bezug überhaupt nicht. 

Patrick King ist einer der Organisatoren des „Tucker Freedom Convoy“ in Kanada, der sich gegen die Corona-Politik/Beschränkungen richtet. King ist ganz offensichtlich auch Rassist. Eine kurze Videozusammenfassung über seine Aussagen brachte mich überhaupt auf die Idee, diesen gesamten Beitrag hier zu verfassen. Träume von einer Revolution mit Waffengewalt sind darin u.a. zu hören. In einem Teil macht er sich offensichtlich um „Überfremdung“ sorgen und kommentiert rassistisch wie folgt: 



Das sind genau die Verhaltensweisen, um die es mir auch hier im Beitrag geht. Wir sehen einen offensichtlich gewaltbereiten, rassistischen Mann (den ich nicht mit den NSU-Terroristen gleichsetzen möchte! Mir geht es hier nur um die gezeigten Verhaltensweisen), der plötzlich in dem Videoauszug "wie ein Kind" spricht und sich darüber köstlich amüsiert, obwohl seine Aussagen widerwärtig sind. Das sind diese kindlichen Anteile, die hier im Fokus stehen und uns hellhörig machen sollten. 

Ich selbst habe 15 Monate lang meinen Zivildienst in einer Drogentherapieeinrichtung abgeleistet. Die meisten der „Klienten“ waren auch Kriminelle: Überfälle, Erpressung, Diebstahl, Urkundenfälschung, Zuhälterei/Menschenhandel usw.  Manche hatten lange Haftstrafen hinter sich. Was mir immer wieder auffiel war, dass so manche „Klienten“ teils und phasenweise kindlich wirkten (und manchmal geradezu Beschützerinstinkte bei mir auslösten). Manche erwachsene Männer hatten auch Phasen, wo sie wie pubertierende Jugendliche wirkten. Ich kann schwer beschreiben, woran ich das festmache. Ich traf damals einmal einen Zivi aus einer anderen Drogentherapieeinrichtung. Wir kamen im Gesprächsverlauf auf diese Ausfälligkeit der kindlichen Verhaltensweisen zu sprechen. Er bestätigte mir die gleiche Beobachtung! Mir tat es damals sehr gut, dies so zu hören. In einer solchen Einrichtung macht man viele Erfahrungen, die man schwer einordnen kann. Dass es nicht nur mir so ging, war eine Wohltat. 

Ich erinnere mich auch noch an eine Szene im Winter, wo einer der Psychotherapeuten mit einem Klienten um einige Autos herum fangen spielte. Der erwachsene Klient quietschte dabei wie ein Kind.  Später in der internen Therapeutenrunde berichtete der Therapeut, dass er dies bzgl. diesem Klienten bewusst hin und wieder so mache, weil er das Gefühl hatte, dieser bräuchte einige Erlebnisse, die er als Kind so nicht gehabt hätte. Ob dies nun der richtige therapeutische Weg war sei dahingestellt. 

Was bringen nun diese meine Ausführungen? Nun, sie ändern nichts an der Gefährlichkeit dieser Leute. Auch die von mir beobachteten Klienten konnten ganz normal sein oder ihre kindlichen, bedürftigen Anteile zeigen. Am nächsten Tag kam ich dann in die Einrichtung und es hieß „Klient X.“ sei heute von der Polizei mitgenommen worden, weil er die Büroeinrichtung der Therapeuten zerstört und Mitarbeiter bedroht hätte...

Ich sehe den Nutzen eher bzgl. der Analyse von Taten und Tatursachen. Wenn sich solche kindlichen Anteile von Gewalttätern offenbaren, dann – da bin ich ganz bei James Garbarino – zeigt sich das traumatisierte, bedürftige Kind im Erwachsenen. Mit solchen Menschen muss therapeutisch gearbeitet werden, so es die Möglichkeit dafür gibt. Besser noch ist, vorne anzufangen: beim Kinderschutz! 


Sonntag, 30. Januar 2022

Studie: Traumatische Erfahrungen von französischen Islamisten

Für eine Studie aus Frankreich wurden 70 Jugendliche und 80 junge Erwachsene, die sich islamistisch radikalisiert hatten und sich dem „Islamischen Staat“ anschließen wollten, befragt und analysiert:

Oppetit, A., Campelo, N., Bouzar, L., Pellerin, H., Hefez, S., Bronsard, G., Bouzar, D., & Cohen, D. (2019). Do Radicalized Minors Have Different Social and Psychological Profiles From Radicalized Adults?. Frontiers in psychiatry, 10, 644. 


U.a. wurden traumatische Erfahrungen erfasst:

  • Körperliche Misshandlungen oder sexuellen Missbrauch hatten 26,7 % erlitten.
  • Vernachlässigung oder emotionale Misshandlungen hatten 85,3 % erlebt.
  • Sucht und Drogenmissbrauch eines Familienmitglieds hatten 32 % miterlebt.
  • Vergewaltigung oder Missbrauch eines Familienmitglieds: 16 %.
  • Körperliche Misshandlung eines Familienmitglieds: 32 %.
  • Depressionen eines Familienmitglieds: 40,7 %.
  • Körperliche Gesundheitsprobleme eines Familienmitglieds: 27,3 %.

Dazu kamen diverse Auffälligkeiten bzgl. des Gesundheitszustands der befragten Islamisten. Z.B. hatten 44 % vor ihrer Radikalisierung Depressionen. 22 % hatten ein Suchtproblem und nahmen Drogen (ebenfalls vor der Radikalisierung). 29,3 % neigten vor der Radikalisierung zu Selbstverletzungen. 

Es liegt auf der Hand, sowohl den Gesundheitszustand der Befragten vor deren Radikalisierung als auch deren Weg in den Extremismus in einen Zusammenhang mit traumatischen Vorerfahrungen zu stellen. Merkwürdigerweise ist die Studie dahingehend komplett wortkarg. Im Fokus der Studie stand vielmehr - wie der Titel auch sagt - der Vergleich der beiden Befragtengruppen (Jugendliche – Erwachsene). Leider wurde auch die Methodik nur kurz ausgeführt. Es sind z.B. keine genauen Definitionen der o.g. Belastungsfaktoren zu finden. Aber dies nur nebenbei.

Bzgl. der Zusammenhänge zwischen Kindheit/Trauma und Extremismus ist dies eine wichtige Studie!


Freitag, 14. Januar 2022

Trauma-Täter und der Gehirntumor meines Nazi-Großvaters

In diesem Beitrag geht es mir um die Sicht von Menschen (dabei auch vor allem von Menschen, die zum Opfer wurden oder die Angehörige von Opfern sind) auf Täter und Täterinnen. Dem möchte ich einige Gedanken des Psychologieprofessors und Psychotherapeuten Franz Ruppert (*siehe unten eine ergänzende kritische Anmerkung bzgl. Rupperts Wirken in der Corona-Pandemie) voranstellen:

Trauma-Täter zu sein ist, wenn es einmal geschehen ist, ein bleibendes Faktum. Wenn jemand einen anderen Menschen Schaden zufügt, der nicht gutzumachen und sozial inakzeptabel ist, so ist das nicht nur für sein Opfer, sondern auch für ihn als Täter eine traumatisierende Lebenserfahrung. Sie führt zu einer bleibenden Beschädigung der Psyche. Denn aus dem Faktum des Trauma-Täterseins folgt: Solange seine Psyche gesund funktioniert, und einen Rest gesunder Psyche hat auch jeder Täter, hat ein Täter angesichts der Realität seiner Tat ein nagendes schlechtes Gewissen. Er macht sich selbst schwere Schuldgefühle, es steigen massive Schamgefühle in ihm hoch und er hat Angst vor sozialer Ächtung. Das sind auf Dauer nicht aushaltbare emotionale Spannungszustände. Daher müssen solche Gefühle aus dem Bewusstsein eines Trauma-Täters ausgegrenzt und abgespalten werden. D.h., auch Trauma-Täter sind – wie ihre Opfer – nach einer Tat gezwungen, sich psychisch zu spalten, um innerlich zu überleben. Dies umso mehr, wenn sie weiter mit ihrem Opfer oder deren Angehörigen in einer (Zwangs-)Gemeinschaft zusammen sind“ (Ruppert, Franz (2021): Die Täter-Opfer-Dynamik. In: Reiß, H. J., Janus, L., Dietzel-Wolf, D. & Kurth, W. (Hrsg.): Kindheit ist politisch – Die Bedeutung der frühen Kindheit für die Konflikt- und Handlungsfähigkeit in der Gesellschaft (Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 21), Mattes Verlag, Heidelberg, S. 376) 

Das Wortpaar „Trauma-Täter“ finde ich sehr passend! Es beschreibt nach meinem Verständnis zwei Seiten: 

1. Die Täter waren (meist) vorher selbst Opfer, die Grundlage für eigene Täterschaft. 

2. Durch ihre eigene Taten werden Täter und Täterinnen ebenfalls traumatisiert. 

Meine Anmerkungen dazu: 

Je mehr Taten ein Mensch begeht, desto mehr muss er innerlich abwehren. Logisch! In der Folge wird ein solcher Mensch emotional immer „kälter“ bzw. spürt nichts mehr. Nach außen können teils große Gefühlsausbrüche gespielt/inszeniert werden, was der innerlichen Realität allerdings nicht entspricht. 

Mir geht es hier wie anfangs gesagt aber gar nicht so sehr um die Täter, sondern darum, dass viele Opfer meiner Beobachtung nach oftmals an den Tätern emotional „hängen“ bleiben. Die Taten sind unfassbar und haben so viel Leid erzeugt, ob nun das eigene Leid oder das Beobachtete. Menschen neigen dazu, von den Tätern eine Regung zu fordern, eine Erklärung, bestenfalls eine ernst gemeinte Entschuldigung, eine empathische Reaktion, etwas Menschliches, irgendetwas! Die Erfahrung zeigt, dass solche Reaktionen kaum zu erwarten sind. Im Gegenteil: Täter wie z.B. Anders Breivik bedauern noch im Gerichtssaal, dass sie nicht noch mehr Menschen getötet haben. Oder sie steigern sich in diverse Abwehrhaltungen hinein („Es waren nur Befehle, ich selbst bin das Opfer“).  

Noch verstrickter wird es, wenn die Täter (Frauen sind mitgemeint!) aus der eigenen Familie kommen. Die Opfer sind emotional gebunden und fordern noch weit mehr eine Reaktion des Täters ein, sofern sie es irgendwann schaffen, diesen zu konfrontieren. Die Erfahrung zeigt, dass die Reaktionen oder besser Nicht-Reaktionen der Täter oft nur erneute Verletzungen verursachen. Opfer sollten ihre eigene Heilung und ihren eigenen weiteren Lebensweg nicht von der Reaktion der Täter abhängig machen! 

Was aber hilft, davon bin ich überzeugt, ist, die innere Dynamik von Tätern zu verstehen. Denn dies löst Menschen von ihren Fragen und ihrem Warten auf Reaktionen. Wenn also erstens Täter oftmals selbst Opfer waren (was an sich eine innere Spaltung begünstigt) und zweitens durch ihre Taten erneut traumatisiert werden und sich dadurch noch mehr innerlich von ihrem eigenen „Ich“ abspalten müssen, dann bräuchte es wohl etliche Jahre an Psychotherapie, starken Willen und schmerzhafter Arbeit an sich selbst, damit solche Menschen zu wirklich emotionalen Reaktionen gegenüber den Opfern fähig wären. Damit sie wirklich nachfühlen und sich ernsthaft für ihre Taten schämen und entschuldigen könnten. 

Ich bin davon überzeugt, dass ab einem gewissen Grad der eigenen Täterschaft Menschen auch bzgl. menschlicher Regungen „verloren“ sind. Sie werden es in ihrem Leben nicht mehr schaffen, aus der inneren Kälte herauszutreten (im Grunde die größte Strafe für einen Menschen, der nur dieses eine Leben hat!). Menschen wie Anders Breivik z.B. haben so viele Menschen getötet, wenn er selbst dies wirklich innerlich nachfühlen könnte, was er getan hat, er würde innerlich gesprengt werden und müsste sich wohl selbst töten (Breivik strahlt es an sich auch wie ein Paradebeispiel aus: dieser Mann ist emotional absolut tot!). Das Gleiche gilt aber natürlich auch für den Täter-Vater oder die Täterin-Mutter, die jahrelang die eigenen Kinder terrorisiert haben. 

Ich möchte nicht alle Aussöhnungsprozesse und auch Therapieangebote für Täter in Abrede stellen. Bitte versteht mich nicht falsch! Jeder kleine Erfolg bzgl. Trauma-Tätern ist ein Erfolg. Und ja, sie sind und bleiben auch immer Menschen. Mir geht es schlicht darum, dass wir nicht all zu viel von Trauma-Tätern erwarten dürfen. Diese Erwartungen und auch viele Fragen an die Täter sind Fakt und auch verständlich. Ich für meinen Teil konzentriere mich lieber auf die Prävention: Opfererfahrungen verhindern und frühzeitige Aufarbeitung von Opfererfahrungen IST Täterprävention. 

Franz Ruppert hat über Trauma-Täter auch folgendes geschrieben: 

Weil sie kein eigenes Ich haben und mit sich selbst nichts anfangen können, brauchen Trauma-Täter weiterhin die Beziehung zu ihren Opfern und können diese nicht in Ruhe lassen. (…) Ohne ihre (potentiellen) Opfer sind Trauma-Täter selbst nichts! Eine leere Hülle! Wenn man bedenkt, wie viele Trauma-Opfer sich ihr Leben lang unablässig Gedanken über die Trauma-Täter machen, so muss diese Erkenntnis für sie absolut erschütternd und ernüchternd sein: Der Trauma-Täter besteht in Wahrheit innerlich aus nichts! Alles an ihm ist nur Fassade.“ (ebd., S. 380). Besser kann man es kaum zusammenfassen. 

Mein Großvater väterlicherseits war ein Nazi und bei der SS. Außerdem war er als Vater kalt und teils auch grausam. Er hatte auch seine menschlichen Seiten (Franz Ruppert würde von dem „gesunden Teil der Psyche“ sprechen, der immer bleibt). Aber er hatte auch bis zum Ende diese „innerliche Kälte“, aus der er nicht heraustreten konnte. Vor seinem Tod traf ich ihn ein letztes Mal im Krankenhaus. In seinen Augen sah ich Angst. Trauma-Täter gehen nicht in Frieden aus dieser Welt. Das ist tragisch, aber so ist es. 

Mein Großvater starb an einem Gehirntumor. Auch wenn es sicher keine empirischen Belege dafür gibt, dass Nazis häufiger an einem Tumor sterben, als andere Menschen: Für mich steht fest, dass dieser Gehirntumor auch ein Ausdruck dessen war, wie er sein Leben gelebt, was für Entscheidungen er getroffen und welche Taten er begangen hat. Als mein Großvater starb, hat mich das kaum berührt. Er war kein Mensch, dem man sich emotional nahe fühlen konnte...


* Ich schätze die Expertise von Franz Ruppert bzgl. Traumafolgen sehr, deswegen zitiere ich ihn hier! Mir ist bewusst, dass Ruppert bzgl. der Corona-Pandemie eine Haltung gezeigt hat, die eine deutliche Tendenz für Verschwörungsglaube zeigt. Seine Haltung zeigte er sehr offen auf entsprechenden Portalen wie KenFM oder Rubikon. Ich distanziere mich von solchem Gedankengut! Solange Ruppert nicht in eine verfassungsfeindliche Richtung abdriftet, greife ich allerdings trotzdem auf seine Expertise bzgl. Traumatisierungen zurück. 

Dienstag, 11. Januar 2022

Kindheit des Ex-Nazis Matthew Collins

Hate: My Life in the British Far Right“ heißt die Autobiografie von Matthew Collins (2011, Biteback Publishing, London). 

Sein Buch beginnt Collins mit Schilderungen über den Vater seiner Mutter, den er als „tyrannical father“ beschreibt, vor dem seine Mutter verzweifelt floh (S. 1). Auch der Großvater väterlicherseits scheint schwierig gewesen zu sein. Er blieb der Hochzeit seines Sohnes fern, da dessen zukünftige Frau, die Mutter von Matthew, eine Protestantin war. Dieser Großvater habe in seinem Hinterhof auch Hunde fast totgeschlagen. Collins ergänzt: „He hated my mother“ (S. 1). 

Entsprechend ist zu vermuten, dass die Kindheiten der Eltern von Matthew Collins belastet waren, was wiederum die Wahrscheinlichkeit stark erhöht, dass diese Eltern auch die eigenen Kinder belasten. Bzgl. seines Vaters wird Collins ziemlich deutlich: Sein Vater war Alkoholiker. Außerdem scheint der Vater kaum Bindungen innerhalb der Familie eingegangen zu sein. Obwohl der Vater bis zu Beginn der Grundschulzeit von Matthew in der Familie lebte, schreibt Collins: „Sadly, I have no recollection of my father ever living with us“ (S. 1).
Danach trennten sich die Eltern und Matthew sah seinen Vater nur noch sporadisch. Sein Vater habe bei den Treffen oft nach Schnaps gerochen (S. 2). „When I remember him back then I think he did care strange, detached way. But I always wondered why he couldn`t love us and our mum as much as he loved alcohol and why he wouldn`t just stay with us …“ (S. 3). 

Matthew buhlte um die Aufmerksamkeit seines Vaters, bekam sie aber nicht. Er fragte sich, ob er seinen Vater vielleicht langweilte und geht gedanklich in seine Kindheit zurück: „`Look at me, I can read! I´m the best in my class, read a book with me, please`, I`d beg. But he never did. I´d dump a hundred toy soldiers onto the floor und say `Let´s play!` but he never did“ (S. 3)

Die Familie war außerdem relativ arm, eine weitere Belastung für die Kinder. Das Verhältnis zu seiner Mutter beschreibt Collins nur sehr knapp, was vielleicht wiederum für sich spricht. Er deutet an, dass es oft Streit am Tisch gab (S. 4). Außerdem beschreibt er die Strenge „Regierung“ seiner Mutter: „My mother`s reign at home was tight, but never tyrannical“ (S. 8). Nun, wie oben erwähnt war der Vater der Mutter tyrannisch. Collins war es hier offenbar ein Bedürfnis, seine Mutter dahingehend abzugrenzen, indem er betont, sie sei nicht tyrannisch, sondern nur streng gewesen. Wie der Erziehungsalltag genau aussah, berichtet er leider nicht. 

Auch mit einem seiner Brüder geriet Matthew schon als Jugendlicher in Konflikt. Sein Bruder ging zur UNI und Matthew störte diese intellektuelle Entwicklung des Bruders offensichtlich. Über 20 Jahre habe er mit dem Bruder nicht mehr geredet (S. 10). Auch dies spricht für wenig emotionale Bindungen in dieser Familie. 

Als Jugendlicher entwickelte sich Matthew schnell zum „Problemschüler“. Er hatte den Ruf „the worst kind of bully“ zu sein (S. 8). Im Alter von 13 Jahren galt er bereits als Rassist. Die Nähe zu rechtem Gedankengut suchte er geradezu und fand seinen Weg in die Szene. Matthew fühlte sich vor allem unverstanden. Und er war voller Fragen und Selbstzweifel. An einer Stelle fragt er rückblickend auf seine jungen Jahre: „What was eating at me, why was I so angry?“ (S. 10). Ich glaube, dass seine Familiengeschichte sehr gut deutlich macht, woher all die Wut und der Hass kamen. 


Donnerstag, 30. Dezember 2021

"Kindheit ist politisch": Zwei Jahrbücher für psychohistorische Forschung zu verschenken!

Das neue Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 21 ist draußen. Der Titel lautet: 

Kindheit ist politisch – Die Bedeutung der frühen Kindheit für die Konflikt- und Handlungsfähigkeit in der Gesellschaft.

In dem Jahrbuch sind viele Vorträge der diesjährigen Jahrestagung verschriftlicht. 

Ich habe zwei Exemplare zu verschenken! Bitte Email an mich, ich werfe dann Mitte Januar alle Namen in einen Topf und ziehe blind zwei.

Für das Jahrbuch habe ich zwei Beiträge verfasst: 

"Kindheitsursprünge von politischer Gewalt und Extremismus. Oder: Die Kindheit ist politisch!

und

"Kindheit in Afghanistan und der nie enden wollende Krieg und Terror"






Freitag, 17. Dezember 2021

Hitlers Heerführer - Lebenswege von 25 NS-Akteuren und Details über Kindheit und mögliche Traumaerfahrungen

 „Hitlers Heerführer - Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42“ (2007, R. Oldenbourg Verlag, München) von Johannes Hürter ist ein Buch, das auf den ersten Blick nicht viel über Kindheitshintergründe und potentiell traumatische Erfahrungen der hohen NS-Militärs bietet. Beim genaueren Hinsehen erschließen sich allerdings einige interessante Details! 

25 NS-Oberbefehlshaber wurden hier systematisch durchleuchtet:
Fedor von Bock, Ernst Busch, Eduard Dietl,  Nikolaus von Falkenhorst, Heinz Guderian, Gotthard Heinrici, Erich Hoepner, Hermann Hoth, Ewald von Leist,  Günther von Kluge, Georg von Küchler, Wilhelm Ritter von Leeb, Georg Lindemann, Erich von Lewinski gen. Manstein, Walter Model, Friedrich Paulus, Walter von Reichenau, Hans-Georg Reinhardt, Gerd von Rundstedt, Richard Ruoff, Rudolf Schmidt, Eugen Ritter von Schobert, Adolf Strauß, Carl-Heinrich von Stülpnagel und Maximilian Freiherr von Weichs. 

Die Geburtsdaten der Akteure schwanken zwischen ca. 1875 und 1891. 

92 % der Akteure stammten aus den damals „erwünschten Kreisen“, um einen hohen militärischen Rang einnehmen zu können: Die Väter der Akteure waren Offiziere, höhere Beamte, Gutsbesitzer oder Akademiker. Wobei mit 60 % die meisten Väter der Akteure Offiziere waren. Ich mutmaße alleine auf Grund dieser Zahl, dass ein entsprechender Anteil der Akteure auch in der Kindheit in ihrer Familie sehr militärisch geprägt wurde und entsprechende Erziehungsmethoden vorherrschten. 

Auch die Daten zur Schulbildung bringen einige Erkenntnisse zu Tage. 60 % (N= 15) der Akteure besuchten als Kind ein humanistisches Gymnasium, 40 % (N= 10) besuchten ein Kadettenkorps. 

Die 10 Kadettenschüler waren Fedor von Bock, Ernst Busch, Nikolaus von Falkenhorst, Heinz Guderian, Hermann Hoth, Günther von Kluge, Erich von Lewinski gen. Manstein, Gerd von Rundstedt, Rudolf Schobert und Eugen Ritter von Strauß. 

Wie es dort zuging, beschreibt Hürter wie folgt:
Die Kadettenhäuser (…) waren militärisch geführte, straff organisierte Internatsschulen, auf denen Kinder und Jugendliche nach strengen Regeln und weitgehend abgeschottet von der Außenwelt die für den Offiziersnachwuchs als ideal angesehene Erziehung und Schulbildung erhalten sollten. Die Kadettenanstalt wurde mit guten Gründen  als `totale Institution` beschrieben, deren Normen sich der Zögling vollständig unterwerfen musste, wenn er nicht ausgesondert werden wollte. (…) Die Erziehung war in der Regel hart, besonders in den Voranstalten. “ (S. 42). Die Erziehung war von Begriffen wie "Ehre", "Pflicht", "Gehorsam", aber auch "Verantwortung" geprägt.  

Johannes Hürter zitiert u.a. aus dem autobiografischen Roman „Die Katetten“:
Sie sind hier, um Sterben zu lernen. Alles, was Sie bisher erlebten, sahen und begriffen, haben Sie zu vergessen … Sie haben von nun an keinen freien Willen mehr; denn Sie haben gehorchen zu lernen, um später befehlen zu können“ (S. 42f.)
Der Autor zitiert auch den Heeresführer Herman Hoth: „Die Erziehung als Kadett wurde entscheidend für meine ganze innere Entwicklung. Ich habe hier in 8-jähriger Gemeinschafts-Erziehung eine glühende Liebe zum Soldatenberuf in mich aufgenommen, nicht durch Soldatenspielerei, sondern durch das Beispiel meiner militärischen Erzieher u. einen vorzüglichen Unterricht, der auf geschichtlichem Bewusstsein ruhte. Gewiss haben diese Jahre, die unter dem Zwang standen, mich sehr früh u. sehr eng in eine Gemeinschaft einordnen zu müssen, in mir das Gefühl für Disziplin, Gehorsam, Zurückstellung eigener Wünsche u. Ansichten besonders stark gefördert. Eine gewisse Überschätzung des Autoritätsglaubens, die in diesen Jahren ihren Ursprung hat, habe ich nicht mehr ganz verloren“ (S. 45f.) 

Jahrelange Erziehung in solchen Anstalten prägen und – davon gehe ich aus – traumatisieren die Kinder und Jugendlichen auch. Diese Erziehung gilt wie gesagt für 40 % der untersuchten Akteure!

Aber auch an den damaligen Gymnasien ging es rau und streng zu, wenn auch sicher nicht in dem Ausmaß, wie an den Kadetteneinrichtungen: „Die Stellung des Humanistischen Gymnasiums als Verteidigerin der Tradition gegen die Moderne besaß auch einen politischen Aspekt. Sie stützte die konservative bürokratische und akademische Klientel gegen fortschrittlich-liberale Kräfte des Bürgertums und erst recht gegen alle `Reichsfeinde`. Besonders im Wilhelmischen Deutschland verstärkten sich die autoritären und nationalistischen Züge. An der Loyalität gegenüber Kaiser und Reich gab es ohnehin keinen Zweifel. Die Schüler trugen uniforme Jacken und Mützen, die Disziplin war in der Regel streng, Sedantage und Kaisergeburtstage wurden mit Pathos gefeiert“ (S. 39).

Dazu kam mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine strenge, autoritäre Erziehung im Elternhaus, was der Autor allerdings weder im Allgemeinen, noch direkt auf die 25 untersuchten Akteure beschreibt. Die Geburtsdaten der Akteure und das bekannte Wissen um damalige Erziehungspraktiken und -einstellungen lassen allerdings viel erahnen.   

Dazu kommen vermutlich auch Traumatisierungen im Ersten Weltkrieg. Alle 25 Akteure waren „vom ersten bis zum letzten Kriegstag“ im Dienst und bestanden die „große Überlebens- und Bewährungsprobe des Ersten Weltkriegs“ (S. 70). 

Diese Akteure führten später Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion. 

Ich selbst habe in meinem Blog bereits die belastete Kindheit von Friedrich Paulus (einem der 25 hier untersuchten Führer) besprochen. Paulus besuchte keine Kadettenschule. Dies zur Ergänzung. 



Donnerstag, 16. Dezember 2021

Mein Interview mit Nick Greger

Ich habe heute ca. 1 ½ Stunden mit Nick Greger (online) gesprochen. Er hatte mich auf Grund meines Blogbeitrags ("Die angeblich harmonische Kindheit des Ex-Neonazis Nick W. Greger und meine Anmerkungen dazu") über ihn angeschrieben und sich bereit erklärt, sich meinen Fragen zu stellen, was ich dankend annahm. 

Wir haben über sehr vieles gesprochen. Wir sind fast gleichalt und ich fand schnell Draht zu Greger, der sehr offen und redegewandt ist. Wir haben auch etwas abgestimmt, über was ich dann öffentlich berichten kann. Ich bin kein Journalist oder ähnliches und fand es großartig, diese Gelegenheit zu bekommen. 

Nick Greger hat im Prinzip sehr viel von dem bestätigt, was er schon kurz in seiner Autobiografie ausgeführt hatte. Er erlebte seine Familie als harmonisch und zugewandt. Es gab keine Körperstrafen, keinen Suchtmittelmissbrauch, keine schweren Konflikte zwischen den Eltern oder ähnliche Belastungen. 

Eine für mich neue Info darf ich hier erwähnen: Seine Mutter war gerade einmal 16 Jahre alt, als Nick geboren wurde. Sie wurde im Alter von 15 Jahren schwanger. Dies sei so geplant gewesen. Nicks Vater war einige Jahre älter und konnte die junge Familie finanziell stemmen. Seine Mutter sei damals bereits sehr reif und verantwortungsvoll gewesen. 

Was auffällt ist, dass Nick ebenfalls im Alter von 15 Jahren „ausbrach“ und einfach seine Familie verließ, um in Dresden zu wohnen. Ich sehe da eine gewisse Parallele zu seiner Mutter und ihrem „Ausbruch“ aus der Norm durch die frühe Schwangerschaft.

Das Thema „Ausbruch“ aus dem kleinen Ort, der ihm nicht viel bot und ihn einengte, war auch Nicks Lebensthema als Jugendlicher. Der Anschluss an die kleine rechte Gruppe im Ort war zunächst quasi Mittel zum Zweck und nicht ideologisch bedingt (was viele Ehemalige so oder so ähnlich berichten). Die Ideologie kam natürlich später dazu. 

Ich habe Greger gegenüber sehr deutlich gemacht, dass ich trotzdem vorsichtig mit seinen Angaben über seine Kindheit bin und skeptisch bleibe. Es ist für jeden Menschen schwer, objektiv auf die eigene Kindheit zu schauen. Ich glaube ihm aber auch den Grundrahmen seiner Kindheit, den er sehr deutlich und klar gemacht hat. 

Ich kann den "Fall Greger“ einfach für sich so stehen lassen. Meine Datensammlungen zeigen, dass die allermeisten Extremisten als Kind destruktiven Bedingungen ausgesetzt waren. Bzgl. Prävention und Ursachenanalyse bleibt dies ein gewichtiger Faktor. 


Dienstag, 14. Dezember 2021

Kindheit des ehemaligen Skinheads und Rassisten Arno Michaelis

My Life After Hate“ heißt die Autobiografie (erschienen 2010: La Prensa de LAH, Milwaukee) des ehemaligen Skinheads und Rassisten Arno Michaelis. Er schreibt nicht viel über seine Kindheit. Das, was er schreibt, ist allerdings überdeutlich und spricht für sich selbst. Ganz „klassisch“ ist hier auch, wie er seine Kindheitserfahrungen in ihrer Wirkung für sein Leben ausklammert bzw. relativiert und im selben Part über Schilderungen über seine Kindheit (z.B. eine dysfunktionale Familie und Alkoholismus des Vaters) anhängt, er wäre sehr von seinen Eltern geliebt worden:  

Yeah, there were issues at home; dysfunction that paled in comparison to the billions of people on this planet with real problems that was nevertheless catastrophic to me. But looking back I don’t see any valid excuse for how fucked-up I turned out.
In the movies I would have been physically beaten by parents and/or ghetto thugs while clawing out survival from an impoverished hovel, like many of my comrades were to one degree or another. But in real life I grew up in a nice house in a nice neighborhood and never went hungry or took a beating. My parents loved me dearly, but that made my dad’s drinking and their subsequent fighting a constant hurt that drove me to lash out, denying their love for me and filling that void with hate.
In the absence of love’s light, hate can be exciting, seductive. It beckons you and sends torrid, empty power coursing through your veins. At first you think you can dabble. Just for kicks. Just a bit of entertainment to ripple the excruciating monotony of your disdain for the world. You blink, and you’re covered in someone’s blood. Another blink and the doors of your cell are slamming shut
“ (S. 29).

Für das „Forgiveness Project“ hat er auch online etwas über seine Kindheit geschrieben:
I grew up in an alcoholic household where emotional violence was the norm and as a kid who was told I could achieve anything, I reacted to that emotional violence by lashing out and hurting people. I started out as the bully on the school bus, and by the time I was in middle school I was committing serious acts of vandalism.
As a teenager I got into the punk rock scene which for a while was the ultimate outlet for my aggression. But, like any other addiction, my thrill seeking needed constant cranking up, so when I encountered racist skinheads I knew I’d found something far more effective. I joined up for the kicks and to make people angry.“



Montag, 13. Dezember 2021

Drei Jahre „Die Kindheit ist politisch!" - Rückblick und Ausblick

Kinder, wie die Zeit vergeht! Ich wollte eigentlich auf zwei Jahre „Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen“ zurückschauen. Dann merkte ich: es sind ja schon drei Jahre rum… Gut, na dann also drei. Es ist viel passiert seitdem. 

Fange ich zunächst so an: Die Thesen in meinem Buch sind im Grunde nicht neu und im Kern sage ich einfach: „destruktive Kindheitserfahrungen haben destruktive Folgen“. Auch die Übertragung auf das Politische ist nicht neu (auch wenn es nach meiner Googelabfrage im deutschsprachigen Raum das Wortpaar „Kindheit ist politisch“ vor meiner Arbeit nicht gab: Warum eigentlich nicht?). Ich habe ja auch das Rad nicht neu erfunden, was schon allein das umfangreiche Quellenverzeichnis im Buch deutlich macht. 

Neu ist die reine Masse und Dichte an Informationen und Empirie. Neu ist insbesondere auch die Masse an Biografieforschung bezogen auf politische Akteure. Es gab vorher meines Wissens nach keine Einzelarbeit, in der derart viele Kindheitsbiografien von Diktatoren, politischen Führern, Extremisten und NS-Tätern systematisch aufgestellt wurde. Vor allem alleine letzteres, die Kindheiten der NS-Täter, hätte zu einer breiten öffentlichen Diskussion anregen können. Aber auch das Aneinanderhängen von allgemeinen Arbeiten aus der Extremismusforschung bzgl. Kindheitshintergünden habe ich in der Form noch nirgends vorher gesehen (und in meinem Buch war ich sogar erst am Anfang, mittlerweile habe ich 32 Studien und Einzelarbeiten gefunden, innerhalb derer Kindheiten von rechten Gewalttätern bzw. Rechtsextremisten besprochen wurden!).

Ich fühlte und fühle mich mit diesem Buch so, als ob ich die „Zündschnur“ für eine Art „Bombe“ entzündet hätte und wöchentlich mit der „Explosion“ rechne. Es ist nicht ganz einfach, sich so zu fühlen (aber ich komme klar, keine Sorge!). Gleichzeitig weiß ich um die Mängel des Buches (ich bin kein bekannter Fachmensch mit akademischen Verdiensten, was eine allgemeine Aufmerksamkeit erschwert; zudem einige Formmängel im Buch, vielleicht hätte man auch einiges straffen können, letztendlich fehlte im Rückblick ein umfangreiches, professionelles Lektorat, das sich nur größere Verlage so leisten können). Und ich weiß um die emotionalen Hürden, weil das Sprechen über destruktive Kindheitserfahrungen und deren Folgen stets individuelle und öffentliche Scheuklappen aktiviert (ich habe auch einige Bekannte, die von mir mein Buch erhalten haben und nie wieder darüber gesprochen haben. Was ich auch verstehen und so stehen lassen kann, weil das Buch reines „Feuer“ ist und die Gefahr besteht, dass man sich emotional "verbrennt"…). 

Durch meinen Verlag wurde mein Buch 2020 auch für den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch und für den Preis "Das politische Buch" der Friedrich-Ebert-Stiftung vorgeschlagen. Für beide Preise hatte ich mir keine großen Hoffnungen gemacht. Allerdings wird bei der Preisverleihung der Friedrich-Ebert-Stiftung i.d.R. auf 3-5 Bücher gesondert verwiesen und in der entsprechenden Pressemitteilung eine Empfehlung dafür herausgegeben. Ich hatte gehofft, hier genannt zu werden, was leider nicht der Fall war…
Für sein Buch „Deutschland rechts außen. Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können“ erhielt also 2020 der Rechtsextremismusforscher Matthias Quent den Preis für „Das politische Buch“. Dies sei ihm gegönnt! Er verfügt über eine sehr gute Vita und sein Verlag war Piper. Wie wir die Rechten und andere Extremisten langfristig und nachhaltig stoppen können, das fand man allerdings nicht in Quents Buch, sondern nach meinem Ursachenverständnis in meinem. Ich hoffe sehr, dass dies gesellschaftlich zukünftig mehr gesehen und besprochen wird. 

Die „Explosion“ blieb also aus. Auch wenn es einige kurze Höhenflüge gab, so z.B. als die Journalistin Caroline Fetscher im Tagesspiegel mein Buch besprochen hat. Danach dachte ich kurz: Oh mein Gott, was kommt jetzt? Rein auf meine Person bezogen beruhigt mich die ausbleibende Explosion wiederum auch etwas. Ich mag an sich keinen Rummel um meine Person. Ich mag es auch nicht, wenn ich bewundert werde. Ich sehe mich eher als „Arbeiter“, der sich einfach durch Texte und Infos wühlt, diese sortiert, zentrale Ergebnisse herausnimmt und einfach alles zusammenfasst. Man mag meinen Fleiß würdigen, Neues schaffe ich nicht, das tun eher die Forschenden, die die Studien durchführen und veröffentlichen, auf die ich mich dann beziehen kann. 

Um so mehr freut es mich, dass überall immer mehr Fachleute eine Art „Zündschnur“ für eine Art „Bombe“ entzünden. Dazu gehört vor allem die enorm dynamische und sich stark beschleunigende Adverse Childhood Experiences (ACEs) Forschung. Dazu gehören aber auch Zusammenfassungen bzgl. einzelner Belastungsfaktoren und deren Folgen wie beispielsweise der Bericht „Corporal punishment of children: summary of its impacts and associations“ (2021), in dem es heißt:
The evidence that corporal punishment is harmful to children, adults and societies is overwhelming – the more than 300 studies included in this review show associations between corporal punishment and a wide range of negative outcomes, while no studies have found evidence of any benefits. Corporal punishment causes direct physical harm to children and impacts negatively in the short- and long-term on their mental and physical health and education. Far from teaching children how to behave, it impairs moral internalisation, increases antisocial behaviour and damages family relationships. It increases aggression in children and increases the likelihood of perpetrating and experiencing violence as an adult. It is closely linked to other forms of violence in societies, and ending it is essential in combatting other violence, including partner violence”.

Ich kann mich also etwas entspannen, wir laufen Stück für Stück auf die „Explosion“ zu. Was meine ich eigentlich mit der Explosion? Ich habe da ein inneres Bild vor Augen, das einem Misch aus der öffentlichen Debatte um Kindesmissbrauch in der Kirche und der Debatte um die Klimakrise gleicht. Also einer stetigen, jahrelangen öffentlichen Debatte (inkl. Titelstorys in den Medien), die zu einer traumainformierten und sich der kollektiven, individuellen, politischen, sozialen und ökonomischen Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen bewussten Gesellschaft führt. Einer Gesellschaft, die sich bewusst macht, wie sehr sie von Kindheiten geprägt ist. Vielleicht ist „Explosion“ also auch das falsche Wort. Aber einen zentralen Auslöser oder auch mehrere muss es wohl geben. Es gab diese Auslöser bzgl. der Kirche ebenso wie bei der Klimadebatte (z.B. mit Greta Thunberg und ihrem anfangs einsamen Protest an den Freitagen). 

Was ist sonst noch alles passiert, seitdem mein Buch herausgekommen ist? War das Buchprojekt nun ein Erfolg oder nicht? Tja, wie soll ich „Erfolg“ definieren und messen? Ich gehe von bisher ca. 1.000 verkauften Buchexemplaren aus. Ist diese Zahl nun ein Erfolg? Finanziell ist es bescheiden. Aber ich verdiene eh ausreichend Geld. Um Geld ging es mir nie. Mein erstes Autorenhonorar habe ich außerdem für ein Kinderschutzprojekt komplett gespendet. Die restlichen Einnahmen decken vielleicht meine Recherchekosten. 

Für einen gänzlich unbekannten Autor mit kleinem Verlag ist diese Zahl aber schon ein kleiner Erfolg. Was mich besonders freut ist, dass mein Buch in vielen UNI-Bibliotheken und teils auch öffentlichen Bücherhallen gelistet ist und dass immer mehr Autoren und Autorinnen mein Buch für ihr Buchprojekt verarbeiten. Ich kann auch etwas stolz auf eine Reihe von Buchrezensionen oder Kommentierungen von Fachleuten sein. Ganz besonders hat mich gefreut, dass ich für die „Interdisziplinäre Fachzeitschrift für Prävention und Intervention (DGfPI) Kindesmisshandlung und -vernachlässigung“ den Beitrag „Die Kindheit ist politisch!“ veröffentlichen durfte. Der Beitrag hat es in sich und die Leserschaft kommt aus allen möglichen Professionen aus Deutschland. Ohne meine Buchveröffentlichungen wäre ein solcher Fachblattbeitrag nicht möglich gewesen!

Das gilt u.a. auch für meinen Vortrag "Kindheit ist politisch!" auf der 35. Jahrestagung der GPPP und für meinen Vortrag "Kindheitsursprünge von politischer Gewalt und Extremismus" beim 26. Deutschen Präventionstag (beide Vorträge wurden von mir verschriftlicht und werden nächstes Jahr in Textform erscheinen). Außerdem war man auch bei der World Association for Dynamic Psychiatry (WADP) auf mein Buch aufmerksam geworden. In der Folge wurde ich zum Vortrag für den Kongress „Peace and aggression – a social challenge for psychiatry and psychotherapy“ in Berlin eingeladen, der leider coronabedingt abgesagt wurde. Ersatzweise konnte ich meinen Vortrag für „Dynamische Psychiatrie - Internationale Zeitschrift für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychiatrie“ verschriftlichen: „Die Kindheitsursprünge von (politischer) Gewalt und Friedlosigkeit“.
Unter  Leitung von Prof. Paul H. Elovitz durfte ich am 20.11.2021 im "Psychohistory Forum Meeting" unter dem Titel “The Childhood Origins of Political Violence and Extremism” online vortragen. Man möchte sich jetzt dafür einsetzen, mein Buch ins Englische zu übersetzen. Nun, wir werden sehen...

Ich ziehe also Bilanz: Mein Buch hat mir einige Türen geöffnet. Und mein Buch hat so einige Menschen sehr bewegt (Rückmeldungen zu Folge). Allerdings bleibt es dabei, dass bei diesem schwierigem Thema nur langsame Schritte zu erwarten sind. Ich werde weiterhin meinen Teil dazu beitragen, die Öffentlichkeit zu informieren und Aufklärung zu leisten. Dazu nutze ich auch immer mehr mein Twitter-Account, dem mittlerweile auch einige bekannte Fachleute und Institutionen folgen. Mittel- bis langfristig plane ich den Umbau des Blogs. Bzw. ich möchte zentrale Texte und meine Biografieforschungen überarbeiten und dann auf eine extra eingerichtete Homepage stellen. Das wird viel Arbeit sein und seine Zeit brauchen. Es wird also nicht langweilig!



Donnerstag, 9. Dezember 2021

Die angeblich harmonische Kindheit des Ex-Neonazis Nick W. Greger und meine Anmerkungen dazu

Die Schilderungen des ehemaligen Neonazis Nick W. Greger über seine Kindheit erstaunen zunächst bzw. stellen eine Ausnahme bzgl. meiner Recherchen dar. Er beschreibt seine Kindheit als durchgängig sorglos. Bei genauerem Hinsehen stellen sich aber Fragen, was ich gleich ausführen werde. 

Meine Quelle: "Verschenkte Jahre - Eine Jugend im Nazi-Hass" von Nick W. Greger (2012, epubil, Berlin)

Gleich zu Beginn des Buches stellt Greger klar: „Aus meiner Kindheit gibt es nichts Aufregendes zu berichten. Ich stamme aus einer bürgerlichen Familie der demokratischen Mitte, wie man heute wohl sagen würde. (…) Eltern und Großeltern kümmerten sich rührend um mich, und da ich ein Einzelkind war, stand ich als Jüngster im Mittelpunkt der Familie. Es fehlte mir an nichts, und mir wurde so ziemlich jeder Wunsch erfüllt. Auch mein späteres Agieren als Neonazi sollte das Verhältnis zu meiner Familie niemals ernsthaft trüben können. Kurz gesagt, ich hatte nichts zu leiden und gebe heute auch offen zu, dass es mir wohl ein bisschen zu gut ging und ich einfach nur ein verwöhnter Rotzlöffel war“ (S. 10).

Ab dem 7. Schuljahr habe er ein starkes Bedürfnis nach Auflehnung und rebellischem Verhalten entwickelt, „gegen die Schulordnung, die Lehrer, meinen Vater und einfach jede Autorität, die versuchte, mein Leben in einer Bahn zu halten“ (S. 11). Zunächst drückte sich dies in Schulschwänzen, zu-spät-nach-Hause-Kommen und Herumtreiben in der Stadt aus. „Als Konsequenz gab es natürlich Sanktionen von der Schule und vom Elternhaus, also Nachsitzen und Hausarrest“ (S. 12). 

Schließlich musste er die 7. Klasse wiederholen. In dieser Zeit traf er auf eine rechte Gruppe im Ort, die aus deutlich älteren Jugendlichen bestand. „Ich sollte eine Gruppe, in der ich meinen Frust gegen die über mich herrschende Ordnung ausleben konnte, gefunden haben“ (S. 12). 

Ziemlich schnell kam es dann auch zu Gewaltverhalten und Schlägereien. Die Lehrer seiner Schule sprachen entsprechende Warnungen aus, sich ja nicht mit Greger einzulassen. Wie solche Gewalt u.a. aussehen konnte, beschreibt Greger an einer Stelle, wo es gegen eine Gruppe von Punks auf einem Dorffest ging:
Zum Auftakt der Keilerei hatten wir einen benachbarten Gartenzaun zerlegt und die Latten verwendet, um auf den Gegner einzuprügeln. Einige Punks waren zu Fuß geflüchtet, andere hatten versucht, mit ihren Pkws unserem kleinen, jedoch Amok laufenden Mob zu entkommen. Wir hatten ein Auto gestoppt, mit dem fünf Punks zu flüchten versuchten und mit den Zaunlatten auf das Fahrzeug eingeschlagen. Scheiben waren zu Bruch gegangen, die Insassen durch Glassplitter und Lattenhiebe verletzt worden“ (S. 20). Zu der Zeit muss Greger 15 oder jünger gewesen sein. Er wurde erstmals verurteilt und musste 40 Arbeitsstunden absolvieren. 

15 war auch das Alter, in dem er eine weitere Grenze überschritt: er lief von zu Hause fort. Er wollte in den Osten nach Dresden, das damals als Neonazihochburg galt. In der Tat fand er schnell Anschluss und wurde von der rechten Szene aufgenommen und untergebracht. Seine Eltern waren in großer Sorge und gaben eine Vermisstenanzeige bei der Polizei auf. Erst Monate später gab er seiner Familie ein Lebenszeichen von sich. Die kommenden acht Jahre verließ er Sachsen nicht mehr, auch wenn seine Familie ihn zur Heimkehr bewegen wollte (S. 22).

Greger ging in dieser Zeit in Gewalt und Hass auf. Man zog durch die Straßen und verprügelte jeden, der „bunte Haare hatte, irgendwie links orientiert aussah oder einem Ausländer glich“ (S. 27). 1995 kam er das erste Mal ins Gefängnis, was nicht das letzte Mal gewesen sein sollte. 

Machen wir an dieser Stelle einen Strich und erinnern uns an die anfänglichen Schilderungen über eine harmonische Kindheit. Ich finde: Das passt alles nicht zusammen!

Wir bekommen hier ein Bild von einem Jungen, der schon ab der 7. Klasse auffällig wurde und schnell Gewaltverhalten entwickelte. Es kam auch, wie geschildert, zu schwerer Gewalt gegen andere Menschen. Als 15Jähriger floh der Junge aus seiner „harmonischen Familie“, in der sich alle „rührend“ um ihn gekümmert haben sollen und kam jahrelang nicht zurück. Wie es seiner Familie damit ging, scheint ihm herzlich egal gewesen zu sein. Dies spricht nicht für eine real starke Bindung innerhalb der Familie, sondern für das genaue Gegenteil. 

Interessant ist dabei auch, dass Greger im Grunde gar nichts über seine Familie schreibt, außer bzgl. der Zusammenfassung oben. Er beschreibt keine Szenen oder Episoden mit der Familie, keine Ausflüge, kein Erziehungsverhalten, gar nichts. Nur einmal wird, wie oben zitiert, erwähnt, dass zu Hause mit Hausarrest gestraft wurde. Auch das „Verhätscheln“ wurde erwähnt. Verhätscheln ist keine Liebe, sondern oft ein Anzeichen für ein problematisches Familiensystem. Was mir aber am aller meisten ins Auge sticht, ist der Hang zu Hass und (schwerer) Gewalt im jungen Leben von Greger. Wo soll der Hass herkommen? Aus der Luft? Greger wurde nicht gemobbt, beschreibt keine Übergriffe gegen sich als Kind außerhalb der Familie oder ähnliches. Ich gehe davon aus, dass in der Familie einiges schief gelaufen sein muss. Indizien dafür gibt es wie geschildert. 

Ich warne eindringlich davor, den Fall Nick W. Greger in der Extremismusforschung als Beispiel dafür aufzuwarten, dass auch geliebte Kinder zu hasserfüllten Neonazis werden können. Solche Fälle sollten eher dazu motivieren, weitere Nachforschungen zu betreiben und den Dingen auf den Grund zu gehen; Familie, ehemalige Lehrer, Klassenkameraden usw. zur Kindheit von Greger zu befragen. Und natürlich auch, so es denn die Gelegenheit dafür gibt, Greger direkt und ausführlich über seine Familie und Kindheit zu befragen. Ihn dabei auch Episoden berichten zu lassen, nicht nur allgemeine Etiketten wie „alles war normal und gut“.  Ergänzt ggf. auch um einen Fragebogen aus der ACEs-Forschung, der viele Belastungsfaktoren aus der Kindheit erfasst. Nun ist es so, dass dies alles sehr intime, ggf. schambesetzte Gegebenheiten berührt und es an sich schwierig ist, über Kindheit die ganze Wahrheit zu erfahren. Dies ist und bleibt ein Grundproblem bei der Erfassung der Kindheitsbiografie von Tätern.  

Nachtrag: Ich hatte die Gelegenheit, Nick Greger zu interviewen! Eine wichtige Info bzgl. seiner Kindheit kam dadurch hinzu:  
Seine Mutter war gerade einmal 16 Jahre alt, als Nick geboren wurde. Sie wurde im Alter von 15 Jahren schwanger. Dies sei so geplant gewesen. Nicks Vater war einige Jahre älter und konnte die junge Familie finanziell stemmen. Seine Mutter sei damals bereits sehr reif und verantwortungsvoll gewesen, sagte Greger zu mir.


Montag, 6. Dezember 2021

Tochter eines Ku-Klux-Klan Mitglieds und Leben in der Hölle: Kindheit von Jvonne Hubbard

 „White Sheets To Brown Babies“ heißt die Autobiografie von Jvonne Hubbard (2018, Sakshi Press). 

Die Lebensgeschichte von Jvonne Hubbard hat mich ursprünglich vor allem auf Grund ihres rassistischen und extremistischen Vaters interessiert, der tief in den Ku-Klux-Klan verstrickt war.

Immer wieder ist mir aufgefallen, dass extremistische Familien auch die eigenen Kinder misshandeln und terrorisieren. Dies ist für mich bedeutsam in der Hinsicht, dass es zum einen logisch ist, dass hasserfüllte Menschen mit ihrem Schwarz-Weiß-Denken natürlich auch in der Familie nicht aus ihrer Haut schlüpfen (entsprechend sollte auch das Jugendamt bei solchen Familien sehr aufmerksam sein!!). Zum anderen ist die Misshandlung und Demütigung der eigenen Kinder für mich immer auch ein Indiz dafür, dass diese Leute selbst eine traumatische Kindheit hatten und weitergeben, was sie selbst erlitten haben. Letzterer Punkt stellt für mich eine gedankliche Ableitung und Möglichkeit dar, etwas über die Kindheit von Extremisten zu erfahren, über die es ansonsten keine konkreten Infos über Kindheitshintergründe gibt (siehe dazu auch meinen Beitrag Die Kinder der NS-Täter und die Kindheit der NS-Täter). 

Die Lebens- und Kindheitsgeschichte von Jvonne Hubbard entpuppte sich im Textverlauf für mich aber als weit mehr. Ihre Geschichte ist derart traumatisch und kaum in Worte zu fassen, dass ein Filmregisseur das Manuskript wahrscheinlich ablehnen würde, weil es zu „unglaublich“ ist. 

Ihre Geschichte ist ein wichtiges Zeugnis für Kinderschutz und Aufklärung über Kindesmisshandlung und geht weit über die Extremismusforschung hinaus. 

Das Ausmaß an Gewalt und Trauma in dieser Familie ist derart komplex, dass ich kaum weiß, wo ich anfangen soll. Der Vater war gewalttätig, rassistisch, launisch, kalt und Alkoholiker. Was das für die Familie bedeutet, kann man sich vorstellen. Dazu kamen viele Alltagsdemütigungen und Verletzungen. So z.B. in der Grundschule. Jvonnes beste Freundin, Yonnie, war schwarz. Als der Vater davon erfuhr, drohte er: „If I ever see or even hear tell of you playing with or associating with any nigger ever again I am going to have to whip your ass and burn a cross in little Yonnie`s yard to make you understand“ (S. 7). Um sich und ihre Freundin zu schützen, ignorierte Jvonne ihre beste Freundin zukünftig, was ihr das Herz brach…

Dass ihr Vater gefährlich war, wurde ihr schon als Siebenjährige klar. Ihre Mutter musste das Auto lenken, Jvonne musste sich im Auto hinlegen. Ihr Vater schoss aus dem fahrenden Auto mit einer Waffe auf das Auto eines Anderen, um ein Zeichen zu setzen. Ein anderes Mal warf der Vater eine Art Molotov-Cocktail aus dem fahrenden Auto in das Fenster einer Familie, in der eine weiße Frau ein schwarzes Baby hatte (S. 9). 

An einer Stelle formuliert Jvonne Hubbard (nachdem sie etliche Schrecklichkeiten ausgebreitet hat, die sie in dieser Familie erlebte): „I can´t really remember all of what I was thinking and feeling save one thing: my dad had finally succeeded in teaching me hate. The first person I ever truly hated in my life was him (S. 14). 

Auch ohne rassistische Motivation verbreitetete dieser Vater Terror, auch gegenüber seiner Frau. Dies gipfelte eines Tages darin, dass er Jvonnes Mutter eine Waffe an den Kopf hielt und drohte, sie zu töten (S. 11). Ihre Mutter hatte in der Folge nichts anders zu tun, als sich bei ihrer Tochter auszuweinen und zu fragen, warum ihr Vater sie nicht mehr lieben würde (Parentifizierung). „I´ll admit (…) this was the beginning of when I started to lose resprect for my mother. In my little mind, with only two horribly dysfunctional examples of how human beings conduct themselves during a crisis, it was my mom who worried me most. Why? Because she accted being a victim“ (S. 11f.). 

Diese Mutter neigte immer wieder zu extrem destruktiven Verhalten. Nicht in der Art, dass sie mit einer Pumpgun neben dem Auto wartete (wie der Vater dies einmal tat; S. 13) und die beiden anderen Familienmitglieder bedrohte. Sondern durch unterlassene Hilfeleistung, durch Verhalten wie ein kleines Kind, Ignorieren der Bedürfnisse ihrer Tochter, durch absolute Hilflosigkeit und gleichzeitige Identifikation mit ihrem aggressiven Mann, dem sie alles unterordnete. 

Überhaupt fällt im Verlauf des Buches auf, dass alle Familienmitglieder - auch aus dem weiteren Verwandtenkreis - zu destruktiven Beziehungen neigten. Wenn der eine schlagende und alkoholkranke Partner verlassen wird, dann war der Nächste garantiert nicht viel besser! Angefangen bei der eigenen Mutter, die nach der Trennung von ihrem Mann erst zu One-Night-Stands überging (teils musste beim Sex die Tochter im Flur eingeschüchtert zuhören, S. 17) und sich dann einen Partner suchte, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war. Diverse Beziehungsabbrüche und Konflikte folgten. 

Jvonne hatte indes mit weiteren Problemen zu kämpfen: Armut, Wohnortwechseln, fehlende Freunde und fehlender Anschluss in der Schule, Hänseleien usw. 

In dieser Situation bot ein Mann namens Fred eine gewisse Stütze für Jvonne. Er war 44 Jahre alt, Jvonne war 14. Ihre Familie wusste um diese „Freundschaft“, hatte damit aber kein Problem. Als Jvonne 15 Jahre alt war, fuhr ihre Mutter sie zu Freds Haus, um sie dort übernachten zu lassen. Fred hat sie dann offensichtlich vergewaltigt (weitere Übergriffe sollten später folgen). „Pain, disgust, confusion, not knowing what to do or how to feel, followed. When my mom picked me up the next morning I told her what had happend. All she had to say was `Did it hurt? The first time is often painful`. Then the next move was to take me to the health department and put me on birth control!“ (S. 50). Von dieser Mutter war keine Hilfe und kein Schutz zu erwarten, in jeder Hinsicht...

Alle anderen Erlebnisse und Traumatisierungen hier zusammenzufassen, überfordert mich. Fast auf jeder Seite des Buches schildert die Autorin irgendwelche Grausamkeiten und destruktiven Erlebnisse. Dazu gehören z.B. Dinge wie eine Situation, in der eine Frau, die mit ihrem Freund im schweren Streit lag, zum Vater von Jvonne ging und ihn um eine Waffe bat. Sie wolle ihren Freund erschießen. Der Vater übergab die Waffe, die Frau erschoss ihren Freund. Jvonne wunderte sich, warum ihr Vater dafür nicht inhaftiert wurde (S. 82). 

Später wurde ihr Vater selbst zum Opfer. Er hatte eine Alkoholiker-Freundin, die ihn später stalkte. Sie schoss ihm eines Tages mehrere Kugeln in den Körper. Er überlebte und blieb pflegebedürftig. 

All diese Erlebnisse blieben nicht ohne Folgen für Jvonne. „Sometimes it feels like I am a hundred years old, for all the life I`ve lived“ (S. 162). Ihre Gesundheit war schwer beeinträchtigt. „Those ailments were as follows: anxiety, depression, panic attacks, fibromyalgia, TMJ, interstitial cystitis, irritable bowel syndrome, premature ventricular oft he heart, chronic episodes of bronchitis, immun deficiecy and eventually pneumonia. My immune system and even my heart (…) were damaged (…)“ (S. 140). Die meisten Diagnosen waren chronisch. 

Ihr Fall und die Gesundheitsfolgen werden auch durch die Adverse Childhood Experiences Forschung bestätigt: Je mehr Trauma als Kind, desto höher die Wahrscheinlichkeit für diverse Erkrankungen. 

Der Fall Jvonne Hubbard hat mich sehr berührt und teils sprachlos gemacht. Jvonne Hubbard ist fast so alt wie ich. Ihre Geschichte stammt nicht aus dem Mittelalter! Sie ist ganz nah und real. Und viele andere Kinder erleben immer noch ähnliches. Das sollten wir nicht vergessen!


Mittwoch, 1. Dezember 2021

Linksextremist, Rechtsextremist, Söldner und Mörder. Die Kindheit von Thomas Adolf

Thomas Adolf hat in seinem Leben scheinbar alle Extreme mitgenommen, die es zu fassen gibt. Am Ende wurde er zum kaltblütigen Mehrfach-Mörder... 

Thomas Adolf sei das unerwünschte Ergebnis einer Kneipenbekanntschaft, sagte sein Vater. Von dem Kind und der Mutter wollte dieser nichts wissen. Thomas Adolf aber fehlte ein Vater: „Dem Vater, der ihn in der Kindheit jämmerlich im Stich gelassen hat, schreibt er emotionale Briefe. `Wer bin ich in Deinem Leben? Gibt es irgendwann einmal einen flüchtigen Gedanken in Dir, in dem ich vorkomme? Es gäbe viele Dinge, die ich mit meinem Vater besprechen könnte, die intim und diskret sind`“ (Elendt, G. & Schmalenberg, D. 2003 (23. Okt.): MORDE VON OVERATH. "Zwei bis drei nehme ich mit", Stern.de)
Hannelore Adolf, bei der Entbindung 18 Jahre alt, kümmert sich auch nicht um Thomas. Elterliche Wärme und Geborgenheit lernt er nie kennen. Die Mutter schiebt ihn zur Großmutter ab und wandert selbst bald wegen Diebstahls, Betrugs und Hehlerei ins Gefängnis“ (Ebd.).
Thomas war zu dieser Zeit fünf Jahre alt und wirkte verwahrlost. In einem anderen Bericht wurde geschrieben: „Verstoßen von seiner Mutter, einer Prostituierten, erhält Adolf bereits in der Kindheit bei der Großmutter seine nationalsozialistische Prägung“ (Spilcker, A. (2004, 18. Nov.): Staatsanwältin fordert lebenslänglich, Kölner Stadt-Anzeiger)

Als Thomas ca. 11 Jahre alt war, verschwand die Mutter spurlos. Kurz darauf starb auch noch die Großmutter. Thomas kam bei einem Onkel unter. Das Kind wurde um diese Zeit bereits stark verhaltensauffällig, schlug zu, drohte und quälte seine Mitmenschen.  "Der Junge hat einen tiefen Hass auf das Leben", sagte der Onkel (Elendt & Schmalenberg, 2003).

Als Jugendlicher driftete Thomas in die die linksextreme Szene ab. Als 19Jähriger kam er das erste Mal in U-Haft. Danach kam er mit rechtsextremen Parolen nach Hause. Sein Onkel schmiss ihn daraufhin raus.